Wenn Zu-Erziehende für ihr Fehlverhalten Verantwortung übernehmen und sich bemühen sollen, entstandene Schäden wiedergutzumachen, dann klingt dies zunächst fortschrittlich. Der Artikel erörtert, was Wiedergutmachung bedeutet und fragt nach ihrem Verhältnis zu Strafe. Handelt es sich bei der Wiedergutmachung tatsächlich um ein neues Erziehungsparadigma oder werden damit nur Strafpraktiken verschleiert?

Pädagogik – sowohl als Disziplin als auch Profession – neigt mitunter aufgrund ihrer starken Normativität und des damit einhergehenden steten Legitimationsdrucks dazu, bestimmte Handlungspraktiken begrifflich zu verschleiern (vgl. Magiera und Wilder 2020) sowie zur Unterscheidung von „‚guten‘ und ‚bösen‘ Wörtern“ (Reichenbach 2011, S. 121). Strafe gehört dabei zweifellos zu eben jenen ‚bösen‘ Wörtern, die im pädagogischen Diskurs keinen Platz (mehr) haben (sollen) (vgl. Thiersch 2006). Da gewisse Strafpraktiken jedoch auch weiterhin in der pädagogischen Praxis vorkommen (z. B. Richter 2019), vielmehr ein „allgegenwärtiges pädagogisches Mittel“ (Dörr 2022, S. 10; vgl. dazu auch Magiera und Wilder 2020; Hügli 2017; Bertram 1960) darstellen, müssen diese notgedrungen begrifflich verschleiert werden. Das führt jedoch dazu, dass mit der Verschleierung der Begriffe eine Verschleierung der mit dem Phänomen einhergehenden Macht- und Verantwortungsstrukturen einhergehen kann und damit „wesentliche Fragen einer kritischen Reflexion entzogen“ (Dörr 2022, S. 10) werden. „Es macht also durchaus Sinn, dort von Strafe und Grenzen zu sprechen, wo es um Strafe und Grenzen gehen soll“ (Huber und Kirchschlager 2019, S. 30), da es nur so gelingen kann, die Aufmerksamkeit auf bestimmte, womöglich problematische Strukturen zu richten. Eines dieser neuen ‚guten‘ Wörter ist Wiedergutmachung und wird insbesondere im Kontext der „Neuen Autorität“ (zu einer genaueren Bestimmung der Konzepte „Neue Autorität“ und „Restorative Justice“ s. unten) diskutiert. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, einerseits das Verhältnis der Begriffe Strafe und Wiedergutmachung zu beleuchten und andererseits daran exemplarisch zu zeigen, ob und wenn ja, welche problematischen strukturellen Verschleierungen mit solcherlei Begriffstransformationen einhergehen können. Der kriminologische Diskurs um „Restorative Justice“ wird dabei herangezogen, um das Straf- und Wiedergutmachungsverständnis der „Neuen Autorität“ problematisieren zu können.

Merkmale von Strafe

Aufgrund seiner langen Historie sowie der Verwendung in verschiedenen Kontexten ist Strafe ein unscharfer und herausfordernder Begriff. Zudem ist er nicht nur Bestandteil fachsprachlicher Diskurse, sondern auch der Alltagssprache und darüber hinaus „ein mit Affekten schwer belastetes Wort“ (Bianchi 1966, S. 11). So bezeichnete bereits Nietzsche (1887/2013, S. 54) den Begriff Strafe als „undefinierbar“, da ihm „eine ganze Synthesis von Sinnen“ innewohnt.

Strafen können ganz allgemein als negative Reaktionen auf normabweichendes Verhalten verstanden werden. Normen sind Verhaltenserwartungen bzw. für bestimmte Situationen festgelegte Erwartungen, die durch ein Einschränken der Freiheit des Einzelnen der Steuerung von Interaktionen dienen (vgl. Jung 2005, S. 19f.). Um deren Einhaltung zu gewährleisten, werden unterschiedliche Mechanismen der sozialen Kontrolle angewendet. Dabei kann zwischen positiven und negativen sowie formellen – durch staatliche Stellen – und informellen – durch den sozialen Nahraum, z. B. der Familie – Sanktionen unterschieden werden (vgl. Meier 2007, S. 225f.). Strafen umfassen negative Sanktionen. Sie bestehen im bewussten Zufügen eines Übels auf Normabweichung. Zwei Disziplinen, in denen Phänomene und Begriff der Strafe kontrovers bzw. intensiv diskutiert werden, sind die Erziehungswissenschaft und das Strafrecht.

