1 Einleitung

Der Beitrag befasst sich mit der Situation von vulnerablen Familien im Allgemeinen und mit der konkreten methodischen psychotherapeutischen Arbeit mit diesen Familien in einem aufsuchenden Setting im Rahmen der „Therapeutisch ambulanten Familienbetreuung“ (TAF) in Salzburg. Er bezieht sich auf eine ausführliche Literaturanalyse und ein abgeschlossenes ForschungsprojektFootnote 1 im Erhebungszeitraum 2017–2019 (also vor der Pandemie) mit einem vorrangig qualitativen Zugang, stellt die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund und geht der Frage nach, wie sich die Arbeit mit dem realen sozialen Atom von Klient*innen mit familiären Problemen psychotherapeutisch fördernd gestalten lässt. Zwar wurde mit dem Eltern-Belastungs-Screening zur Kindeswohlgefährdung (Deegener et al. 2009) auch ein quantitatives Instrument verwendet, konnte aber aufgrund des kleinen Samples keine repräsentativen Daten liefern. Mehrwert des Beitrags sind sinnvolle und notwendige settingspezifische Modifikationen von psychotherapeutischen Ansätzen, im Besonderen des Psychodrama.

Ausgangspunkt ist die soziodramatische Ebene (Stadler und Kern 2010, S. 105) der Veränderung von Familie, also die komplexe Dynamik gesellschaftlicher Zusammenhänge und gesellschaftlichen Wandels, der in psychodramatischen Betrachtungen immer mit bedacht wird. Beschrieben wird daher die Ausgangssituation vulnerabler Familien in Österreich allgemein und in Salzburg im Speziellen. Thema sind die Veränderungen der Institution Familie, gewachsene Anforderungen (Stichwort Patchwork- und Regenbogenfamilien) und überforderte Hilfesysteme. Die soziale Situation von Familien und die Bedeutung des Funktionierens von sozialen Netzwerken für die psychische Gesundheit, aber auch die Fähigkeit zur Regulation dieser Netzwerke werden als wesentliche innerfamiliäre Ressourcen gesehen. Die Stärkung dieser Ressourcen wird im Rahmen der aufsuchenden Familienarbeit durch sozialpädagogische und psychotherapeutische Interventionen erreicht. Jacob Levi Moreno (2001, S. 36) fordert schon seit den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Psychotherapie stärker in der Realität zu verankern und kritisiert Gespräche über eine individuelle Lebenswirklichkeit in einer psychotherapeutischen Praxis als „reduzierte Realität“. Er entwickelt für einen Teil des psychodramatherapeutischen Vorgehens den Begriff der „Arbeit am realen sozialen Atom“ und formuliert als Ziel (aber auch als Methode) die Zusammenführung von Menschen, die Probleme bzw. Konflikte miteinander erleben und die Neukonstruktion ihrer Begegnung mit Hilfe therapeutischen Handelns. Dieser Anspruch wurde über die vergangenen Jahrzehnte zwar punktuell praktisch, aber nur sehr gering theoretisch eingelöst. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch eines Beitrags zur Theoriebildung im bislang eher vernachlässigten Feld der aufsuchenden Psychotherapie.

2 Literatur- und sekundäre Datenanalyse

Die zunehmende Vulnerabilität der Institution Familie zeigt sich wohl am besten anhand der seit 1951 bis 2020 stetig fallenden Zahl der Eheschließungen von über 60.000 im Jahr 1951 auf 39.662 im Jahr 2020 (Statistik Austria 2021a). Fast spiegelbildlich verlief die Entwicklung der Scheidungszahlen: sie pendeln um einen Wert von 20.000 pro Jahr, die Gesamtscheidungsrate tangierte bereits 2007 die 50 % Marke (Neuwirth 2011, S. 28). Obwohl die Kernfamilie noch immer die stabilste Familienform ist, ist die Anzahl der klassischen Kernfamilien stark rückläufig und die Rede vom „sicheren Hafen Ehe“ scheint antiquiert.

