Starkekinder.entspannteeltern auf Instagram empfiehlt: „Anstatt: ‚Ich habe jetzt keine Zeit mit dir zu spielen.‘ Versuche: ‚Ich räume gerade die Spülmaschine aus. Willst du schonmal ein Buch aussuchen, was wir danach lesen können?‘“. Erziehungshinweise wie dieser sind in den Sozialen Medien im Trend und werden insbesondere mit einer bedürfnis- und bindungsorientierten Erziehung begründet. Doch was steckt eigentlich dahinter?

Unter dem Begriff der Mediatisierung wird neben der allgegenwärtigen Präsenz und dem verstärkten Bedeutungszuwachs der (digitalen) Medien auch das mediale Eindringen in jegliche menschliche Praxis und in alle sozialen Bereiche gefasst (Krotz 2018, S. 28). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch die Lebensweisen von Familien von medienbezogenen Umgestaltungsprozessen betroffen sind und zugleich familienrelevante Themen in mediale Debatten einziehen, denn „aus den vormals ‚Digital Natives‘ werden nun ‚Digital Parents‘“ (Autenrieth 2014, S. 100). Weiterhin werden im Diskurs über Mediatisierung nicht nur Fragen des Wandels von individuellen Medienpräsenzen und -nutzungen thematisiert, sondern auch untersucht, inwieweit die Nutzung und Inhalte der ‚neuen‘ digitalen und sozialen Medien Wirkmacht und Einfluss auf unsere öffentliche wie individuelle Meinungs- und Identitätsbildung sowie auf die gesellschaftlichen Wissensvorräte haben.

Instagram – Ein Diskursort für Erziehungsfragen der heutigen Elterngeneration

Instagram ist ein werbefinanzierter Onlinedienst mit einer Mischung aus Microblog, sozialem Netzwerk und audiovisueller Plattform, welcher bei den 25- bis 34jährigen besonders beliebt ist, gefolgt von den 18- bis 24jährigen (HypeAuditor 2023). Insofern ist die Omnipräsenz an Themen rund um Schwangerschaft, Familienalltag, Elternschaft und Erziehung auf der Social-Media-Plattform nicht verwunderlich. Allein die Hashtags „Family“ bzw. „Familie“ zeigen über 438 Mio. bzw. über zehn Millionen Beiträge anFootnote 1. Dass die Elterngenerationen sich mit Fragen der (‚richtigen‘) Erziehung auseinandersetzen, ist so alt wie die beginnende Moderne – von der Einstellung von (weiblichen) Ammen und (i. d. R. männlichen) Hauslehrern, über Erziehungsbücher und Fernsehsendungen (wie etwa ‚Super Nanny‘) und nun zuletzt in den Sozialen Medien. In Anlehnung an Beck (1986) kann der verstärkte Erziehungsdiskurs auch auf die Verunsicherungen in der (Post‑/Spät‑)Moderne zurückgeführt werden. Durch Unsicherheiten im (‚richtigen‘) Umgang mit Kindern entsteht im Alltag ein höherer Orientierungs- und damit Beratungsbedarf bei Eltern und Erziehenden. Die Sozialen Medien bieten hier niedrigschwellige Möglichkeiten der Identifikation, Inspiration und Orientierung durch den Konsum von unterschiedlichen erziehungs- und familienrelevanten Inhalten anderer Nutzer_innen und zugleich – anders als bei älteren Medien – zur Darstellung eigener Elternschaft und eigener Erziehungsweisen. So sind die geteilten Fotos und Videos nicht nur Dokumentation von Kindheiten und Familienleben, sondern auch Ausdruck der Anschlussfähigkeit an den bestehenden Erziehungsdiskurs auf der jeweiligen Plattform. Da dieser mediale Diskurs lose auf (populär‑)wissenschaftliche Theorien und Konzepte rekurriert, wie im Folgenden gezeigt werden soll, wird der Umgang mit und Zugriff auf pädagogisches Wissen normalisiert und (sozial)pädagogische Zugänge mitunter entgrenzt (Lüders et al. 2002).

