Eine Juristin, die eine Dissertation über Tötungsdelikte gegen Frauen schreibt, fragte an, wie denn eigentlich ein psychiatrischer Gutachter (oder ein Richter) das „handlungsleitende Motiv“ einer rechtswidrigen Tat herausfinde. Das ist ja gerade bei Tötungsdelikten bedeutsam. Die knappe Antwort war: durch genaue Prüfung aller vorhandenen Informationen, also von Zeugenaussagen, Angaben des Täters über seine Motive/Ziele, Nachdenken, kriminologisches Wissen über Tattypen – um zu sehen, ob etwas ganz gewöhnlich ist, oder wirklich ungewöhnlich, was dann nach weiteren Erklärungen verlangt.

Gefragt wurde auch, wie es aussehe, wenn von „Motivbündeln“ die Rede ist. In Fällen, in denen eine Mehrzahl von Motiven festgestellt werden konnte, fordere der Bundesgerichtshof für die Bejahung niedriger Beweggründe, dass ein dominantes, prägendes Motiv ausgemacht werden soll, das wiederum als besonders verwerflich bewertet werden muss. Dieses „Motivtrennungsverfahren“ erfolge in der Praxis völlig willkürlich.

Eine weitere Frage war, ob das eine Richterin kraft Amtes kann, oder ob sie dafür eine spezielle psychologisch/psychiatrische Vorbildung brauche oder aber eben einen entsprechenden Sachverständigen (m/w/d). Gute Frage – denn die Zuschreibung eines bestimmten Motivs, also eines psychologischen Sachverhalts, ist ein normativer Akt seitens der Richter.

Fangen wir in der Beantwortung der Fragen vorne an. Ein Motiv ist ein intrapsychischer, emotional-kognitiver Sachverhalt, wir verstehen darunter mehr noch das Ziel als den Beweggrund eines Handelns. Der Staat, speziell die Strafjustiz, interessiert sich nicht für die Beweggründe unseres Handelns, solange keine Gesetzesnormen verletzt werden, und auch nicht für die dahinterstehende Gesinnung. Das ändert sich bei Gesetzesverstößen; der Gesetzgeber, so hat man den Eindruck, wollte bei zunehmendem Schweregrad von Straftaten auch die Motivation des Täters einbeziehen.

Während für den Psychiater das jeweilige Motiv in einer bestimmten Situation eine situativ verschränkte psychische Entität ist, ist das Motiv im Strafprozess zunächst v. a. ein passendes Etikett zur Zuordnung zu einem bestimmten vordefinierten Tatbestand, zu einem bestimmten Paragrafen des Strafgesetzbuches.

Es gibt viele Straftaten, bei denen Gedanken über das Motiv nicht oder nur in geringem Maße von Bedeutung sind. Es geht da wesentlich nur um die durch polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gesicherte Tatsache, dass von der angeklagten Person (und von niemand anderem) eine bestimmte konkrete Straftat begangen wurde, z. B. ein Einbruchdiebstahl. Das Motiv ist konstitutiv für den Straftatbestand: Es geht darum, Geld oder andere werthaltige Gegenstände an sich zu bringen, „sich zuzueignen“. Allein das erfüllt bereits den Straftatbestand. Ob man das Geld dringend für eine teure Krebsbehandlung brauchte oder zum Drogenkauf, ist für die Tatbestandserfüllung hier ohne Belang.

Auch bei vielen Sexualdelikten ist eine besondere Motivabklärung zur Klärung der Frage, ob der rechtliche Straftatbestand vorlag, nicht erforderlich. Wer gegen den Willen eines anderen sexuelle Handlungen an diesem vornimmt, begeht eine Straftat; sein Motiv für die Tat war, so darf man für die große Mehrzahl der Fälle annehmen, sexuelle Erregung, sexuelles Vergnügen. Das war sein Handlungsziel, das Handlungsziel nennen wir sein Motiv. Dass dies auch einhergeht mit dem Wunsch nach dem Erleben eigener Macht und Stärke (was auch beim einvernehmlichen Sex immer mitspielt), ändert nichts daran, dass das Spezifische der Tat im sexuellen Überwältigen liegt.

