Die Heimerziehung ist eine familienergänzende oder -ersetzende Maßnahme der Hilfen zur Erziehung. Im günstigsten Fall schafft sie in Kooperation mit den Eltern einen gedeihlichen Lebensort für junge Menschen. Zum Leben junger Menschen gehört zweifellos auch die Schule, wodurch schulische Belange von Kindern und Jugendlichen zum Gegenstand von Heimerziehung werden. Nichtsdestotrotz ist die Heimerziehung keine schulergänzende Maßnahme, da sie kein Teil des Bildungssystems ist.

Der Anlass der Heimerziehung ist nicht der Erwerb von formalen Bildungszertifikaten. Das lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass es in Deutschland keine eigenständigen Bildungspläne in den Hilfen zur Erziehung gibt. Die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit, also jungen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft gleiche Chancen auf einen Zertifikatserwerb zu ermöglichen, ist Aufgabe von Schule und Bildungspolitik. Entsprechend sind die stationären Hilfen zur Erziehung nicht angehalten, Probleme mit schulischen Belangen zu priorisieren oder ihnen eine „besondere Aufmerksamkeit zu schenken“ (Strahl 2019, S. 8).

Als Soziale Dienstleistung dienen die Hilfen zur Erziehung der Abfederung kollektiv erzeugter Risiken und struktureller Problemlagen, die sich im Alltag der Menschen manifestieren. Hier geht es um Subjektbildung, die u. a. eine selbstbestimmte Persönlichkeit und Demokratiefähigkeit adressiert (vgl. Scherr 2002), wie es sich im Anspruch auf die Entwicklung zu einer selbstbestimmten, eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (SGBVIII § Art. 1 Abs. 1) widerspiegelt. Das Verhältnis von Heimerziehung und Schule bleibt dabei wenig konturiert, was im Kinder- und Jugendhilfediskurs sowohl kritisiert als auch (wie im Folgenden) verteidigt wird. Ein Mangel an schulischer Bildung in der Heimerziehung wird beispielsweise in dem Modell der bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe diagnostiziert. Mit dem Vorschlag, Heime analog zu Internaten zu gestalten bzw. das Modell der Internate zu übernehen, wird für eine Scholarisierung der Heimerziehung plädiert, sprich für eine Überführung der Heimerziehung in das Schul- und Bildungssystem. Für Internate sei der Anlass Bildung bzw. Bildung und Erziehung, während Heime lediglich betreuen, therapieren oder sogar nur verwahren würden (vgl. Schrödter 2019, S. 82 ff.). Abgesehen von der Frage, ob dies empirisch haltbar ist (zumindest die gesetzlichen Anforderungen an die Heime sind doch deutlich weitreichender), wird dabei u. a. ausgeblendet, dass Heime damit Leistungsbeurteilung vornehmen müssten, Leistungsvoraussetzungen von den Kindern und Jugendlichen zu erfüllen wären, denn Schulen und auch Internate sind in aller Regel nicht bedingungslos. An diesem Beispiel der sehr weitreichenden Forderung von Schrödter lässt sich verdeutlichen, dass Wohngruppen ihren Charakter eines sozialpädagogischen Ortes verlieren würden, würde man schulische Belange und formale Bildung als Anlass für die Heimerziehung betrachten oder sie gar gänzlich schulisch zu überformen. Bislang ist die schulische Beurteilung der Kinder und Jugendlichen nicht der zentrale Maßstab, um zu beurteilen, ob es sich um gelingende Hilfe handelt.

Richtig ist jedoch, dass junge Menschen, die fremduntergebracht sind oder waren, in der Gruppe der schulisch erfolgreichen Personen systematisch unterrepräsentiert sind. Dies zeigen deutschsprachige wie internationale Studien in Übereinstimmung (Köngeter et al. 2016, S. 38 ff.; Gypen et al. 2017; Groinig et al. 2019; Maclean et al. 2017). Nur wenig Beachtung in der Debatte um diese Benachteiligungslage findet interessanterweise die Schule als potenzielle (Mit‑)Verursacherin dieser Benachteiligung.