Zentrale Social-Media-Akteur_innen mit Blick auf Elternschaft und Erziehung

Eng verknüpft mit den Sozialen Medien ist der Diskurs um Influencer_innen. Dabei handelt es sich um digitale Meinungsführer_innen. Sie stechen aus der Vielzahl der Social-Media-Nutzenden durch ihre hohen Reichweiten besonders hervor (Götz und Becker 2019). Die Inhalte und Ausrichtungen können dabei stark variieren und reichen von Themen wie Beauty und Fashion über Sport, Reisen und Lifestyle bis hin zu Gaming und Musik. Ab einer gewissen Reichweite verdienen viele der Influencer_innen ihren Lebensunterhalt durch ihre Selbstinszenierung auf den Social Media-Plattformen, indem sie beispielsweise Werbung für unterschiedliche Produkte Dritter in ihre Inhalte einarbeiten. Während Influencing in den Sozial- und Geisteswissenschaften bisher erst sehr langsam Betrachtung findet, haben sich Marketing und Public Relations schon lange diesem Phänomen angenommen.

Ein Typ der Influencer_innen sind die sogenannten Momfluencerinnen. Der Begriff setzt sich zusammen aus „mom“ (= engl.: Mutter) und „influencerin“ (= to influence, engl.: beeinflussen, vgl. oben). Es handelt sich also um Mütter in den sozialen Medien wie Instagram, die über eine große Bandbreite familienrelevanter Themen, Mutterschaft und Kindheit sprechen, zeigen und schreiben und ihre zehn-, hunderttausend oder Millionen Follower_innen an ihrem Familienalltag und Mutterdasein über Fotos, Texte und Videos teilhaben lassen.

Neben den Momfluencerinnen gibt es eine weitere zentrale Gruppe an Akteur_innen, die mit Blick auf Elternschaft und Erziehung im Social-Media-Kontext an Relevanz gewinnt: die (selbsternannten) Expert_innen, wobei es sich primär um Frauen handelt. Dabei begründet sich ihre selbstzugeschriebene Expertise beispielsweise im Verweis auf den Status als Kindheitspädagogin, Psychologin, Grundschullehrerin, Kinderkrankenschwester, Hebamme, Ergotherapeutin oder auch als Traumafachberaterin, Yogalehrerin, Waldspielgruppenleiterin, Hypnosetherapeutin, Pampers-Expertenservice-Mitglied oder Babymassage-Kursleiterin, um nur einen kleinen Ausschnitt zu nennen. Viele der selbstausgewiesenen Erziehungs- und Familienexpert_innen mit höherer Reichweite weisen vermehrt einen akademischen Hintergrund auf, auffällig oft in nicht-pädagogischen Bereichen. Während einige ihre Qualifikationen offen darlegen und explizieren, sind diese in anderen Fällen kaum bis gar nicht transparent. Durchgängiges und primäres Element der (selbstzugeschriebenen) Expertise ist die eigene Mutterschaft (selten auch Vaterschaft) mit erfolgreich überwundenen Hürden und Herausforderungen. Sie präsentieren kritische Selbstreflexionen und damit einen selbstdurchlaufenen Erfolgsweg, der sie motiviert, ihre Erkenntnisse und ihr Wissen mit ihren Follower_innen zu teilen.

Auch wenn der Grundgedanke des Influencing auch auf die letztgenannte Gruppe übertragen werden kann, unterscheiden sich die Elterncoach_innen und Erziehungsberater_innen von den Momfluencerinnen. Ihre Reichweiten beschränken sich auf mehrere zehn- bis wenige hunderttausend Abonnent_innen. Darüber hinaus platzieren sie i. d. R. keine Werbung für Produkte Dritter in ihren Inhalten, hingegen bieten viele für tiefergehende Informationen und Beratung kostenpflichtige Onlinekurse oder Coachings an oder vertreiben eigene Kinderprodukte wie Kinderbücher und ausgewählte (bspw. Montessori inspirierte) Spielmaterialien. Einzelne bieten eigene Aus- und Fortbildungen an, etwa eine Schlafcoachingausbildung oder die Ausbildung zum „Windelfrei Coach“, wie beim Account artgerechtprojekt. Während also bei den Momfluencerinnen die Dokumentation des eigenen Familienalltags im Vordergrund steht, werden bei den (selbsternannten) Expert_innen professionelle Settings mit Ratgebercharakter hervorgebracht.

