Sexualität gilt als ein Grundbedürfnis des Menschen und begleitet ihn von der Geburt bis zum Tod. Sie bezeichnet Lebensäußerungen von Zärtlichkeit und Gefühle der Geborgenheit, aber auch von Lust, sowohl am eigenen Körper wie auch an denen anderer. Sie ist lebensschöpferisch – nicht nur, aber auch in der potenziellen Erzeugung neuen Lebens. So umfasst Sexualität inneres Erleben, Wünsche, Vorstellungen und Fantasien in Bezug auf ihre Genese als auch die Handlung an sich, den sexuellen Akt.

Sprechen wir also von Sexualität, dann reden wir keineswegs schlicht von biologischen Zusammenhängen: Denn Subjektivität, Körper, Psyche, Begehren – also ausgerechnet dasjenige, was sich als das Intimste und Eigenste anfühlt, erweist sich zugleich als grundlegend sozial konstituiert. „Die mich durchströmende leibliche Existenz (…) stiftet unseren ersten Kontakt mit der Welt“ (Merleau-Ponty 1976, S. 198), oder wie Sigmund Freud (1923b, S. 253) sagte: „Das Ich ist vor allem ein körperliches“. Wie der eigene Körper und mit ihm die körperliche Lust wahrgenommen und wie darauf reagiert wird, prägt unsere Selbstwahrnehmung und unser Selbstverständnis als Subjekt und damit auch unsere Beziehungsfähigkeit (vgl. Balluseck 2010).

Durch die leibbezogenen und das heißt immer sinnlich-sexuellen Interaktionen in und mit der Welt entstehen Muster der Erfahrung, des Lernens und der Affektivität, die den Körper wiederum zu Handlungen und Interaktionen veranlassen. Sinnliches und damit auch sexuell-erotisches Erleben als Möglichkeit wird dem Körper von Anfang an durch Berührungen, Befriedigung oder Versagung von Bedürfnissen und beginnende Beziehungen eingeschrieben (vgl. Quindeau 2008). Die Erfahrungen von Lust und Befriedigung erschaffen allererst den sexuell erregbaren Körper und auch die Wünsche des Kindes nach Befriedigung sind an grundlegende Körperprozesse und -erfahrungen gebunden. Erst durch diese sinnlich-intimen Interaktionen mit bedeutsamen Anderen lernen wir Menschen, unseren sexuell besetzten Körper als Mittel und Orientierungsgeber zu nutzen, der uns eine hinreichend sichere Auskunft über unsere gefühlten – angenehmen und/oder unangenehmen – Abstände zu anderen Menschen und/oder zu den innerlich gespürten – angenehmen und/oder bedrängenden – Affekten geben kann. Notwendig ist dazu die Erfahrung mit anderen, dass der eigene Leib ein schützenswerter, dem Selbst zugehöriger intimer Bereich ist (ebd.). Sinnliche Erfahrungen zwischen Kindern und Erwachsenen sind geradezu eine Bedingung der Möglichkeit der Menschwerdung, wobei die Art und Weise, in der dies geschieht, geschichts- und kulturabhängig ist. Weit davon entfernt, lediglich der Fortpflanzung zu dienen, kommt also der Sexualität gegenwärtig die Aufgabe zu, „die eigene sexuelle Identität zu stabilisieren, die Lebendigkeit der Beziehung auszudrücken und generell als Indikator für Vitalität und Gesundheit zu stehen“ (Brückner 2008, S. 227). Insofern hat für uns Menschen Sexualität – je nach Lebensalter, Lebenslage und -situation – eine zwar unterschiedliche Bedeutung, aber sie ist immer präsent (ebd.). Als leibliche Wesen können wir weder unserem eigenen Begehren noch dem des/der Anderen entrinnen.

Aber zugleich ist Sexualität ein ambivalent besetzter Teil menschlichen Lebens. Sie hat positive wie negative Gesichter, denn sie kann nicht nur schön, lustvoll, identitäts- und beziehungsfördernd, sondern auch schmerzhaft, identitäts- und beziehungszerstörend sein (vgl. Sigusch 2010). Diese Ambivalenz wirkt sich sowohl auf das Nachdenken als auch auf das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit aus. Denn wir müssen grundsätzlich von der Ubiquität von Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Begehren in (sozial)pädagogischen Beziehungen ausgehen und sind damit zugleich mit einer Schwierigkeit konfrontiert, die in dem Begehren selbst begründet ist, da Sexualität – worauf uns Jessica Benjamin (2006) aufmerksam macht – auch etwas mit Grenzüberschreitung zu tun hat. Sexualität berührt immer Ich-Grenzen. Dieser Grenzberührung wohnt sowohl etwas Faszinierendes als auch etwas Ängstigendes inne. Allemal berühren sexuelle Themen das Schutzbedürftige, Intime – das eigene und das der anderen – und prozedieren damit auch, wenn es um die Kontrolle des Sexuellen geht, die Rahmen von Institutionen. Für pädagogische Fachkräfte ist der Umgang damit ein Balanceakt, es gibt nur wenige Gewissheiten (vgl. Sielert 2010). Die Reflexion dieser Themen braucht daher die Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen und die Vergewisserung in der Fachgemeinschaft.

