Zusammenfassung
Es ist intuitiv und wissenschaftlich unstrittig, dass der Polizeiberuf ein inhärentes Gewaltrisiko birgt. Wissenschaftlich unhaltbar hingegen ist, dass das Gewaltrisiko von Polizist*innen in Deutschland allgegenwärtig und in den letzten Jahren dramatisch angestiegen sei. In dieser Sicht überlagert die landläufige Intuition verfügbare Evidenzen. Der folgende Beitrag setzt hier an. In ihm richten wir den Blick in das Innere der Polizei und identifizieren hier exakt jenes Narrativ, dass von einer schwelenden Gewaltgefahr kündet. Wie wir zeigen, hat die Erzählung System: Das polizeiliche Gefahrennarrativ zeigt sich in Metaphern wie dem Füllgrabe-„Gefahrenradar“, in Einzelfallschilderungen, verkürzten Darstellungen von Statistiken oder dem selektiven Umgang mit externen wissenschaftlichen Daten. Aggregiert zu einem in sich kohärenten Weltbild, präsentiert sich das Narrativ im Einsatztraining, in Fachbeiträgen und Lehrbüchern sowie in wichtigen Interessenvertretungen der deutschen Polizei und stabilisiert sich so in einem Prozess wechselseitiger Verweise. Dabei zeigt sich das polizeiliche Gefahrennarrativ bislang nicht nur kaum beeindruckt von gegenläufigen Befunden.
Abstract
It is intuitively and scientifically undisputed that the police profession carries an inherent risk of victimization by violence; however, it is scientifically untenable that the risk of violence among police officers in Germany is omnipresent and has increased dramatically in recent years. In this view, common intuition overrides available evidence. In our article, we take a closer look inside the police force and identify exactly the narrative that announces a smoldering danger of violence. As we show, the narrative has a system: the danger narrative shows itself in metaphors such as the “danger radar”, individual descriptions, abbreviated representations of statistics or the selective handling of external scientific data. Aggregated to form a coherent worldview, the narrative is presented in police training, in technical papers and textbooks, and in important advocacy groups of the German police force, thus stabilizing itself in a process of reciprocal references.
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Einleitung
Geschichten spielen in Organisationen eine große Rolle (van Hulst und Ybema 2020): Sie helfen einzelnen Mitgliedern der Organisation, Sinn aus gemachten Erfahrungen zu machen (Brown et al. 2008; Colville et al. 2012), Identitäten aufzubauen und Bindungen zu konstruieren (Brown 2006), organisationales Wissen zu transportieren (Bartel und Garud 2009), strategische Entwicklungen zu unterstützen (Fenton und Langley 2011) oder auch dabei, Veränderungen zu verhindern (Brown et al. 2009). Auch innerhalb der Polizei ist das Geschichtenerzählen ein weit verbreitetes Phänomen (Fletcher 1991; van Hulst 2013, 2017; Kurtz und Upton 2017a; Woods 2019). Die Funktion des Geschichtenerzählens innerhalb der Polizei reicht dabei von reiner Unterhaltung zur Konstruktion von Identitäten, zur Sinnfindung in der eigenen Arbeit sowie zum Transport von Wissen, Einstellungen und Werten (van Hulst und Ybema 2020). Gerade für die Sozialisation innerhalb der Organisation sind Geschichten und Erzählungen von zentraler Bedeutung. Innerhalb der Polizei geteilte Narrative haben dabei das Potenzial, über die Organisationkultur Wirkung im Entscheidungsverhalten einzelner Polizist*innen und Entscheider*innen zu entfalten (Kurtz und Colburn 2019).
Verschiedene Wissenschaftler*innen weisen darauf hin, dass das Erzählen von Polizeigeschichten ein wesentliches, wenn auch inoffizielles Merkmal der Polizeiausbildung ist, und dass die informelle Tätigkeit des Nacherzählens von Geschichten neuen Polizist*innen berufspraktisches Wissen vermittelt, einschließlich spezifischer Taktiken, die für eine berufliche Praxis erforderlich sind (Ford 2003; van Hulst 2013). In dieser Sichtweise ermöglichen Geschichten das Entwickeln von Leitprinzipien für das polizeiliche Handeln (Kurtz und Coburn 2019). Forschungen weisen darauf hin, dass dabei auch Werte, Einstellungen und Glaubenssätze weitergegeben werden, welche als ethisch problematisch zu bewerten sind (Ford 2003). Dazu zählt das Aufrechterhalten von hegemonialen Machtstrukturen, indem bestimmte Verhaltensweisen, Perspektiven oder Persönlichkeiten als „wahr“ und „echt“ im Kontext polizeilicher Logiken konstruiert werden. Beispielsweise wird die Polizeimännlichkeit regelmäßig als Ideal polizeilicher Arbeit konstruiert (Behr 2017; Fletcher 1996; Hunold 2019; Kurtz und Upton 2017b; Seidensticker 2021), Menschen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen werden als inhärent gefährlich angesehen (Behr 2019; Staller und Koerner 2021d), oder wissenschaftliches, methodisch-kontrolliert erlangtes Wissen wird im Vergleich zu organisationskulturell vorhandenem Wissen als weniger relevant markiert (Frevel 2018; Koerner und Staller 2022b; Staller und Koerner 2022c).
Während die systemimmanente Glaubwürdigkeit von Narrativen von deren interner Kohärenz und deren Andockung an eigene Erfahrung abhängig ist, bleibt deren objektiver Wahrheitsgehalt davon unberührt. Problematisch erscheint an dieser Stelle die Grunddisposition des Menschen, mehr über das Hören glaubhafter, mit den eigenen Erfahrungen übereinstimmender Erzählungen zu erlernen als über die rationale Auseinandersetzung mit Argumenten und Fakten (Fisher 1987, 2009). Damit hat das narrative Paradigma das Potenzial, dem erkenntnistheoretischen, auf Rationalität fußenden realweltlichen Paradigma diametral gegenüberzustehenFootnote 1. Probleme einer bestehenden Diametralität werden besonders deutlich, wenn Narrative wissenschaftliche Autorität erodieren und infrage stellen (Hotez 2020, 2021) und Kommunikation von Erkenntnissen, Emotionen und Rationalität adressieren sollte, um als „wahr“ akzeptiert zu werden (Fraser 2019; Li et al. 2018). Auch spielen Narrative – und hier besonders die Narration der Gefahr durch die/den anderen – in Bezug auf Phänomene wie die stochastische Gewalt (Dharmapala und McAdams 2001; Staller et al. 2022c) – eine wesentliche Rolle. Stochastische Gewalt beschreibt in diesem Zusammenhang das Entstehen von körperlicher Gewalt als wahrscheinlichen, aber im konkreten Einzelfall nichtvorhersehbaren Vorgang, welche eben durch Kommunikation vermittelt wird.