Obwohl unter dem Begriff Familie oft noch die klassische Kernfamilie (Vater und Mutter, verbunden durch Eheschließung und eines oder mehrere Kinder) verstanden wird, zeigt die Wirklichkeit den Wandel der Familie als Teil des gesellschaftlichen Wandels, so wurden z. B. 2020 insgesamt 612 Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren geschlossen (Statistik Austria 2021b).

Ein Indikator für die die Veränderung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen ist der Geburtenrückgang. Während 1970 die durchschnittliche Geburtenrate in den OECD-Ländern noch bei 2,7 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter lag, so sank sie bis 2009 auf 1,7 Kinder pro Frau. In Österreich liegt die Geburtenrate seit einigen Jahren sogar bei nur rund 1,4 Kindern pro Frau (OECD 2021), ein Umstand, der, bekannt als Problem des demografischen Wandels, in den Medien deutlichen Niederschlag erfährt. Familien im herkömmlichen Sinne werden also seltener und der überwiegende Großteil der Haushalte in Österreich, nämlich 67 %, ist inzwischen kinderlos (Wickert 2015, S. 7).

Die österreichische Gesellschaft entwickelt sich insgesamt in vielfältigeren Lebens- und Familienformen weiter. Nichteheliche Lebensgemeinschaften, transkulturelle Familien, Ein-Eltern-Familien, Patchworkfamilien, Adoptions- und Pflegefamilien, Regenbogenfamilien und Inseminationsfamilien sind nur Beispiele der sich differenzierenden Familienformen. Nur wenige davon sind vollständig neu, die meisten existieren historisch gesehen schon über längere Zeiträume, wurden aber nicht benannt, tabuisiert und über lange Zeit verdrängt. Aus vorliegenden Studien ist zu erkennen, dass bereits ein Viertel der Familien mit Kindern unter 27 Jahren eine Konstellation aufweist, in der – zumindest aus der Sicht eines Kindes – nicht beide Elternteile vorhanden sind. So lebten schon vor 10 Jahren in Österreich 307.400 Familien ohne beide leibliche Elternteile (25 %) und 921.000 Familien (75 %) mit beiden leiblichen Elternteilen (Neuwirth 2011, S. 11), seit diesem Zeitpunkt pendelt die Anzahl der Kinder aus geschiedenen Ehen um 19.000 pro Jahr, mit einem Rückgang auf 17.236 in 2020, ein Zusammenhang dieses Rückgangs mit der Corona Pandemie könnte hier vermutet werden (Statistik Austria 2021a).

Neben den Ein-Eltern-Familien nehmen die Patchworkfamilien den größten Anteil unter diesen o. g. Familienformen an. Waren in früheren Zeiten Verwitwungen ursächlich für die Ein-Eltern-Familie sind nun Scheidungen und Trennungen konstitutiv für diese Familienform, was deren Situation allerdings deutlich komplizierter gestaltet. Alleinerzieherinnen (es handelt sich vorrangig um Frauen) sind häufiger und in einem größeren Ausmaß erwerbstätig als andere Mütter, müssen sich aber wegen ihrer schwierigen Vereinbarkeitssituation oft mit niedrigeren Tätigkeiten und geringerer Bezahlung abfinden. „Sie sind häufiger armutsgefährdet als andere Familientypen und öfter von Sozialleistungen abhängig. Zudem leiden sie auch unter eingeschränkter sozialer Teilhabe und – sofern sie Migrationshintergrund aufweisen – unter deutlich schlechteren Wohnbedingungen“ (Neuwirth 2011, S. 188). Das Funktionieren von sozialen Netzwerken wird zum Erfolgsfaktor bei der Bewältigung der Ein-Elternschaft, sowohl für die Bewältigung persönlicher Probleme als auch für die Unterstützung bei der Kinderbetreuung. Bei den ProtagonistInnen dieses Familientyps stellt die Regulation des sozialen Netzwerks eine wichtige Fähigkeit dar und setzt ein hohes Bewusstsein für die Regie von Beziehungen, aber auch von organisatorischen Abläufen voraus. Nicht zuletzt müssen Rollenerwartungen an Mitglieder des sozialen Netzwerkes immer wieder neu ausgehandelt werden und mit Rollenerwartungen an die Protagonistinnen (z. B. alleinerziehende Mütter) muss kompetent umgegangen werden.