Aktuell ist Sexualität als Thema im Bereich der Sozialen Arbeit vor allem in Verbindung mit dem Themenkomplex der Prävention sexualisierter Gewalt oder dem erzieherischen oder bildenden Umgang mit Formen von Sexualität als Unterstützung in der Identitätsentwicklung präsent. Und auch sexualpädagogische Angebote sind – ob gewollt oder ungewollt – im Kontext präventiv-legitimatorischer Diskurse verortet. So zielt eine emanzipatorische Sexualpädagogik zwar darauf ab, ein lustvolles Entfalten und die Entwicklung eines positiven Verhältnisses zur eigenen Sexualität zu ermöglichen. Dabei wird eine ‚gesunde‘ Entfaltung von Sexualität und sexueller Identität als Grundlage einer selbstbestimmten Sexualität verstanden. Zugleich soll sie aber auch als Basis für potenziellen Widerstand gegen übergriffige und gewaltvolle sexuelle Erfahrungen dienen. Diese widersprüchlichen bzw. ambivalenten Kontextualisierungen von Sexualität im Feld der Sozialen Arbeit werfen die Frage nach der Ausrichtung pädagogischer Arbeit in diesem Feld auf (vgl. Gnielka 2019).

Während in Sozial Extra 2|2019 (2019) das Verhältnis von Sexualpädagogik und Prävention sexualisierter Gewalt im Fokus stand, richtet dieser Schwerpunkt den Blick auf die Thematisierungen von Sexualität in der Praxis Sozialer Arbeit die im Handlungsalltag präsent sind und einen Umgang damit erfordern.

Dabei ist bereits das Sprechen von und über Sexualität heikel. Über sexuelles Begehren, bisherige sexuelle Erfahrungen, Wünsche, Abneigungen und Ängste zu sprechen, bringt Fachkräfte oft in Bedrängnis: wie finde ich die richtigen Worte bei der Vermittlung von Informationen, in der Konfliktberatung, im Jugendzentrum oder stationären Einrichtungen, wo besteht schnell das Risiko von Grenzüberschreitungen etc. (vgl. Sielert 2005). Das Sexuelle hat offenbar das Potenzial zu verunsichern. Gesteigert wird die Verunsicherung, da die Fachkräfte als Person durch eigene sexualitätsbezogene Gefühlslagen in diesen Prozess einbezogen sind. Daher ist gerade ein selbstreflexiver Blick auf diese eigenen intimen Gefühlslagen, die ja die Begegnungen mit dem Gegenüber (mehr oder weniger bewusst und bemerkt) mit steuern, eine wesentliche Voraussetzung für das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit.

Darf Erotik sein – erst recht angesichts der höchst ambivalenten und hochproblematischen Überformungen, in denen der pädagogische Eros als Legitimation von gewalt- bzw. zumindest machtvollen Übergriffen in reformpädagogischen Zusammenhängen herangezogen wurde (Ullrich 2018, S. 411 ff.; Fegert und Thiersch 2002, S. 259)? Darf sie ausgesprochen, gelebt werden, welche Fragen stellen sich dabei, wenn es so etwas wie erotische Anziehung in der Begegnung innerhalb der Praxis der Sozialen Arbeit gibt? Wie viel darf offen gezeigt werden – auch, um Adressat_innen zu ermöglichen, eigene Identitätsentwicklung in der Auseinandersetzung mit Rollenvorbildern zu ermöglichen? Wo sind die Grenzen solcher Beziehungen?