Die Allgegenwart und Selbstverständlichkeit pädagogischer Strafpraktiken wurde insbesondere durch zwei Entwicklungen zumindest theoretisch infrage gestellt. Das ist zum einen der Ausbau des Schulwesens und damit verbundenen Schulordnungen sowie der Frage nach deren Durchsetzbarkeit und andererseits das Paradox, freiheitliche Bildungsziele wie Mündigkeit und Selbstbestimmung durch autoritäre Mittel wie Strafe zu erreichen. Hierdurch wurden Wirkmechanismen von Strafe differenziert: die äußere Anpassung aus Furcht vor weiteren Strafen – das Strafleid – und die innere Einsicht, die zu einem Verständnis für die Norm führen kann. Insbesondere der erstgenannte Mechanismus wurde dafür kritisiert, zur puren Dressur zu führen und damit die Erziehungsziele zu verfehlen (vgl. Brumlik 2011, S. 105ff.; Hügli 2017; Geißler 1967).

Im strafrechtlichen Diskurs unterscheiden sich staatliche Strafen durch ihre Allgemeingültigkeit und ihren hohen Grad an Formalisierung. Sie liegen in Gesetzen kodifiziert vor. Ihre Einhaltung wird durch staatliche Organe überwacht, die eigens dafür mit einem Gewaltmonopol ausgestattet sind (vgl. Cornel und Trenczek 2019, S. 25; Jung 2005, S. 23). Im spezifischen Kontext des Strafrechts bedeutet Strafe eine „vom Staat angeordnete Zufügung eines Übels [Hervorhebung i. O.] als Reaktion auf ein verbotenes, strafrechtlich relevantes Verhalten“ (Cornel und Trenczek 2019, S. 120). Sie wird immer von einem Strafmakel bzw. Stigma begleitet und findet in einem Zwangsverhältnis statt (vgl. Jung 2005, S. 21ff.). Da staatliche Strafen immer Leid zufügen (Christie 1986; Ostendorf 2018a, S. 18), bedürfen sie einer besonderen Legitimation, die entweder über Vergeltung – absolute Straftheorien, nach denen Strafe Selbstzweck im Sinne eines Schuldausgleichs meint – oder Prävention – relative Straftheorien, nach denen die Strafe stets den Zweck hat, künftige Straftaten zu verhindern, durch Abschreckung, Bestätigung des Rechtsbewusstseins sowie Resozialisierung als General- und Individualprävention – erreicht werden kann (vgl. von der Pfordten 2013, S. 116). Im deutschen Erwachsenenstrafrecht werden diese Aspekte ähnlich gewichtet. Ziel ist, „die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet“ (BverfG 1977, Urteil vom 21.06.1977).

Im Jugendstrafrecht steht jedoch der Erziehungsgedanke, also die Individualprävention, im Vordergrund, weshalb es auch als „Erziehungsstrafrecht“ bezeichnet wird (vgl. Ostendorf 2007, S. 66). „Vergeltung, Sühne und Generalprävention haben keine Bedeutung“ (Vorwort der Polizeilichen Dienstvorschrift 382 zur Bearbeitung von Jugendsachen). Primäres Ziel ist hier die Verhinderung von erneuten Straftaten der Jugendlichen oder Heranwachsenden durch die Ausrichtung der Rechtsfolgen und des Verfahrens auf Erziehung (§ 2 Abs. 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG)). Dabei stehen die Befähigung des Jugendlichen und die Vermeidung von negativen Folgen strafrechtlicher Eingriffe in den Prozess des Erwachsenwerdens im Mittelpunkt. Eine genaue Bestimmung des Verhältnisses von Erziehung und Strafe bleibt dabei jedoch aus und wird kontrovers diskutiert (vgl. Goldberg und Trenczek 2022, S. 273). Ostendorf (2007 & 2018b) arbeitet jedoch klar heraus, dass das Ziel von Jugendstrafen lediglich in der Legalbewährung bestehen kann, also der Aufrechterhaltung der bestehenden Normstruktur, nicht jedoch in der Schaffung mündiger und guter Menschen.

