1 Einleitung

Die postkolonialen Theorien fordern all jene heraus, die sich mit der Heterogenität von Gesellschaft und ihren Folgen für Bildung und Erziehung befassen. Denn sie zeigen eindrücklich, dass der Kolonialismus auch nach seinem staatspolitisch-ökonomischen Ende nachwirkt, indem eine nunmehr postkoloniale, also die Kolonialität fortschreibende Episteme die (ehemals kolonisierten) Länder des Südens, ihre Bewohner*innen und deren Wissen als minderwertig betrachtet und dem eigenen – ‚aufgeklärten‘, ‚rationalen‘ – Wissen gegenüberstellt (vgl. Bhabha 1994; Mignolo 2009; Quijano 2019; Spivak 1992). Rassismus erscheint dann nicht mehr als nur in der Migrationsgesellschaft virulentes Phänomen; vielmehr wurde er einst zur Legitimierung des Kolonialismus entwickelt und ist nunmehr in der postkolonialen Episteme fundiert, die (nicht nur) die westlichen Gesellschaften prägt.Footnote 1

Die postkoloniale Herausforderung wurde im deutschsprachigen Raum vor allem in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft (siehe etwa Drerup und Knobloch 2022; Forster 2022; Klinkisch und Rieger-Ladich 2022) und jener (bisweilen Interkulturelle Pädagogik genannten) Teildisziplin, die sich mit der Heterogenität von Gesellschaft und ihren Folgen für Bildung und Erziehung beschäftigt (vgl. Akbaba und Heinemann 2023a), produktiv aufgenommen. Während sich innerhalb der letztgenannten Subdisziplin vor allem die Migrationspädagogik (Mecheril 2004) dem Postkolonialismus zugewandt hat (exemplarisch: Peters und Etzkorn 2023), steht dies für andere Konzepte Interkultureller Pädagogik, wie etwa die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten (Nohl 2014, Kap. 6), bislang noch aus.

Wenn ich im vorliegenden Beitrag Konsequenzen aus der postkolonialen Herausforderung für die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten diskutiere, so weist dies zugleich über letztere hinaus. Denn es geht nicht nur darum, einige Thesen aus dem Spektrum der postkolonialen Theorien und der an sie anschließenden Rassismuskritik zur Weiterentwicklung der Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten zu nutzen, sondern auch problematische Tendenzen der erziehungswissenschaftlichen Rezeption des Postkolonialismus kritisch zu reflektieren.

Zur Erinnerung: Die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten stellt den Versuch dar, aus dem grundlagentheoretischen Potenzial heraus, das im Umfeld der Dokumentarischen Methode (zuletzt: Bohnsack 2021) entstanden ist, Antworten auf drei Kritikpunkte zu entwickeln, die in den 1990er und 2000er Jahren an die frühe Interkulturelle Pädagogik gerichtet wurden (vgl. für das Folgende: Nohl 2014, Kap. 6; zuerst: 2006):

  1. 1.

    Es galt, den oftmals eher vagen Kulturbegriff der frühen Interkulturellen Pädagogik theoretisch zu fundieren. Vor dem Hintergrund der Wissenssoziologie Karl Mannheims (vor allem: 1980) und ihrer praxeologischen Revision durch Ralf Bohnsack (zuletzt: 2017) lässt sich ‚Kultur‘ in dreierlei Weise begreifen: Erstens als Bündel von Gemeinsamkeiten der praktischen Erfahrung, die denjenigen, die diesem „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980, S. 220) angehören, so gar nicht bewusst sein mögen, die also auf der impliziten Ebene des Wissens liegen. Zweitens als „kulturelle Repräsentationen“ (Nohl 2014, S. 138), die zwar auf konjunktive Erfahrungen innerhalb von Milieus verweisen, von ihnen aber abstrahieren und dazu dienen, die Zugehörigkeit zu einem konjunktiven Erfahrungsraum über dessen Grenzen hinaus sicht- und erkennbar zu machen (z. B. geschlechtstypische Kleidung, Rituale, ein ostentativer Jargon). Wo solche Zugehörigkeiten nicht auf gleichartigen Erfahrungen beruhen, sondern nur konstruiert sind, lässt sich, drittens, von einer „imaginierten Gemeinschaft“ (Anderson 2005) sprechen.

  2. 2.

