Einleitung

Für die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt gemäß §§ 63, 64 StGB muss u. a. eine (prognostizierte) Gefahr zur Begehung (weiterer) erheblicher rechtswidriger Taten vorliegen (Fischer et al. 2014). Demzufolge ist die möglichst präzise und valide Bestimmung der Gefährlichkeit unabdingbar und orientiert sich dabei u. a. an standardisierten und empirisch validierten Prognoseinstrumenten.

Beim „Level of Service Inventory – Revised“ (LSI-R) handelt es sich um ein risikoprognostisches Instrument zur Einschätzung von dynamischen Risiko- und Schutzfaktoren, das bereits in verschiedenen Straftäterstichproben validiert wurde. Entwickelt wurde es von der Forschergruppe um Andrews und Bonta (1995, 2003) auf Basis der „Risk-Needs-Responsivity“(RNR)-Prinzipien zur effizienten Straftäterbehandlung. Das LSI‑R ist somit ein standardisiertes Instrument zum „Risk-Needs Assessment“ bzw. zum Structured Professional Judgement (SPJ), das im Wesentlichen auf sozial- und persönlichkeitspsychologischen Kriminalitätskonzepten, insbesondere der sozialkognitiven Lerntheorie, basiert (Dahle und Schmidt 2014). Die Prognosegüte des LSI‑R wurde in diversen internationalen Studien und Metaanalysen für Rückfälle im Allgemeinen sowie Gewaltrückfälle im Speziellen nachgewiesen (Fass et al. 2008). Mit ähnlichen Gütewerten, wie international berichtet, wurde die Validität des Instruments auch in mehreren Stichproben mit erwachsenen, deutschen, männlichen Straftätern belegt (Dahle 2006). Zur Erhebung im deutschsprachigen Raum liegt hierzu eine übersetzte und an deutsche Verhältnisse adaptierte Version des LSI‑R vor, die wie folgt normiert ist: 0 bis 16 Punkte: geschätztes Rückfallrisiko unter 15 %; 17 bis 24 Punkte: geschätztes Rückfallrisiko 20–30 %; 25 bis 33 Punkte: geschätztes Rückfallrisiko 30–50 %; 34 bis 48 Punkte: geschätztes Rückfallrisiko über 50 %; geschätztes Rückfallrisiko für einen Risikozeitraum von 5 Jahren (Dahle 2005, 2006).

Schwierigkeiten hat das Instrument offenbar bei Menschen mit muslimischem Hintergrund oder anderen soziokulturellen Minoritätsgruppen (Dahle und Schmidt 2014). Dasselbe zeigte sich auch in verschiedenen internationalen Studien etwa in den USA, wo die prädiktive Validität des LSI‑R bei einer Stichprobe von Afro- und Hispanoamerikanern deutlich niedriger war als in vorangegangenen Studien zum LSI‑R (Schlager und Simourd 2007).

In einer Vergleichsstudie des LSI‑R mit dem Historical-Clinical-Risk Management 20 (HCR-20) und der Psychopathy Checklist – Revised (PCL-R) hinsichtlich Stärken und Limitationen einer genauen Vorhersage von Rückfälligkeit an einer deutschen Straftäterstichprobe ergaben sich, nach Adaption des LSI‑R an einige deutsche Gegebenheiten, nur geringe Unterschiede in der Vorhersagegüte der drei Messinstrumente (Dahle 2006).

Eine Validierung des Instruments für psychisch oder suchtkranke Straftäter in Unterbringung gemäß §§ 63, 64 StGB in Deutschland fehlt bislang. Es gibt jedoch einige Metaanalysen, die darauf hindeuten, dass sich die rückfallprädiktiven Merkmale zwischen Straftätern mit und ohne psychische Störung unterscheiden (u. a. Bonta et al. 1998). Allerdings konnten Ferguson et al. (2009) an einer australischen Stichprobe psychisch kranker und in forensisch-psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachter Patienten zeigen, dass das LSI‑R auch hier einen guten Prädiktor für Deliktrückfälligkeit darstellt, zumindest, solange es sich nicht um schizophrene Patienten mit komorbider Substanzkonsumstörung handelt, bei denen die Vorhersage erneuter Delinquenz nicht mit derselben Güte gelang (Ferguson et al. 2009).

Auf Basis der bisherigen internationalen Literatur zum LSI‑R muss derzeit also fraglich bleiben, inwieweit das Verfahren auch auf deutsche forensische Stichproben anwendbar ist.