Zentrale Erziehungshashtags und ihre Inhalte

Der Hashtag #bedürfnisorientiert versammelt über 300.000 Beiträge auf Instagram, #bindungsorientiert kommt auf über 170.000 Beiträge, gerahmt von weiteren Hashtags wie #beziehungstatterziehung (75.000+ Beiträge), #unseralltagistihrekindheit (156.000+ Beiträge) oder #aufaugenhöhe (50.000+ Beiträge). Sie sind bei den familien- und erziehungsbezogenen Inhalten auf Instagram als überbordende Mehrheit der Beiträge zu bezeichnen. Weiter noch wird die Bedürfnis- und Bindungsorientierung als Charakteristika der Ausrichtung in vielen Accounts über die Selbstbeschreibung gestärkt und inhaltlich als Begründungsfolie für Erziehungshinweise genutzt. So steht etwa in der Accountbeschreibung von happyfamkids.fuer.eltern: „Erziehungsberaterin Bedürfnisorientiert, Mutter“. Weiter heißt es: „Verbindung zum Kind statt Streit! Raus aus der Schimpfspirale. Miteinander statt ‚wenn, dann‘, Strafe & Co.“. Bedürfnis- und Bindungsorientierung erscheint auf Instagram geradezu als ein Label, das auf einen fachlich professionellen Anspruch und pädagogisch wertvollen Inhalt hindeuten soll.

Mit Blick auf die Beiträge hinter diesen Hashtags fallen wiederkehrende, teilweise überschneidende Arten von Postings auf, u. a. Anregung und Aufruf zur elterlichen Verhaltenskorrektur, Sensibilisierung für die Kinderperspektive und kindliche Bedürfnisse, allgemeine Info-Postings (mit Appell), Zitate und Weisheiten mit pädagogischem Bezug, Beantwortung von Fragen und Hilferufen aus der Community sowie sogenannte „Marmeladenglasmomente“ mit pädagogischer Bedeutsamkeit, also schöne Erziehungs- und Kindheitsmomente, die als so wertvoll erachtet werden, dass man sie am liebsten in Marmeladengläsern einfangen und konservieren würde. Zur Verdeutlichung einige Beispiele, die allesamt mit den Hashtags #bedürfnisorientiert und/oder #bindungsorientiert versehen sind:

Gängige Muster sind das Aufarbeiten von Negativbeispielen wie „Wenn du diese Sachen sagst, unterdrückst du die Gefühle deines Kindes“ (mama.wunderwelt, 26.07.2023) oder das Gegenüberstellen eines Negativ- und Positivbeispiels: „Anstatt: ‚Ich habe jetzt keine Zeit mit dir zu spielen.‘ Versuche: ‚Ich räume gerade die Spülmaschine aus. Willst du schonmal ein Buch aussuchen, was wir danach lesen können?‘“ (starkekinder.entspannteeltern, 12.05.2023). Hier wird anhand einer praxisnahen Alltagssituation eine als pädagogisch wertvoll gerahmte Alternative geboten und weiter erläutert, dass es dadurch möglich sei, dem Kind zu zeigen, dass seine Bedürfnisse wahrgenommen wurden und gleichzeitig Grenzen zu setzen.

Ein großes Interesse zeigt sich auch an Videosequenzen ‚geglückter‘ Eltern-Kind-Interaktionen, wie auf dem Account marliesjohanna zu sehen. In ihrem verbreitetsten Video vom 23.05.2023 mit knapp fünf Millionen Aufrufen sitzt die Mutter mit ihren zwei Kindern beim Essen. Sie wird von ihrem ca. dreijährigen Kind aufgefordert, sich bei ihm zu entschuldigen, was die Mutter bestätigt, jedoch dem Wunsch nicht direkt nachkommt, da sie „noch nicht ganz bereit“ sei und sie aber möchte, dass ihre „Entschuldigung von Herzen kommt“. Nachdem das Kind mit einem „warum?“ nachfragt, erklärt die Mutter, dass es sie „wirklich sehr genervt“ habe, wie sie, die Kinder, gestritten hätten, sie „gerade keine Toleranz“ habe und es extrem anstrengend für sie sei. Die Sequenz endet, indem sich beide entschuldigen: „tschuldigung, ich mach’s nicht nochmal“ und „Tut mir leid, dass ich vorher so viel geschimpft habe. Ich war wirklich schlecht gelaunt und gestresst.“. Gerahmt wird das Video mit dem Hinweis der Mutter auf einen „harten Tag“ und „Erwartungen, die nicht erfüllt werden konnten, weil die Kinder nicht so gelaunt waren, wie […] gewünscht“. Außerdem sei sie froh, dass ihr Kind sie „da mittlerweile so gut abholen kann“. Die Sequenz vermittelt das Bild einer Interaktion „auf Augenhöhe“, in denen die Bedürfnisse des Kindes als auch der Mutter ihren Platz finden. Neben massenweisem Zuspruch in den Kommentaren wird jedoch auch die Frage der Erziehungsverantwortung bzw. Verantwortungsübertragung aufgeworfen.

