Zusammenfassung
Begriff, Theorie und Praxis einer gegen rigides Strafen und Triebunterdrückung angehenden antiautoritären Erziehung waren seit ihrem Entstehen konservativen bis reaktionären Einwänden ausgesetzt – etwa durch die Thesen des Bonner Forums „Mut zur Erziehung“ aus dem Jahr 1978. Die damals gestellten und diskutierten Fragen nach dem Verhältnis von Pädagogik, Autorität und Disziplin sollten freilich mit den Bonner Thesen und den auf sie folgenden Erwiderungen keineswegs ein für allemal erledigt sein, sondern dreißig Jahre später noch einmal aufbrechen – zuletzt anhand der seit zwei Jahren geführten Debatte um Bernhard Buebs Pamphlet „Mut zur Disziplin“ (2006). Nicht zuletzt dieses Pamphlets wegen hat sich auch die wissenschaftliche Pädagogik des Themas zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder grundsätzlich angenommen und es in ihren Zeitschriften gründlich erörtert (vgl. Claußen 2007; Sünker 2007). So ist etwa im Rückgriff auf die von Bueb reklamierte reformpädagogische Tradition, unter Bezug auf Siegfried Bernfeld und Janusz Korczak der Nachweis gelungen, dass Buebs Begriff der Disziplin in äußerster, undifferenzierter Schlichtheit letztlich nur das umfasst, was man als „militärische Disziplin“ bezeichnen könnte: unbefragter Gehorsam gegenüber präzise umrissenen Befehlen (vgl. Wyrobnik 2007: 156 ff). Der Begriff der militärischen Disziplin impliziert jedoch deren Erzwingbarkeit und das heißt – nicht nur im äußersten Falle – der Androhung oder wirklichen Zufügung von Übeln an Personen, die sich den Befehlen verweigern. Eine Pädagogik der Disziplin wird daher mit einer gewissen Notwendigkeit auch die Thematik des Strafens wieder aufnehmen müssen. Nicht zuletzt hat der schließlich gescheiterte Wahlkampf des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, in dem er den Überfall zweier Schläger auf einen alten Mann in der Münchner U-Bahn zu einer radikal populistischen Demagogie nutzte, das Thema weiter verbreitet (vgl. Brumlik 2008). Freilich kam – anders als erwartet – die Forderung nach einem verschärften Jugendstrafrecht und gar der Anwendung des Jugendstrafrechts auf delinquente Kinder bei der Wählerschaft nicht an, sondern kostete sogar Stimmen. Und allen Versprechungen zum Trotz, die Thematik auch nach dem Wahlkampf ernsthaft weiter zu verfolgen, wurde sie seither totgeschwiegen – dem Amoklauf von Winnenden zum Trotz.
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Brumlik, M. (2011). Das Wiederaufleben der Disziplin. Autorität und Strafe am Beispiel Immanuel Kants. In: Dollinger, B., Schmidt-Semisch, H. (eds) Handbuch Jugendkriminalität. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94164-6_6
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