Ziel der vorliegenden Studie war es, explorativ die prospektiv mittels LSI‑R erfasste mittlere Risikoeinschätzung und die Verteilung der Risikokategorien einer Stichprobe männlicher, suchtkranker und gemäß § 64 StGB untergebrachter Straftäter zu untersuchen und mit den Daten der (Justizvollzugsanstalts-)Normstichprobe zu vergleichen.

Es wurde erwartet, dass sich die bisherigen Forschungsergebnisse zum LSI‑R hinsichtlich ihrer mittleren Risikoeinschätzung und der Verteilung der Risikokategorien weitgehend in der Maßregelvollzugsstichprobe replizieren lassen würden.

Darüber hinaus sollte explorativ geprüft werden, ob bestimmte soziodemografische (etwa Familienstand, Migrationsstatus u. a.) oder anamnestische Informationen etwa zur Schuldbildung oder zu frühkindlichen Verhaltensauffälligkeiten mit dem LSI-R-Gesamtwert kovariieren.

Da Faktorenanalysen der Subskalen des LSI‑R keine konsistenten Ergebnisse aufweisen (u. a. Andrews und Robinson 1984; Bonta et al. 1985; Bonta und Motiuk 1986), wurde sowohl bei Dahle (2005, 2006) als auch in dieser Studie auf eine Zusammenfassung auf höherer Abstraktionsstufe verzichtet.

Methoden

Stichprobe

Untersucht wurden alle Patienten, die im Zeitraum von 01.03.2019 bis 31.12.2019 – entsprechend dem faktischen Aufnahmedatum – gemäß § 64 StGB in den Maßregelvollzugskliniken Schloss Haldem (n = 92), Marsberg (n = 68) und Lippstadt-Eickelborn (n = 38) des Landschaftsverbands Westfalen Lippe (LWL) sowie dem Klinikum Hagen „Im Deerth“ (in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt [AWO]); n = 11) aufgenommen wurden.

Die Stichprobe bestand aus insgesamt n = 205 männlichen, forensisch untergebrachten Patienten, für die ein LSI-R-Rating vorlag.

Grundlage der durchgeführten Analysen bildeten die – nach vorheriger interner Schulung der Prognoseinstrumente – durch die jeweiligen Behandler/Innen erfassten Daten zum LSI‑R sowie der deutschsprachigen Adaption des „Alcohol, Smoking and Substance Involvement Screening Test“ (ASSIST; WHO ASSIST Working Group, 2002) als umfassendes, validiertes Screeninginstrument zur Erfassung des Substanzkonsums in allen verbreiteten Substanzkategorien (n = 199). Darüber hinaus wurde eine Reihe von soziodemografischen und anamnestischen Daten erfasst. Erhoben wurde hierbei u. a. Alter, Geburtsregion, Familienstand, Lebenssituation, Migrationsstatus, Schul- und Berufsbildung, aktuelle psychiatrische und somatische Diagnosen sowie Delikte im aktuellen Verfahren, Schuldfähigkeit, Substanzkonsum, Alter bei Erstdelinquenz, Anzahl an Bundeszentralregister(BZR)-Einträgen, vorherige Unterbringungen im Maßregelvollzug, vorherige psychiatrische Behandlungen, bisherige Therapieabbrüche und Substitution. Schließlich wurden auch frühkindliche Verhaltensauffälligkeiten (n = 199) erhoben, wobei u. a. die Ausdrucksformen (Zündeln, Tierquälerei, Stehlen, Weglaufen, Prügelei/Körperverletzung, „Mobbing“ als Täter, „Mobbing“ als Opfer, Erpressung/Bedrohung, Schule schwänzen, ängstlich-phobisches Verhalten, autoaggressives Verhalten) der Auffälligkeiten erfasst wurden.

Das Durchschnittsalter der Stichprobe lag bei M = 35,68 Jahren (SD: 9,93; 20 bis 73 Jahre). Das der vorliegenden Studie zugrunde liegende Untersuchungskonzept wurde vom Datenschutzbeauftragten des LWL sowie der Ethikkommission der psychologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum datenschutzrechtlich geprüft und für unbedenklich befunden.

