1 Einleitung

Um den Qualitäten, dem Wie und Wo von Begegnungen und deren Möglichkeiten (auch in digitalen Formaten) weiter auf die Spur kommen zu können, wird in diesem Beitrag vorgeschlagen, das Phänomen von Leib und Atmosphäre, wie es in der Neuen Phänomenologie durch Schmitz (2014) und später von Böhme (2019) ausgearbeitet wird, als anschlussfähig für ein Verständnis psychodramatischer Konzepte oder Prinzipien in den fachlichen Diskurs aufzunehmen. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind Irritationen, die Studierende in Videokonferenzen während ihrer Gruppenarbeiten äußerten: Ihnen fehlten die Anderen, der gemeinsame Raum und es fehlte „etwas“, das schwierig zu „greifen“ war.

Wenn Gruppen in digitalen Meetings (Videoformaten) zusammenkommen, fehlt die geteilte leibliche Erfahrung im Raum, die Atmosphäre, im Sinne eines Hintergrundaffekts. Diese Abwesenheit wird als Bruch verstanden und bringt dadurch das Phänomen der Atmosphäre in der oben genannten Videokonferenz als „etwas“ zum Vorschein. Atmosphäre, in Anlehnung an soziologische ForschungFootnote 1, ist als eine ‚soziale‘ Tatsache wahrnehmbar.

Es wird dafür plädiert, in der Theoriebildung, Forschung und Praxis zum Psychodrama, (neo-)phänomenologische Ansätze weiter zu berücksichtigenFootnote 2 und das humanistische Menschenbild Morenos nicht in einem dualistischen, experimentell-biologistisch geprägten Bild von Körper und Geist aufzulösen. In der Beobachtung des fachlichen Diskurses fällt auf, dass an einigen Stellen, auch bei Moreno selbst, die dualistische Vorstellung von Körper und Geist Wiederholung finden. Auch wenn betont wird, dass diese Existenzweisen ‚zusammengedacht‘ werden müssten, ein Begriff für dieses ‚Zusammen‘ findet sich nicht. Das mag an den Schriften Morenos liegen oder am jeweiligen bzw. aktuellen Zeitgeist, in dem sich die Diskurse entfalten. Interessant ist dazu der Beitrag von Schacht (2017), in dem er Morenos Begriff der Szene zunächst als „Einheit von Körper, Geist und Situation“ (ebd., S. 335) versteht und mit dem Konzept von Embodiment bzw. dem der Simulation und Mimesis zusammengebracht hat. Es werden dualistische Vorstellungen menschlichen Seins als reduktionistisch in Frage gestellt und Übereinstimmungen von psychodramatischen Techniken und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen gefunden. Die Schwierigkeit, dem ‚Zusammengedachten‘ einen Begriff zu geben, zeigt sich unter anderem in Schachts Wortkompositionen von „körperlich-sinnlich-szenischen Erfahrungen“ (ebd., S. 341) oder „der Körper-Geist-Szene-Einheit“ (ebd., S. 345). Was mit Szene anfangs umschrieben schien, löste sich im Verlauf des Beitrags wieder auf. Aufgenommene Argumentationslinien aus den multidisziplinären Forschungen zu Embodiment, die einen irgendwie gearteten Zusammenhang von Körper und Geist im Sinne neuronaler Prozesse abbilden, bleiben am Ende doch in einer dualistischen Sprechweise. Dies könnte damit begründet sein, dass im Konzept von Embodied Cognition bzw. Embodiment, Kognitionen im Zentrum der ‚Erklärungen‘ stehen. Phänomenologische Zugänge hingegen gestehen dem „präreflexiven leiblichen Zur-Welt-Sein gegenüber dem Geistigen […] ontologische Tiefe“ zu (Alloa et al. 2012, S. 2). Diese unterschiedlichen Zugänge bzw. Betrachtungsweisen bringen unterschiedliches Wissen und Begrifflichkeiten hervor. Eine Positionierung durch verwendete Begriffe und dahinterstehende Konzepte und ‚disziplinären‘ Sprachstil, birgt die ‚Gefahr‘ andere Positionen auszuschließen oder außerhalb der eigenen Disziplin auf wenig Verständnis zu treffen. In diesem Bewusstsein plädiert der Beitrag für interdisziplinäre Offenheit und versteht sich als ein Angebot.

Wenngleich pragmatische Lösungen in Zeiten der Covid-19-Verordnungen gefunden und genutzt wurden, die Möglichkeiten der digitalen Videokonferenz bleibt auch in der fachlichen Community konträr diskutiertFootnote 3. Online-Videoformate sind für alle Beteiligten äußerst voraussetzungsvoll, sie sind nicht aus sich heraus barrierefrei, was in der bisherigen Diskussion zur psychodramatischen Arbeit mit diesem Format weiterer Beobachtung und Reflexion bedarf. Aus meinen Erfahrungen mit heterogenen Gruppen in Präsenzveranstaltungen, in denen u. a. stark sehbeeinträchtigte oder blinde Personen waren, war der Wechsel in die Vollzeitdigitalisierung eine Gelegenheit für ein Krisenexperiment. Ganz im Sinne Harold Garfinkels ethnomethodologischem Grundanliegen ist es ein Bruch mit dem Gewohnten. Dieser Bruch befördert die Wahrnehmung normierter sozialer Phänomene, die Möglichkeit des Hinterfragens und neue Handlungsoptionen zu nutzen. Bei unbedarftem Dauereinsatz können digitale Formate leicht zu einer Konserven-Apparatur geraten, der Bildschirm „zum starren Guckkasten“ (Moreno-Levy 1925, S. 272 f., zit. nach Marschall 2012, S. 183).

2 Atmosphäre & Tele: Begegnung

Ich warne vor dem Echo meiner Stimme.

Ich warne vor dem Spiegel meines Auges.

Ich warne vor dem Schatten meines Leibes.

Ich bin einmalig in der Zeit.

Ich bin unteilbar im Raume.