Die gesellschaftlichen Folgen persistierender polizeilicher Narrative, welche nicht im Einklang mit wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn stehen, sind fatal (Boxer et al. 2021). Gerade vor dem Hintergrund, dass sich auf Narrativen beruhende kognitive Verzerrungen und Fehlschlüsse auch innerhalb der Organisationskultur gegenseitig verstärken und stabilisieren (Staller et al. 2021c), erscheint eine systematische Auseinandersetzung mit dem polizeiimmanenten Wissenstransport über Narrative von besonderer Relevanz. Über den Fokus auf vorhandene Narrative und deren Analyse besteht somit die Möglichkeit, in der Organisation zirkulierende ideologische Rahmungen herauszudestillieren, welche über kontinuierliche narrative Reproduktionen die polizeiliche Organisationskultur maßgeblich beeinflussen und damit auf polizeiliche Entscheidungen und Verhaltensweisen Wirkung entfalten (van Hulst 2013).
In unserem Artikel legen wir den ersten Aufriss einer Problembeschreibung vor, welche das polizeiliche Gefahrennarrativ unter einer systemischen Linse betrachtet. Wir fokussieren hier auf Semantiken und Strukturen, welche sich gegenseitig bedingen und hervorbringen und sich damit systemstrukturell selbst stabilisieren und das Narrativ zum Vorschein bringen. Dabei gehen wir kurz auf das Vorkommen des Narrativs, den Wahrheitsgehalt sowie die problematischen Auswirkungen des Narrativs ein, bevor wir an exemplarischen Subsystemen der Polizei narrativ-stabilisierende Strukturen aufzeigen. In unserem methodischen Vorgehen orientieren wir uns hier an der Schnittstelle von Systemtheorie und Diskursanalyse. Als ersten systemstrukturellen Problemaufriss beabsichtigt der vorliegende Beitrag, einen ersten Überblick über bedingende und stabilisierende Elemente des polizeilichen Gefahrennarrativs zu geben und weitere Forschungsvorhaben in Einzelbereichen sowie deren systemische Stellung zueinander anzustoßen.
Das polizeiliche Gefahrennarrativ
Narrative werden von Forscher*innen kontextabhängig unterschiedlich definiert. Entsprechend existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen (Braddock und Dillard 2016; Ryan 2007). Wir legen der folgenden Betrachtung eine sehr weit gefasste Definition von Narrativen zugrunde, welche Grundlage weiterer definitorischer Überlegungen ist (Ryan 2007) In dieser weiten Auslegung transportieren Narrative Informationen über das (1) Lösen von Problemen, den (2) Umgang mit Konflikten, (3) interpersonelle Beziehungen, die (4) Erfahrung als Mensch – und die (5) Endlichkeit des eigenen Lebens. Für das polizeiliche Gefahrennarrativ zeigen sich diese Aspekte besonders (aber nicht nur) in der Bedeutung, welche Rezipienten – in unserem Fall Polizist*innen – einzelnen, in der Polizeiorganisation vorhandenen Informationen in ihrer Gesamtheit zumessen. Das Gefahrennarrativ stellt dabei als Metanarrativ den/die einzelne Polizist*in den Mittelpunkt (4), welche/r von Gewalt bedroht ist. Die zunehmende Bedrohung gipfelt in einer existenziellen Bedrohung (5), welche es zu überleben gilt. Das Überleben markiert damit das Ziel eigener Handlungen (also der Problemlösung, 1), welches sich in der Konflikt- und Beziehungsgestaltung zeigt: „Die anderen“ sind die Bedrohung, welche per se vorhanden ist (Beziehung, 3). Entsprechend gilt es, grundsätzlich misstrauisch zu sein und Grenzüberschreitungen konsequent mit aller Härte zu begegnen (2). Sich auf den Extremfall vorzubereiten und sich entsprechend aufzurüsten, sind die strategischen Handlungslogiken, die das Problem (1) einer möglichen Endlichkeit des eigenen Lebens lösen (5). Der Kern des polizeilichen Gefahrennarrativs kondensiert damit auf die individuelle Gefahr, die sich durch die polizeiliche Arbeit ergibt und die daran anschließenden Handlungslogiken.
Während eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Gewaltgefahr im Polizeidienst (a) erkenntnistheoretische Diskussionen zum Messen von Gefährlichkeit (White et al. 2019), (b) Betrachtungen von messmethodologischen Limitationen von Beobachtungen (Derin und Singelnstein 2019) sowie (c) reflexive Diskussionen zur Ableitung von Handlungspraktiken (Koerner und Staller 2022c) beinhalten sollte, stellt das Narrativ Emotionen in den Mittelpunkt. Im Kontext des Gefahrennarrativs ist das die Angst vor einem gewalttätigen Übergriff, der sich aus der Wahrnehmung einer für Polizist*innen immer problematischeren und gefährlicheren Welt darstellt.
Während also eine rational-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gefährlichkeit auf Ableitungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, zentriert die narrative Auseinandersetzung mit dem Thema auf Emotionen und die daraus resultierenden Handlungen (Fisher 1987). Insofern also Narrativ und wissenschaftliche Evidenz deckungsgleich sind, stellt dies handlungsethisch kein Problem dar. Sofern hier Diskrepanzen vorliegen – und diese bedingt durch die Narration organisationkulturell fest verankert sind –, ergibt sich eine handlungsethische Problematik: das Handeln wider wissenschaftliche Evidenz.
Wir verstehen das polizeiliche Gefahrennarrativ als ein Metanarrativ, welches in der Gesamtheit kleinerer Bausteine wie beispielsweise Metaphern, Argumentationsfiguren und Erzählungen implizit und explizit transportiert wird. Die Bedeutung und die Zugehörigkeit zum Metanarrativ werden stellenweise erst in der Gesamtbetrachtung ersichtlich. Verschiedene Forschungsarbeiten verweisen auf das Vorliegen diverser Elemente, welche als Teil des Narrativs gedeutet werden können, wie beispielsweise:
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Die ständige und immerwährende Gefahr des polizeilichen Tätigwerdens („Die können jeden Moment ein Messer zücken“, Behr 2019, S. 29).