Statistische Datenauswertung

Die statistische Analyse der in den Fragebogen gewonnenen Daten erfolgte mittels IBM SPSS Version 27.0 für Macintosh (International Business Machines, Armonk, NY, USA; IBM Corp. Released 2020). Fragebogen, deren Beantwortung nicht vollständig war, wurden, sofern möglich, interpoliert oder von der Auswertung aus der SPSS-Matrix exkludiert. Bei der statistischen Auswertung wurde im ersten Schritt die Deskription des LSI‑R dargestellt. Anschließend wurde bei kategorialen Variablen zur Durchführung von Gruppenvergleichen mit dem LSI-R-Gesamt-Score der Kruskal-Wallis-Test angewandt, bei nichtnormalverteilten Daten wurden zur Prüfung von Gruppenunterschieden der Mann-Whitney-U-Test sowie anschließend die Post-hoc-Analyse mittels Shapiro-Wilk-Test durchgeführt. Zur explorativen Prüfung von Zusammenhängen zwischen dem LSI-R-Gesamt-Score und intervallskalierten Variablen wurden Spearman-Korrelationen bei nichtnormalverteilten Daten für unabhängige Stichproben analysiert. Zur Prüfung signifikanter Ergebnisse wurde folgend eine Post-hoc-Analyse mittels Bonferroni-Holm durchgeführt.

Da bei den Variablen Geburtsregion, Familienstand, Wohnform, Migrationsstatus, höchste besuchte Schulform, höchster Schulabschluss, Hauptdiagnose, Hauptdelikt, Schuldfähigkeit und Substitution die Gruppengröße bei < 25 lag, gemäß Backhaus et al. (2016) jedoch eine Gruppengröße > 25 erforderlich ist, wurden für diese Dummy-Variablen kodiert, bei denen die Gruppengröße durch Zusammenfassen der ursprünglichen Gruppen erhöht wurde.

Ergebnisse

Deskription und Vergleich zur Norm

Die deskriptive Auswertung der Daten des gefährlichkeitsprognostischen Instruments LSI‑R ergab für n = 205 Probanden einen mittleren Gesamt-Score von M = 29,36 (SD = 7,21), wobei das Minimum bei 11,00 und das Maximum bei 47,00 lag. Die Häufigkeitsverteilung der Risikokategorien niedriges Risiko (0–16), mittleres Risiko (17–24), hohes Risiko (25–33) und sehr hohes Risiko (34–48) ist Abb. 1 zu entnehmen.

Abb. 1
figure 1

Dargestellt ist die Häufigkeitsverteilung der Risikokategorien des LSI‑R. Es zeigt sich, dass n = 8 der Risikokategorie „geringes Risiko“, n = 48 der Risikokategorie „mittleres Risiko“, n = 86 der Risikokategorie „hohes Risiko“ und n = 63 der Risikokategorie „sehr hohes Risiko“ zugeordnet werden konnten

Im Vergleich zur LSI-R-Normstichprobe, die auf der Population von Strafgefangenen basiert (M = 24,65; SD = 7,35) (Dahle 2006), wurde die Stichprobe aus den Maßregelvollzugsanstalten im Gesamt-Score signifikant (t (508) = 7,159, p < 0,001) höher geratet.

Univariate Analysen: Gruppenvergleiche und korrelative Zusammenhänge

Im Gruppenvergleich verschiedener anamnestischer und soziodemografischer Variablen mit dem LSI-R-Gesamt-Score zeigten sich signifikante Effekte für die Variablen höchste besuchte Schulform, schwerstes Delikt, Hauptdiagnose und Substitution (Tab. 1), wobei letzterer Effekt nach Bonferroni-Korrektur nur einem statistischen Trend entspricht.

Tab. 1 Dargestellt sind die Gruppenvergleiche verschiedener anamnestischer und soziodemografischer Daten mit den LSI-R-Gesamt-Scores

Signifikante Ergebnisse des durchgeführte Post-hoc-Tests für signifikante Ergebnisse des Kruskal-Wallis-Test sind Tab. 3 zu entnehmen. Es zeigten sich hoch signifikante Effekte bei den Gruppenvergleichen für höchste besuchte Schulform bei Fach-/berufliches Gymnasium verglichen mit Sonderschule, für schwerstes Delikt bei Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verglichen mit Körperverletzung und für die Hauptdiagnosen bei F10 verglichen mit F19 (Tab. 2).

