Soziale Bewegungen haben nicht nur soziale Probleme und Kritik an der Praxis Sozialer Arbeit artikuliert, sie haben ebenso eine kritische Praxis Sozialer Arbeit angestoßen. In diesen Zusammenhang wird die Beratung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt eingeordnet. Die Erinnerung an die Entstehung der Beratungsstellen wird dazu genutzt, sich des gesellschaftskritischen Anspruchs der Sozialen Arbeit zu vergewissern.

Dieser Beitrag lädt dazu ein, ausgewählten Aspekten der spannungsreichen historischen Entwicklung der spezialisierten Opferberatung (vgl. hierzu Köbberling 2018; Opferperspektive 2013) zu folgen und diese in den Kontext der kritischen Sozialen Arbeit einzuordnen. Damit wird das Anliegen verfolgt, die Entwicklung und Herausforderungen einer kritischen Praxis in der Sozialen Arbeit zu diskutieren und an das gesellschaftskritische Potenzial zu erinnern. Zugleich bietet die Auseinandersetzung mit der Entstehung der spezialisierten Opferberatung Anknüpfungspunkte für die professionelle Weiterentwicklung der Beratung von Gewaltbetroffenen als Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit.

„Kraft zur Veränderung“

Die spezialisierte Betroffenenberatung lässt sich in den Kontext der kritisch-emanzipatorischen Sozialen Arbeit, die sich aus sozialen Bewegungen heraus entwickelt hat, einbetten. Soziale Bewegungen beanspruchen, gesamtgesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten bzw. zu verändern. Zumindest versuchen sie, Einfluss auf sozialen Wandel zu nehmen (vgl. Roth und Rucht 2008, S. 11–15). Mit ihnen wird eine „Kraft zur Veränderung“ (ebd.) verbunden. Susanne Maurer (2012, S. 302) formuliert, dass soziale Bewegungen Sozialpolitik und Soziale Arbeit herausforderten, indem sie soziale Probleme artikulierten. Zudem haben soziale Bewegungen einerseits spezifische Hilfeinstitutionen (mit) begründet. Andererseits haben sie durch die Artikulation von Kritik an der bestehenden Praxis der Hilfen zu ihrer Weiterentwicklung beigetragen. Nicht zuletzt haben sie auf diese Weise eine kritische Praxis in der Sozialen Arbeit angestoßen (vgl. ebd.). In spezifischer Weise zeigen sich diese Facetten auch im Entstehungsprozess der spezialisierten Betroffenenberatung.

Im Diskurs der Sozialen Arbeit wird die Relevanz sozialer Bewegungen für die Soziale Arbeit an verschiedenen sozialen Bewegungen aufgezeigt (vgl. u. a. Franke-Meyer und Kuhlmann 2018). Es wurde rekonstruiert, wie diese die Handlungsansätze, Institutionen und Theorien der Sozialen Arbeit beeinflusst haben. Insbesondere die frühe Settlementbewegung und die Bewegungen der 1968er können als impulsgebend für eine Theorie- und Praxisentwicklung verstanden werden, die auf die Notwendigkeit verhältnisbezogener Bearbeitungsweisen fokussiert (vgl. u. a. Birgmeier und Mührel 2016).

Feministische Perspektiven

So entwickelte sich etwa aus der zweiten Frauenbewegung heraus eine Praxis feministisch inspirierter Sozialer Arbeit. Sie wird im Fachdiskurs meist bezogen auf die feministische Mädchenarbeit und die Frauenhaus-Arbeit dargestellt. Die ersten Frauenhäuser, die in den 1970er-Jahren gegründet wurden, waren „Zufluchtsorte für ‚geschlagene Frauen‘“ (Maurer 2016, S. 364). Sie entwickelten sich aus der neuen Aufmerksamkeit für gewaltvolle Geschlechter-Macht-Verhältnisse heraus. Es war den frauenbewegten Akteurinnen ein zentrales Anliegen, durch gesellschaftspolitische Arbeit die Gewalt gegen Frauen als eine Folge patriarchaler Herrschaftsverhältnisse öffentlich zu machen (vgl. ebd.).