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Die Erzählung einer kontinuierlich ansteigenden Gefahr für Polizist*innen („Die Welt wird immer schlimmer“; „Gewalt gegenüber Polizist*innen steigt“; „Augenscheinlich bilden sich bestimmte Folgen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen in dem zitierten Lagebild des BKA [Bundeskriminalamt 2020] ab, mit denen nicht nur das polizeiliche Sicherheitsmanagement, sondern auch jede Kollegin und jeder Kollege im täglichen Dienst konfrontiert ist“, Clages 2021, S. 2; „Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung muss verstärkt erfolgen. […] Bestmögliche Ausbildung und Ausrüstung der PVB bilden die Grundlage für eine kompetente und verhältnismäßige Bewältigung der durch Gewalttaten geprägten Situationen im Berufsalltag“, Bundeskriminalamt 2020, S. 79).
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Hypothetische Was-wäre-Wenn-Schilderungen („Aber was machst du, wenn du alleine in einer Gasse vor einem 115 kg Mann stehst?“, Fletcher 1996).
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Der „Gefahrenimperativ“ polizeilicher Sozialisation (Sierra-Arévalo 2021), der die Fokussierung auf mögliche Gefahren dogmatisch in den Mittelpunkt unterschiedlichster Denk- und Handlungspraxen stellt („Aus polizeilicher Sicht vernachlässigt [eine Polizist*in, welche, eine Situation durch ihr Verhalten im Ergebnis deeskalierte] mit dem Hinsetzen auf die Bettkante die Eigensicherung. Es handelt sich um ein riskantes Verhalten, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der russische Mann unter der Bettdecke gefährliche Gegenstände oder Waffen aufbewahrt oder die Nähe für einen körperlichen Angriff nutzt“, Reuter 2014, S. 69).
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Die Konstruktion polizeilichen (Eigensicherungs‑)Handelns als Überleben („Überleben ist kein Zufall“, Füllgrabe 2000, 2021); „Don’t let them kill you on some dirty roadway“, Lynch 2017; „Mein Arbeitsalltag sieht so aus, dass ich jede Schicht zusehe, dass mein(e) Streifenpartner(innen) gesund nach Hause kommen!“ Jager et al. 2013, S. 267).
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Exemplarische bildhafte Fallschilderungen als anekdotenhafter Beweis einer vorliegenden Gewaltproblematik („Durch ein in der später folgenden Gerichtsverhandlung als auffällig beschriebenes Verhalten provozierte am 26.02.2016 die Salafistin Safia S., eine 15-jährige Schülerin, eine Ausweiskontrolle. Dabei stach sie mit einem Messer – in ihrem Rucksack führte sie ein weiteres Messer mit sich – einem jungen Bundespolizisten unvermittelt in den Hals“, Goertz 2021, S. 5).
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Metaphern, die auf die Gefährlichkeit der anderen Partei abstellen, wie „Gefahrenradar“ (Füllgrabe 2016, 2021), „Störer“ oder das „polizeiliche Gegenüber“ (Behr 2014).
In Deutschland zeigen sich Formen des Gefahrennarrativs in unterschiedlichen Kontexten. Auffallend ist hierbei, dass die unterschiedlichen Kontexte aufeinander Bezug nehmen und dabei ein in sich geschlossenes Weltbild kreieren, welches auf den unterschiedlichsten Ebenen Wirkung entfaltet (siehe „Ein Systemstrukturelles Problem: Mechanismen der Stabilisierung des Narrativs“).
Dabei werden Informationen, welche einer dem Narrativ entgegenstehenden Schlussfolgerung zulassen, vernachlässigt. Beispielsweise zeigt sich für Deutschland (Staller und Körner 2019) – aber auch für die USA (White et al. 2019) – über die letzten 50 Jahre eine kontinuierliche Abnahme der Zahlen von im Dienst getöteten Polizist*innen (Abb. 1). Der in amtlichen Statistiken seit 2011 ausgewiesene Anstieg leichterer Gewalthandlungen (verbal und körperlich) ist besonders vor dem Hintergrund der Interaktionsgestaltung in Polizei-Bürger*innen-Interaktionen und der Deutungshoheit der Polizei zu betrachten (Baier und Ellrich 2021; Behr 2015; Derin und Singelnstein 2019), was wir später weiter ausführen. Im Kern ist damit die dem Narrativ zugrunde liegende These, dass die Welt für Polizist*innen „sehr gefährlich ist“ und „immer schlimmer wird“ reflexionswürdig. Gefahren oder Risiken des Polizeiberufs existieren unbestritten, das Risiko eines tödlichen Angriffs sinkt allerdings im Längsschnitt stetig.
Eine narrativ verzerrte Schlussfolgerung über die Gefahren des Polizeiberufs ist problematisch. Die Folgen des polizeilichen Gefahrennarrativs sind auf verschiedenen Ebenen dokumentiert.
Auf individueller Ebene in
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Einem sinnstiftenden Element sozialer Identitätsfindung/-zuschreibung, welches als konstitutives Merkmal der hegemonialitäts- und dominanzorientierten „street cop culture“ konzeptionalisiert wird (Behr 2006; Vera und Jablonowski 2017).
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Einer positiven Einstellung mit Blick auf polizeiliche Militarisierungsbestrebungen mit Blick auf Ausrüstung und Trainingsausrichtung (Meitl et al. 2020).
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Dem (un)bewussten Vernachlässigen, Ausblenden oder der Negierung wissenschaftlicher Erkenntnisse (Koerner und Staller 2022b; Staller und Koerner 2022c).
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Einer erschwerten Gestaltung von Polizei-Bürger*innen-Interaktion aufgrund der durch das Gefahrennarrativ entstehenden verzerrten Weltbilder (Staller und Koerner 112,114,b, d). So zeigte Baier, dass für Polizist*innen die Furcht vor Übergriffen mit einem höheren Risiko einhergeht, verbale und im Längsschnitt auch körperliche Gewalt zu erleben (Baier 2019). Ein möglicher Erklärungsansatz für diesen Befund liegt in aggressionspsychologischen Erkenntnissen zum eigenen Weltbild. So führt die individuelle Annahme einer gefährlichen (Arbeits‑)Welt zu individuell aggressiveren Handlungstendenzen in Interaktionen (Dodge et al. 2015; Huesmann 2018). Ambigue Reize im sozialen Miteinander werden feindseliger interpretiert, was die Wahrscheinlichkeit des Nutzens eigener aggressiverer Handlungsskripte erhöht. Dadurch erschwert sich die Interaktionsgestaltung mit der anderen Partei. Die subjektive Wahrnehmung, wie gefährlich Interaktionen in der eigenen Arbeitsumgebung sind, legt einen wesentlichen Grundstein für das eigene Handeln in Konflikten. Es macht einen Unterschied, ob davon die Rede ist, dass „es Übergriffe gibt“, oder ob von einem alltäglichen und immer größer werdenden Problem gesprochen wird (Staller und Koerner 2021b).