Ein weiteres Muster zeigt sich im Kritisieren typischer elterlicher Aussagen, die als oft genutzte Phrasen des Kinderalltags charakterisiert werden. Auf dem Account achtsam.mamasein ist ein Video vom 19.07.2023 mit langsamer Klaviermusik und einem Zusammenschnitt mit Aufnahmen einer größtenteils fröhlich wirkenden Frau in der Natur, beim Meditieren oder Tagebuch schreibend zu finden, was in Dissonanz zum Voiceover steht. Die Sequenz beginnt mit den harsch gesprochenen Worten „Hey jetzt ist aber mal gut! Stell dich nicht so an und hör auf zu Heulen wie ein Baby!“. Es folgt eine Kritik der Aussage durch den Anstoß einer Selbstreflexion und die Einnahme der Kinderperspektive: „Was lösen diese Worte in dir aus? Hast du das Gefühl, wenn ich sie zu dir sage, dass das schon ok ist? Oder fühlst du dich in deiner persönlichen Grenze übergangen? Fühlst du dich respektiert und ernst genommen? Fühlst du dich dabei wohl? Nein? Gut, ich nämlich auch nicht!“. Es werden weitere Deutungen vorgenommen, dass „du“ dich fragen wirst, „was mit dir nicht stimmt“ und dass du dich „vermutlich komplett falsch“ fühlst. Schlimmer noch: Häufen sich solche Aussagen, wirst „du“ (= das Kind) dich immer mehr zurückziehen, den eigenen Gefühlen nicht mehr trauen, sie nicht mehr aussprechen und mit „Gefühlen, die nicht mehr raus dürfen“ passiert „ganz unterschiedliches“, denn „sie können psychische Probleme verursachen, körperliche Probleme bewirken, Auswirkungen auf generell ALLES im Leben haben“. Die Bedürfnis- und Bindungsorientierung wird schließlich in der Beschreibung des Videos aufgegriffen, in dem dazu aufgerufen wird „wieder ein Leben [zu] führen in dem alle Gefühle aller Raum haben dürfen“. „Eltern sind der Schlüssel“ für eine „friedvolle Welt“ und dienen als Vorbild für einen respektvollen Umgang.

Ein weiteres Beispiel für das Verdeutlichen der Kinderperspektive sind Beiträge wie „4 Gründe warum dein Kind beim Spielen schummelt“, denn „Schummeln ist kein Zeichen von ‚Böswilligkeit‘, sondern eher ein Hinweis auf bestimmte Bedürfnisse und Emotionen, die das Kind ausdrücken möchte“ (happyfamkids.fuer.eltern, 20.07.2023). Ebenfalls vermehrt zu finden sind Beiträge, die aus Sicht eines Kindes geschrieben werden. So formuliert mama.wunderwelt am 21.07.2023 zu Videosequenzen eines spielenden Kindes und der Klavier- und Streicherversion „River Flows in You“ von Yiruma eine Ansprache an Eltern. Sie beginnt mit: „Mama, Papa .. Ich weiß der Abwasch macht sich nicht von alleine & die Wohnung saugt sich nicht von selbst. Ich weiß deinen Chef interessieren meine Gefühle nicht. […] und das letzte für das du die Nerven und Geduld hast, sind ganz sicher nicht meine Tränen bei der Wahl meines Pyjamas. Aber weißt du was? Mein Tag war auch ganz schön lang. Lang und anstrengend. Ich durfte so wenig entscheiden – hatte so wenig Kontrolle über alles was geschieht. […] Es ist die Qualität unserer gemeinsamen Zeit die zählt! Wenn ich weine, ob du empathisch reagierst und mich verstehst oder ob du genervt bist! Ob du denkst, dass ich nur ‚Drama‘ mache und dich manipulieren will oder ob du mich ernst nimmst!“.