Es waren auch feministische Perspektiven, die in die Entwicklung der spezialisierten Opferberatung eingeflossen sind. Im Aufbau der Opferperspektive in den 1990er-Jahren in Brandenburg wurde auf die feministischen Diskurse, die explizit die Perspektive betroffener Frauen in den Fokus rückten und die Strukturen kritisierten, zurückgegriffen (vgl. Jaschke und Wendel 2013, S. 219). Feministische Perspektiven eröffneten zudem die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Opfer“.

Wie alles anfing …

Die folgende Darstellung des Entstehungsprozesses basiert primär auf den fundierten Rekonstruktionen von Gesa Köbberling (2018) sowie von Gabi Jaschke und Kay Wendel (2013), Mitbegründer_innen des Vereins Opferperspektive. Die Entwicklung der spezialisierten Opferberatung beginnt in den 1990er-Jahren. Ein zentraler Entstehungshintergrund der Beratungsstellen ist das Ausmaß rechter Gewalt in den Nachwendejahren. Die Ausschreitungen, insbesondere in Rostock-Lichtenhagen, bewertet Gesa Köbberling (2018, S. 14) als Schlüsselereignis für den gesellschaftlichen Umgang mit rechter Gewalt in Deutschland und wesentlichen Hintergrund für die Entstehung der Opferberatungsstellen.

Im Entstehungsprozess waren sowohl antifaschistische als auch antirassistische Initiativen relevant. 1988 gründete sich in Berlin die Antirassistische Initiative (ARI). Sie verfolgte laut Selbstbeschreibung das Anliegen, „den Blick nicht nur auf die zunehmenden gewalttätigen Übergriffe auf Flüchtlinge und ImmigrantInnen [zu] lenken, sondern auch Rassismus und Diskriminierungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen sichtbar [zu] machen und [zu] bekämpfen“ (Köbberling 2018, S. 15). Die ARI, die Teil antirassistischer und migrationspolitischer Bewegungen war, initiierte ein antirassistisches Telefon. Damit sollten Menschen, die von rassistischer Gewalt, Diskriminierung sowie von ausländerrechtlichen Einschränkungen betroffen waren, unterstützt werden.

Die Gründung der Opferperspektive in Brandenburg, der ersten Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in der Bundesrepublik, ging auf das Engagement von Antifa-Gruppen in Berlin zurück. Diese waren Teil der antifaschistischen Bewegung der späten 1980er und 1990er-Jahre. Sie unterstützen aufgrund der permanenten Bedrohung durch Neonazis den Aufbau, Erhalt und die Vernetzung alternativer und linker Projekte in Brandenburg (vgl. Köbberling 2018, S. 15–18).

Gründung der Opferperspektive

Maßgeblich bestimmt wurde die Gründung der Opferperspektive im März 1998 von der rassistischen Mobilisierung in den Nachwendejahren, den staatlichen Reaktionen darauf und der medialen Berichterstattung. Gabi Jaschke und Kay Wendel (2013) berichten, dass die Antifa-Umlandgruppe, die sich angesichts der Bedrohungen durch die rechte Gewalt gebildet hatte, zunächst „sich selbst als linke Jugend-Subkultur“ (ebd., S. 218) im Blick hatte. Dies änderte sich, angestoßen durch die kritische Berichterstattung einiger Journalist_innen und Sozialwissenschaftler_innen: Die Perspektive der Opfer der Gewalt wurde stärker in den Vordergrund gerückt. Bewusst wollten sich die Aktivist_innen nun den Opfern zuwenden (vgl. ebd., S. 218 f.). Die Zentrierung auf die Gewalterfahrung der Opfer stellte einen Bruch mit dem bisherigen Konzept der Antifa dar (vgl. ebd.). Im Unterschied dazu suchte man zudem bewusst nach neuen Bündnispartnern und vertraute „nicht mehr nur auf die eigene Kraft der linken Szene“ (vgl. ebd., S. 222). Die tendenzielle Selbstbezogenheit sollte überwunden werden.