Auf organisationaler Ebene synthetisieren sich diese Folgen in
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Einer Veränderung von Ausrüstung, Waffen und Schutzausstattung hin zu militärischem Equipment (Naplava 2020) sowie funktionalen Ausrichtung auf Zwangshandeln (z. B. Bestrebungen zur Einführung von Distanzelektroimpulsgeräten (DEIG) trotz Evidenzen für ein damit zusammenhängendes problematisches Konfliktverhalten von Polizist*innen, Ariel et al. 2018; den Heyer 2020).
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Einer Fokussierung von Trainingsinhalten und Curricula mit Blick auf bereits vorhandene Gewalt (im Vergleich zu Inhalten, die einer Entstehung vorbeugen) (Naplava 2020; Staller et al. 2019).
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Einer strategischen Ausrichtung im Umgang mit Gewalt in Richtung „Robustheit“ (Behr 2018).
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Dem Aufbau sozialer Distanz zu Bürger*innen (Boivin et al. 2018; Staller und Koerner 2021c).
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Der ausbleibenden Thematisierung von Fehlern, welche für die Solidargemeinschaft als nichtbedrohlich angesehen werden (Seidensticker 2019).
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Der Entwicklung einer polizeilichen Dominanzkultur (Behr 2020).
Die individuellen und organisationalen Folgen strahlen wiederum in den politischen Betrieb ab, wo politische Akteure wie z. B. Polizeigewerkschaften sich des Narrativs zum Durchsetzen eigener machtpolitischer Interessen bedienen (Behr 2015, 2018; Duncan und Walby 2021). Mit Blick auf die soziale Konstruktionsmacht der Institution Polizei führt dies auf gesamtgesellschaftlicher Ebene dazu, dass soziale Ordnungen über Feindbilder, Stereotypen und Vorurteile ausgebildet und verstärkt werden (Brauer et al. 2020; Hunold et al. 2021; Rauls und Feltes 2021) sowie soziale Räume als Gefahrenräume (mit)gestaltet werden (Hunold et al. 2021).
Die systemstrukturelle Verwobenheit der einzelnen Ebenen wollen wir im Folgenden näher in den Blick nehmen. Dabei konzentrieren wir uns auf Erkenntnisse aus unseren Forschungsarbeiten im Themenfeld des polizeilichen Einsatztrainings. Durch unsere Arbeit im Feld werden wir regelmäßig an verschiedenen Stellen mit dem Gefahrennarrativ konfrontiert. Diese Kontaktpunkte bilden auch den Ausgangspunkt unserer systemstrukturellen Betrachtung. Unsere Linse fokussieren wir dabei über die vier genannten Ebenen auf Elemente, denen wir eine Wirkungsentfaltung auf die Polizeiorganisation zusprechen: (a) auf individueller Ebene der Praxis des Einsatztrainings, (b) auf organisationaler Ebene systeminterner bzw. systemwirksamer Literatur zum Gewalt- und Einsatzhandeln, (c) auf politischer Ebene einer polizeilichen Gewerkschaft sowie einer dem Einsatztraining nahestehenden Organisation und auf (d) gesellschaftlicher Ebene dem Generieren und der Kommunikation systemimmanenter Daten. Wir legen hier jeweils die empirischen Befunde dar und bringen diese Ebenen übergreifend miteinander in Verbindung.
Individuelle Ebene: Praxis des Einsatztrainings
Polizist*innen werden in bereits in der Ausbildung bzw. im Studium berufsspezifisch sozialisiert (Charman 32,31,b, a; Staller und Koerner 2022b). Das polizeiliche Einsatztraining hat hier als Schnittstelle zwischen „drinnen“ und „draußen“ einen besonderen Stand, der regelmäßig auch von Lernenden artikuliert wird (Staller et al. 2022b). Entsprechend hat das, was hier explizit und implizit vermittelt wird, das Potenzial, Wirkungsmacht in der weiteren Tätigkeit als Polizist*in zu entfalten.
In Bezug auf das, was vermittelt wird, zeigen unsere Daten aus Fallstudien, dass auf impliziter Vermittlungsebene eine Orientierung hin zu polizeilichem Zwangshandeln im Vergleich zu kooperativen Lösungsmöglichkeiten auf Augenhöhe erfolgt (Staller et al. 2019, 2021b). Die Gewalt(eskalation) ist damit schon vorausgesetzt. Weiterhin zeigen Interviewdaten von Polizeianwärter*innen, dass im Einsatztraining tendenziell ein dunkles Weltbild transportiert wird: Extreme Gefahren lauern für Polizist*innen immer und überall – was sich in der Praxiserfahrung der Polizist*innen so nicht widerspiegelte (Staller et al. 2021a).
Daten aus den Wissensquellen von Einsatztrainer*innen weisen ebenfalls einen bemerkenswerten Befund auf (Staller et al. 2022a): Der polizeiinterne Austausch mit Kolleg*innen sowie der Wissensaustausch auf Workshops und Konferenzen wird als besonders fruchtbar angesehen. Aus systemischer Ebene erscheint hier relevant, welche Weltbilder dort existieren und welche Narrative transportiert werden. Auf die Frage, welches Wissen sie als Letztes hilfreich für die Trainingstätigkeit bewerteten, gaben ca. 50 % der Einsatztrainer*innen technisches und taktisches Einsatzwissen an – also Inhalte, die sich mit der Antwort auf bestehende Gefahren auseinandersetzen.
Organisationale Ebene: Literatur zum Einsatzhandeln
Auf organisationaler Ebene entfalten besonders Dienstvorschriften und Leitfäden zum Einsatzhandeln Wirkung und hier besonders der Leitfaden 371 – Eigensicherung (Leitfaden 371 2002, 2011, 2021).
Traurige Realität ist, dass Jahr für Jahr Polizeibeamte in Ausübung ihres Dienstes sterben. Sie üben einen Beruf aus, bei dem sie auch in ganz alltäglichen Situationen mit erheblicher Gewalt konfrontiert sind. Respektlosigkeit, Aggressivität und Gewaltbereitschaft, fehlende Anerkennung staatlicher Autorität sowie eine niedrige Hemmschwelle bei Anwendung von Gewalt gegen Polizeibeamte gehören zu Ihrem Dienstalltag. (Leitfaden 371 2021, S. 7)
Eigensicherung steht zwar „nicht im Widerspruch zu Bürgernähe“, dennoch gilt es, „jederzeit wachsam“ (S. 7) zu bleiben, denn: „Überleben ist kein Zufall“ (S. 9).