Klische und Täubig (2019) verweisen auf eine in diesem Zusammenhang wichtige strukturelle Gemeinsamkeit von Heimerziehung und Schule, nämlich darauf, dass beide die Tendenz haben, Kinder und Jugendliche im Falle unerfüllter Erwartungen in andere Schulen oder Schultypen bzw. andere Einrichtungen zu verweisen. Es wird auf potenziell mangelnde Unterstützung durch Lehrer:innen hingewiesen (Köngeter et. al. 2016, S. 78 ff.). Eine systematische Untersuchung über Diskriminierungserfahrung von und Selektionsprozessen gegenüber fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen in der Schule gibt es bislang nicht. Dies ist vor allem deshalb relevant, weil es grundsätzlich die Aufgabe von Bildungspolitiken und Schulen ist, Bildungsungleichheiten zu reduzieren. Eine Überwindung von Bildungsungleichheiten ist nicht über eine Allgemeinzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe zu lösen, was jedoch den Forderungen nach einem Bildungsauftrag der Heimerziehung immanent erscheint. Jedoch müssen die Care-Bedingungen in der Heimerziehung dergestalt sein, dass der Zugang zu schulischer Bildung grundsätzlich ermöglicht wird. Die Frage ist also nicht, ob die Heimerziehung in hinreichendem Ausmaß schulische Aufgaben übernimmt, aber dennoch, ob sie für die junge Menschen unter Bedingungen besonderer Benachteiligung wesentliche Voraussetzungen für gelingende schulische Bildung schafft. Dem wird im Rahmen der vom BMBF geförderten Studie ‚Unwahrscheinliche Bildungskarrieren – Der Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe zu gelingender Bildung unter Bedingungen von besonderer Benachteiligung (gelB)‘ nachgegangen. In diesem Beitrag werden erste Befunde des Projektes dargestellt. Es wurden 18 Personen interviewt, die gegenwärtig in der Heimerziehung leben und (Fach‑)Abitur oder eine gleichwertige Berufsausbildung anstreben.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, dass Heimerziehung einerseits zu einer Stabilisierung und Aufrechterhaltung eines gymnasialen Weges einen zentralen Beitrag leisten kann, Jugendhilfe-adressat:innen zugleich aber Abwertung und Missachtung in Schulen erfahren, die unmittelbar mit der Inanspruchnahme von stationären Hilfen zur Erziehung verknüpft sind. Andererseits wird deutlich, dass die Gestaltung der Heimerziehung punktuell kontraproduktiv für die Aufrechterhaltung bzw. Initiierung gelingender Bildungsprozesse sein kann und inhärente Bildungsbarrieren für junge Menschen produziert. Diese Barrieren liegen nicht so sehr in einer mangelnden Nähe zur Schule, einer unzureichenden Scholarisierung, sondern primär in organisationalen Standardisierungen begründet, die die Selbstbestimmungspotentiale junger Menschen einschränken. Dieser Artikel greift exemplarisch Standardisierungsprozesse der Heimerziehung auf, die Übergänge betreffen, und zwar sowohl innerhalb der Jugendhilfe, als auch mit Blick auf schulische Übergänge. Darüber hinaus wird die Standardisierung alltäglicher Prozesse und ihre Bedeutung für schulische Belange behandelt. Eine weiterreichende Verschulung der Heimerziehung oder die Forderung nach einem eigenständigen Bildungsauftrag würde die im Folgenden skizzierten Problemlagen kaum lösen, eine Besinnung auf professionelle, bedarfsorientierte Entscheidungsprozesse aber möglicherweise schon.

Schulischer Übergang als fremdbestimmte, kollektivierte Entscheidung – junge Menschen als Beobachter_innen ihrer Bildungsbiografie

Als ein entscheidendes Moment im Verlauf einer Bildungsbiografie kann im deutschen Schulsystem der Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule gelten, denn hier wird relativ dauerhaft und stabil der Korridor für weitere Bildungsmöglichkeiten festgelegt (vgl. Strahl 2019, S. 7). Es lässt sich eine geringe Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schulformen konstatieren; insbesondere ein späterer Wechsel in sog. höhere Schulformen ist unwahrscheinlich (vgl. Köngeter et al. 2016, S. 32). Die Entscheidung darüber, welche Schulform im Anschluss an die Grundschule besucht wird, legt somit weitgehend fest, welcher Schulabschluss wahrscheinlich ist. Es geht also um Entscheidungen, die das Leben der Jugendlichen tiefgreifend und langfristig beeinflussen. In den folgenden Interviewpassagen wird deutlich, dass diese Entscheidung dennoch nicht in allen Einrichtungen der Heimerziehung eine individualisierte, an den Interessen der Betroffenen ausgerichtete ist, sondern teilweise von organisationalen Routinen determiniert ist. Entscheidungen werden in diesem Fall von der Organisation für das Kollektiv der Bewohner:innen einheitlich getroffen. In der folgenden Interviewpassage zeigt sich, dass dies zunächst zu einem Gefühl von Fremdbestimmung und vor allem Objektivierung führt. Die Betroffene spricht darüber, wie es trotz einer Gymnasialempfehlung zu der Entscheidung kam, die Gesamtschule zu besuchen:

I: M:h weißt du noch, wie es zu dieser Entscheidung kam? Also wie es zu der Entscheidung kam, auf welche weiterführende Schule du kommst?

B: Ähm, das war eine Empfehlung von meiner Klassenlehrerin, die sehr zu Herzen genommen worden sind, weil die zu den Betreuern sehr nett rüber kam, obwohl die ja eigentlich gar nicht nett war. Aber das war halt wirklich so ne Empfehlung und am Ende haben-, war, war trotzdem so diese Ungewissheit, was machen wir jetzt? Deswegen wurde am Ende dann halt entschieden, dass wir auf ne Gesamtschule gehe, weil es halt wirklich das ganze Spektrum ist. Weil es halt einfach einfacher für die zu bestimmen war, wo ich dann am Ende lande.

I: Mh (bejahend) (.) ähm würdest du denn sagen, du wurdest daran irgendwie beteiligt, an dieser Entscheidung?

B: Nein. (.)

(II3, Z. 821–842)

Als ausschlaggebend für die Entscheidung dazu, welche weiterführende Schule sie besuchen werde, beschreibt B1 zum einen „eine Empfehlung von meiner Klassenlehrerin“ (Z. 825f) und zum anderen die handlungspragmatische, durch Einfachheit der Bestimmung geleitete Einschätzung der Betreuer_innen, dass es in der Gesamtschule „halt wirklich das ganze Spektrum“ (Z. 835) sei. B1 beschreibt sich rückblickend als Objekt einer Entscheidung, auf die sie keinen Einfluss hatte: Es „wurde am Ende dann halt entschieden“ (Z. 834) und es sei „einfach einfacher für die zu bestimmen [gewesen], wo ich am Ende lande“ (Z. 836f). Diesem Objektstatus entsprechend wird ihre Individualität zu Gunsten einer kollektivierten Entscheidung – in dem Sinne, dass für alle gleich entschieden wird – zurückgestellt: Denn es wird nicht nur für sie als Einzelperson, sondern für eine Gruppe entschieden, „dass ich [wie die anderen Kinder und Jugendlichen aus der Wohngruppe] auf ne Gesamtschule gehe“ (Z. 834f). Die Gesamtschule zu besuchen sei, so führt sie kurz später aus, „irgendwie so normal für das Kinderheim“ (Z. 848f) und so habe sie diese Entscheidung „auf der einen Seite […] Null gestört“ (Z. 846). Andererseits verknüpft sie den kollektivierten Entscheidungsprozess mit AnstrengungFootnote 1 und reklamiert einen Subjektstatus: „Auf der andern Seite war’s halt schon ziemlich anstrengend, weil man dachte sich so, nur, weil die anderen aber auf’s Gymnasium gehen, heißt das nicht- äh Gesamtschule gehen, heißt das ja nicht, dass ich das auch machen muss“ (Z. 854–856). Problematisiert wird hier zunächst nicht per se, dass bei einem Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule erwachsene Personen (in dem Fall Betreuer:innen und Lehrer:innen) paternalistisch Handeln und unterschiedliche Aspekte abwägen, um eine Entscheidung im Interesse der Betroffenen zu treffen. Die Befragte problematisiert, dass ihre Person, ihre Biografie und ihr Interesse nicht im Zentrum dieser Überlegungen standen und stattdessen organisationale Routinen und ihre Zugehörigkeit zu der Wohngruppe vordergründig waren.