Insofern sind pädosexuelle Delikte auch keine „sexualisierte Gewalttaten“, sondern unterwerfende oder gar gewalttätige Sexualstraftaten. Es geht den Tätern nicht um Gewalterleben (das ist Beifang wie auch die Vermarktung von Bildern), sondern um sexuelle Erregung und Befriedigung.

Wie die Tat situativ eingekleidet war, aus welchem emotionalen und gesinnungsmäßigen Hintergrund heraus der (gesunde) Täter gehandelt hat, schätzen Richterinnen und Richter aus ihrer Menschenkenntnis, ihren Berufserfahrungen und ihrem moralischen Empfinden heraus ein, nicht zuletzt anhand von Zeugenaussagen, der Einlassung, der vorhandenen oder mangelnden Reue; sie sind nach § 46 Abs. 2 StGB dazu verpflichtet, entsprechend ihrer Einschätzung das Strafmaß zu modulieren.

Der § 46 StGB „Grundsätze der Strafzumessung“ verpflichtet die Richter bei jedem Delikt, die Motivation, die Gesinnung und bestimmte Tataspekte bei der Bestimmung des Strafmaßes zu berücksichtigen. Es heißt dort: „Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters“, seine Gesinnung, sein Vorleben, die Art der Tatbegehung und die Tatfolgen sowie Weiteres. Das lässt dem Einzelrichter oder einer Strafkammer viel Spielraum für individuelle Wertungen. Man ist froh, dass zumindest der Strafrahmen feststeht, aber meist ist er weit, und es ist denkbar, dass hier bisweilen die Fairness (dem Täter oder dem Opfer gegenüber) lädiert wird. Strafzumessung ist ein Thema für Juristen; als Psychiater lässt man die Finger davon. Aber der forensisch-psychiatrische Sachverständige leistet dadurch, dass er durch seine Exploration den Angeklagten als konkreten, komplexen Menschen sichtbar macht, der eben nicht nur Täter ist, einen wertvollen Beitrag für eine sachgerecht-faire Würdigung dieser Person und ihrer Entwicklungsgeschichte.

Gegenstand der psychiatrischen Analyse jedenfalls ist seltener die Klärung des unmittelbaren Motivs als der Motivation: der Bereitschaft, eine Straftat zu begehen. Mit welchem Motiv jemand einen Bankraub begeht, ist nicht schwer zu verstehen. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, warum er – anders als andere Menschen – bereit ist, sich über erheblich strafbewehrte soziale Normen hinwegzusetzen. Bei Tötung der verlassenden Partnerin ist die Motivation nicht so schwer zu erschließen (sie hat sicher mehrere Aspekte). Aber warum hat er die Wut, Enttäuschung, die Eifersucht, die Demütigung und Kränkung nicht wie Hunderttausende andere ohne gewalttätige Rache hinter sich gebracht? Die Antwort ist zumeist: weil ihm die Rache so wichtig war, dass er nicht darauf verzichten wollte. Und bereit war, ggf. dafür auch einen hohen Preis zu zahlen.

Die Annahme, dass ein Mann dann im Zustand einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ handele, von Affekten überschwemmt unfähig zur Aggressionsminderung gewesen sei, hat seit der Alltagsdominanz von Smartphones stark an Schlüssigkeit verloren. Weil es jetzt fast stets eine Auswertung von Chatverläufen (zumeist vom Smartphone des Opfers) gibt, mit den vorangehenden Beschimpfungen und Bedrohungen des Täters, der sich im Laufe von Tagen, zumeist von Wochen, zu dem Tatentschluss, zum Showdown durchgerungen hat.