Tab. 2 Dargestellt ist die Post-hoc-Analyse des Gruppenvergleichs mittels Bonferroni zur Prüfung signifikanter Ergebnisse des Kruskal-Wallis-Test
Tab. 3 Dargestellt sind die Gruppenunterschiede des LSI-R-Gesamt-Scores zwischen verschiedenen frühkindlichen Verhaltensauffälligkeiten

Die Analyse des LSI-R-Gesamt-Scores (als abhängige Variable) in Bezug auf Gruppenunterschiede zwischen verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter zeigte schwache Effekte bei Schule schwänzen, Stehlen, autoaggressives Verhalten, Weglaufen, Erpressung und dissoziale Peers sowie mittlere Effekte bei Prügelei (Tab. 3). Patienten, die entsprechende Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen, wurden signifikant höher im LSI-R-Gesamt-Score geratet als solche, die entsprechende Auffälligkeiten nicht zeigten. Keine signifikanten Unterschiede ergaben sich bei den Verhaltensauffälligkeiten Zündeln, Mobbing (Täter und Opfer) und ängstliches/phobisches Verhalten.

Die durchgeführte Korrelationsanalyse nach Spearman bei nichtnormalverteilten Daten zeigt signifikante Korrelationen zwischen dem LSI‑R Gesamt-Score und der Anzahl an BZR-Einträgen (r = 0,352; p = < 0,001), dem Alter bei Erstdelinquenz (r = −0,391; p = < 0,001), der Anzahl der Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter (r = 0,288; p = < 0,001), dem höchsten erreichten Schulabschluss (r = −0,377; p = < 0,001), der Berufsausbildung (nie begonnen vs. abgebrochen vs. abgeschlossen) (r = −0,269; p = < 0,001) sowie den ASSIST-Subskalen Tabak (r = 0,143; p = 0,44), Alkohol (r = 0,216; p = 0,002), Cannabis (r = 0,230; p = 0,001), Kokain (r = 0,249; p = < 0,001), Amphetamin (r = 0,187; p = 0,008), Beruhigungsmittel und Schlaftabletten (r = 0,198; p = 0,005), Halluzinogene (r = 0,220; p = 0,002) und Opiate (r = 0,242; p = 0,001).

Diskussion

Im Rahmen der vorliegenden Studie sollten die prospektiv mittels LSI‑R erfasste mittlere Risikoeinschätzung und die Verteilung der Risikokategorien einer männlichen Stichprobe suchtkranker und gemäß § 64 StGB untergebrachter Straftäter untersucht und mit den Daten der (JVA-)Normstichprobe verglichen werden. Zudem sollte explorativ der prädiktive Einfluss bestimmter anamnestischer und soziodemografischer Merkmale sowie frühkindlicher Verhaltensauffälligkeiten geprüft werden.

Zur vergleichenden Untersuchung der Risikoeinschätzung einer Maßregelvollzugsstichprobe mit der Normstichprobe aus der Justizvollzugsanstalt

Die Ergebnisse zeigen, dass der LSI-R-Gesamt-Score bei der Stichprobe aus dem Maßregelvollzug (M = 29,36; SD = 7,21) signifikant höher geratet wurde als in der deutschen Normstichprobe (M = 24,65; SD = 7,35) (Dahle 2006). Den Risikokategorien hohes und sehr hohes Risiko sind 72,86 % der Risikoprofile der Maßregelvollzugsstichprobe zuzuordnen, während die Kategorie niedriges Risiko nur bei 3,9 % der Maßregelvollzugsstichprobe vergeben wurde. Einen annähernd gleichen LSI-R-Gesamt-Score (M = 30,7) hingegen liefert eine Untersuchung von 12 männlichen, zuvor sicherungsverwahrten Patienten der forensisch-therapeutischen Ambulanz Berlin (Voß et al. 2015). Da qualitative Unterschiede der Ratings durch die Behandler/Innen durch eine zuvor durchgeführte Schulung und entsprechende berufliche Qualifikation der Rater weitestgehend ausgeschlossen werden können, deuten die Ergebnisse auf systematische Unterschiede der Stichproben hin, mit einem durchschnittlich deutlich höher prognostizierten Rückfallpotenzial bei gemäß § 64 StGB Untergebrachten kurz nach der Aufnahme.