(Moreno 1915, S. 3; zit. nach Waldl 2005, S. 178)

Ganz im Zeichen der Zeit, in den Atmosphären der Reformbewegungen und zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde die Frage nach dem ‚Was ist der Mensch‘ in unterschiedlichen Strömungen in ein qualitatives ‚Wie ist der Mensch‘, lebensphilosophisch gewendet. Soziologische wie philosophische Denkrichtungen trieben diesen Paradigmenwechsel voran, welcher bis heute im weiteren Sinne zu Machtkämpfen in disziplinären, wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskursen führt. So hatte Moreno auch mit der von Edmund Husserl neu begründetet Phänomenologie und Helmut Plessners, bzw. Max Schelers philosophischer Anthropologie Berührungen (Buer 1999, S. 29 ff.). Obgleich Moreno durchaus quantifizierende Methoden nutzte und Methoden der Messung durch Rollentests oder Rollendiagramme finden wollte (Moreno 1940), ging es in seinen „Heiler-Ideen“ (Schmitz-Roden 1999, S. 77) letztlich um das ‚Wie‘ von Existenz, um das ‚Wie‘ von Heilungsprozessen. Moreno er-fand Zugänge für Menschen und ihre Problemlagen mit unkonventionellen und zugleich vertrauten Mitteln, inspiriert durch seine Theater- und Literaturarbeiten, Psychoanalyse, Religion, durch aufmerksames Beobachten und durch die Menschen und ihre Situationen selbst mit denen Moreno gearbeitet hatte. Die Prinzipien des PsychodramasFootnote 4 waren auch seine eigenen Arbeitsprinzipien, so wie die „Begegnung im Hier und Jetzt, (…) Spontaneität und Kreativität, (…) (und) die Gruppe als Medium“ (Buer 1999, S. 15). Er wurde inspiriert und unterstützt durch seine Freundschaften zu Künstler*innen aus der Zeit in Wien (1921–1925), ab 1926 in den USA waren es eher Ärzt*innen und Psychiater*innen, und durch seine Ehefrauen (AGSÖ o. A.)Footnote 5. Moreno war Lehrer, Arzt, Therapeut, Erfinder, Wissenschaftler und gewiss auch bei alle dem ein Künstler, mit Vorliebe für das Theaterale (ebd.).

Dem ‚Wie‘ wird in diesem Beitrag ein ‚Wo‘ hinzugefügt. Denn, geht es um die Frage ‚Wie ist der Mensch?‘, muss die Frage nach dem Medium, den Bedingungen in denen (gute) menschliche Existenz möglich ist, angeschlossen bleiben. Frei mit Gernot Böhme formuliert: Wo kann Mensch (gut) Mensch sein? Die Frage nach den Orten menschlicher und menschenwürdiger Existenz ist durchaus auch eine politische, betrifft aktuelle grundlegende Fragen im Sinne globaler nachhaltiger Politik, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt werden. Morenos Person, seine Schriften und Begriffsverwendungen geben Anlass für Diskussionen und Forschungsbemühen, was wohl in seinem Sinne sein dürfte. Bezüge zu phänomenologischen Autor*innen, wie Husserl, Plessner oder Merlau-Ponty, tauchen in der Literatur zum Psychodrama stellenweise auf (z. B. in: Petzold und Mathias 1982, S. 160 f.; Buer 2013, S. 216; Skar 2020), sind jedoch nicht ausgeschöpft.

3 Körper & Leib

Der Begriff Leib ist für ein Menschenbild und Weltzugang, für welches die theoretische und praktische psychodramatische Arbeit grundlegend ist, zentral. Es liegen dem Folgenden Aspekte menschlicher Leiblichkeit zugrunde, wie sie innerhalb der Neuen Phänomenologie vor allem mit Gernot Böhme (2020) formuliert werden. Böhmes Ansatz unterschiedet sich weitgehend von anderen (neo-)phänomenologischen Arbeiten darin, dass er zum einen den Begriff der Natur und zum anderen den der Atmosphäre zu einer neuen Ästhetik stark macht. Die ästhetischen Dimensionen in Morenos Texten und seinen Methoden müssen an dieser Stelle bis auf Hinweise zur Leiblichkeit ausgespart bleibenFootnote 6.

Böhme übernimmt zunächst die kategoriale Differenz von objektiviertem Körper und selbstreferenziellem Leib, der Leiberfahrung. Seit der Leibphilosophie Schopenhauers, Nietzsches, Satres, Heideggers, Merlau-Pontys, Plessners (exzentrischer Positionalität) oder Bernhard Waldenfels, tritt der Leib gegen den Geist an. In diesen Ansätzen wird der Dualismus, als kartesianisches Körper-Geist (manchmal auch/und Seele)-Problem bezeichnet, in der Einheit des Leibkörpers gelebt, aber nicht überwunden.

Böhme fügt im Unterschied zu anderen Ansätzen die Gegebenheit des Leibs als Natur hinzu:

„Körper ist die Natur des Menschen in der Fremderfahrung. Leib ist die Natur des Menschen in Selbsterfahrung.“ (ebd., S. 41)

Böhme spricht von der „lebendigen Existenz“ (ebd.) als Natur des Menschen, die durch das Spüren als Selbsterfahrung gegeben ist. Der je eigene Leib muss erst erspürt, „überhaupt entdeckt und entwickelt werden“ (ebd., S. 42). Er spricht auch von „Leibsein als Aufgabe“ (Buchtitel von 2017), als Existenzdefinition, als Vollzug (ebd., S. 38). Wenn „Körper die Natur des Menschen (ist)“ (ebd., S. 41) bedeutet dies, dass wir auch Körper sind. Damit grenzt er sich von den o. g. Autoren ab, die im Sinne Plessners meinen, dass wir „Leib sind“ und „Körper haben“ (ebd., S. 42). Böhme schließt seine philosophischen Untersuchungen konsequent an lebenspraktische Erfahrungen an und zeigt am Beispiel von Liebe oder von Bewegungen, wie wir über unseren Körper nicht vollkommen mächtig sind (im Sinne von haben), sondern auch anteilig Körper sind und uns dazu verhalten müssen (im Sinne von Natur). Körper ist entsprechend dieser Sichtweise nicht nur ein ‚Körper-Ding‘ im Sinne von Körper haben. Wir sind uns selbst nie vollkommen zugänglich, können uns dennoch als leibliche Einheit empfindenFootnote 7. Die erlebten Grenzen des eigenen Leibs fallen nicht automatisch mit den Grenzen des Körpers zusammen.