Das polizeiliche Mantra des „Überleben ist kein Zufall“ lässt sich durch weitere systemwirksame Literatur verfolgen. Basierend auf dem Aufsatz in der Gewerkschaftszeitschrift Deutsche Polizei aus dem Jahr 2000 (Füllgrabe 2000) entfaltet es noch heute über das Buch für Praktiker*innen Die Psychologie der Eigensicherung (Füllgrabe 2002, 2021) aus dem Bücherregal von Einsatztrainer*innen sowie in den Bibliotheken der Aus- und Fortbildungseinrichtungen sowie der polizeilichen Hochschulen Wirkung. Die Gefahr ist auch hier omnipräsent. Die Handlungslogik klar: Die Fähigkeit zu überleben, steht im Mittelpunkt der Fertigkeitsausprägung. Polizeiinterne Fachzeitschriften transportieren dieses Narrativ ebenfalls: „Survivability“ (Füllgrabe 2016), um der „Illusion der Sicherheit“ (S. 23) zu begegnen, und das Vorgehen „mit der vollen Härte des Rechtsstaates“ (Goertz 2021, S. 6), um der gefühlten ansteigenden Respektlosigkeit und Gewalt gegen Polizist*innen zu begegnen. Das gefühlte Weltbild generiert sich dabei aus systemimmanenten Lagebildern, welche selektiv herangezogen und interpretiert werden (Staller und Koerner 2022a) sowie dem Verweis auf einen eigenen Beitrag in einer Gewerkschaftszeitschrift (Goertz 2019), in welcher das „hohe und konkrete Berufsrisiko“ konstatiert wird, da „verbale Beleidigungen und Respektlosigkeiten sowie körperliche Gewalt […] leider an der Tagesordnung“ (S. 16) sind und „zahlreiche haupt- und ehrenamtliche Einsatzkräfte […] eine Zunahme ihnen entgegen gerichteter Respektlosigkeit und Gewalt innerhalb der Bevölkerung“ (S. 18) beklagen. Eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Befunden jenseits des Polizeisystems findet nicht statt. Die so generierten – und mit Außensicht als problematisch zu markierenden (Staller und Koerner 2022a) – Argumentationen und Schlüsse werden durch die Veröffentlichung in polizeiinternen nicht Peer-reviewed-Fachzeitschriften vor allem in das System kommuniziert. Beispielsweise werden Studierende explizit auf diese Quellen für ihre Recherchen hingewiesen (Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen 2021), während polizeiinterne Fachzeitschriften die Notwendigkeit eines Peer Review ablehnen, weil sie ja „nur eine Zeitschrift für Praktiker*innen“ seienFootnote 2. Das Narrativ bleibt systemimmanent, zirkuliert und stabilisiert sich dort – und entzieht sich letztlich so einer wissenschaftlichen Korrektur von außen.
Systemwirksame Organisationen
Polizeitrainer in Deutschland e. V.
Der Verein Polizeitrainer in Deutschland e. V. wurde 1996 mit dem Ziel gegründet, die „Qualität der berufsbezogenen EIGENSICHERUNG zu überprüfen, weiterzuentwickeln, und kontinuierlich den Herausforderungen an den Polizeidienst anzupassen“ (Niebergall 2006, S. 4, Herv. i. Org.). Neben der Herausgabe des Polizeitrainer Magazin richtet Polizeitrainer in Deutschland e. V. (PiD) seit 2006 im Vorfeld der Internationalen Waffenausstellung im Messezentrum Nürnberg die zweitägige Europäische Polizeitrainer Konferenz (EPTK) aus, an der regelmäßig ca. 400 Polizeitrainer*innen teilnehmen (Kickisch 2018; Schmidt 2019a). Damit verfügt der Verein gerade mit Blick auf systemische Kommunikation (Luhmann 1981) über eine wirkmächtige Reichweite in das System der Polizei.
Die Kernbotschaft der Kommunikation ist dabei klar: Die Einsatzwelt von Polizist*innen ist gefährlich und wird immer gefährlicher: „Die Respektlosigkeit gegenüber Polizisten im Dienst wird immer größer. Die Hemmschwelle der Gewalt sinkt, und Teile unserer Gesellschaft zeigen sich immer gewaltbereiter“ (Schmidt 2011, S. 15). Entsprechend wird Eigensicherung als Überleben konzeptionalisiert (Knobling 2008; Pokojewski 2000). Die Konsequenzen sind klar: Fehler in der Eigensicherung enden „tödlich“ (Pokojewski 1998). Es gilt, „auf das Schlimmste gefasst sein und taktisch vorbereitet sein“ (Pokojewski 1998, S. 17) und sich zum „Krieg“ vorzubereiten, gerade „wenn du Frieden willst“ (Niebergall 2011, S. 4). Das umfasst im Kern Aufrüstung: Einführung militärischer Waffen (Eberhardt und Berners 2019) und Taktiken (Schmidt 2019b), die Einführung des Tasers (Niebergall 2008), das private Führen von Dienstwaffen (Niebergall 2017) und das Kultivieren eines Überlebens-Mindset (Knobling 2008).
Die Argumentation folgt dabei dem persuasiven Muster auf Emotionen basierender narrativer Kommunikation. Polizeirelevante Ereignisse sind „Massaker“ (Pokojewski 2017) und „Horror“ (Pokojewski 2016). Die Cover-Bilder der Polizeitrainer-Magazine transportieren diese Narration in Bild-Form: Die extreme Gefahr lauert überall, und ihr kann nur mit Aufrüstung begegnet werden (Abb. 2).
In dieser Logik präsentiert sich ebenfalls die Europäische Polizeitrainer Konferenz und wird auch so auf der Webseite von PiD beworben (Abb. 3). Aufrüstung und Militarisierung als Antwort auf eine scheinbar auf der „anderen“ Seite immer zunehmende Gewaltproblematik (Naplava 2020). Die Fronten sind klar. Wir gegen „Die“ – dichotome Problemzuschreibung statt interaktionistischer Analysen. Entsprechend werden auch problematische Interaktionsmuster aufseiten der Polizei seitens PiD negiert („[Racial Profiling] ist nur ein hochgekochter Begriff“ (Maus 2020, S. 34). Ein Gefahrennarrativ mit einem Schwerpunkt auf eine „Wir-gegen-Die“-Mentalität.