Neuwirth (2011, S. 190) attestieren Patchworkfamilien aufgrund ihrer Studie eine Reihe von typischen Kennzeichen (und zum Teil Risikofaktoren) die an dieser Stelle nur verkürzt erwähnt werden sollen. Insgesamt sind Partnerschaften in Patchworkfamilien instabiler und es existiert ein höheres Trennungsrisiko als in Kernfamilien. Patchworkfamilien tendieren zu einer Enttraditionalisierung der familialen Arbeitsteilung, in der Art, dass sich die Aufteilung nach dem Prinzip der Leiblichkeit des Kindes richtet, unabhängig vom Geschlecht des Elternteils. Beziehungen zu den sozialen Kindern sind mit weniger zeitlichem Engagement verbunden und gestalten sich weniger positiv als zu den leiblichen Kindern, wobei Mütter viel stärkere Unterschiede zwischen leiblichen Kindern und sozialen Kindern machen als soziale Väter. Patchworkfamilien haben ein hochsignifikant geringeres Gefühl der Familienverbundenheit, bzw. benötigen relativ viel Zeit (mindestens 5 Jahre) und Energie für die Herstellung dieser Verbundenheit. Patchworkfamilien haben häufiger mit multiplen Belastungen zurechtzukommen als Kernfamilien. Der Anteil der psychischen Probleme in den Patchworkfamilien ist fast doppelt so hoch und betrifft rund ein Viertel der untersuchten Fälle.

Zunehmende Problematiken zeigen sich auch daran, dass 2020 bei insgesamt 36.756 Kindern und Jugendlichen in Österreich eine Kindeswohlgefährdungsabklärung von der behördlichen Kinder- und Jugendhilfe eingeleitet wurde und knapp 60.000 Erziehungshilfen zuerkannt wurden, eine Steigerung von 3,2 % zum Vorjahr. Im Rahmen der vollen Erziehung wurden 12.678 Kinder und Jugendliche betreut und damit um 0,8 % weniger als im Vorjahr (Bundeskanzleramt 2020, S. 4–5). Diese Zahl erscheint jedoch eher als Pandemie-Artefakt, weil elterliche Besuche der fremduntergebrachten Kinder erschwert waren und daher Rückführungen priorisiert wurden.

Im für das im Folgenden kurz beschriebene Forschungsprojekt relevanten Bundesland Salzburg erhielten 2341 Kinder und Jugendliche im Jahr 2020 eine Unterstützung der Erziehung und 685 Minderjährige wurden im Rahmen der vollen Erziehung bei Pflegeeltern, in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften, Kinder- und Jugendheimen, Kinderdörfern etc. betreut (Bundeskanzleramt 2020, S. 14 und S. 19).

Zwar besteht ein gut ausgebautes Netz an Familienberatungsstellen, das auch genützt wird, allerdings durch die Einschränkungen einer gewissen Hochschwelligkeit und einer Komm-Struktur viele Familien nicht erreicht. Hier setzen Institutionen wie die „Therapeutisch Ambulante Familienbetreuung“ (TAF 2021) in Salzburg an und gestalten ein Angebot der Betreuungsarbeit in der Lebenswelt der Kinder bzw. der Familien (aufsuchende Familientherapie). Die Zielgruppe der therapeutischen Arbeit sind Multiproblem-Familien, also Familien mit klinisch psychologischer Diagnose und psychosozialer Mehrfachproblematik. TAF orientiert sich dabei nicht rein psychotherapeutisch, sondern versucht ganzheitlich im privaten Lebensbereich der Familie zu arbeiten. Der Einsatz für die Familie und ev. das weitere soziale Umfeld ist nun natürlich ein potenziell überfordernder Anspruch. In der aufsuchenden Psychotherapie wird zwar tatsächlich punktuell mit allen gearbeitet, aber der Fokus liegt zumeist auf einer „Ankerperson“, häufig die Person, die die Hauptverantwortung für das Zusammenleben der Familie trägt.