Diese Kollektiventscheidung hat zur Folge, dass die Betroffenen „auf Entscheidungen, die sie betreffen, keinen Einfluss […] nehmen“ (Schnurr 2018, S. 636)Footnote 2 – was jedoch eine Voraussetzung für Partizipation wäre. Stattdessen begreift sich die Befragte weitgehend als Beobachterin ihrer Bildungsbiografie, beschreibt, dass eine ausreichende Erklärung ausgeblieben sei: „Hätte man mit mir geredet und hätte gesagt okay, m‑ , wir können auch auf die Gesamtschule gehen, weil da kannst du auch dein Abi machen, fände ich das viel einfacher, als irgendwas zu bestimmen und nicht mal zu gucken, ob das überhaupt meinen Wünschen entspricht“ (Z. 898–905). Schwerwiegende Übergangsentscheidungen werden in diesem Fall nicht im Dialog mit der Jugendlichen unter Berücksichtigung ihrer Wünsche getroffen – sie hätte bevorzugt „auf die Realschule und danach eventuell auf das Gymnasium“ (Z. 873f) zu gehen – sondern vereinheitlicht und einem für die Einrichtung normalen Standard, dem Besuch einer Gesamtschule, unterworfen. Bei der Entscheidung, welche Schulform sie nach der Grundschule besucht, rekurriert sie nicht auf ihre persönlichen Leistungen, Ziele und Wünsche, sondern stellt Pragmatismus und Bedingungen der Organisation, mit denen sie im Kontext ihrer Unterbringung konfrontiert ist, als bestimmend dafür dar, wo sie „am Ende lande[t]“ (Z. 837). Trotz dessen, dass das Ergebnis der Entscheidung – die Gesamtschule – nicht per se problematisch ist, ist die organisationale Standardisierung des Prozesses der Entscheidung über eine zentrale Übergangspassage objektivierend, da weder die individuelle Biografie noch die Präferenzen der Person für die Prozessgestaltung relevant sind.

Organisationale Standards als Bildungshindernisse – junge Menschen zwischen Schule und Heim

Diese Unterordnung individueller Bedürfnisse und Bedarfe unter organisationale Standardisierungen zeigt sich im Fall einer anderen Jugendlichen auf der Ebene des Alltäglichen in Form einer Unvereinbarkeit schulischer Anforderungen mit den Regeln ihrer Wohngruppe. In den organisationalen Bedingungen scheinen schulspezifische Bedarfe, die an höhere Bildung gekoppelt sind, zumindest teilweise nicht mitgedacht und in Folge auch nicht vorgesehen zu sein. Die Organisation des Alltags wird dadurch zu einer Barriere im Kontext von Bildung. B2 bezieht sich auf die Notwendigkeit, im Kontext von Laborpraktika Protokolle verfassen zu müssen, wobei seitens der Schule vorausgesetzt werde, „dass ich (.) nen eigenen Laptop hab und alles“ (Z. 1738f) – was mit dem bis dahin geltendem Regelwerk und dem grundsätzlich standardisierten Umgang mit Regeln in ihrer Wohngruppe kollidiert:

B: was zum einen hinderlich war, dass wir Internetzeiten hatten (.) beziehungsweise (.) das WLAN halt ab nem gew-, ab ner gewissen Uhrzeit ausgeschaltet wurde und ich (.) meinen Laptop nicht im Zimmer haben durfte. Äh (.) beziehungsweise (.) anfangs hieß es sogar, wir dürfen gar kein Laptop haben, sondern müssen den für die Gr-, (.) also (.) es gab einen Gruppencomputer und ich dachte mir so, ne das kann halt nicht sein. Hab ich halt nochmal nachgefragt und dann durfte ich halt nach (.) so zwei Monaten doch (.) äh meinen eigenen Laptop eben benutzen. (Pause, 3 Sek.) Und (.) ja bis dahin war es halt auch so ja (.) steh ich halt so bisschen blöd da.