Gewerkschaft der Polizei
Als politische Akteure kommunizieren Polizeigewerkschaften ebenfalls Narrative, die „polizeiliche Identität und Ideologien“ (Duncan und Walby 2021) transportieren. Mit fast 200.000 Mitglieder*innen (Gewerkschaft der Polizei 2020) bestehen entsprechende wirkmächtige Möglichkeiten, Narrative – und hier besonders das Gefahrennarrativ – (mit) zu gestalten (Behr 2015; Kraushaar und Behr 2014). Als systemwirksame Organisation beschloss die GdP zusammen mit der Innenministerkonferenz als Reaktion auf die im Jahr 2000 getöteten 8 Polizisten eines der ersten deutschen Projekte zum Thema „Gewalt gegen Polizist*innen“ (Ohlemacher 2011; Ohlemacher und Rüger 2002). Hierzu wurden in einer standardisierten Befragung 2194 Fragebogen versandt, von denen 1064 anonym an das mit der Forschung beauftragte Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen zurückgesandt wurden. Die Validität derartig erhobener Daten wurde und wird entsprechend wissenschaftlicher Standards diskutiert und besonders im Lichte der Subjektivität der Wertung einzelner Delikte durch die Polizei betrachtet (Behr 2015; Ohlemacher 2011). Ohlemacher (2011) selbst relativierte die Ergebnisse der Studie und wies bereits auf die Problematik der Narrative hin:
Generell kann zunächst festgehalten werden, dass die „öffentliche Erregung“ als Indikator der Mobilisierung der Zivilgesellschaft zumeist größer, weil dramatischer ist, als die Kennziffern der tatsächlichen Lage: So wurde die Zahl der getöteten Beamten im Jahr 2000 als zahlenmäßige Spitze einer Entwicklung von immer mehr Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten gesehen. Dies ist jedoch, dies zeigen die Zahlen der Getöteten, Verletzten und Angegriffenen, in dieser Eindeutigkeit nicht der Fall. Zivile Gesellschaften bleiben trotz aller inhärenter Rationalität eben doch „Erregungsgemeinschaften“ (Peter Sloterdijk). Sie werden in ihren Aufmerksamkeitsregeln entscheidend bestimmt von Massenmedien – und damit notwendigerweise von „Nachrichtenwertfaktoren“ wie Emotionalität, Personifizierbarkeit, Gewalt etc. (S. 200)
Die GdP titelt hingegen im Nachgang der Studie mit „Gewalt gegen Polizei – knallhart und alltäglich“ (Deutsche Polizei 2003, S. 6). Auch werden die „Ausfälle gegen Beamtinnen und Beamte immer extremer“. Das Narrativ, dass der Polizeiberuf stets „schwieriger und gefährlicher“ (Freiberg, 2001) wird, wird über die Jahre in Texten und Cover-Bildern der Mitliederzeitschrift Deutsche Polizei transportiert (Abb. 4).
Doch auch in Berlin und anderswo in Deutschland werden zunehmend zielgerichtete Attacken auf Einsatzkräfte registriert. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) verfolgt mit Sorge diese sich abzeichnende Eskalation der Gewalt gegen ihre Kolleginnen und Kollegen bei alltäglichen Einsätzen. (Deutsche Polizei 2014, S. 4)
Klare Kante zeigte auch der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Jörg Radek. Er nannte die in den vergangenen Jahren zunehmende Gewalt gegenüber Beschäftigten nicht länger hinnehmbar. Angriffe auf Polizistinnen und Polizisten, Übergriffe auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn oder auf Feuerwehrleute und Rettungssanitäter seien ein alarmierendes Signal an die Politik, deutlich mehr für deren Sicherheit zu unternehmen. (Deutsche Polizei 2020, S. 3)
Die Lösung liegt auch hier – wie im Narrativ von Polizeitrainer in Deutschland e. V. auf der Hand: Aufrüstung und Verbesserung von Aus- und Fortbildung im Umgang mit bestehender Gewalt (Deutsche Polizei 2001) sowie ein Vorantreiben einer Punitivitätshaltung gegenüber Angriffen auf Einsatzkräfte (Deutsche Polizei 2010). Die GdP „skandalisiert“ (Behr 2015) das Phänomen, um damit die genannten strategische Ziele zu erreichen. Ein Befund der so auch von Behr im Rahmen einer Analyse des Zeitraums 1982–2010 zur Rolle der GdP bei der Konstruktion von polizeilichen Risiken geäußert wurde (Behr 2015; Kraushaar und Behr 2014).
Die Argumentation der Narrative der beiden betrachteten systemwirksamen Organisation – Polizeitrainer in Deutschland e. V. und Deutsche Polizei – zielen im Kern auf Überzeugung durch Emotion. Im Sinne einer politischen Agenda (Behr 2015; Duncan und Walby 2021) steht dabei nicht die Wahrheitsfindung über das Phänomen Gewalt gegen Polizist*innen im Vordergrund. Entsprechend lassen sich in der narrativen Argumentation unterschiedlichste Fehlschlüsse und Unsauberkeiten feststellen (für einen Überblick: Staller und Koerner 2022a). Gerade im Umgang mit Statistiken ist eine Fokussetzung entsprechend der gewünschten Argumentationslinie zu konstatieren:
Die von Bund und Ländern gemeldeten Daten belegen einen Anstieg der Angriffe mit Tötungsabsicht von 1985 bis 1994, während danach die Zahlen sanken, allerdings im Jahr 2000 wiederum stiegen. (Deutsche Polizei 2001)
Generierung und Verwendung systeminterner Daten
Das polizeiliche Gefahrennarrativ ernährt sich auf empirischer Ebene vor allem aus innerhalb der Polizei generierten Daten zu Gewalt gegenüber Polizei und ihrer Kommunikation: Die Polizeiliche Kriminalstatistik sowie die darauf aufbauenden Lagebilder zum Phänomenbereich. Aus einer reflexiven Perspektive sind besonders zwei Aspekte relevant: die Frage nach der (Nicht‑)Beobachtung von Ereignissen und der sich daran anschließenden Kommunikation.
(Nicht‑)Beobachtung
In Bezug auf (Nicht‑)Beobachtungen weist die Polizeiliche Kriminalstatik „keine objektiven, sichtbaren Sachverhalte, sondern die Ergebnisse subjektiv interpretierter Wahrnehmungsprozesse“ (Derin und Singelnstein 2019, S. 213) aus. Entsprechend wird auch in Bezug auf die Opferwerdung von Polizist*innen die Entwicklung der Registrierungstätigkeit – also der Beobachtung – und nicht die tatsächliche Kriminalitätsform dargestellt. Was als Beleidung, Nötigung, tätlicher Angriff oder Widerstandshandlung gewertet wird, ist geprägt von der subjektiven Wahrnehmung des/der Polizist*in (Derin und Singelnstein 2019). Die „ungewöhnlich große Zahl angezeigter Taten ohne Verletzungserfolg [legt] eine grundsätzlich hohe Anzeigebereitschaft nahe“ (Derin und Singelnstein 2019, S. 223).