Zu den (populär-)wissenschaftlichen Hintergründen des Erziehungstrends

Zurückzuführen ist der mediale Erziehungstrend der bedürfnis- und bindungsorientierten Erziehung auf das Konzept des Attachment Parenting des amerikanischen Kinderarztes William Sears und der Krankenschwester und Stillberaterin Martha Sears. Der Hashtag #attachmentparenting mit knapp 700.000 Beiträge ist das englischsprachige Pendant, welches vielfach auch unter deutschsprachigen Beiträgen zu finden ist. Mit dem Hashtag #bindungsorientiert ist ein mehr oder wenig direkter Bezug zur Bindungstheorie des Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby (1982 [1969]) und der daran anknüpfenden empirischen Forschung unverkennbar. In Kürze legten Bowlbys Forschungsergebnisse dar, dass Säuglinge und Kleinkinder ein Bindungsverhalten über den Kontakt zu den primären Bezugspersonen entwickeln, wobei die Qualität dieser Bindung dauerhaft die späteren Beziehungen, die psychische Stabilität oder eben psychopathologischen Störungen prägen. U. a. daran knüpfen später auch Sears und Sears (2001) an, die den an „instinktiver“ Elternschaft orientierten „7 Bs“ die zentrale Rolle in ihrem Erziehungsansatz zuschreiben: Birth Bonding (Bonding bzw. direkte Kontaktaufnahme nach der Geburt), Breastfeeding (Stillen), Babywearing (Babytragen und Körpernähe), Bed sharing (Gemeinsames Schlafen im Familienbett), Belief in baby’s cries (Glaube an das Weinen des Babys bzw. Beachten und Reagieren), Balance and boundaries (Gleichgewicht und Grenzen als Schlüssel zur Ausgeglichenheit in der Erziehung) und Beware of baby trainers (Vorsicht vor Babytrainer_innen und ihren Ratschlägen). Sieben (2017) spricht in Bezug auf das Attachment Parenting von einer populärwissenschaftlichen Erziehungsphilosophie, die im engen Zusammenhang mit der Intensivierung von Mutterschaft steht. Dabei handele es sich – mit Verweis auf Green und Groves (2008) sowie Faircloth (2013) – um ein „Mittelklasse-Phänomen, das insbesondere akademisch ausgebildete Frauen anspricht“, die „ihre Form der Mutterschaft in bisweilen ‚militanter‘ Weise zum Ausdruck“ bringen, was unter anderem zu erhöhtem Leistungsdruck und Konkurrenz führt (Sieben 2017, S. 54).

Auch wenn es sicherlich einer größer angelegten, differenzierteren Analyse bedarf als sie im Rahmen dieses Artikels möglich ist, um die subtilen und diffusen Bezugnahmen auf diese (populär-)wissenschaftlichen Theorien und Ansätze auf Instagram gesättigt zu rekonstruieren, lassen sich dennoch erste Aspekte festhalten: Was die Beiträge der Fürsprecher_innen – primär mit leiblichen Kindern in heterosexuellen Beziehungen lebend und verheiratet – gemein haben, ist ein hoher Anspruch an Eltern mit starker Kindzentrierung. „Das Beste fürs Kind“ steht im Vordergrund, wobei eine klare Rhetorik des ‚richtig‘ und ‚falsch‘ Machens ohne inhaltliche Einigung erkennbar wird. Eltern (und insbesondere Mütter) werden ganz konkret für das glückliche Leben, die positive Entfaltung und Entwicklung ihrer Kinder in die Verantwortung genommen, verstärkt durch eine hohe Emotionalität und Moralisierung. Diese Form der Intensivierung von Erziehung und Elternschaft ist anschlussfähig an den Fachdiskurs um verantwortete Elternschaft (Ruckdeschel 2015; Kaufmann 1981).

Weiterhin lassen sich Widersprüche aufzeigen, denn unter dem gleichen Label firmieren auf Instagram zugleich unterschiedliche, teilweise gegensätzliche elterliche sowie professionell gerahmte Erziehungsvorstellungen. Ein erster Bruch ergibt sich in der Frage, ob und wenn ja, welche Rolle Grenzziehung in der bedürfnis- und bindungsorientierten Erziehung zugeschrieben wird. Auf der einen Seite werden (die Erfüllung der) kindlichen Bedürfnisse und eine innige Mutter-Kind- bzw. Eltern-Kind-Bindungen als oberste elterliche Orientierung und Maxime verstanden, um eine positive Entwicklung und förderliche Umgebung für das Kind zu schaffen, frei von elterlichem Druck, Zwang, Reglementierungen und Paternalismus im Sinne der Selbstbestimmung und (psychischen) Gesundheit des Kindes. Auf der anderen Seite sollen mithilfe einer bedürfnis- und bindungsorientierten Erziehung kindgerechtes Setzen von Grenzen möglich werden. Denn bedürfnisorientierte Erziehung, so steht es in einem Beitrag des Accounts artgerechtprojekt vom 10.07.2023, „heißt, dass wir Kinder ernst nehmen. Ihre Bedürfnisse, aber auch ihre Entwicklungsstufe. Es heißt nicht, dass die Kinder alles entscheiden – denn das ist gar nicht ihr Bedürfnis (auch wenn es manchmal so aussieht).“.