(I1, Z. 1748–1765)

Die Regeln ihrer Wohngruppe, die als allgemeingültiger Standard für alle gelten, verhindern zunächst, dass die Jugendliche schulischen Anforderungen gerecht werden kann. Erst durch ihre wiederholte Eigeninitiative – sie habe „nochmal nachgefragt“ (Z. 1762) – findet eine Anpassung der standardmäßigen Reglementierung des Zugangs zu Medien und Endgeräten insofern statt, dass sie ihren eigenen LaptopFootnote 3 in der Wohngruppe nutzen kann. Zwar scheint es „Sonderregelung[en]“ (Z. 1808) zu geben, diese sind mit „Diskussion“ (Z. 1777) verbunden. Diskussionen als Ausgangspunkt von Reglungen zu machen ist per se ein wünschenswerter, weil dies Teil eines demokratischen Zustandes wäre, jedoch werden die Sonderregelungen weniger an Ansprüche und Interessen, sondern vielmehr an Wohlverhalten gekopppelt verstanden: „Und bei manchen gab’s irgend so ne Sonderregelung, dass wenn man sich halt gut benimmt oder sowas, dass das Internet auch länger an bleibt und ähm ja“ (Z. 1808f). Die Sonderregel zeigt sich als Sanktions- bzw. Belohnungsinstrument, verknüpft mit einer behavioralen pädagogischen Ausrichtung, die mit der Selbstbestimmung junger Menschen kollidiert. Die Anpassung der Regeln der Wohngruppe an individuelle Bedarfe ist voraussetzungsvoll und erfordert Widerstandspotential (ein wiederholtes Drängen auf schulische Notwendigkeiten) seitens der Jugendlichen. Eine Mitwirkung an und Mitgestaltung von „Rahmenbedingungen, Anlässen[n], Formen und Ziele[n]“ (Schnurr 2018, S. 636) von „Unterstützungs- und Bildungsprozessen“ (ebd.) im Kontext Sozialer Arbeit ist damit erschwert. B2 formuliert, was sie sich in diesem Kontext von ihren Betreuer:innen gewünscht hätte: „einfach mehr Verständnis zeigen“ (Z. 1775).

Die beiden bislang aufgegriffenen Fallbeispiele zeigen, dass individuelle Bedarfe im Kontext Schule in manchen Fällen hinter Standardisierung von alltäglichen Prozessen zurücktreten. Es werden kollektivierte Entscheidungen bei Schulübergängen getroffen und standardisierte Regelwerke eher als Belohnung denn bedarfsbezogen angepasst. Es scheint einen schulbezogenen Standard zu geben, der nicht auf höhere Bildung ausgerichtet ist. Der Besuch eines Gymnasiums ist ebenso wenig vorgesehen wie das Nutzen eines eigenen Laptops für Schularbeiten.

Bewältigung der Jugendhilfe – junge Menschen im „Kampfmodus“

Dass in der Heimerziehung untypische Adressat:innen nicht per se mitgedacht werden und die Prozesse der Inanspruchnahme potenziell mit schulischem Erfolg kollidieren, zeigt das folgende Beispiel eindrücklich. Die Jugendliche B3 hat erstens akademisch gebildete Eltern und besucht zweitens das Gymnasium. Kontakt zur Kinder- und Jugendhilfe entsteht zunächst durch die befristete Aufnahme in eine Einrichtung des Kinder- und Jugendnotdienste. Die „Obhutnahme“ (Z. 1021), wie sie formuliert, sei „ja keine richtige Wohngr-, also das sind ja das ist ja ne Notschlaf-, also nicht Notschlaf-, also wenn, du darfst da auch nur höchstens drei Monate sein“ (Z. 1022–1024). Der Aufenthalt wird also von Beginn an zeitlich eng umgrenzt und geht mit dem Gebot einher, dass man „gar keine Beziehung zu diesen Betreuern aufbauen [soll], weil man eh weg ist“ (Z. 1027f). Der vorübergehende Charakter – man ist bereits weg, wenn man da ist – wird von der Befragten mit einem Beziehungsverbot verknüpft, die Inobhutnahme als Nothilfe, die Gruppe als Verwahrstelle begriffen.