Eigene Daten des Erstautors (M.S.) aus reflexiven Unterrichtsgesprächen sowie Abschlussarbeiten von Polizist*innen weisen auf eine Praxis des „Schönschreibens“ von Sachverhalten sowie auf das Anfertigen von Gegenanzeigen in Konfliktfällen hin, in denen problematische Interaktions- und Konfliktmuster seitens des/r Polizist*in ursächlich für eine Verschärfung des Konflikte waren. Hinweise über das Anfertigen von Gegenanzeigen liegen auch in Forschungsarbeiten zu Diskriminierungserfahrungen von Bürger*innen vor (Abdul-Rahman et al. 2019, 2020; Landespolizei Sachsen-Anhalt 2021).
Vor dem Hintergrund der einseitigen Subjektivität der Registrierungspraxis liefern Daten wie Krankheitstage, Verletzungsdaten und Todesdaten als objektivere erkennbarere Daten wichtige Anhaltspunkte für die Intensität und die längsschnittliche Entwicklung. Die Anzahl der Krankheitstage wurde für die ersten beiden Lagebilder (Bundeskriminalamt 2011, 2012) aggregiert erfasst (Lagebild 2010: 6546 Tage Dienstunfähigkeit in 12 Ländern im 2. Halbjahr; Lagebild 2011: 23.368 Kalendertage Dienstunfähigkeit in 16 Ländern plus Bundespolizei für das gesamte Jahr). Allerdings zeigte sich hier eine uneinheitliche Erfassung der Länder, was auch die Autor*innen des Lagebildes irritierte: „Bei der Gesamtschau der verzeichneten Angaben irritiert allerdings das Verhältnis zwischen geschädigten [Polizeibeamtinnen und -beamten], der bekannten Polizeistärke im Bundesland und der verzeichneten Anzahl von Dienstunfähigkeitstagen“ (Bundeskriminalamt 2011, S. 18, 2012; S. 31).
Die „subjektiv interpretierten Wahrnehmungsprozesse“ (Derin und Singelnstein 2019, S. 213) der Deliktserfassung führen im Abgleich mit objektiven Werten wie Krankheitstagen zu Inkonsistenzen. Gerade mit Blick auf eine differenzierte Betrachtung des breiten Feldes von Gewalt (Widerstand, Beleidigung, Körperverletzung etc.) wären die Entwicklung der Krankheitstage im Längsschnitt sowie die Zuordnung zu einzelnen Einsätzen und Delikten von besonderem Interesse. Gerade diese Notwendigkeit wurde im ersten Lagebild selbst gesehen:
Von den genannten 12 Ländern konnten nur sechs Länder (Baden-Württemberg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein) Angaben treffen, welche Delikte der erlittenen Dienstunfähigkeit ursächlich zugrunde lagen. Eine sinnvolle Aufschlüsselung und Darstellung eines Zusammenhanges zwischen erlittener Dienstunfähigkeit und Delikt ist daher nicht möglich, sollte jedoch für das Lagebild 2011 forciert werden. Zu diesem Zweck ist eine konsistente und vollständige Erfassung vonnöten. (Bundeskriminalamt 2011, S. 19)
Nach dem auch das Jahr 2011 für Inkonsistenzen in Bezug auf die zugelieferten Krankheitstrage bestand, werden ab 2012 keine Krankheitstage im Lagebild mehr ausgewiesen.
Mit Blick auf die Herausforderung, das Phänomen vollständig und differenziert zu erfassen, stellt sich dies als problematisch dar. Es steigt die Subjektivität der erfassten Daten, welche gerade mit Blick auf das Gefahrennarrativ und die Kommunikation des Lagebildes nicht unbeeinflusst bleiben dürfte (Baier und Ellrich 2021; Behr 2015). Das Narrativ stabilisiert sich in der Struktur der erfassten Daten selbst.
Kommunikation des Lagebildes
Die Kommunikation der Gesamtbewertung des Lagebildes weist ebenfalls ein interessantes Muster auf: Es folgt keinem a priori festgelegtem Muster der Ergebniskommunikation. Vielmehr rückt es in der Gesamtschau durch die Komposition der Beobachtungen die (ansteigende) Gefährlichkeit des Polizeiberufs in den Mittelpunkt. Sofern Anstiege in Deliktsarten zu verzeichnen sind, werden diese zuerst erwähnt und damit in Szene gesetzt (Bundeskriminalamt 2013, 2015, 2016, 2017, 2018, 2019). Stagnationen oder Entspannungen in bestimmten Gewalthandlungen werden dagegen relativiert (Bundeskriminalamt 2014, 2017, 2018, 2020) und mit Verweisen auf (versuchte) Tötungshandlungen in ein dem Narrativ entsprechenden Licht gerückt:
Weder der Umstand, dass die Zahlen der Fälle, der Tatverdächtigen und der als Opfer erfassten PVB zuletzt sanken, noch die Erkenntnis, dass es sich bei den tatrelevanten Handlungen weit überwiegend um vergleichsweise leichtere Straftaten handelte, sollte zum Anlass genommen werden, dieses Kriminalitätsfeld zu unterschätzen. Vielmehr gilt es zu bedenken, dass sich die im Berichtsjahr gegen PVB gerichteten Handlungen nicht nur auf vergleichsweise leichtere Gewalttaten beschränkten, sondern auch schwere, bis hin zu versuchten Mord- und Totschlagsdelikten umfassten. (Bundeskriminalamt 2014, S. 28)
Herausgehoben wird zwar generell die „dynamische Interaktion“ der Gewaltentstehung (Bundeskriminalamt 2015, 2017, 2018, 2019, 2020), die handlungspraktische Schlussfolgerung bezieht sich allerdings auf Komponenten, welche Polizist*innen in der Interaktion eine eher passive Rolle zukommen lässt. Als handlungspraktische Folgen werden mehr Ausbildung und Ausrüstung (Bundeskriminalamt 2018, 2019, 2020) und ein gesamtgesellschaftlicher und gesellschaftspolitischer Diskurs (Bundeskriminalamt 2018, 2019, 2020) gefordert. Zwar ist mit „Ausbildung“ nichts über die inhaltliche Ausgestaltung gesagt, allerdings weisen bestehende Programme zum Umgang mit Gewalthandlungen (Einsatztraining) einen deutlichen Fokus auf reaktionistische Ansätze zum Umgang mit Gewalt aus (Koerner und Staller 2022a). Als Narrativ wird damit in der Gesamtschau das Bild eines*r Polizist*in kommuniziert, welche*r tendenzieller eher passiv nichtbeinflussbarer und steigender Aggression ausgesetzt ist.