3 Thematische Relevanz des Forschungsprojekts

Es ist also davon auszugehen, dass die Zielgruppe zu einem Großteil aus exkludierten bzw. von Exklusion bedrohten Familien besteht, deren Betreuung sowohl aus Hilfen zur sozialpädagogischen Alltagsbewältigung (Thiersch 2006), als auch aus psychotherapeutischen Hilfen, soziotherapeutischen Hilfen, aber auch anderen gesundheitsfördernden Hilfen besteht. Tatsächlich sind Defizite der Inklusion oft mit sozialen, psychischen und somatischen Problemen verbunden und erweisen sich in der Praxis der Therapie als ein multifaktorieller, komplexer und diffuser Gegenstand, dem mit einer Vielzahl von Strategien begegnet werden muss. Grundsätzlich geht es häufig um die Begleitung von Familien in schwierigen Lebenslagen im Sinne einer „stellvertretenden Inklusion“ (Baecker 1994, S. 103), mit dem Ziel in Inklusion überzuführen, die von anderen Funktionssystemen der Gesellschaft erfüllt werden kann. Gleichzeitig bedarf es der psychischen Stabilisierung durch therapeutische Interventionen, einer entsprechenden Beziehungsgestaltung und Veränderungen der sozialen Beziehungen im sozialen Netzwerk (soziales Atom), wenn nachhaltige Effekte erreicht werden sollen. In Abgrenzung zu rein am Individuum orientierten psychotherapeutischen Methoden erkennt Moreno den Menschen von Anfang an als Beziehungswesen, zu dem sein „soziales Atom“ untrennbar dazu gehört. Sprachlich orientiert sich Moreno dabei am Begriff „Atom“ als kleinste, unteilbare Einheit mit dem „Atomkern“ als das Individuum, in konzentrischen Kreisen umgeben von anderen Individuen. Nicht nur die Abstände vom Zentrum (dem Atomkern) geben Aufschluss über die Beziehungsqualität, sondern auch die Rollen, die mit den anderen Individuen gelebt werden. Die Ergänzung des sozialen Atoms mit den gelebten Rollen nennt Moreno das „soziokulturelle Atom“ (Stadler und Kern 2010, S. 176 ff.). Morenos soziales Atom war grundlegend für die Entwicklung der sozialen Netzwerkkarte, die ihrerseits viele Spielarten kennt und zuletzt von Stimmer und Stimmer (2009, S. 255) als computergestütztes diagnostisches Verfahren überarbeitet wurde. Im Folgenden werden die Begriffe soziales Atom und soziale Netzwerkkarte (NWK) synonym verwendet.

4 Operationalisierung der Forschungsfrage und Methodik der Untersuchung

Nach Auswahl von insgesamt 12 von TAF betreuten Familien nach dem Theoretical Sampling (Krell und Lamnek 2016, S. 180) wurde jeweils eine ausführliche Netzwerkkarte (NWK) erstellt und nach Möglichkeit verglichen mit Normalitätsfolien. Zusätzlich wird bei der Erstellung der NWK im Rahmen eines Interviews eine Rollenliste der selbst wahr genommenen Rollen bezüglich wichtiger Personen des sozialen Atoms erstellt und Veränderungswünsche abgefragt. Das Forschungsteam bestand dabei aus acht angehenden PsychotherapeutInnen, alle im fortgeschrittenen Ausbildungsstand, die im Rahmen des Projekts an ihren Masterthesen arbeiteten.

In der Folge wurden für einen Zeitraum von drei Monaten die Interventionen im realen sozialen Atom genau protokolliert. Von besonderem Interesse dabei war das Übernehmen von Hilfs-Ich-Kompetenzen bei der Aushandlung von Rollenerwartungen mit Personen des realen sozialen Atoms. Aber auch andere Interventionen im Sinn der Übernahme der Hilfs-Regie durch den Therapeuten, die Therapeutin, sind eingeflossen.

Die Analyse der Protokolle führte zu einer ersten Erfassung von Techniken und Interventionen und ermöglichte eine Reflexion auf theoretischer Basis. Nach diesem Zeitraum wurde die NWK wiederholt und v. a. Rollenveränderungen, aber auch weitere Veränderungswünsche konnten dokumentiert werden. Nach einer weiteren Phase der Protokollauswertungen wurde abschließend noch einmal eine NWK erstellt, was sich bei zwei Familien aufgrund veränderter Lebenssituationen als nicht mehr durchführbar erwies, weil die Betreuung in der Zwischenzeit auf Wunsch der Familien beendet wurde. Insgesamt wurde die NWK also drei Mal erhoben, am Anfang der Betreuung, nach drei Monaten und nach einem Jahr der Betreuung.