Wiedergutmachung im Kontext von Restorative Justice

Die Interessen von Opfern von Straftaten und die Idee der Wiedergutmachung gewinnen seit Ende der 1970er-Jahre im Strafrecht an Bedeutung (vgl. Cornel und Trenczek 2019, S. 125). Der 1994 eingeführte § 46a des StGB ermöglicht den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) und die Wiedergutmachung. Hierbei handelt es sich um die Bemühungen von Täter_innen, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erzielen und die Straftat weitgehend gutzumachen bzw. das Opfer zu entschädigen. Diese Bemühungen können mittels Milderung oder Absehen von Strafe strafrechtlich berücksichtigt werden.

Der TOA, mit dem die Wiedergutmachung neben die Strafe gestellt wurde, ist eine – wenngleich verkürzte – Umsetzungsform der Theorie der „Restorative Justice“, welche die Straftat nicht nur als Bruch der strafrechtlichen Norm, sondern vor allem als Konflikt und Verletzung von Menschen und Beziehungen sieht. Im Mittelpunkt steht dabei die aktive Beteiligung der Betroffenen am Aufarbeitungsprozess. Opfer, die einen Schaden erlitten haben, erhalten Unterstützung, um heilen und abschließen zu können. Täter_innen werden unterstützt, freiwillig Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und, wo gerade auch von Betroffenen gewünscht, Wiedergutmachung zu leisten. Der gesamte Prozess ist auf eine Stärkung sozialer Beziehungen und Re(Integration) Betroffener und Verantwortlicher ausgerichtet (vgl. Hagemann und Magiera 2023, S. 63; Hughes 2001, S. 247).

Das Konzept der Wiedergutmachung ist weit gefasst und beinhaltet nicht nur materielle Kompensation, sondern im Wesentlichen auch immaterielle, symbolische Aspekte (Lutz 2018, S. 604). „Restorative Justice“ legt dabei den Fokus auf die Kommunikation der Beteiligten und den dialogischen Prozess der Aufarbeitung, was durch eine Fokussierung des TOA auf eine Lösung (Ergebnis: Wiedergutmachung) häufig verkürzt wird (vgl. Hagemann und Magiera 2023).

Die Beziehung zwischen „Restorative Justice“ und Strafe ist dabei seit jeher Gegenstand des Diskurses. Während frühe Vertreter der „Restorative Justice“ diese als strikte Alternative zur auf Vergeltung ausgerichteten Strafe sahen, argumentiert Daly (2012), dass Strafen heute insgesamt kaum noch mit der Intention des Zufügens von Leid verhängt werden, „Restorative Justice“ daher vielmehr ein Element im Prozess der Zivilisierung und Reduktion von – auch staatlicher – Gewalt sei. Zudem lässt sich in der Praxis die Absicht kaum von der Konsequenz einer Strafe unterscheiden. So kann auch eine Wiedergutmachung oder Entschuldigung mit erheblichem Leid bei einer/einem Täter_in verbunden sein. Und es sei ein schmaler Grat zwischen dem Zwang zu einer Sanktion und der Aufforderung an eine_n Täter_in, sich einem restorativen Gespräch zu stellen.

Gade (2021) schlägt daher eine Systematisierung verschiedener Strafkonzepte vor, um das Verhältnis zur „Restorative Justice“ besser zu fassen. Er benennt dazu verschiedene Dimensionen wie Autorität der verhängenden Instanz, Intention der Sanktion, Wahrnehmung der Sanktion durch Sanktionierte und Gesellschaft, Schuld, Unwerturteil und Freiwilligkeit. Gade kommt zu dem Schluss, dass „Restorative Justice“ im Hinblick auf bestimmte Dimensionen durchaus als Strafe verstanden werden kann (zur Umstrittenheit dieser Position: vgl. European Forum for Restorative Justice 2022). Daly (2012) argumentiert, dass die „Restorative Justice“ sich, solange sie im Strafjustizsystem verankert ist, mit dessen Logik auseinandersetzen muss. Hierbei spielen sowohl ethische und moralische Vorstellungen des Umgangs mit Tätern und Opfern als auch praktische und empirische Fragen eine Rolle.