In Bezug auf das in der Ergebniskommunikation dargestellte Narrativ ist besonders ein Vergleich mit einer extern-kriminologischen Sichtweise auf dieselben Daten interessant. Während in der Analyse von Baier und Ellrich (2021) seit 2016 ein Rückgang der Opferzahlen bei gefährlichen und schweren Körperverletzungsdelikten konstatiert wird (Baier und Ellrich 2021), starten die Bundeslagebilder 2018 und 2019 jeweils mit einem Verweis auf die Gefährlichkeit des Berufes: 2019 mit versuchten Tötungsdelikten und 2018 über einen Anstieg an Widerstand gegen Polizeibeamt*innen. Ein „hohes und konkretes Berufsrisiko“ (Bundeskriminalamt 2019, S. 73) wird festgestellt – was semantisch ähnlich in Artikeln in Deutsche Polizei (Goertz 2019) transportiert wird.
Auch werden Unterschiede in der Schwere der Gewalthandlungen im Längsschnitt selten in der Gesamtbewertung des Bundeslagebildes thematisiert. Entsprechend zeichnen andere Autor*innen ein deutlich differenzierteres Bild der Thematik (z. B. Baier und Ellrich 2021). Beachtenswert finden wir in diesem Zusammenhang die im Längsschnitt seit 50 Jahren sinkende Anzahl an im Dienst getöteten Polizist*innen (Staller und Körner 2019), welche ebenfalls nicht thematisiert wird.
Ein systemstrukturelles Problem: Mechanismen der Stabilisierung des Narrativs
Der Polizeiberuf beinhaltet ein faktisch vorhandenes Gewaltrisiko, das wir keineswegs verkennen. Auch hierzulande. Allerdings zeigt sich auch für die Polizei in Deutschland eine international bereits gut erforschte Tendenz, reale Gefahren auf einer diskursiven Ebene in einer Weise zu verstärken, die einer empirischen Grundlage entbehrt. Obwohl gerade die Narration einer sich immer weiter verschärfenden Gewaltgefahr nicht der Realität entspricht, erzeugt sie reale Konsequenzen. Das Problem ist dabei nicht nur, dass die Erzählung so nicht stimmt. Problematisch an ihr ist zudem, dass sie sich in Denken, Entscheiden und Handeln polizeilicher Akteure manifestiert und damit auch zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. Die vorgestellte Analyse des Gefahrennarrativs auf verschiedenen Ebenen der Polizei offenbart einige Strukturen und Mechanismen, welche mit Blick auf die Folgen des Narrativs auf systemstruktureller Ebene als problematisch anzusehen sind:
-
1.
Das Narrativ ist Bedingung und Folge zugleich: Subjektive systemimmanente Daten zur Gefährlichkeit des Berufs werden über verschiedene Strukturen weitergegeben und dort jeweils mit Blick auf einen Anstieg problematischer Verhältnisse (Respekt und Polizei) reproduziert. Das Gefahrennarrativ, inklusive der damit einhergehenden Handlungslogiken (Aufrüstung, „Wir-gegen-Die“-Denken), wird im Einsatztraining reproduziert, von Trainingsorganisationen und Gewerkschaften gespeist und mit Lagebildern kommuniziert. Damit ist es in der Polizeikultur omnipräsent. Das wiederum wirkt auf Anzeigebereitschaft, das Schreiben von Artikeln und Leitfäden sowie auf Handlungspraktiken im Einsatz zurück. Das Gefahrennarrativ ist Vorannahme und Schlussfolgerung zugleich.
-
2.
Das Gefahrennarrativ offenbart systemstrukturelle Defizite in Bezug auf Reflexivität und im Umgang mit Wissenschaftlichkeit (Koerner und Staller 2022b; Staller und Koerner 2021a, 2022c). Seine Verbreitung verweist so nicht zuletzt auf einen fehlenden bzw. selektiven Umgang mit externen wissenschaftlichen Perspektiven, Verfahrensweisen und verfügbaren Wissensbeständen, die gegenwärtig ein durchaus differenziertes Bild zur Gewaltthematik zeichnen (Baier und Ellrich 2021). Aktuelle Forschungen bestätigen weder die Diagnose allgegenwärtiger und ansteigender Gewalt gegen Polizist*innen noch die darin transportierte Kausalannahme einer linear vom Bürger verursachten Gewaltexposition. Die Gründe hierfür liegen vor allem auf struktureller Ebene. Als noch relativ junge Disziplin sind in der Polizeiwissenschaft wissenschaftsübliche Verfahren der Aussagenkontrolle nach validierten Standards bestenfalls in Ansätzen etabliert. Rigorose Peer-Review-Verfahren bei Monografien und Beiträgen in einschlägigen Fachjournals fehlen bislang. Das weitgehend fehlende Promotionsrecht an polizeilichen Hochschulen verhindert nicht nur die systeminterne Rekrutierung eines eigenen wissenschaftlich sozialisierten Nachwuchses, sondern auch die strukturelle Etablierung wissenschaftlicher Standards. Ein narratives Diskurselement wie der Füllgrabe-„Gefahrenradar“, der beispiellos auf eine jahrzehntelange semantische Karriere innerhalb der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen zurückblicken kann, ist so bislang weitestgehend ungeprüft und unwidersprochen geblieben. Aus Sicht psychologischer Forschung handelt es sich beim „Gefahrenradar“ um eine Erzählung, die exakt jene Realitäten miterzeugt, von denen sie handelt (Lakoff und Johnson 2019). Ohne sich systematisch und in aller Unaufgeregtheit dem wissenschaftlich differenzierten Blick externer und/oder interner Beobachter*innen zu öffnen, produziert das innerhalb der Polizei kultivierte Gefahrennarrativ eine empirisch strittige, aber dennoch polizeilich wirkmächtige (Handlungs‑)Orientierung.
Notes
Inwieweit sich die Paradigmen gegenüberstehen, variiert angesichts des erkenntnistheoretischen Methodenkoffers. Beispielsweise formuliert White in seiner „Metahistory“-Theorie, dass jegliche Darstellungen von historischen Zusammenhängen poetologischen Kategorien unterliegt (White 1986).
Dies Aussage erhielten wir von einer polizeiinternen Fachzeitschrift in der Diskussion zur Frage, inwieweit ein mit problematischer Argumentationsführung gespickter Artikel (Goertz 2021) veröffentlicht werden konnte. Den Artikel entdeckten wir nur durch Zufall in einer polizeiinternen Bibliothek, was uns die Einreichung eines Kommentars ermöglichte (Staller und Koerner 2022a).
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Staller, M.S., Koerner, S. „Auf den Krieg vorbereiten, wenn du Frieden willst“ – eine Analyse des polizeilichen Gefahrennarrativs. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 16, 245–258 (2022). https://doi.org/10.1007/s11757-022-00728-6
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