Die Erforschung der angewandten Techniken und Interventionen, aber auch der sozialen Atome erlaubte freilich nur eine erste Erfassung und es musste ein Bias der ForscherInnen aufgrund der Beziehung zu den Klient*innen befürchtet werden. Die Vorgangsweise belässt Therapeut*in und Klient*in vorerst in der therapeutischen Beziehung und generiert womöglich nur einseitige Ergebnisse. Mit dieser Vorgangsweise sollte bei den weiteren Forschungsschritten gebrochen werden und in ihnen konnten die Klient*innen stärker zu Wort kommen.

Ein nächster Schritt zur Vertiefung der Erkundung war die Durchführung von narrativen Interviews mit den betreuten Klient*innen durch ForscherInnen, die jenen unbekannt waren, um Störungen durch Antworten mit dem Hintergrund der sozialen Erwünschtheit möglichst auszuschließen, aber auch um sich die Gelegenheit zur Auffindung unerwarteter Ergebnisse nicht entgehen zu lassen. Expert*inneninterviews mit KollegInnen aus dem Psychodrama und anderen Therapierichtungen wurden in einem weiteren Forschungsprozess durchgeführt und deren Erfahrungen, Techniken und Methoden zum Vergleich eingeholt.

Um diese Erkenntnisse abzusichern und Aussagen über die mittelfristige Relevanz für die Erreichung der Metaziele (Abwendung der Fremdunterbringung, Verbesserung der Erziehungsfähigkeit, Reduktion der Elternbelastung) treffen zu können, wurde ein quantitatives Instrument in Form des Eltern-Belastungs-Screening zur Kindeswohlgefährdung (Deegener et al. 2009) prä und post eingesetzt, das zwar aufgrund des kleinen Samples keine repräsentativen Aussagen zulässt, aber in Einzelfällen Verbesserungen zeigte.

5 Ergebnisse

In den Interventionen werden drei Ansätze deutlich: die Erhebung des soziokulturellen Atoms (also der subjektiven Gesamtheit der sozialen Beziehungen und der damit verbundenen Rollen) meint eine Diagnostik, die zugleich bereits eine wirksame Intervention ist. Daraus resultiert im Erfolgsfall die Verbesserung bestimmter Beziehungen (Rollenklärung) und die Arbeit mit Personen aus dem sozialen Umfeld (Interventionen auf der sozialen Bühne, also in der Lebenswelt der betreuten Familie).

Therapeutisch betreut werden im Rahmen der aufsuchenden Hilfestellung zu einem großen Teil vulnerable Familien, mit einem als existentiell bedrohlich erlebten Alltag. Vorangegangene Traumatisierungen, psychische Belastungen und die befürchtete oder existierende Exklusion erzeugen einen hohen Handlungsdruck, der dazu verleitet sich an eher rigiden Rollenkonserven zu orientieren, die oft nicht zur Lebenssituation passen und in zusätzliche Überforderungen münden. Infrage gestellt z. B. in ihrer Mutterrolle versuchen also Frauen dieser, manchmal bis hin zur Überperfektion zu entsprechen, oder, weil das ja sowieso nicht gelingen kann, die Rolle als gescheiterte Mutter zu entwickeln. Im schlimmsten Fall geht jegliche Rollendistanz verloren und damit werden alternative Wahlmöglichkeiten nicht mehr erkannt, weil: „Die Welt ja so ist, wie sie ist und man daher nicht anders handeln kann“ (Aussage aus einem Interview). Aus den Protokollen ergibt sich, dass die PsychotherapeutInnen dann einen Erwärmungsprozess starten, der genügend Sicherheit herstellt um Rollendistanz zu gewinnen, um mit Hilfe von Spontanität und Kreativität Klient*innen wieder die Eigenregie in ihrem Leben zu ermöglichen.