Moreno schreibt in „Rollentheorie und das Entstehen des Selbst“ (1962) von „Körper, Psyche und Gesellschaft“ (ebd., S. 292 f.), die ein ‚Selbst‘ ausmachen. Es entsteht der Eindruck, dass Moreno als Mediziner und mit den Arbeiten Freuds vertraut, der dualistischen Sicht verhaftet blieb, wenn auch metaphysische Zugänge in seinen Texten offensichtlich sind. Die folgenden kurzen Textauszüge aus Morenos Schriften und deren Interpretationen können vorerst genügen, um zu zeigen, dass er diesen Sprachstil benötigte, um die relevanten Phänomene psychodramatischen Wirkens in ihrer Komplexität zu erfassen. Durch diese bildreiche Sprache erfasst Moreno das ‚Wie‘ und das ‚Wo‘ der Erfahrungen, nämlich als Widerfahrnisse (Schmitz) oder als ästhetische Praxis (Böhme), als Leib-Phänomene.

„Man muss Anlauf nehmen um sie (die Lage, L. H.) zu erreichen,

wie um hoch zu springen, ist sie erfaßt [sic!], so schießt sie heiß und voll an“

(Moreno 1970, S. 28, zit. nach Schmitz-Roden 1999, S. 76 f.).

„(Es sind) arteigenes Material und arteigener Geist im Spieler vereint (und) das authentische Kunstwerk entsteht hier und jetzt“ (Moreno, zit. nach Fangauf 1999, S. 105).

Für die Darstellung von Vorgängen, wie jene der Lage, verwendet Moreno wie so oft eine kraftvolle „Erlebnisschilderung“ (Waldl 2005, S. 177) und lässt ein abstraktes Konzept lebendig werden. Er kann die Leser*innen durch seine Sprache berühren, sie in Stimmung versetzen. Die Lage „schießt“, sie ist „voll“ und „heiß“, als Gefühlsqualität und -quantität und wird hier ganz im Sinne einer Sache, die sich offenbar mit Beschleunigung, hoher Geschwindigkeit und Temperatur durch einen Raum bewegt, für die es Kraft bedarf, beschrieben. Mit dem kräftigen Anlauf („wie um hoch zu springen“), scheint die Person zunächst noch getrennt und außerhalb der Lage zu sein, muss sich jener nähern, selbst aktiv sein, sich in Bewegung bringen, die Lage ergreifen um wiederum von ihr ergriffen zu werden.

Von Schmitz-Roden werden die Formulierungen Morenos als „mehr prosaisch (denn) als wissenschaftlich“ (ebd.) bezeichnet. Die ‚Schriften des Vaters‘ führen den Autor zu seiner Feststellung, dass Moreno einen „Sprachstil der mehr an die Bibel erinnert“ (ebd., S. 77) verwendet. So kommt Schmitz-Roden letztlich zu einer psychologischen und metaphysischen Deutung und stellt kritisch fest, dass „jede Umschreibung für sich allein genommen den Begriff [der Lage; L. H.] nicht (erklärt)“ (ebd., S. 77). Er merkt dazu weiter an, dass es „nach einem Elementaren Ereignis (klingt)“ in welchem „der Mensch mehr der Ort des Geschehens zu werden (scheint) als sein Verursacher“ (ebd.). Dem ist zuzustimmen, der Mensch ist „der Ort des Geschehens“ (ebd.), aber genauer – es ist sein Leib. Die weiter oben aufgeworfene Frage nach dem ‚Wo‘ (guter) menschlicher Existenz, wird mit dem Leibbegriff beantwortet; der menschliche Leib, als absoluter Ort unseres Seins. Morenos Beschreibung von Lage zeigt, dass die Person selbst als primäre aber nicht alleinige Verursacher*in gedeutet werden kann (sie muss selbst Anlauf nehmen). Die Lage ist im selben Moment als ein Widerfahrnis zu bezeichnen, als ein leibliches Phänomen, weil wir nie die vollkommene Kontrolle über uns haben, wann und ob wir die Lage erreichen. Es geht mit dem Anschluss von Moreno an Bergson, den Schmitz-Roden vornimmtFootnote 8, offenbar um eine nur metaphorisch zu erfassende Qualität von Sein, im Moment der Begegnung, zu welcher es der Bewegung und der Gleichzeitigkeit von Spontaneität und Kreativität bedarf. Diesen Moment hält Moreno als Augenblick fest, gebunden an eine Situation und einen „Schöpfer“ (ebd., S. 88). Der Schöpfer kann in Morenos Sinne, als „tieferes Ich“ (ebd., S. 81), der Mensch selbst sein, und in der Begegnung „die Schöpfung Vollenden“ (ebd., S. 90). Indem Moreno zu diesem Sprachstil greift, kommt er dem Unsagbaren näher und er erspürt darin, was sich in diesem alles umfassenden Augenblick ereignet. Die Lage als subjektiv, leiblich gespürt, ereignet sich im „hier und jetzt“ und lässt ein „authentisches Kunstwerk“ (Moreno, zit. nach Fangauf 1999, S. 105) entstehen. Was sich im Sprachstil Morenos widerspiegelt und bei Schmitz-Roden als wenig wissenschaftlich und schwer verständlich gedeutet wird (ders., S. 76), findet sich bei Hermann Schmitz und Gernot Böhme ausbuchstabiert:

Es verdichten sich Zeit und Ort im Leiblichen, als „Zentrum des hier bin ich [H. i. O.] (…) – (als) ein absoluter Ort“ (Böhme 2020, S. 53).