    Es war nötig, die Fokussierung der frühen Interkulturellen Pädagogik auf ethnische Kulturen und damit auf die Migration zu überwinden. Anstatt die Heterogenität der Gesellschaft nur durch die Einwanderung ethnischer Minderheiten hervorgerufen zu sehen, gilt es daher, die Mehrdimensionalität von Milieus zu beachten: Menschen leben nicht in einem – etwa ethnischen – Erfahrungsraum, vielmehr überlagern sich in jedem Milieu unterschiedliche konjunktive Erfahrungsräume (Gender, Generation, Migration, Klasse, etc.; vgl. Bohnsack und Nohl 1998). Die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten wird bereits dort relevant, wo Menschen sich hinsichtlich auch nur einer Milieudimension unterscheiden, ohne dass hierfür Migration eine Rolle spielen muss. Damit wird auch die Heterogenität der Gesellschaft nicht alleine mit der Einwanderung, sondern mit der Mehrdimensionalität ihrer unterschiedlichen Milieus begründet.

  3. 3.

    Gomolla und Radtke (2002) hatten in ihrer inzwischen klassischen Studie herausgearbeitet, dass pädagogische Organisationen entlang ihrer eigenen Logiken und Bedürfnisse Schüler*innen diskriminieren können, dies dann aber nachträglich legitimieren, indem sie auf – u. a. durch die Interkulturelle Pädagogik geförderte – öffentliche Diskurse über ethnisch-kulturelle Unterschiede zurückgreifen. Wollte man sich nun nicht gänzlich vom Kulturbegriff verabschieden, war es nötig herauszuarbeiten, wie gesellschaftliche (mehrdimensionale) Milieus die Praktiken von Organisationen prägen, wie in Organisationen selbst konjunktive Erfahrungsräume – als „Organisationsmilieus“ (Nohl 2014, S. 195) – entstehen und wie dies zur Diskriminierung von Menschen bestimmter (u. U. nur imaginierter) kollektiver Zugehörigkeiten führen kann.

Diese hier nur angedeuteten Konturen der Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten verknüpfen sich mit der Erkenntnishaltung der rekonstruktiven Sozialforschung im Allgemeinen und der Dokumentarischen Methode im Besonderen (Bohnsack 2021). Diese Erkenntnishaltung geht nicht von gegebenen und vorab des empirischen Zugriffs feststellbaren Konstellationen aus, sondern arbeitet diese aus empirischen Daten heraus, die die mehrdimensionalen Praktiken der untersuchten Menschen auf unterschiedlichen Ebenen des Sozialen widerspiegeln. Beide, die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten und die sie fundierende Erkenntnishaltung, sind, wie ich im Folgenden zeigen möchte, wichtig, um auf die postkolonialen Theorien und die an sie anknüpfende Rassismuskritik zu reagieren, von ihnen zu lernen, aber auch eigene Akzente zu setzen.

Mir geht es dabei zunächst nur darum, wie vor dem Hintergrund der postkolonialen Herausforderung empirische Forschung und pädagogische Diagnosen in der Migrationsgesellschaft aussehen können. Um dies herauszuarbeiten, ziehe ich selektiv einzelne Publikationen postkolonialer Klassiker und postkolonial inspirierter Erziehungswissenschaftler*innen heran, die mir dazu geeignet erscheinen, meine Argumentation zu verdeutlichen. Angesichts der großen Binnenheterogenität postkolonialer Theoriebildung beziehen sich meine kritischen Reflexionen und Positionsbestimmungen mithin nie auf die postkolonialen Theorien in ihrer Gesamtheit, sondern immer nur auf ihre jeweils genannten Vertreter*innen.

Für die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten sind es sechs Punkte, hinsichtlich derer die Herausforderung des Postkolonialismus produktiv aufgenommen und eigene Akzente gesetzt werden können: Erstens muss die Frage gestellt werden, ob die von der postkolonial inspirierten Rassismuskritik herausgearbeitete und skandalisierte Unterscheidung zwischen Weißen und Nicht-Weißen die alles überdeckende Masterkategorie ist oder ob man von der „Mehrdimensionalität von Ungleichheit“ (Weiß 2017, S. 290) ausgehen sollte (Abschn. 2). Hieran anknüpfend kann gefragt werden, ob von einer Dominanz der (gesamt)gesellschaftlichen Ebene des Sozialen auszugehen ist, von der das postkoloniale Wissen quasi in alle Bereiche der Gesellschaft eins zu eins heruntersickert, oder ob – wie ich vorschlagen möchte – eine mehrebenenanalytische Haltung, die die Eigenlogiken einzelner Ebenen berücksichtigt, angemessener ist (Abschn. 3). Unmittelbar hiermit zusammenhängend ist zu unterscheiden zwischen einer objektivistischen Haltung, in der Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse jenseits von im Einzelnen zu analysierenden Fällen, unter Verweis auf postkoloniale Theorien festgestellt werden, einerseits und andererseits einer rekonstruktiven (Forschungs‑)Haltung, die mögliche Ungleichheitskonstruktionen empirisch rekonstruiert und dabei ihre funktionalen Kontexte berücksichtigt (Abschn. 4). Dabei lässt sich – im Begriff der ‚postkolonialen Lagerung‘ – dem Umstand Rechnung tragen, dass die postkoloniale Episteme in der Gesellschaft einen wichtigen Erfahrungszusammenhang konstituieren kann (Abschn. 5). Fünftens können mit einer rekonstruktiven Analyseeinstellung totale Identifizierungen auch jenseits rassistischer Diskriminierung analysiert werden (Abschn. 6). Schließlich ist zu fragen, ob in Verbindung mit den und jenseits der expliziten postkolonialen Wissensbestände (und ihrer rassistischen Versatzstücke) auch implizite Aspekte postkolonialer Konstellationen zu finden sind, die sich in Implikaturen, Suppositionen und vor allem in den praktischen Erfahrungen von sozialen Akteuren ‚verstecken‘ (Abschn. 7). Wie zu sehen sein wird, lassen sich mit der Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten diese sechs Punkte in eine bestimmte Richtung akzentuieren, die z. T. auch von postkolonialen Forscher*innen geteilt wird.Footnote 2