Die Auswertung der Interviews zeigt aber nicht nur eine reduzierte Rollendistanz, sondern eine starke Orientierung des Handelns an scheinbar vorgegebenen sozialen und institutionellen Normen: „Wir streiten jeden Morgen, wenn ich Stefanie aufwecke. Sie will nicht in die Schule. Ich muss sie dazu zwingen, sonst kommen wieder die Beschwerden ans Jugendamt.“ Die Aussage aus den Interviews steht hier prototypisch für den massiven Druck, der auf den Ankerpersonen lastet und es entsteht der Eindruck des Damoklesschwertes der Kindesabnahme, das über der Familie schwebt.

Als hilfreich wurde die Erstellung eines soziokulturellen Atoms (eine soziale Netzwerkkarte mit den eigenen Rollen, Eigenschaften und Gefühlen, Stimmer 2009) von den Betroffenen erlebt. Erhoben wird nicht nur welche Rollen mit den anderen Personen im sozialen Netzwerk gelebt werden, sondern auch welche Qualitäten damit verbunden sind und welcher Veränderungsbedarf sich ergibt. Schon die „Außensicht“ der Rollenhaftigkeit von Beziehungen hilft der betreuten Person Rollendistanz herzustellen, weil Rollen auch kreativ verändert werden können, z. B. im Sinn einer Rollenerweiterung: So kann sich eine Klientin gut in der Rolle als grenzenlos liebende Mutter fühlen, aber gleichzeitig überbordende Ansprüche der Kinder erkennen: „Ich kann nicht zu allem Ja-sagen, was Kevin (Sohn, 14 a) will, auch wenn er droht, ansonsten bei seinem Vater einzuziehen.“

Aus den Protokollen ergibt sich, dass auf der nun erarbeiteten Basis versucht werden kann, den Schritt vom eigenen Erleben hin zur Klärung der Rollen anderer Mitglieder im Familiensystem zu machen. Dafür erforderlich ist der kognitive Wechsel in die Perspektive der anderen Person(en), psychodramatisch formuliert: der innere Rollenwechsel. „Was sind die Beweggründe für das Verhalten des Kindesvaters in einer speziellen Situation?“ wäre dazu z. B. eine passende Frage an die Mutter. Daraus können Klient*innen Hypothesen zu den Beweggründen für das Handeln ihrer Familienmitglieder ableiten: „Ich sehe schon der (ehem. Ehemann und Kindesvater – Anm. d. Verf.) hat auch seine Probleme.“

Es hat sich gezeigt, dass die Veränderung des Miteinanders in der polyadischen Rollenkonstellation im Familiensystem, aber auch in der Lebenswelt, das Ziel der weiteren therapeutischen Arbeit ist. Die TherapeutInnen fördern dazu die Entwicklung passender Rollenkonfigurationen durch Aushandlungsprozesse der gegenseitigen Rollenerwartungen. So werden z. B. gemeinsam mit Kindeseltern und Jugendlichen die jeweiligen Rollen und zugehörige Erwartungen besprochen und nötige Anpassungen vorgenommen. Die Protokolle zeigen dabei den Einsatz von Hilfs-Ich-Kompetenzen, eine dem Psychodrama inhärente Technik, die Subjektivität der Klient*innen zu durchleben, deren Ausdruck zu verstehen und dann in den Dialog zu treten: „Die Anne (Therapeutin – Anm. d. Verf.) weiß genau, was ich mit diesem Mann durchgemacht habe, trotzdem sind es ja auch seine Kinder.“

Ein weiteres, eher implizites, Ergebnis war die geringe Vorfindbarkeit von Themen des Zwangskontextes, sowohl in den Protokollen als auch in den Interviews. Dies war insofern überraschend, als die Vorannahmen der Forschenden diametral entgegengesetzt waren, in Sinn einer hohen problematischen Relevanz. Ob dies dem spezifischen humanistischen Zugang des Psychodramas oder anderen Faktoren geschuldet war, konnte aufgrund der anderen Fokusse der Untersuchung nicht ermittelt werden.