4 Hier und Jetzt im leiblichen Raum

Der leibliche Raum ist in der Philosophie von Hermann Schmitz (1967) beispielsweise als ‚eng‘ oder ‚weit‘ konzipiert (Böhme 2020, S. 52). Mit der Kategorie des leiblichen Raums wird jenes angesprochen, was das „Hier und Jetzt“ (Buer 1999, S. 15) bei Moreno enthält: den Augenblick in dem sich eine Lage (er)öffnet und Begegnung im Tele ereignen kann. Moreno versuchte diese Wirkweisen beziehungsweise Wirkfaktoren seiner Methoden aufzuzeichnen und damit ‚nachzuweisen‘, sprich zu operationalisieren. Morenos Konzeption von Lage, Begegnung, Augenblick oder Tele umfasst qualitative Dimensionen, die durch das Absolute von Hier und Jetzt im selben zusammenfallen. Böhme lokalisiert dieses Zusammenfallen als leibliches Spüren.

„Während sonst Orte durch Abstände von Gegenständen angegeben werden beziehungsweise allgemeiner durch Koordinaten, wird im Hier [H. i. O.] ein Ort durch leibliches Spüren absolut gegeben“ (Böhme 2020, S. 53).

Ein solches Ineinander widerspricht der Erfassung im metrischen Raum, indem „die Beziehungen einer Mannigfaltigkeit (..) durch das Nebeneinander gegeben (sind)“ (ebd.). Der Leib, als Raum des

„In-seins“ (ebd.) birgt ebenso das Vermögen der Ausdehnung, die Möglichkeit zu überschreiten. Und „soweit in der Sphäre meiner leiblichen Anwesenheit auch andere Menschen oder Dinge auftauchen, so ist die Erfahrung nicht die Erfahrung eines Nebeneinanders, sondern eines Seins-bei … beziehungsweise ein geteiltes Miteinander, ein Zusammensein“ (ebd.).

Der Leib einer Person ist immer involviert und jede Art von Änderung in diesem weiten, leiblichen Raum wird als „affektive Betroffenheit gespürt“ (ebd.). Diese Betroffenheit kann unterschiedliche „Charaktere“ annehmen, über die nur die Person Auskunft geben kann, die es ‚betrifft‘. Hermann Schmitz spricht hier von subjektiven Sachverhalten. Schmitz postuliert eine Subjektzentriertheit, der Böhme wiederum nicht völlig zustimmen wird, wenn Atmosphäre sowohl als individuelles als auch als kollektives Phänomen konzipiert ist. Dazu weiter unten mehr.

Eines von drei Charakteristika in dieser Konzeption, ist das oben erwähnte „Zusammensein“, welches wiederum bei Böhme unterschieden werden kann in

  • „sphäre activitatis, (…) Spielraum für meine Handlungen und Bewegungsmöglichkeiten“ (ebd., S. 54).

  • „Raum meiner leiblichen Anwesenheit, (…) durch das Wie meiner Befindlichkeiten (…) eingefärbt (…). Man spricht deshalb hier auch vom gestimmten Raum oder allgemeiner von der Atmosphäre (…), (…) durch die Gegebenheiten modifiziert“, (ebd., S. 54 f.) auf das das leibliche „Hinausspüren“ trifft.

  • „Wahrnehmungsraum (…), als Sein bei den Dingen und anderen Menschen. (…) Wahrnehmen als Sein-bei (bestimmt) …“ (ebd., S. 55)

Der Wahrnehmungsraum wird von Böhme weiter ausgeführt, „da die Wahrnehmung die primäre Weise des Seins bei etwas ist (…)“ (ebd.).

5 Leiblicher Raum im Hier und Jetzt von digitalen Formaten

Um den leiblichen Raum in seiner Konzeption bei Böhme zu verdeutlichen, soll die eingangs beschriebene Situation der Videokonferenz aufgegriffen werden. Erfahrungsgemäß haben Teilnehmer*innen in einer solchen Online-Seminarform ihre Kameras eingeschaltet und die Einstellung mit ‚Selbstansicht‘ gewählt. So können sie auf dem Bildschirm ihre ‚Selbstportrait-Kachel‘, sich selbst, zwischen denen der anderen erblicken, gerahmt vom Schwarz oder Grau und den technischen Werkzeugen der Software. Für die beschriebene Situation folgt daraus, dass die Person vor dem Monitor in mindestens drei ‚sehenden‘ Kommunikationsräumen gleichzeitig verwickelt ist. Denn, so Böhme im Anschluss an Schmitz weiter, „unser leibliches Spüren ihrer Anwesenheit [der Dinge; L. H.] vollzieht sich nicht im Auge, sondern dort wo die Dinge sind“ und „das Gesehene (greift) in meine leibliche Ökonomie ein. (…) Das Sehen wird als leibliche Kommunikation – eben mit dem Gesehenen – bestimmt“ (ebd.). Die Kommunikation setzt sich zusammen aus: den Dingen im Raum, wie den Geräten, Möbeln usw., den digitalen Bildern der Anderen, dem ‚Kachel-Bild‘ der Gruppe auf dem Bildschirm, und dem eigenen digitalen Bild als Teil des Gruppenbildes, als digitales Spiegelbild. Der Fokus liegt im Außen. Zudem tritt das, was man als Akustik bezeichnen würde. Der leibliche Raum ist bei Böhme der akustische, schwingende Raum, „wenn man nach der Räumlichkeit von Musik, von Tönen, von Schall und Geräusch im Allgemeinen fragt“ (ebd.). Dies ist in dem genannten Beispiel der Videokonferenz ein wichtiger Aspekt. Ich selbst höre vor und in jedem Seminar Musik, nutze sie gezielt, um mich und später auch die Teilnehmer*innen, im wörtlichen Sinn ‚in Schwingung‘ und Stimmung zu versetzen. Geräusche oder Töne haben eine räumliche Qualität, sie füllen und tingieren den Raum in dem wir uns befinden, strukturieren unseren leiblichen Raum (ebd., S. 56). Wir geben diesen akustischen Phänomenen eine emotionale Qualität und erleben sie als „mehr oder weniger dicht, oder wenn es sich um eine Geräuschmannigfaltigkeit handelt, [als; L. H.] löchrig oder gebrochen“ (ebd.). Es ist der von uns gefühlte Raum, der auch zum Ausdruck kommt, wenn wir selbst sprechen oder singen. Böhme greift die Aspekte des Tons, des Schalls, auf und schließt daraus, dass Kommunikation von Menschen, Dingen, die ihre je eigene, einmalige Stimme und eigenen Ton haben, in uns ein Mitschwingen einer „Inneren Glocke“ (ders. 2019, S. 163) bewirken. Das Verstehen einer Äußerung ist demnach „durch inneren Mitvollzug (möglich). Verstehen ist ein Resonanzphänomen“ (ebd.). Ton zeigt wie Geruch an, dass und wie etwas anwesend ist (Böhme 2020, S. 56 f.). Anwesenheit ist leiblich wahrnehmbar, sie ist spürbar. Und mit Blick auf das Videobild: Anwesenheit ist nicht unbedingt sichtbar. Womit ich zur Atmosphäre komme. „Töne und Geräusche sind eine Gattung der Erzeugung von Atmosphären – neben etwa Licht und Bewegungssuggestionen, die von Gegenständen ausgehen“ (ebd., S. 57). Atmosphären umgeben uns als ein Halbding (Schmitz 2014) und sind in jeder Szene, bei den Zuschauer*innen, auf der Bühne, im Hier und Jetzt zugegen. Es ist zu vermuten, dass Skepsis aufkommen könnte, wenn ein Phänomen als ein Zwischen- oder Halbding, im Sinne einer leiblichen Erfahrung beschrieben wird. Es soll der Versuch unternommen werden, Morenos Begriff von Tele dem anzuschließen und für weitere Forschung zugänglich zu machen.