Mit der zeitlichen Limitierung der Hilfe geht einher, dass eine Auseinandersetzung damit erfolgen muss, was auf diese Zwischenlösung folgen soll. Dies scheint die Befragte als stark belastend erlebt zu haben. Die Frage danach, welche Wohnform auf den Aufenthalt im Kinder- und Jugendnotdienst folgen solle, habe „zu der Zeit die höchste Priorität“ (Z. 1097) gehabt und es sei „natürlich auch die ganze Zeit Thema [gewesen], wo ich jetzt als nächstes hin kann nach der Obhutnahme, in welche Wohngruppe, in welche Form“ (Z. 1032–1034). Vor diesem Hintergrund formuliert sie, dass sie „in der Zeit sehr auf so nem (.) in so nem, Kampfmodus“ (Z. 1068f) gewesen sei, denn „es ging halt, darum wo ich hinziehe, in was für ne Wohnform, und ich hatte halt Angst davor, dass ich in so ner Intensivwohngruppe komme oder sowas“ (Z. 1068–1072). Die Intensivwohngruppe, die sie als stark reglementierte, „so ganz extreme“ (Z. 1073) Wohnform begreift, in der „man dann nur ne Stunde oder so am Tag raus gehen darf“ (Z. 1073f), erscheint als Bedrohungsszenario, das Angst auslöst und gegen das sie sich zur Wehr setzen muss. Hier zeigt sich ein weiteres Moment, an dem sich eine Jugendhilfeadressatin von befürchteten Entscheidungen anderer bedroht fühlt.Footnote 4

Durch die institutionelle Ausgestaltung der Unterbringung als Zwischenlösung, in der die Aufgabe der Gestaltung des weiteren Hilfeverlaufs gelöst werden muss und an deren Horizont das Bedrohungsszenario einer ungewünschten Unterbringung steht, wird das Thema Schule durch die Bewältigung der aktuellen und zukünftigen Wohnsituation überlagert: „Also ich war da mit anderen Dingen beschäftigt, es ging um meine Wohnform“ (Z. 1095f). Dementsprechend wünscht sich B3 rückblickend, „dass ich in anderen Bereichen entlastet werde und mich auf die Schule konzentrieren kann, also zum Beispiel das mit dem Wohnen, also das hatte halt ne Zeit lang (Pause, 2 Sek.), war das son krasses Thema, das ich mich natürlich die Schule nicht richtig konzentrieren konnte“ (Z. 1124–1129). Zweitens beschreibt die Jugendliche Bemühungen, sich als nicht-hilfebedürftig zu inszenieren. Um zu verhindern, in einer Intensivwohngruppe untergebracht zu werden, „hab ich mich so selbstständig wie möglich und äh (.) verhalten, weil ich hab gar keine Hilfe eigentlich von denen angenommen, einfach damit ich quasi (.) denen zeigen kann, dass ich äh selbstständig bin“ (Z. 1078-1081). Als Teil eines strategischen Handelns will die Jugendliche Selbstständigkeit „zeigen“ (Z. 1080), also nach außen demonstrieren. Sie leistet einen Akt der Performanz und versucht, sich als eine Person darzustellen, die möglichst keine Eigenschaften von auf starke Unterstützung angewiesenen Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe aufweist. Die Inszenierung von Selbstständigkeit durch Adressat:innen ist in der Heimerziehung kein untypisches Phänomen. Hier zeigt es sich hinsichtlich der Auswahl der Einrichtung. Die Erlangung eines sogenannten Selbstversorger:innenstatus im Zuge von Verselbstständigung ist ein weiteres Beispiel dafür. In diesem Zusammenhang vermeiden es junge Menschen, als verletzlich und hilfebedürftig wahrgenommen zu werden, um Restriktionen zu umgehen (vgl. Clark et al. 2021). Die Probleme, die aus diesem strategischen Handeln hervorgehen, liegen auf der Hand. B3 berichtet im Interview, lange suizidgefährdet gewesen zu sein. Die Thematisierung derartig schwerwiegender Probleme scheint deutlich damit zu kollidieren, den Hilfebedarf verschleiern und restriktive Maßnahmen vermeiden zu wollen.