Wiedergutmachung im Kontext der Neuen Autorität

Die um die Jahrtausendwende von Omer entwickelte „Neue Autorität“ ist ein systemisches Handlungs- und Führungskonzept zur Gestaltung von Beziehungen und zur Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit. Ausgangspunkt der „Neuen Autorität“ ist – stark verkürzt – die Überlegung, dass pädagogisch Tätigen (wie Eltern, Erzieher_innen, Lehrer_innen) im Zuge der Nachkriegskritik an autoritärer Erziehung auch ihre „natürliche Autorität“ (du Bois 2017, S. 7) verloren gegangen ist. Sie sind dadurch und durch den sich daran anschließenden, vielfältigen Diskurs um die „richtige“ Erziehung teilweise orientierungslos, unsicher und hilflos geworden und bedürfen deswegen – zum Schutz und Wohl der Kinder – einer neuen Autorität (vgl. Körner et al. 2019). Dieser Effekt der Hilflosigkeit wird zusätzlich verstärkt durch die Vereinzelungstendenzen moderner Gesellschaften (vgl. Omer und Haller 2020). Statt um Macht und Kontrolle mittels Distanz, Zwang und Gewalt geht es bei der „Neuen Autorität“ um Beziehungsarbeit durch Nähe, Kooperation und die Absicherung von Autonomie auf Grundlage transparenter Verantwortlichkeiten. Anstelle einer entwicklungsschädigenden, mit Strafpraktiken arbeitenden Autorität und der mit ihr einhergehenden Gefahr von Machtmissbräuchen, steht eine entwicklungsfördernde Autorität im Zentrum, die mittels der Konzepte persönlicher Präsenz und wachsamer Sorge ein respektvolles Miteinander ermöglicht. Die Autorität liegt weniger bei Einzelpersonen, sondern vielmehr bei einer Gemeinschaft, die sich transparent über die Fehlverhalten der Kinder informiert und gegenseitig unterstützt (vgl. für die konzeptionellen Grundlagen Omer und von Schlippe 2016, 2017; Omer 2016).

Im Kontext der „Neuen Autorität“ wird daher der Fokus von Strafe auf Wiedergutmachung verlagert. Anstatt Fehlverhalten zu bestrafen, geht es darum, den Schaden zu beheben und durch Einsicht aus dem Fehlverhalten zu lernen. Wiedergutmachung soll die Person ermutigen, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen und so die persönliche Entwicklung fördern, anstatt Widerstand oder Rebellion hervorzurufen, die oft als Reaktion auf Strafe auftreten (vgl. Omer und Haller 2020). Aber was genau heißt hier Wiedergutmachung?

Wiedergutmachung ist konzipiert als Methode zur „Reaktion auf unerwünschtes und grenzverletzendes Verhalten“ (Küng 2022, S. 54), das dann vorliegt, „wenn durch eine persönliche Handlung relevanter Schaden entstanden ist, entweder seelischer, körperlicher oder materieller Art“ (Ofner und Fischer 2019, S. 455). Sie besteht aus zwei Hauptaspekten (vgl. Körner et al. 2019, Ofner und Fischer 2019): Erstens der Verantwortungsübernahme, bei der die schädigende Person ihr Verhalten in einem Bericht bedauert. Die Verantwortung wird sichtbar, wenn ein Moment der Scham spürbar ist. Zweitens folgt eine Geste des guten Willens gegenüber den Geschädigten als konkreter Ausdruck der Wiedergutmachung, die die Absicht zum Ausdruck bringt, solche Handlungen zukünftig zu unterlassen. Die Wiedergutmachung darf nicht auferlegt werden, sondern muss aus der schädigenden Person selbst hervorgehen, womit ihr auch die Verantwortung dafür zugesprochen wird. Die Aufgabe der Autoritätsperson besteht darin, den Prozess einzuleiten und zu unterstützen, z. B. durch „das Demonstrieren überzeugender Präsenz, die Unterstützung durch Helfer, Druck durch die öffentliche Meinung und das Ansprechen positiver innerer Stimmen des Kindes“ (Omer und von Schlippe 2016, S. 61). In seltenen Fällen, in denen trotz aller Beharrlichkeit, die schädigende Person nicht bereit ist, die Wiedergutmachung zu vollziehen, übernimmt die erwachsene Person die Wiedergutmachung stellvertretend und macht das der schädigenden und der geschädigten Partei transparent. Auch dieser zweite Teil der Wiedergutmachung adressiert somit im Kern das Schamgefühl. Das birgt jedoch auch Gefahren, „denn der Grat zwischen Transparenz und öffentlicher Beschämung ist oft ein sehr schmaler“ (Ofner und Fischer 2019, S. 462). Es muss daher darauf geachtet werden, dass die Scham sich auf das spezifische Verhalten und nicht auf die Person bezieht (vgl. Omer und Haller 2020).