Die Opferberatung wurde als Teil eines strategischen Konzepts zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft verstanden. Ein wesentliches Ziel war es, rechten Hegemonie-Ansprüchen etwas entgegen zu setzen. Das erste Konzept des Projekts umfasste daher neben der Beratung und Unterstützung von Opfern rechter Gewalt, die Förderung eines solidarischen Gegenpols in der Zivilgesellschaft sowie die Dokumentation rechter Angriffe (vgl. ebd.). Die Opferperspektive verstand sich „explizit als politisches Projekt“ (Köbberling 2018, S. 19). Zur Sozialen Arbeit hatten die Aktivist_innen „ein deutlich distanziertes Verhältnis“ (ebd.). Die Frage nach der Zugehörigkeit und dem Verhältnis zu sozialen Bewegungen und im Zuge der Professionalisierung zur Sozialen Arbeit war und ist Gegenstand der Auseinandersetzungen im Beratungsfeld.

Kritik und Re-Artikulation von Gewalterfahrungen

Die Entstehung der Opferberatung lässt sich als Kritik-Geschichte lesen. Zum einen liegt ihr im Ursprung der aktive Kampf der Antifa gegen Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus und völkischen Nationalismus zugrunde. Zentrale Ausgangspunkte sind zum anderen die Kritik an der Täterzentrierung des Offizialdiskurses und in diesem Zusammenhang insbesondere an der aus Mitteln des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt (AgAG) finanzierten akzeptierenden Jugendarbeit (vgl. Köbberling 2018, S. 17 f.). Durch die akzeptierende Jugendarbeit, die Anfang der 1990er-Jahre von Franz Josef Krafeld entwickelt wurde, sollten rechte Jugendliche gesellschaftlich re-integriert und rechtsextreme Haltungen aufgebrochen werden. Die Antifa-Projekte begriffen die Clubs als Teil der neonazistischen Strategie zum Aufbau „national befreiter Zonen“ und kritisierten das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit (vgl. Jaschke und Wendel 2013, S. 219).

Die Artikulation von Kritik betraf außerdem die gesellschaftlichen Verhältnisse: die systematische Verharmlosung, Nichtwahrnehmung und Verleugnung rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (vgl. ebd., S. 221). Durch die öffentliche Thematisierung von individuellen und kollektiven Erfahrungen von rechter und rassistischer Gewalt und der Kritik an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen sollte zu einem Bewusstsein gesamtgesellschaftlicher Verantwortung beigetragen werden. Susanne Maurer (2012, S. 304) beschreibt die „Über-Setzung und Re-Artikulation von Erfahrung als Strategie eingreifenden politischen Handelns“. Ein als Re-Artikulation von Gewalt- und Rassismuserfahrungen interpretiertes Handeln zeigt sich in zahlreichen Aktivitäten der Beratungsstellen. Damals wie heute wird kritisch Bericht erstattet und öffentlich an die Opfer der Gewalttaten erinnert.

Professionalisierung der Angebote

Der Ausbau und die Professionalisierung der Opferberatung und die Vervielfachung des Ansatzes wurde durch die Förderung im Rahmen des Bundesprogramms CIVITAS (2001–2006) zunächst in den neuen Bundesländern vorangetrieben (vgl. u. a. Lynen von Berg et al. 2007). Hintergrund der Initiierung des Programms war der von Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgerufene „Aufstand der Anständigen“. Die sogenannte „zivilgesellschaftliche Wende“ brachte einen wesentlichen Perspektivwechsel im gesellschaftlichen Diskurs über Rechtsextremismus mit sich (vgl. Köbberling 2018, S. 39).

Im Rahmen der Evaluation von CIVITAS wurde herausgestellt, dass ein wesentlicher Grundstein der Gestaltung der Unterstützungsarbeit in diesen ersten Jahren gelegt wurde. Die Grundprinzipien (u. a. Parteilichkeit, Ressourcenorientierung) und leitende Handlungskonzepte (Empowerment, Lebensweltorientierung) werden als in den Beratungsstellen weitgehend verankert betrachtet (vgl. Lynen von Berg et al. 2007, S. 85). Sie sind später in die Qualitätsstandards des Beratungsfeldes, die 2014 in erster Auflage herausgegeben wurden, eingeflossen (vgl. VBRG e. V. 2014). Mit der Finanzierung im Rahmen des Bundesprogramms und verschiedener Landesprogramme setzten die Professionalisierungsprozesse im Arbeitsfeld und der Ausbau der Beratungsstellen ein.