Von anderen Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe grenzt B3 sich ab, indem sie diese in Bezug auf den Kinder- und Jugendnotdienst als „halt extrem so krasse Drogenkinder“ (Z. 1039f) bezeichnet. Teil dieser Distinktion ist, dass die Befragte auf ihren Status als Gymnasiastin Bezug nimmt und schildert, inwiefern dieser dazu beigetragen habe, dass sie als untypische Adressatin der Heimerziehung klassifiziert worden sei: „Dadurch, dass ich auf nem Gymnasium bin, ist das schon bei vielen Betreuern und Wohngruppen son (.), so wow“ (Z. 1098–1100), „im Gegensatz zu anderen war ich so’n Vorzeigekind da“ (Z. 1039). Die Distinktion findet aber auch gegenüber den Betreuer:innen statt, die sie, zumindest bei „Sachen, die ich ab der Oberstufe gemacht hab“ (Z. 1115), als nicht in der Lage begreift, sie adäquat zu unterstützen: „Aber Schule direkt können die mir ja wenig helfen“ (Z. 1136). Zudem scheint das Label Gymnasium, das sie zur untypischen Adressatin macht, das Thema Schule zu überblenden: „Die haben halt einfach nur gesehen, dass ich auf n Gymnasium gehe“ (Z. 1042f). Und auch in ihrer aktuellen Wohngruppe „haben auch sich die Betreuer, die haben sich nie Gedanken über meine Schullaufbahn oder so gemacht ja“ (Z. 1104f).

Es zeigt sich, dass die Jugendliche einen eingeschränkten Zugang zu Hilfe hat, weil sie als Gymnasiastin als Vorzeigekind gilt und ihr Bildungsweg deshalb nicht zum Thema gemacht wird (vgl. dazu auch Köngeter et al. 2016, S. 46). Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach der passenden Wohnform, die zusätzlich in gewisser Weise Hilfe verhindert, da sich die Jugendliche in Abwehr der drohenden Intensivwohngruppe als nicht-hilfebedürftig darstellen möchte. Dieses Beispiel verdeutlicht außerdem, dass die ohnehin problematische zeitliche Ausdehnung der Unterbringung in Inobhutnahmestellen auf Grund der damit einhergehenden Ungewissheit, den Ängsten und Sorgen sowie den provisorischen Beziehungskonstellationen, eine Bildungsbarriere ist.

Fazit

Die Heimerziehung sollte bei der Komplexität der Probleme, die sie bearbeitet, nicht dermaßen von schulischen Logiken überformt werden, dass der Erwerb der Bildungszertifikate zum zentralen Qualitätsmaßstab der Heimerziehung wird. Heimerziehung hat mit der Übernahme von familienergänzenden Care-Aufgaben und der Bearbeitung schwerwiegender, oft strukturell bedingter Problemlagen eine eigenständige Aufgabe und ist somit mit guten Gründen Teil des Sozialstaates und nicht Teil des Bildungssystems.

Die oben genannten Beispiele zeigen jedoch ein Merkmal, das in der Heimerziehung regelmäßig zu finden ist, wenn behaviorale Erziehungsmethoden angewendet werden: Die Standardisierung von biografisch fundamentalen Entscheidungen und alltäglichen Prozessen (vgl. Clark 2018; Lutz und Clark 2022). Dies sind objektivierende Vorgänge, die folglich mit Selbstbestimmung als elementarem Bestandteil von Subjektbildung kollidieren. Die Daten des Projektes gelB legen nahe, dass die Restriktionen von Selbstbestimmung und Subjektbildung, die bspw. in strategischem Handeln junger Menschen mündet, zugleich Barrieren für „unwahrscheinliche Bildungskarrieren“, wie das Anstreben eines Abiturs seitens der Adressat:innen, darstellen. Schulentscheidungen unabhängig von Schulempfehlungen zu vereinheitlichen, mag pragmatisch betrachtet für Einrichtungen und Mitarbeitende von Nutzen sein, jedoch ist das nicht im Sinne einer selbstbestimmten Bildungsbiografie. Standardisierte Regeln im Umgang mit technischen Geräten wirken auf den ersten Blick fair, widersprechen aber einer Ausrichtung an individuellen Bedarfen. Die Wahl der Unterbringung gegenüber der Schule zu priorisieren, kann durchaus sinnvoll sein. Ein Problem ergibt sich daraus aber spätestens dann, wenn die Angst vor standardisierten, restriktiven Unterbringungsformen Bildungsanstrengungen bzw. die Artikulation von bildungsbezogenen Bedarfen unterwandert.

Diese Probleme ließen sich jeweils nicht mit einer Scholarisierung der Heimerziehung lösen – etwa, indem Heime zu Internaten werden, wie Schrödter (2019) vorschlägt. Ihre Lösung erfordert vielmehr ein grundsätzliches Überdenken von Standardsierungen der Heimerziehung zu Gunsten von demokratiepädagogischen Anlagen, die Menschen zu Subjekten ihrer Bildungsbiografie werden lassen können.