Zur explorativen Analyse differenzieller Zusammenhänge zwischen soziodemografischen und anamnestischen Daten im Hinblick auf den LSI-R-Gesamtwert

Bei der Analyse der anamnestischen und soziodemografischen Daten, der frühkindlichen Verhaltensauffälligkeiten und des suchtspezifischen ASSIST hinsichtlich ihrer möglichen prädiktiven Effekte in Bezug auf den LSI-R-Gesamt-Score zeigten sich im Gruppenvergleich signifikante Effekte bei den Variablen höchste besuchte Schulform, schwerstes Delikt, Hauptdiagnose und Substitution. Die anschließend durchgeführten Post-hoc-Tests zeigten, dass Probanden mit der Schulbildung Fach-/berufliches Gymnasium signifikant niedrigere LSI-R-Gesamt-Scores aufwiesen als solche mit einem Sonderschul- (p = < 0,001) bzw. Hauptschulabschluss, wenngleich Letzteres lediglich auf 10 %-Niveau (vor Bonferroni-Korrektur) signifikant war. Insofern zeigte sich aber dennoch auch in der vorliegenden Studie noch einmal sehr klar, dass die höhere Schulbildung einen kriminalpräventiven Faktor darstellt (Feltes 2008). In Bezug auf die Hauptdiagnosen zeigte sich ein erhöhter LSI-R-Risiko-Score insbesondere im Zusammenhang mit multiplem Substanzgebrauch gemäß ICD-10: F19. Untergebrachte mit dieser Diagnose, die in der Stichprobe mit n = 80 zudem die am häufigsten vergebene ICD-10-Diagnose war, zeigten deutliche höhere LSI-R-Scores als etwa die 31 Patienten mit der Diagnose eines Alkoholmissbrauchs bzw. einer Alkoholabhängigkeit (p = < 0,001). Polytoxikomanie geht in der Regel ein langwieriges, multifaktorielles Entwicklungsgeschehen mit erheblichen psychosozialen Problemen und oft auch weiteren schweren psychischen Störungen voraus, was insbesondere die Behandlungsprognose negativ beeinflusst (Bilke-Hentsch 2019; Kraus et al. 2007). Bei Betrachtung des schwersten Delikts zeigte sich, dass Probanden, die hierbei „lediglich“ Verstöße gegen das BtMG aufwiesen, im Vergleich mit Probanden, die als schwerstes Delikt versuchte oder vollendete Tötungsdelikte (r = 0,15), Körperverletzung (r = 0,24), Eigentums- (r = 0,18) oder Raubdelikte (r = 0,34) begangen hatten, signifikant niedrigere LSI-R-Gesamt-Scores erreichten. Die Ergebnisse ergeben somit, dass Patienten mit höheren Risiko-Scores tendenziell häufiger bestimmten Deliktgruppen zugehörig sind. Eine Untersuchung potenzieller patientenbezogener Prognosefaktoren bei gemäß § 64 StGB untergebrachten Patienten zeigte für die Indexdelikte Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte sowie Raub/räuberische Erpressung, dass Patienten, die diesen Deliktgruppen zugehörig waren, häufiger einen Therapieabbruch hatten, während solche mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz die Therapie häufiger regulär beendeten (Querengässer et al. 2017). Demgemäß beenden Patienten, die diesen Deliktgruppen zuzuordnen sind, die Behandlung häufiger nicht regulär und weisen höhere Risiko-Scores auf, was auch die höheren Deliktrückfallraten dieser Gruppe erklären würde. Eine Ausnahme stellt hier anscheinend die Gruppe der Tötungsdelinquenten dar, die trotz höherer Risiko-Scores in hiesiger Studie offenbar häufiger die Therapie regulär beenden (Querengässer et al. 2017). Da die Gruppe der Tötungsdelinquenten in der hiesigen Studie nur 5 Probanden umfasste, ist die Belastbarkeit dieses Befundes aktuell aber sicherlich als sehr begrenzt zu betrachten.

Ein Zusammenhang zwischen Delinquenzformen und Konsummustern dergestalt, dass Alkohol v. a. mit Gewaltdelikten korreliert, während Beschaffungskriminalität vorwiegend bei Konsum illegaler Substanzen zu beobachten ist (Bulla et al. 2017), konnte in der hiesigen Studie nicht gezeigt werden. Allerdings befanden sich in der hiesigen Stichprobe auch lediglich 3 Probanden mit Raubdelikten bei Alkoholabhängigkeit vs. 14 mit der Abhängigkeit von illegalen Substanzen.

Bei Betrachtung der frühkindlichen Verhaltensauffälligkeiten ergab sich ein stark signifikanter Zusammenhang zwischen der Anzahl der Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter (r = 0,288; p = < 0,001) und dem LSI-R-Gesamt-Score, zudem zeigte die Analyse der Ausdrucksformen frühkindlicher Verhaltensauffälligkeiten einen mittleren Effekt bei Prügelei sowie schwache Effekte bei Schule schwänzen, Stehlen, autoaggressivem Verhalten, Weglaufen, Erpressung und dissozialen Peers. Dass frühkindliche Verhaltensauffälligkeiten und Lebensbedingungen einen Einfluss auf die spätere Entwicklung von Substanzkonsumstörungen, Straffälligkeit und Verurteilung gemäß § 64 StGB haben, zeigte sich bereits in mehreren Studien (Schalast 2009; Seibold 2017), die präsentierten Studienergebnisse liefern jedoch höchstwahrscheinlich erstmals eine differenzierte Analyse der jeweiligen Ausdrucksformen der Verhaltensauffälligkeiten, die mit höheren Risiko-Scores assoziiert sind.