Das wiederum hat etwas zu tun mit der Persönlichkeit des Täters, seinem Wertgefüge, seinen biografischen Erfahrungen, der subjektiven Bedeutsamkeit und Funktion der (verlassenden) Partnerin. Mit Wertgefüge ist im Sinne von Janzarik (Kröber 2020) die seelische Struktur eines Menschen gemeint, die sich aus seinen Lebenserfahrungen ergibt, und bei der die einzelnen Bestände „dynamisch befrachtet“ sind mit positiven oder negativen Emotionen: Sachen, Geschehnisse, Konstellationen, die einem wichtig sind, nach denen man weiter strebt, und andere, die man nie wieder erleben will.

Zusammengefasst ist das der Stand der Wertungen und Bedeutsamkeiten im aktuellen Selbstkonzept. Manche machen im Rahmen chronischer massiver Konflikte, z. B. in Partnerschaften, einen Wandel des Selbstkonzepts durch. Man ist nach wie vor grundsätzlich gegen Gewalt, aber im konkreten Einzelfall dafür. Man übt körperliche Gewalt aus und erlebt dies nun durchaus als befriedigend, spannungslösend, die eigene Person erhöhend, und man passt schließlich das normative Regelwerk des Selbstkonzepts an die bereits geübte Praxis an. Insofern ist, aus meiner Sicht, ein wesentlicher Faktor für Tatentscheidungen das Selbstkonzept.

Nicht minder wichtig ist dann aber die Motivation, deren Bestimmung eine Analyse der sozialen und psychischen Situation und Interaktion der Beteiligten bis zum Tatentschluss erfordert. In der Motivation wird das Selbstkonzept auf eine gegebene Konfliktsituation angewandt anhand der gegebenen Möglichkeiten und des Verhaltens der anderen Akteure. Zur Situation gehört: Besteht überhaupt die Gelegenheit, die praktische Möglichkeit zur Tatbegehung? Wäre eine Tat nur schwer durchzuführen, oder ist die Situation so, dass sie sich geradezu zur Tatbegehung anbietet? Zufälle spielen eine Rolle, oder auch Entscheidungsdruck durch Gedanken, dass die Tat nur in einem bestimmten Zeitfenster sicher begangen werden kann.

Auf psychischer Ebene gehen mehrere Wünsche, Bedürfnisse in die Tatmotivation ein: eine gerechte Bestrafung durchführen (Rache), die quälende innere Unruhe beenden, das Grübeln, vor den Freunden wieder als ganzer Kerl dastehen, sich nicht immer neue Demütigungen einfangen zu müssen, endlich Schluss zu machen mit der ganzen Sache. Schluss zu machen, ohne sich zu fügen (Selbstkonzept). Das sind die Gründe des Tatentschlusses.

Seine komplexe Tatmotivation muss dem Täter nicht in allen wesentlichen Aspekten bewusst sein. Es reicht, wenn er sagt: Das hat sie verdient. Oder: Sie sollte mich nicht durch ihre Zeugenaussage wieder in den Knast bringen. Man tut gut daran, erst mal die offen zutage liegenden Motive ernst und für bare Münze zu nehmen, bevor man über unbewusste Motive oder gar einen Wiederholungszwang spekuliert. Im Buch über Mord im Rückfall zeigte sich eine erhebliche Vielfalt der Verläufe und der Persönlichkeiten; am ehesten gelang eine gewisse Ordnung durch eine Gruppierung der Täter anhand von Motiven und Motivationen (Kröber 2019).

Wir müssen abkommen von dem Psycho-Denken, dass Straftaten aus Schwäche, übergroßer Versuchung, akuter Not heraus begangen werden. Das betrifft eine Minderheit der Taten, der Regelfall ist der, dass es gewollte Verbrechen sind. Wir müssen uns damit abfinden, dass Straftäter Gründe für ihre Taten haben, aus ihrer Sicht gute Gründe, oftmals rationale Gründe. Gründe liegen nicht allein in der Vergangenheit, sondern sind – wie Wünsche – Ausdruck einer bestimmten Zukunftsbezogenheit: Die rechtswidrigen Taten sind auf Ziele gerichtet, die Täter wollen etwas Bestimmtes erreichen, Besitz von Geld oder einer Frau, Macht, Sozialstatus oder einen Konkurrenten ausschalten. Sogar Liebe hoffen manche, mit ihrer Tat erreichen zu können. Gerade schwerwiegende, proaktive Straftaten sind zielgerichtete, ergebnisorientierte Taten aus einer subjektiven Begründung heraus.