Ziel der Wiedergutmachung ist die (Re)Integration der schädigenden Person in die entsprechende Gemeinschaft. Es geht also nicht um Vergeltung, sondern um die Internalisierung von Werten gegen Gewalt (vgl. Omer und von Schlippe 2016). Ihr Zweck „liegt folglich vielmehr im Vermeiden von zukünftigen Eskalationen als in der Wiedergutmachung selbst“ (Küng 2022, S. 56). Wobei es jedoch an anderer Stelle konträr dazu heißt: „Das oberste Ziel ist es, die geschädigten Personen zu entschädigen und ihnen wieder zu einem Gefühl der Sicherheit zu verhelfen“ (Ofner und Fischer 2019, S. 454). Es bleibt also diffus, ob das primäre Ziel der Wiedergutmachung die schädigende oder die geschädigte Person ist.

Die Wirkungsweise der Wiedergutmachung scheint im Wesentlichen auf dem Schamgefühl zu beruhen, denn „Scham ist ein Indikator für das gesellschaftlich akzeptierte Verhalten. Wer die Grenze des Tolerierten überschreitet, gilt als scham-los. Zugleich ist die Scham ein zutiefst negatives Empfinden“ (Omer und Haller 2020, S. 228). Personen gezielt schamerzeugenden Situationen und damit einem negativen Empfinden auszusetzen, das zu nachhaltigen Verhaltensänderungen führt, ist der konstruktive Effekt von Schamerfahrungen (Omer und Haller 2020, S. 205). Dieser wird verstärkt durch die radikale Transparenzforderung: „Wir halten nichts geheim, wir beteiligen alle Menschen, die mit dem Problem in Berührung kommen oder die uns behilflich sein können“ (Omer und Haller 2020, S. 211).

Wiedergutmachung als Strafe?

Sowohl „Restorative Justice“ als auch die „Neue Autorität“ stellen alternative Ansätze zu bisherigen institutionellen Konzepten von Bestrafung und Disziplinierung dar. Sie betonen den Dialog, die Verantwortungsübernahme und die Wiedergutmachung. In der „Neuen Autorität“ besteht ein klares Verständnis dafür, dass Strafen von außen aufgezwungen und von dem/der Täter_in hingenommen werden. Im Gegensatz dazu stellt die Wiedergutmachung die Betroffenen in den Vordergrund. Sie fordert Täter_innen dazu auf, aktiv zu werden und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen (Omer und Haller 2020, S. 223; Omer und von Schlippe 2016, S. 61). Mit diesem Ansatz fällt die „Neuen Autorität“ hinter den Diskursstand im Kontext von „Restorative Justice“ zurück, in dem diese Annahmen bereits sehr kritisch diskutiert werden (vgl. Lutz 2002; Zehr und Toews 2010). Zudem basiert die Wiedergutmachung in der „Neuen Autorität“ auf der Notwendigkeit eindeutiger Schuldzuweisungen und erfordert, dass jemand als der-/diejenige bestimmt wird, die/der wiedergutmachen muss. Diese klaren Rollenzuschreibungen von Täter_in und Opfer sind jedoch gerade bei kindlichen Interaktionen problematisch (Küng 2022). Auch hier bleibt der Diskursstand der „Restaurative Justice“ unberücksichtigt, die u. a. deswegen den Fokus auf die respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe unter den Beteiligten legt (vgl. Umbreit und Armour 2011).