6 Atmosphäre und Tele

Für den Menschen ist von Beginn an die Dyade und die Gruppe ebenso ein existenzielles Medium, wie sein Leib. Diesen ersten Grundsatz aufnehmend, sah Moreno in seinen Verfahren „die Gruppe als Medium der Veränderung“ (Buer 1999, S. 15). Wie sich weiter zeigen wird, ist die Gruppe selbst, menschliche Kommunikation, menschliche Existenz, immer schon eingebunden in Atmosphären. Die Bühne ist niemals ‚leer‘, die Atmosphären sind bereits im Raum.

Die philosophischen Bedeutungen von Atmosphäre finden, mit Ausnahme neophänomenologisch orientierter Arbeiten, in der psychodramatischen Theorieentwicklung oder empirischen Forschung bisher keine Beachtung. Innerhalb der Soziologie entwickeln sich aktuell Arbeiten zur Atmosphäre, wie bei Robert Gugutzer (2020), und insgesamt besteht eine Sensibilität für deren Bedeutung. So etwa in Hartmut Rosas Resonanztheorie sind Atmosphären zusammen mit Stimmungen als bedeutende „kontextuelle Faktoren“ (ders. 2016, S. 633 f.) für gelingende, resonante Existenz oder ‚Weltbeziehung‘ benannt. Andreas Reckwitzs soziologische Diagnose einer Gesellschaft der Singularitäten, attestiert „räumlichen Atmosphären“ (ders. 2017, S. 61) einen besonders hohen Stellenwert. Eine begriffliche Bestimmung von Atmosphäre fehlt.

So verwundert es vielleicht auch nicht weiter, dass unter den Schlagworten ‚Psychodrama‘ und ‚Atmosphäre‘ kein Artikel in der Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie verzeichnet ist. Obgleich das Phänomen einen immerzu erwähnenswerten Anteil für das Gelingen therapeutischer oder beratender Arrangements spielt. Als empirischer Faktor scheint Atmosphäre unbestritten. In der Literatur zum Psychodrama wird eine Atmosphäre als vertrauensvoll, aufgeladen, gelöst usw. beschrieben und scheint irgendwie herstellbar zu sein. So z. B. „(wird) schon durch das Einrichten der Bühne die Atmosphäre, die in der betreffenden Situation geherrscht hat, wachgerufen“ (von Ameln et al. 2009, S. 4), oder die Herstellung einer „magisch wirkungsvollen Atmosphäre“ (Buer 2013, S. 66) scheint mittels „Faktoren“ (ebd.) zu gelingen.

Die Beispiele zeigen, dass Atmosphäre als empirische Realität, als Hintergrundaffekt, zugegen ist. Jeder Raum, jeder Ort hat eine Atmosphäre. Wenn über ein ‚Wie‘ von Begegnung nachgedacht wird, wie diese gestaltet werden kann, dann findet diese in räumlicher Atmosphäre statt, in der wir uns befinden. In keiner Ausführung zum Psychodrama bekommt jedoch das Phänomen oder der Begriff eigene Aufmerksamkeit, auch nicht bei Moreno. Atmosphäre als analytischer Gegenstand wird nicht so recht greifbar, daher vernachlässigt? Oder wird Atmosphäre als Alltagsbegriff bereits verstanden geglaubt?