6 Diskussion und Modifikationen

Die Forschung zeigt als erste Modifikation der aufsuchenden therapeutischen Arbeit die Konzentration auf die konkrete Arbeit der TherapeutInnen von TAF im realen sozialen Atom, andere Konzepte Morenos (Bühne, Surplus-Reality, etc.) werden eher ausgeblendet. Die Anwendung anderer psychodramatischer Techniken (Rollenspiel, Intermediärobjekte, Vignetten etc.) ist zwar durchaus möglich, tritt aber settingbedingt doch deutlich zurück gegenüber der Relevanz der Gestaltung von Beziehung und der Arbeit am realen sozialen Atom.

Die TherapeutInnen beschreiben ihre Tätigkeit zu Beginn der Betreuung in Analogie (wenn auch definitorisch nicht ganz korrekt) oft als „Krisenintervention“, mit dem Ziel der Herstellung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung und der Schaffung einer „sicheren Bühne“, also einer existentiellen Entlastung, um Spielraum für persönliche Veränderung zu generieren. Rollendistanz, die ev. in der sonstigen psychotherapeutischen Arbeit ein Stück weit vorausgesetzt werden kann, hat in der aufsuchenden Therapie mit vulnerablen Familien eine besondere Bedeutung: Der Eindruck im Leben keine Wahl zu haben, begünstigt rigide Rollenkonserven und das Festhalten an perfekten Zielen. Wesentliche Technik im Rahmen der Übernahme der Hilfs-Ich Funktion in dieser Phase ist das psychodramatische Doppeln, eine Form der dialogischen Grundhaltung und personalen Präsenz, um das blockierte innere (Selbst‑) Gespräch der Protagonistin, des Protagonisten wieder in Gang zu bringen (Stadler und Kern 2010, S. 116 f.).

Psychodramatisch werden zwischenmenschliche Interaktionen und Beziehungen als Prozess des Aushandelns unterschiedlicher Rollenerwartungen verstanden (Schacht und Pruckner 2010, S. 241). Das Verhaftet-Bleiben in rigiden Rollenkonserven, bzw. die Re-Inszenierung früherer Beziehungen stören die Ko-Konstruktion einer gelingenden Wirklichkeit. Der Begriff der Begegnung wird nach dem Konzept der Ich-Du-Begegnung nach Buber (Buber 1997, zit. in Schacht und Pruckner 2010, S. 242) verstanden und setzt eine besondere Qualität des Erlebens, der Unmittelbarkeit, aber auch der Spontanität und Kreativität voraus. Kann dieser Zustand aufgrund rigider Rollenkonserven und/oder perfekter Ziele nicht erreicht werden, kommt es zu einer Begegnungsabsage mit entsprechenden Konsequenzen, einerseits für Personen aus dem realen sozialen Atom, andererseits für die Entwicklung des Individuums. In den Interviews zeigte sich das Erleben der Ankerpersonen als „am Abgrund“, also ständig unter Druck und Stress. Dieses Erleben scheint rigide Rollenkonserven und die Orientierung an sozialen und institutionellen Normen und perfekten Zielen zu begünstigen. Psychodramatiker*innen, die aufsuchend mit diesen Zielgruppen arbeiten sind gut beraten, diesen Umstand stärker als in der „klassischen“ Arbeit in der Privatpraxis zu berücksichtigen. Die psychodramatische Theorie stellt mehrere Prinzipien der therapeutischen Arbeit auf der Begegnungsbühne zur Verfügung (Schacht und Pruckner 2010, S. 242 ff.), die an dieser Stelle nicht im Detail ausgeführt werden können. Eine dialogische Grundhaltung und die bewusste Arbeit an der Beziehungsgestaltung, ein kreativ-konstruktiver Umgang mit den eigenen Auffassungen im Bewusstsein der Veränderbarkeit, die Regulierung der Beziehung mittels inneren Rollentauschs etc. sind typische Techniken für die Arbeit des/r Psychodramatherapeuten/in auf der Begegnungsbühne (Pruckner 2012, S. 243) und konstitutiv für die aufsuchende Psychotherapie für vulnerable Familien.