Limitationen

Basis der Datenerhebung stellte ein durch Behandler/Innen aus 4 nordrhein-westfälischen Entziehungsanstalten durchgeführtes, umfassendes Patienten-Rating aller im Erhebungszeitraum aufgenommenen Patienten dar. Obgleich eine Erhebung ohne diese Vorgehensweise kaum umsetzbar gewesen wäre, ergeben sich trotz umfassender Schulung der Behandler/Innen in den Prognoseinstrumenten mögliche Beschränkungen in der Güte der Daten. So war etwa eine umfassende Prüfung der Interrater-Reliabilität in diesem Kontext nicht möglich. Darüber hinaus war die Probandenzahl, statistisch betrachtet, eher gering, obgleich es sich um ein Kooperationsprojekt von 4 großen Entziehungsanstalten handelte. Die Daten sollten repräsentativ für Nordrhein-Westfalen sein, inwieweit sie es für die Gesamtgruppe der gemäß § 64 StGB Untergebrachten sind, ist natürlich fraglich. Sofern sich die Patienten anderer Bundesländer jedoch nicht in relevanten Merkmalsbereichen systematisch von den hiesigen unterscheiden, sollten die, innerhalb von 4 Wochen nach der Aufnahme erhobenen und damit weitgehend von der jeweiligen Unterbringung unabhängigen, Daten vermutlich aber auch für die Gesamtgruppe Gültigkeit haben. Statistisch ist zu berücksichtigen, dass die Daten nicht normalverteilt sind, weshalb entsprechende Korrekturen vorgenommen wurden. Darüber hinaus handelt es sich bei den analysierten Daten um erste Querschnittsbefunde aus einem prospektiv längsschnittlich angelegten Projekt, d. h., Möglichkeiten zur Prüfung dynamischer Veränderungen von Therapieeffekten oder der prognostischen Validität werden noch folgen.

Fazit und Ausblick

Erklärte Ziele der Unterbringung gemäß § 64 StGB sind, wie sich bereits in der gesetzlichen Einweisungsvoraussetzung einer „hinreichend konkreten Behandlungsaussicht“ zeigt, die Verringerung der Rückfallgefahr und somit die Reduktion der Gefährlichkeit der Patienten. Voraussetzung der Unterbringung ist, dass die prognostizierte Gefährlichkeit im Zusammenhang mit einer Substanzkonsumstörung („Hang“) des Betreffenden steht. Die Quantifizierung der zugrunde liegenden Gefährlichkeit sollte im erkennenden Verfahren daher zum Standard gehören. Die vorliegende Studie, in der das Prognoseinstrument LSI‑R unseres Kenntnisstandes nach erstmals systematisch bei einer Maßregelvollzugsstichprobe untersucht wurde, konnte zeigen, dass die durchschnittlich für gemäß § 64 StGB Untergebrachte prognostizierte Rückfallgefahr die der JVA-Normstichprobe deutlich übersteigt. Zumindest bei Aufnahme der Patienten in die Entziehungsanstalt ist bei über 70 % der Untergebrachten von einem hohen bis sehr hohen Rückfallrisiko auszugehen, was besonders in Bezug auf dynamische Risiko- und Schutzfaktoren und Therapiemöglichkeiten berücksichtigt werden sollte. Gerade der hohe prädiktive Wert der suchtspezifischen Befunde bestätigt, dass sich die Gefährlichkeit in dieser Population – den juristischen Vorgaben der Anordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB entsprechend – zu einem großen Teil in der Ausprägung der Abhängigkeitsproblematik widerspiegelt – und sich diese wiederum auch zur Einschätzung der Gefährlichkeit eignet und entsprechend herangezogen werden sollte.

Insbesondere in Bezug auf dynamische, im Zuge der Unterbringung potenziell veränderbare Merkmale ergeben sich Hinweise, die möglicherweise für die Optimierung der Behandlungsstandards hilfreich sein könnten (Müller et al. 2017; Wittmann 2012).