Begreift man Strafen im allgemeinen Sinne als Überbegriff für negative Reaktionen (Sanktionen) auf normabweichendes Verhalten, durch die den Täter_innen gezielt ein Übel zugefügt, also ein Strafleid erzeugt wird, ist nicht ersichtlich, weshalb man die Wiedergutmachung in der „Neuen Autorität“ nicht der Kategorie Strafe zuordnen soll. Vermeintliche Täter_innen werden gezielt in Situationen mit dem Ziel negativer Schamerfahrungen gebracht, dadurch entfaltet die Methode erst ihre Wirksamkeit. „Erhebt die NA [Neue Autorität] den Anspruch, gewaltfrei agieren zu wollen, so müsse die Scham und Beschämungskette unterbrochen worden“ (Behringer 2023, S. 206). Auch dieser Aspekt wird im Kontext von „Restorative Justice“ spätestens seit 1989 mit der Veröffentlichung von Braithwaites Reintegrative Shaming Theory kontrovers diskutiert (Braithwaite 1989; Braithwaite und Mugford 1994). Die Idee ist, dass Beschämung zur Verhinderung von Kriminalität nützlich sein kann, wenn sie mit Ritualen der symbolischen Wiedereingliederung verbunden wird. Die Betonung liegt auf der Beschämung des Verhaltens und nicht der Person, gefolgt von Ritualen der Vergebung und Akzeptanz. Doch wird auch hier die Gefahr diskutiert, dass diese Art von Beschämung, obwohl sie auf der Oberfläche respektvoll und reintegrativ erscheint, letztlich zu einer weiteren Form der Bestrafung werden kann, wenn sie nicht ‚richtig‘ (z. B. Einbettung von „Restorative Justice“ in Werte und Standards, vgl. Chapman et al. 2021) gehandhabt wird. In beiden Ansätzen besteht die Gefahr, dass Wiedergutmachung durch den Mechanismus der Beschämung als subtile Form der Bestrafung auftritt. Trotz ihrer guten Absichten kann sie dazu führen, dass die betroffenen Personen sich schuldig, beschämt oder bestraft fühlen. Das wirft die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, Strafe vollständig aus dem Prozess der Konfliktlösung und Wiedergutmachung zu entfernen oder ob es sich am Ende nicht doch um verschleierte Methoden zur Bestrafung handelt.

Das zusätzliche Problem dieser Verschleierung besteht im Kontext der „Neuen Autorität“ und ihrer Idee, „das Kind und den Erwachsenen Seite an Seite“ (Omer & von Schlippe 2016, S. 61) zu stellen, darin, das für den Erziehungsprozess konstitutive Hierarchie- und Verantwortungsgefälle (Welter und Tenorth 2022; Arendt 2000) zu übersehen. Die „Neuen Autorität“ geht von einer „bewusst eingesetzten rücksichtslosen Intentionalität der jungen Menschen“ (Behringer 2023, S. 205) aus, was in der Konsequenz dazu führt, allein den Kindern die vollständige Verantwortung für ihr Handeln zuzusprechen. Das jedoch steht konträr zur Idee von Erziehung im pädagogischen (die langsame und schrittweise Verantwortungsabgabe) und rechtlichen Sinne (Verantwortungsreife) (sowie Grundprämissen der „Restorative Justice“ (vgl. Zehr und Toews 2010)). Wiedergutmachung entsprechend der „Neuen Autorität“ reiht sich damit ein, in die gegenwärtig üblichen Verkürzungen der wesentlichen pädagogischen Grundantinomie „dass der eine den anderen zu etwas anleiten will, was dieser nur selbst tun kann“ (Ladenthin 2022, S. 51). Dabei vereint sie sogar die eigentlich gegensätzlichen Defizite, denn sie verknüpft eine outputdefinierte Handlungssteuerung mit gleichzeitiger Tendenz zur Verantwortungsabgabe (ebd., S. 51f.). „Beide Verkürzungen haben den Vorzug einfach zu sein, für den Laien unmittelbar verständlich. Sie beflügeln Machbarkeitsphantasien oder entlasten mit Hinweis auf Selbstverwirklichung von jeder Verantwortung“ (ebd., S. 52). Daher wundert es nicht, dass Dörr (2022, S. 12) urteilt: „Diese von Verhaltenswissenschaftler/innen entwickelten Lenkungstechniken gestatten den pädagogischen Fachkräften zwar scheinbar straf- und gewaltfrei zu erziehen, tatsächlich aber hat diese Kinderverwaltungstechnik den Namen ‚Erziehung‘ kaum verdient.“