Mit dem für Psychodrama eigentümlichen Konzept von Tele ist es ähnlich problematisch wie mit dem philosophischen Begriff der Atmosphäre. Autor*innen der fachlichen Community sind sich uneinig was Tele sei und so merkt Krüger (2010) an: „Die Folge ist, dass manche Psychodramatiker*innen [sic!] zu gläubigen ‚Morenianern‘ werden und die Widersprüche in Morenos Telekonzept einfach ausblenden“ (ebd., S. 226). Weitgehende Einigkeit scheint darüber, dass mit dem Aspekt von Tele ein Prozess einher geht, weshalb die Autor*innen meist vom Teleprozess sprechen (ebd., S. 230). Für das psychodramatische Prinzip vom ‚Hier und Jetzt‘ stehen Tele und Begegnung als Kern psychodramatischen Wirkens in Zusammenhang. Petzold weist darauf hin, dass in der Literatur, als Beispiel nennt er Leutz, häufig Begegnung mit Tele gleichgesetzt werde (ders. 1982, S. 222). In dem Aufsatz „Morenos Begriff der Begegnung“ von Hutter (2010) bleibt der Begriff Tele, dessen Abgrenzung oder Überschneidung mit Begegnung, ausgeklammert. Krüger schlägt als Lösung vor, den Begriff durch grundlegende Tele-Bestandteile zu klären. Tele als Weg, dem ‚Teleprozess‘, und als Ziel, welches die ‚Telebeziehung‘ (ders. 2010, S. 230) sei. Tele sei durch Rollentausch und Doppeln herstellbar und bedarf der Telefähigkeit der beteiligten Personen, als ein intra- und interpsychischer Prozess (ebd., S. 235 f.).

Krüger zieht dazu eine Textpassage von Moreno und Jennings heranFootnote 9:

„Tele wurde … als zwischenmenschliche Erfahrung definiert, die von Geburt an aus Person-Person-Kontakten und Person-Objekt-Kontakten erwächst und die allmählich den Sinn für zwischenmenschliche Beziehungen entwickelt …: Dass (nämlich) ein realer Prozess in der Lebenssituation einer Person empfindsam ist und mit einem realen Prozess in der Lebenssituation einer anderen Person korrespondiert und dass es vielfältige positive und negative Abstufungen dieser zwischenmenschlichen Feinfühligkeit gibt“ (Moreno und Jennings 1960, S. 40; zit. nach Krüger 2010).

Es findet sich eine starke Betonung des Psychischen zur Verortung von Tele. Was Tele bezeichnet, wird nicht grundlegend geklärt, da Tele selbst Bestandteil der Erklärung in Krügers Ausführungen (2010) bleibt. Das obige Zitat verweist auf den Ort und die Beschaffenheit von Tele: Tele ist die Erfahrung zwischen Personen, oder Person und Ding (Objekt). Menschen, selbst ein Teil Natur (im oben angemerkten Sinne bei Böhme), „von Geburt an“, stehen immer als diese in Beziehung zur Welt und den Dingen. Im Sinne einer ästhetischen Praxis kann zwischen Mensch und Ding eine feinfühlige Beziehung entstehen. Was im oben stehenden Zitat miteinander korrespondiert, sind nicht die Personen, sondern reale Prozesse in Lebenssituationen, an denen die Person beteiligt ist. Das Subjekt des Satzes ist nicht die Person, sondern der Prozess. Empfindsam ist der reale Prozess, die Erfahrung. Selbstredend ist auch eine Person empfindsam und sie ist in diesen Prozess mit körperlichen, leiblichen und mentalen Anteilen maßgeblich involviert, aber nicht nur. Was an dieser Stelle betont wird, ist das Außen und Innen menschlicher Existenz und ihre Verbindung, Aspekte von Leiblichkeit.

Bei Petzold findet sich ebenfalls der Hinweis, dass Moreno „in seinen Definitionen des Tele in seinem Buch von 1959/1973 nicht stringent (gewesen ist)“ (ders. 1982, S. 222). Dennoch wird deutlich, dass Tele „als Prozeß [sic!] innerhalb des sozialen Atoms verstanden werden muß [sic!]“ (ebd., S. 223) und kann auch zwischen Individuen und Gegenständen bestehen (ebd., S. 222). Tele erhält einen weiteren Modus, den Petzold bei Moreno ausmacht: neben dem kollektiven Tele, als „soziales Atom“, entsteht in jedem Menschen individuell ein Bild von sich selbst, als Auto-Tele (ebd., S. 224). Die Fähigkeit sich selbst als Außen und Innen wahrzunehmen, als Verstehendes Wesen, mit Leib und Körper. Dabei ist Atmosphäre zugegen: Teleprozesse sind in Atmosphären eingebunden. Atmosphären als kollektiv wahrnehmbar wirken auf die Anwesenden ein und können in unterschiedlichen Qualitäten Stimmungen auslösen. Im Zusammenhang von Digitalisierung in psychodramatisch-therapeutischer Arbeit folgert Krüger (2021) zum Teleprozess:

„Die interpersonelle psychosomatische Resonanz zwischen der Therapeutin und dem Patienten ist die Grundlage der Entwicklung des Teleprozesses […] Die Körperhaltung, die körperliche Gestik und die Aura der InteraktionspartnerInnen [sic!] werden durch die Videokamera hindurch nur wenig übertragen. Die Online-Begegnung erschwert dadurch die interpersonelle psychosomatische Resonanz“ (ebd., o. A.).