Wo die Motivation tatsächlich eine wesentliche Rolle spielt, ist in der Tat die Zuziehung eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen wesentlich und üblich. Nicht allein wegen dessen Ausbildung, sondern weil er etwas machen kann, was die Richter strafprozessual nicht machen können: sich stundenlang zu einem Zweiergespräch zusammenfinden, um die Person des anderen, seine Einstellungen, seine Denkmuster genauer kennenzulernen. Es geht darum, die Beweggründe eines Angeklagten, soweit möglich, zu erkennen, und dafür ist die fachkundige Exploration der Königsweg.

Wo spielt die Motivation eine besondere Rolle? Bei Tötungsdelikten, im Hinblick auf die mögliche Erfüllung der Mordmerkmale Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, sonstige niedrige Beweggründe und auch bei der Frage, ob es eine Verdeckungstat war, oder ob das Motiv der Tat die Ermöglichung einer anderer Straftat war (Kröber 2015). Der psychiatrische Sachverständige kann vor Gericht nur vortragen, was er vom Angeklagten dazu erfahren hat, und wie er dies vor dem Hintergrund der Zeugenaussagen und der Tatabläufe einschätzt. Normativ entscheiden darüber die Richter. Für die jeweilige Tat ist auch bei Schilderungen eines Motivbündels das dominierende, handlungsleitende Mordmotiv zumeist recht schlüssig erkennbar; wenn das Opfer beraubt wurde, war es Habgier, wenn es vergewaltigt wurde, war es sexuelle Begierde. Rache ist ein niedriger Beweggrund. Schwieriger ist es mit „Mordlust“, die viele Gutachter und viele Gerichte sich nicht zu erkennen trauen, auch wenn es sich bisweilen aufdrängt, dass die schiere Freude am Töten und am Zerstören der entscheidende Handlungsgrund war. (Manche Juristen lassen sich in Verwirrung bringen, wenn der Angeklagte sagt, er habe gar kein Motiv gehabt. Es bedeutet nur, dass es nicht um die Person des Getöteten ging, sondern schier um das Töten.)

Aber auch bei Totschlag und anderen schweren Gewaltdelikten ist für das Strafmaß und die prospektive Gefährlichkeitseinschätzung eine Erkundung der Motivation, der Werthaltungen und des Selbstkonzepts des Angeklagten regelmäßig sinnvoll, um zu angemessenen Urteilen zu kommen. Es braucht dazu einen sachverständigen „Helfer des Gerichts“, der solche Sachverhalte in kompetenter Exploration erkunden und auf einer erfahrungswissenschaftlich geordneten Grundlage beurteilen kann. Und die Richterinnen und Richter sammeln dann im Verlauf ihres Berufslebens wertvolle Erfahrungen durch die Einzelfälle, die sie eingehend studiert haben, und können dank dieser Erfahrung auch eine gewisse Kontrolle der Einschätzungen des Sachverständigen ausüben.

Natürlich erfolgt die Ausforschung der Motivation in einem Auftrag zugleich mit der Abklärung der Schuldfähigkeit im Hinblick auf die Paragrafen 20, 21 StGB. Beide Bereiche berühren sich, sind aber nicht identisch. Das ist anders in der Gruppe der psychisch kranken Rechtsbrecher, von denen in diesem Blitzlicht nicht die Rede war. Bei den Kranken, zumal den schizophren Erkrankten, ist manches erheblich anders. Aber davon wird das nächste Blitzlicht handeln.