Eine der wichtigsten im Rahmen der Forschung beobachteten psychodramatischen Techniken auf der Begegnungsbühne, ist die Übernahme von Hilfs-Ich-Kompetenzen. Nicht nur Kinder benötigen die Unterstützung der Eltern um ihre Selbst- und Handlungsregulation zu entwickeln, nach Moreno bleibt der Mensch zeitlebens darauf angewiesen, dass andere für ihn Hilfs-Ich-Kompetenzen übernehmen (Schacht und Pruckner 2010, S. 246). Der Begriff meint mehrere von Psychodramatiker*innen praktizierte Techniken im untersuchten Feld v. a. Unterstützung bei der Spannungs- und Erregungsregulation und Affektspiegelung. Aus psychodramatischer Sichtweise wird auch in der Privatpraxis nie ausschließlich mit einem Individuum gearbeitet, sondern immer auch mit dem sozialen Atom (das in der Privatpraxis mühsam rekonstruiert werden muss, weil eben nicht real vorhanden). In der aufsuchenden therapeutischen Arbeit erschließt sich die Bedeutung des sozialen Atoms weitaus unmittelbarer, im Fall von vulnerablen Familien zeigt sich manchmal sogar erschreckend die Notwendigkeit des Umgangs bzw. der Veränderung dessen. Eine weitere Besonderheit in der Psychodrama-Psychotherapie ist die postulierte Gleichwertigkeit von Blutsverwandten und Wahlverwandten im sozialen Netzwerk. Die Lebensweltbezogenheit der aufsuchenden Psychotherapie ermöglicht im Idealfall nicht nur die Analyse des sozialen Atoms anhand einer vom Therapeuten, von der Therapeutin, erlebbaren Wirklichkeit, sondern auch die direkte Intervention im Prozess der Aushandlung von Rollenerwartungen (Jäger und Ziock 2021).

Therapeutische Arbeit findet in der realen Lebenswelt mit einzelnen zu betreuenden Ankerpersonen oder mehreren Familienmitgliedern oder zusammen mit Sozialarbeiter*in, Lehrer*in etc., statt. Alle Protagonist*innen bringen ihre individuellen biografisch gefärbten Wirklichkeitskonstruktionen in die Szene ein und agieren gleichzeitig. Das macht diese Arbeit so speziell komplex. Die Biographien der betreuten Personen im realen sozialen Atom zeigen vielerlei Brüche und sonstige Auffälligkeiten. Die Biographien mehrerer Personen verschränken sich im familiären Bund ineinander und erfordern größere Anstrengungen, wenn es um die Aushandlung von Rollenerwartungen geht. So können die in der Vergangenheit traumatisierend erlebten Beziehungserfahrungen mit Familienmitgliedern zur Ablehnung von Kontakten und damit zur Ausdünnung des eigenen sozialen Netzwerks führen. Aufgabe der Therapeut*innen ist es dann gemeinsam mit den betreuten Personen neue Rollenkonfigurationen, durchaus auch in vivo, auszuhandeln und damit ein Modell für künftige Rollengestaltungen zu co-konstruieren.

Auch wenn Recherche und Forschung schon einige Erkenntnisse und Modifikationen erlauben, bestehen deutliche Einschränkungen hinsichtlich der Generalisierbarkeit. So sind die gefundenen Ergebnisse eher als Hypothesen zu verstehen, die in zukünftigen Studien überprüft werden müssen. Sowohl die eingeschränkte Zielgruppe, das geringe Sample von 12 Familien, die nicht repräsentativen Ergebnisse des Eltern-Belastungs-Screenings zur Kindeswohlgefährdung, als auch die spezifische regionale Situation in Salzburg müssen zu den Limitationen gezählt werden. Insofern zeigen sich der explorative Charakter der Arbeit, aber doch auch schon die Möglichkeiten und Potenziale aufsuchender Psychodrama-Psychotherapie.

Das Forschungsprojekt hat insgesamt einen ersten Einblick gegeben, was über Menschen in schwierigen Lebenslagen und deren konkrete Problemlagen zu lernen ist und was diese Einsichten für die Psychodramapsychotherapie bedeuten. Die Arbeit mit dem realen sozialen Atom, wie J. L. Moreno sie Anfang des vergangenen Jahrhunderts erdacht und angewendet hat, bedarf aber der weiteren theoretischen Ausformulierung und Evaluation.