Resonanz wird bei Krüger zu einem inter- und intrapsychischen Vorgang und „die Grundlage der Entwicklung des Teleprozesses“ (ebd.) Ist Tele psychosomatische Resonanz? Aber was ist hier Resonanz? Diese oben beschriebene kollektive, geteilte Erfahrung zwischen Personen scheint in digitalen Räumen (Meetings) zu fehlen. Es fehlt die affektive Atmosphäre, die (leiblich) spürbare ‚Einstimmung‘ der Gruppenmitglieder, als wichtigstes Moment für gelingende Rituale.Footnote 10 Und was nun hinzukommt ist etwas, dass Krüger im vorangestellten Zitat als „Aura der InteraktionspartnerInnen[sic!]“ und an anderer Stelle im Text als „psychodramatische Aura“ bezeichnet. Die „psychodramatische Aura“ wird bei Krüger zu einer Maßeinheit für eine „intime“ (ebd.) Zone, von räumlich-körperlicher Nähe und diene als „psychosomatische Abgrenzung“, die eine Person „um sich herum (hat)“ (ebd.). Es bleibt an der Stelle verborgen, was genau als Aura bezeichnet wird. Obgleich Aura in Online-Formaten fehle, da sie „durch die Videokamera hindurch nur wenig übertragen“ (ebd.) werde und das Fehlen als problematisch beschrieben wird, wird eine Begriffsklärung nicht vorgenommen. Das verwundert, denn zu Beginn gehörte Aura mit zum Erklärungsmuster für die Differenz von Präsenz- vs. „Online-Begegnung“ (ebd.). Böhme geht zu einer Begriffsklärung von Aura in seinem Aufsatz „Kommunikative Atmosphäre“ (1999) explizit auf die Begriffsentwicklung von Tellenbach seit den 60-er Jahren ein. Tellenbach war Psychiater und suchte nach Instrumenten „zur Bestimmung psychischer Störungen“ (ebd., S. 64). Aura ist bei diesem zunächst gleichgesetzt mit Atmosphäre als „Ausstrahlung“ (ebd.). Tellenbachs späteres Konzept von kommunikativer Atmosphäre, als familiäre Atmosphäre gedacht, wird in seinem entwicklungspsychologischen Zugang die „Grundlage zwischenmenschlichen Vertrauens und eine schützende Funktion für die Entwicklung des Individuums“ (ebd.) etwas sinnliches zugesprochen, er nennt es „Geschmack und Atmosphäre“ (ders. 1968; zit. nach Böhme 1999, S. 64). Daran anknüpfend konzipiert Böhme Atmosphäre als etwas vorsprachliches, an deren Produktion die Subjekte mit beteiligt sind. Böhme will zeigen, „was zwischenmenschliche Atmosphären für diejenigen bedeuten, die von ihnen betroffen sind“ (ebd., S. 60). Bei Böhme sind Situationen und Kommunikation immer schon in eine Atmosphäre eingebunden und entwickeln diese gleichzeitig. An diesem Punkt unterscheidet sich das Atmosphärenkonzept von Böhme zu Schmitz. Bei Böhme wird die Konstruktion, das Herstellen von Atmosphäre stark gemacht und als ästhetische Praxis (ders. 2019, S. 34 ff.), im Sinne von Aisthesis, als Wahrnehmungsvorgang eine grundlegend menschliche.

Bei Gernot Böhme ist „Atmosphäre als ein Grundbegriff einer neuen Ästhetik“ (ders. 2019, S. 21) mit starkem Bezug zu den Arbeiten von Hermann Schmitz und Hubert Tellenbach entstanden. Atmosphäre wird zunächst allgemein, im ästhetischen Diskurs als etwas im Außen konzipiert, als Wetter- oder Lichtphänomen, als Atmosphäre von Gebäuden, Städten etc., bevor es als zwischenmenschliches Phänomen aufgegriffen wird (ders. 1999, S. 60). In Abschn. 2.1.1 ist bereits am Beispiel von Stimme, als Resonanzphänomen, „als Artikulation leiblicher Anwesenheit“ (ebd., S. 164), Atmosphäre „als ‚Zwischenphänomen‘ bzw. als ‚Relation‘ von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt (..) [zu]verstehen“ (Gugutzer 2020, S. 371). Das Problem in der Erfassung von Atmosphäre scheint ähnlich gelagert, wie dem in der Erfassung von Tele. Mit Schmitz und Böhme gehen Bemühungen dahin, eine Definition geben zu können und in der noch jungen Atmosphärenforschung dieses empirisch fassbar zu machen, quasi um „den Pudding an die Wand zu nageln“ (Rau 2012, S. 12). Eine breite Rezeption findet aktuell die Definition von Schmitz (2014):

„Eine Atmosphäre ist eine ausgedehnte (nicht immer totale) Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit, d. h. dessen, was als Anwesend erlebt wird.“ (ebd., S. 50)

Es wurde hier bereits auf akustische Erscheinungen hingewiesen. Diese werden in der Philosophie von Schmitz als Halbdinge gefasst. Der Schall besitzt, wie der Wind, oder das gespürte Wetter, keine Flächen, „deshalb ist sein Volumen nicht dreidimensional, sondern dynamisch“ (ebd.). Atmosphären sind (rituell) herstellbar, jedoch sind bestimmte Situationsatmosphären nicht vollständig planbar (Gugutzer 2020, S. 380), weil die Mannigfaltigkeit der Faktoren, die Situationen erzeugen und aufrechterhalten können, immer auch Unvorhersehbarkeiten bergen. Für die Herstellung bspw. einer bestimmten, gewünschten Gruppenatmosphäre, als kollektive Atmosphäre, können ritualisierte Techniken genutzt werden, wie leiblich-affektives, rhythmisches Klatschen, Bewegungschoreografien allg., Musik/Gesang, räumliche Ordnungen wie (kreisförmige) Sitzordnungen, bestimmte Gerüche (Weihrauch in der Kirche), Materialien etc. Stimmung und Atmosphäre sind in der Konzeption nicht identisch, beeinflussen sich jedoch gegenseitig. Wenn eine Person bspw. in einem gemütlichen Wohnzimmer, mit Freunden am Kamin sitzend, in einer ausgelassenen, fröhlichen Stimmung ist und dann alleine, singend in einen dunklen, modrig-feuchten, tropfnassen und mit Spinnenweben verhangenen Keller hinabsteigt, hat dieser Ort im Keller bereits eine Atmosphäre, die durch die Person unterschiedlich in ihrer Qualität wahrgenommen werden kann. Atmosphäre ist immer Teil einer Situation, oder Szene, und Anwesendes wird spürbar. Die Stimmung der eintretenden Person muss sich nicht grundlegend verändern, wird aber tangiert. Gleichzeitig verändert die eintretende Person die Atmosphäre, z. B. durch ihren Gesang, ihre Anwesenheit. So kann sich der Gesang im Kellerraum und im leiblichen Spüren verändern; die Stimme als Schall anders brechen etc. „Atmosphären werden gespürt, indem man affektiv von ihnen betroffen ist.“ (Böhme 2001, S. 46).