Folgt man den Darstellungen zur historischen Entwicklung, dann waren die Prozesse der Professionalisierung zum Teil heftig umstritten. Problematisiert wurde damals von den handelnden Akteur_innen, dass sich die Opferberatung von ihrem politischen Selbstverständnis durch die Prozesse entfremdet und dass das Ziel der Solidarisierung mit den Betroffenen vor Ort dadurch aufweicht. Es wurde die Frage gestellt, wie scharf Kritik an staatlichen Maßnahmen noch geäußert werden durfte (vgl. Köbberling 2018, S. 13; Jaschke und Wendel 2013, S. 225). Inwieweit konnten sich die Projekte auf dem Weg ihrer Professionalisierung und Institutionalisierung noch als „Stachel im Fleisch“ begreifen? Uwe Schubert (2013) beschreibt die Entwicklung der Opferberatung in diesen Jahren als Prozess der Entpolitisierung. Auf die erste Etappe, die er als „Antifa goes Zivilgesellschaft“ interpretiert, folgt die „Zähmungsgeschichte einer anfangs in Ansätzen für staatliche Stellen unkontrollierbaren Projektszene“ (ebd., S. 77, 84).

Die Erinnerung an die Entstehung der Beratungsstellen ruft insofern die Frage auf, wie kritisch-emanzipatorische Soziale Arbeit unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen und im institutionalisierten Gefüge der Sozialen Arbeit realisiert werden kann. Welche Grenzen und Potenziale einer solidarischen Praxis, die ein konflikthaftes Handeln miteinschließt, bestehen im Rahmen der professionellen Unterstützungsarbeit der Opferberatungsstellen?

Erinnerungspotenziale

Mit Blick auf die Diskurse zu kritischer und politischer Sozialer Arbeit lässt sich feststellen, dass einiges darangesetzt wird, das politische und kritische Potenzial innerhalb Sozialer Arbeit wachzuhalten. Timm Kunstreich (2018) erinnert etwa an Jane Addams und Hull House, an Korczaks Waisenhaus und an die „Pädagogik der Unterdrückten“ von Paulo Freire. Damit beansprucht er, die politische Produktivität Sozialer Arbeit einzuholen.

Warum sollte die Erinnerung an die historische Gewordenheit und an die historische Bedingtheit Sozialer Arbeit aufrechterhalten werden? Die Geschichte der spezialisierten Opferberatung, der Frauenhäuser, der Kinderläden oder der AIDS-Hilfe können als Ausgangspunkt und Orientierungswissen genutzt werden, um eigene Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten zu reflektieren, zu irritieren und zu diskutieren. Geht die Erinnerung an die historische Gewordenheit verloren, könnte das kritische und gesellschaftspolitische Potenzial Sozialer Arbeit neutralisiert werden (vgl. Maurer 2012, S. 309).

Im Schwingen bleiben

Die Erinnerung kann dabei unterstützen, im reflektierenden Schwingen zu bleiben – im Schwingen zwischen einem Selbstverständnis als Teil des sozialen Hilfesystems und als Teil einer kritischen politischen Kraft gegen ausgrenzende, unterdrückende und diskriminierende Strukturen, gegen rechte Gewalt, Rassismus und Antisemitismus.

Im reflektierenden Schwingen lässt sich danach fragen: Wie können wir das professionelle Handeln in einer (selbst-)kritischen Perspektive immer wieder konkret gestalten? (vgl. Maurer 2016, S. 365). Dabei ist eine professionelle Praxis mit gesellschaftskritischem und emanzipatorischem Anspruch „als notwendig experimentell und prekär“ zu begreifen (Menhard 2020, S. 77 f.). Möglichkeitsräume emanzipatorischer und politischer Arbeit im Rahmen einer staatlich finanzierten und legitimierten Angebotsstruktur sind immer wieder neu auszuleuchten und damit verbundene Konflikte und Dilemma reflexiv einzuholen.