Eine zweite Unstimmigkeit zeigt sich zum einen in einem gesteigerten Bindungsverständnis „auf Augenhöhe“ im Sinne #beziehungstatterziehung und zum anderen in der Stärkung der Erziehungsverantwortung bei den Eltern und damit einhergehenden Kritik an der Verantwortungsabgabe an das Kind. Diese, so wird argumentiert, kann mit Überforderungen und fehlender Orientierung einhergehen. Die bedürfnis- und bindungsorientierte Erziehung kann also als ein intuitiver Versuch verstanden werden, schon sehr junge Kinder als Akteur_innen zu adressieren, wobei gleichzeitig der kindliche Entwicklungsstand die Herausforderung markiert. Daran anknüpfend ist anzumerken, dass auch die Begriffe Bindung, Beziehung und Bedürfnis nicht ausdifferenziert oder voneinander abgegrenzt (genutzt) werden.

Ein kritischer Blick auf den aktuellen Erziehungstrend in den Sozialen Medien

Da Instagram eine foto- und videobasierte Plattform ist, wird der Diskurs von den Social Media-Akteur_innen mit Blick auf Elternschaft und Erziehung neben den Hashtags auch über Inszenierungen und Ästhetisierungen von Kindheiten, Elternschaft und Familienleben geführt. Durch den Beruf als Influencer_innen gewinnen Produktplazierungen dabei eine enorme Bedeutung, sodass der Diskurs um Erziehung vielfach mit Materiellem und Konsum verknüpft wird. So bewirbt kisu am 18.10.2022 „Amazon-Produkte, die die kindliche Selbstständigkeit fördern“, ein Beitrag, der von der Momfluencerin u. a. mit dem Hashtag #erziehung verschlagwortet wurde. Dies ist nur eins der zahlreichen Beispiele, das auf eine Kommerzialisierung des Erziehungsdiskurses verweist.

Während kritische Stimmen wie die von Sieben (2017, vgl. oben) im deutschsprachigen Raum kaum hörbar sind, zeichnet sich im angloamerikanischen Raum bereits ein deutlich größerer Diskurs um das Attachment Parenting ab. In ihrer Kritik argumentiert Hamilton (2021) beispielsweise, dass die Attachment-Parenting-Bewegung, die mit weißen Frauen der Mittelklasse (middle-class) in Verbindung gebracht werde, eine intersektionale Analyse erfordere, die Class, Race und Gender gleichermaßen berücksichtig. Sie verweist auf rassistische Ideologien, die das Ehepaar Sears – selbst weiß und aus dem Mittleren Westen der USA stammend – einsetze, um eigene Strategien zu fördern: Inspiriert durch „natürliche“ Mütterpraktiken in Afrika, postuliert das Paar ein „instinktives“ Erziehungsverhalten und eine Rückkehr zur „ursprünglichen“ Mütterlichkeit am Beispiel der „natürlich“ fähigen afrikanischen Bindungsmutter (ebd., S. 29). Gleichzeitig hängen die Annahmen, wie ‚gute‘ Eltern- bzw. Mutterschaft aussieht, von der Mittelklasse (middle-class) ab, was für Frauen aus der Arbeiterklasse (working-class) und rassifizierte Frauen nicht immer gleichermaßen zugänglich sei.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Einfluss der Sozialen Medien und ihrer Akteur_innen für die Erziehungsdiskurse der aktuellen Elterngeneration nicht zu unterschätzen ist. So können die medial verhandelten Inhalte als ein gesellschaftliches Brennglas verstanden werden, in denen sich aktuelle Trends, Orientierungen und Ideale, wie hier im Kontext der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung, herauskristallisieren und zur Popularisierung einer Pseudoverwissenschaftlichung pädagogischen Wissens beitragen. Während sich auf der einen Seite eine (niedrigschwellige) Möglichkeit der Inspiration, Orientierung und des Austauschs für heutige Elterngenerationen ergibt, gilt es m. E. auch einen Blick auf die Kommerzialisierung von Erziehung sowie intersektionale Analysen des medialen Erziehungstrends zu richten.