Intensive Verliebtheit von pädagogisch anvertrauten Jugendlichen kann erhebliche Herausforderungen mit sich bringen. Sie kann nur atmosphärisch fühlbar sein, sich in – gelegentlich auch aufdringlichen – Komplimenten äußern, zu ständiger Aufmerksamkeitsforderung nach körperlicher Nähe oder ‚Liebesblicken‘ führen. Dies kann den Pädagog_innen eine Weile schmeicheln, zu einem zu liebenswürdigen oder gar gegenverliebten bis missbrauchenden Verhalten verleiten oder schlicht ratlos oder verlegen machen. Mag sein, dass sich die Fachkraft an Freuds Warnung erinnert, nämlich – dass die Gefühle des Gegenübers nicht dem eigenen Verdienst, sondern der Übertragung zuzuschreiben sind, selbst wenn es durchaus realen Anlass geben kann für die Jugendlichen, auch die reale Person zu lieben. Denn viele Kinder und Jugendliche in öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen erleben in ihrer oftmals leidvollen Lebensgeschichte die Fachkraft auch als die lang ersehnte Person, die sich ihnen aufmerksam und wohlwollend zuwendet.

Oder die Jugendlichen befürchten, Beziehungen einzugehen, sie mutmaßen Zurückweisung oder Beschämung. Erkennbar mag dies an distanzierten, manchmal auffällig entwertenden Beziehungsantworten werden – sie halten sich durch aggressive Reaktionen den anderen auf Distanz, um sich zu schützen. So lässt sich sexuelles Agieren oder auch Experimentieren eventuell als ein Ausdruck für bedrohlich erscheinende emotionale oder sexuelle Begehrensformen oder auch für Verlust- und Trennungsängste lesen (vgl. King 2013).

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© Ruth Hebler

Dabei bleibt sexuelles Begehren oder die die Suche nach Intimität einschließlich ihrer aggressiven Abwehr gegen die Gefahr massiver Kränkung ein wichtiger Eckpunkt, der vor dem Hintergrund einer noch ungesicherten Identität eine besondere Brisanz gewinnen kann. Pädagogische Fachkräfte sollten um die heftigen inneren Spannungen und Unsicherheiten wissen, die oft verbunden sind mit aggressiven Reaktionen, die im Wesentlichen der Stabilisierung eines fragilen Selbstwertes dienen. Es gilt darum zu wissen, dass Verliebtheit in professionellen Beziehungen einen Widerstand darstellen kann gegen das Aufkommen unangenehmerer Gefühle und Konflikte. Sie kann aber auch eine wichtige Motivationsquelle sein, um innere Mutlosigkeit, Angst oder Scham vor Gefühlen zu überwinden. Wir wissen: beim Verliebten ist das Bestreben stark ausgeprägt, möglichst häufig mit der Person, in welche man verliebt ist, zusammen zu sein und ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung zu erhalten. Um dies zu erreichen wird so gut wie alles getan und keine Mühe gescheut. Ist die betreffende Person nicht erreichbar, wird an sie gedacht und sie wird zu einer bevorzugten Person in der Phantasie. Die in ihre Verliebtheit verstrickten Personen fingieren häufig sogar ein Erlösungsgeschehen: Alle Probleme, die man bisher mit und in seinem Leben hatte, scheinen schlagartig gelöst. Pädagogische Fachkräfte müssen daher abschätzen, um welche Art von Verliebtheit es sich handelt, in welchen Lebenssituationen sie auftritt, sich verdichtet oder zu künstlichem oder verschleierndem Verhalten führt (s. das Interview von Sandra Schäfer und Stefanie Duttweiler in diesem Schwerpunkt).

Auch hier stellt sich die Frage – soll die Fachkraft dies taktvoll ansprechen? Soll sie auf die gut begründeten Schutzreaktionen liebevoll und anerkennend hinweisen? Die Betonung auf „anerkennend“ und „liebevoll“ ist wichtig – und dazu gehört ebenso die Fähigkeit zu schweigen wie auch Ausdrucksformen zu finden, um über die schambesetzten, intimen Gefühle, Erlebnisse und Wünsche, die in der sexuellen Entwicklung eine Rolle spielen, sprechen zu können. Dabei ist von pädagogischen Fachkräften anzuerkennen, dass Jugendliche sich über ihre Wünsche und Fantasien sowie über sexuelle Praktiken und erste Erfahrungen mehrheitlich mit Gleichaltrigen austauschen wollen. Ein wichtiger Ort für diesen Austausch unter ähnlich Fühlenden kann auch die Jugendarbeit sein, als ein Gesellungsort für Peers, an dem zusätzliche Anregungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine wichtige Rolle spielen (Dannenbeck und Stich 2002). Aber auch für Fachkräfte kann sich die Frage stellen, wie eine bewusste Auseinandersetzung mit eigenen sexuellen Gefühlen im beruflichen Zusammenhang aussehen kann, die nicht nur ein Wegsehen, Unterdrücken, abschneiden darstellt (vgl. Brückner in diesem Heft).