7 Schlussbemerkung: Psychodrama online und das Problem mit der ‚leeren‘ Bühne

Im leibphänomenologischen Verständnis, betritt die Leitung mit der Protagonistin, dem Protagonisten, keine „leere Bühne“, wie Hutter fordert (2020, S. 203 ff.). Denn, auch wenn die Requisiten auf der Bühne fehlen, so ist der Raum der Bühne, ihr Ort und der sie umgebende Raum bereits gefüllt mit Architektur, Akustik, Licht, Geruch, Temperatur, Farben, Materialien, durch die Anwesenden aus dem Erwärmungsprozess vor dem „Bühnenspaziergang“ oder „Interview“ (ebd., S. 203). Diese eigene Atmosphäre fließt ständig ein, geht der Situation voraus und bewegt sich mit den Menschen und ihren Räumen, in den darin weiterentwickelten Situationen und Atmosphären. Für die Leitung ist zu überlegen: welche Atmosphäre benötige ich heute/jetzt, um mit Freude zu spielen und in die Begegnung zu gehen? Wie verändert sich die Atmosphäre im Verlauf? In Anschluss an den abgebildeten Diskurs in Hutter (2020) ist die Wahrnehmung und Reflexion der eigenen PositionalitätFootnote 11 wesentliche Bedingung für eine verantwortungsbewusste Prozessleitung. Hutter legt in seinem Abstinenzverständnis mit dem Begriff der leeren Bühne nahe, die Protagonist*innen für ein spontanes Handeln zu ermuntern und im Sinne der Abstinenz „nicht durch vorschnelle Interventionen“ (ebd., S. 203) eigene Vermutungen oder gar eigene Bedürfnisse zu diktieren, nicht in ausufernden Interviews den Faden und Aktionszeit zu verlieren und die ‚Eigendynamik‘ der Atmosphären und Stimmungen, das Materielle der Bühne, des Raums, für die Personen spürbar sein zu lassen. Möglicherweise wäre der Begriff „freie Bühne“ treffender.

Für psychodramatisches Spiel ist die Bühne als symbolischer Ort ein wesentlicher „Wirkfaktor“ (Schemmel 2002). Die Bühne ist ein Ort der Surplus-Realität, fungiert als Zwischenraum/intermediärer Bereich (Winnicott 1973 [1971]). (Tele)Prozesse, die in der Gruppe bei den Einzelnen in der Erwärmung begonnen haben, können auf der Bühne weitere Unterstützung und Wandlung finden. Die Leitung bedarf des Mit-Spürens und spürbar für die Anwesenden, Stimmungen wie Atmosphären werden von ihr mit-beeinflusst. Um mit-spüren zu können und spürbarer Schutz ‚zu sein‘, muss die Leitung den Erlebnissen und den Bewegungen der Protagonistin*des Protagonisten folgen können. Für eine Begegnung im ‚Hier und Jetzt‘ bedarf es der Bewegung von allen Anwesenden, vom Außen (als Körper) zum Innen (als Leib und als Vorstellung) und wieder vom Innen zum Außen. Der leibliche Raum bildet dabei einen Zwischenraum, ist der Ort für Transformationsprozesse.

Die Prozesse, entstehenden Situationen und Atmosphären haben ihre eigene, kollektive (soziale) Logik. Diese gilt es wahrzunehmen und zu unterstützen. Im ‚Hier und Jetzt‘ auf der Bühne entsteht ein individueller, leiblicher (Resonanz)Raum und gleichzeitig ein kollektiver, im Sinne leiblicher Kommunikation. Die gemeinsam erlebte Situation (auf der Bühne) kann unterschiedlich starke kollektive Gefühle erzeugen. Die Anwesenden können diese ebenso unterschiedlich stark spüren und mit-fühlen, im Sinne Max Schelers GefühlsansteckungFootnote 12. Moreno bezeichnet dies als „eine Art Feingefühl“ mit der die Anwesenden „für einander hellseherisch (sind)“ (Moreno 1924, S. 57; zit. nach Schemmel 2002, S. 35).

„Auf der historischen Bühne reichen fünf Sinne aus. Das Stegreifzusammenspiel entwickelt einen sechsten Sinn: die verborgene Empfindung. … Es gibt Spieler, die durch eine geheime Korrespondenz miteinander verbunden sind. Sie haben eine Art Feingefühl für die gegenseitigen inneren Vorgänge; eine Gebärde genügt und oft brauchen sie einander nicht anzusehen. Sie sind für einander hellseherisch. Sie haben eine Verständigungsseele“ (ebd.).

Hutters Begriff der ‚Leere‘ sensibilisiert für eine solche Haltung als Leitung, kann jedoch auch in die Irre führen, wenn dabei an das sprichwörtlich ‚unbeschriebene Blatt‘ oder den ‚white cube‘ gedacht wird. Womit weitere Dimensionen von Bühne als Raum und Ort relevant werden. Die Problematik um die Bühne taucht im digitalisierten Onlineformat verschärft auf. Zunächst: Wo ist die Bühne? Sie ist nicht im digitalen Äther oder auf dem Screen, sondern vor dem Screen. Die Bühne ist im digitalen Seminar fragmentiert bzw. es gibt real so viele Bühnen, wie Personen und Räume an den unterschiedlichen Orten. Und ebenso viele diverse Atmosphären gehen der gemeinsamen Arbeit voraus und nehmen Anteil. Der gemeinsame physische Raum und seine Atmosphäre fehlen als Wirkfaktor für psychodramatische Arbeit.

Für die (Selbst)Reflexion der Arbeit als Leitung in Gruppen, in digitalen Seminaren und für psychodramatisches Arbeiten könnten die phänomenologischen Konzepte helfen eine Sprache dafür zu finden, was von den Studierenden in der Videokonferenz nur schwer mit Worten zu beschreiben war. Den Verbindungslinien und Abgrenzungen der Konzepte von Leiblichkeit, Atmosphäre, Tele und dem Verständnis von ‚Hier und Jetzt‘ könnte zukünftig weiter nachgegangen werden.