Und doch löst die Auseinandersetzung mit und die offene Thematisierung von Sexualität oftmals Irritation aus, wenn sie nicht in kontrollierbaren, sicheren, vertrauten Bahnen daherkommt. Dies potenziert sich, da sexuelles Begehren, entsprechende Liebes‑, Beziehungs- und Lebensformen samt Praxen und Stilen, Präferenzen und Neigungen, Phantasien und Sehnsüchten, Bedürfnissen und Identitäten zunehmend im Plural erfahren wird. Eine am Prinzip der Vielfalt sexueller Lebensweisen orientierte Haltung wird erforderlich und damit eine Auseinandersetzung mit einer Kritik an der „heterosexuellen Matrix“ (Butler 1997), die das Soziale durchzieht und in Diskurse über Körper, Familie, Biografie und Gesellschaft eingeschrieben ist. Das bedeutet auch, einen eigenen, intimen und anerkennend-förderlichen Umgang zu finden in Bezug auf Menschen, die in vielfältiger Weise eine Nichtübereinstimmung ihres biologischen mit ihrem sozialen Geschlecht leben (wollen).

Die Beiträge dieses Schwerpunkts zeigen, dass der Blick auf diesen Tabubereich des Alltags und auch das Schreiben über Sexualität und Erotik eine Gratwanderung darstellt – in der Balance zwischen Tabuthemen, Grenzverletzungen, potenziell falsch zu verstehenden zur Reflexion anregenden Öffnungen. Dies zu betrachten ist an sich schon spannend und zeigt, dass auch heute, in einer pluralen Gesellschaft, zum einen gerade Fragen von Machtverhältnissen und Ungleichheiten eine unbedarfte Positionierung verunmöglichen und zum anderen die Offenheit sich entlang von Grenzen bewegt, die einen permanenten Impuls der Klarstellung, der Verortung, des sich Abgrenzens von möglichen Missverständnissen hervorrufen.

Margrit Brückner betrachtet in ihrem Beitrag – „Erotik als Teil Sozialer Arbeit“ – die Verhältnisse zwischen Sozialarbeiter_innen und Klient_innen und unter Sozialarbeiter_innen. Ausgehend von der Frage, warum Erotik in der Sozialen Arbeit so selten thematisiert wird, betrachtet sie das Verhältnis von Erotik – Sexualität – Liebe in seinem historischen und gesellschaftlichen Wandel. Des Weiteren verweist sie auf die Bedeutung kultureller Rituale und gesellschaftlicher Rahmung, die ein erotisches Spiel ermöglichen oder verunmöglichen und lotet aus, welchen Raum Erotik in professionellen Beziehungen bekommen kann, darf und soll. Dabei wird Hinterfragbares, Spannungsvolles und Grenzen erotischer Aufladungen zwischen Klient_innen und Sozialarbeitenden ebenso beleuchtet wie Erotik am Arbeitsplatz zwischen den Mitarbeitenden und die Notwendigkeit einer Demokratisierung der zwischenmenschlichen Sphäre bezogen auf Liebe, Sexualität und Erotik hervorgehoben.

Sanda Schäfer, eine sozialpädagogische Fachkraft aus der Jugendarbeit, stellt sich in beeindruckender Offenheit und auf der Basis einer begründeten professionellen Haltung den Fragen von Stefanie Duttweiler nach ihren Erfahrungen mit Sexualität in der offenen Jugendarbeit. Zur Sprache kommen sowohl die Bedeutung der Fachkräfte als role models für die sexuelle Identitätsentwicklung von Jugendlichen als auch die Verunsicherungen der Fachkräfte u. a. bei Verliebtheits- und Entwertungssignale der Jugendlichen. Beispielhaft angesprochen wird zudem die Notwendigkeit von Selbstreflexion, die ein ‚Entschamen‘ möglich machen kann. Dies gilt Schäfer als unerlässlich, um ohne moralische Entwertungen und eigenen Ängsten Jugendliche mittels einer hinreichend gelingenden Nähe-Distanz-Regulation dabei zu unterstützen, ihre eigenen Gefühle zu verstehen.

Alexandra Klein und Jann Schweitzer werfen einen Blick auf die Verhandlung von Sexualität durch Jugendliche in digitalen Medien. Sie zeigen dabei, welche Rolle die Ausdrucksformen und Räume im Digitalen spielen und wie sich in diesem Zusammenhang die Anforderung einer sexualitätsbezogenen Medienkompetenz für Fachkräfte stellt.