2 Masterkategorie oder Mehrdimensionalität?

Die postkolonialen Theorien gehen davon aus, dass die koloniale Konstruktion des Anderen, der in jeder Hinsicht als gegenüber den europäischen Weißen inferior dargestellt wurde und so den Imperialismus europäischer Staaten legitimierte, das Ende des Kolonialismus überdauert habe und auf diese Weise postkolonial geworden sei (Bhabha 1994; Mignolo 2009; Said 1995; Spivak 1992). Dass es hierbei aber nicht um eine einfache Dichotomisierung von Weißen und Nicht-Weißen geht, haben schon so unterschiedliche Autor*innen wie Spivak (1992) und Quijano (2019) deutlich gemacht: Während letzterer betont, dass mit der rassistischen Unterscheidung sich auch neue Klassen- und Genderkonstruktionen etablierten (Quijano 2019, S. 26 ff.), arbeitet Spivak (1992) mit der Kategorie der „Subalternen“ eine mehrdimensionale gesellschaftliche Positionierung aus, die „als abgeschnitten von jeglichen Möglichkeiten zur Mobilität – vertikal und horizontal … – charakterisiert“ wird (Castro Varela und Dhawan 2020, S. 324). Diese postkoloniale Konstellation, die Spivak (1992, S. 76) – zurückgreifend auf Foucault – als „epistemische Gewalt“ bezeichnet, habe auch in Ländern, die nie kolonisiert wurden oder kaum kolonisiert haben, „tiefe Spuren hinterlassen“ (Castro Varela und Dhawan 2020, S. 29) und erstreckt sich auf alle Bereiche des Wissens.Footnote 3

Unter Fokussierung der Unterscheidung von Weißen und Nicht-Weißen gehen postkoloniale Erziehungswissenschaftler*innen von der These aus, „dass innerhalb westlicher Bildungsinstitutionen immer auch eine ‚Institutionalisierung von Whiteness‘ … oder eine eurozentrische Perspektive hergestellt wird“ (Bergold-Caldwell 2023, S. 94; vgl. auch Akbaba und Wagner 2022, S. 435). Die Unterscheidung von Weißen und Nicht-Weißen verweist dabei nicht notwendigerweise auf Hautfarben, sondern auf historisch gewachsene und sozial konstruierte, dominante bzw. dominierte Positionen in der (Welt‑)Gesellschaft.Footnote 4 Sie gilt daher diesen postkolonialistischen Forscher*innen nicht als irgendeine Dimension, entlang derer Menschen – und zwar auf beiden Seiten – diskriminiert werden können, sondern als Voraussetzung der rassistischen Diskriminierung Nicht-Weißer, die erst in Folge und zur Rechtfertigung der Kolonisierung entstand (Quijano 2019, S. 26–29). Angesichts dieser historischen Fundierung des Rassismus im Kolonialismus sei ein Rassismus gegen Weiße geradezu ein Widerspruch in sich (Akbaba und Wagner 2022, S. 445).

Auf der Basis dieser Argumentation wird die Differenz- und Diskriminierungsdimension Weiß/Nicht-Weiß zentral gestellt, obwohl sich viele der postkolonialen Erziehungswissenschaftler*innen auch im Intersektionalitätsansatz verorten. Dies führt dann dazu, dass in theoretischer Hinsicht zwar auch andere Diskriminierungs- und Differenzdimensionen vorab berücksichtigt werden, sich diese Sensibilität für Mehrdimensionalität in der empirischen Analyse und im weiteren Verlauf der Forschung aber kaum noch niederschlägt.

Beispielsweise betonen Ahmed et al. (2022, S. 138) zwar eingangs eines Aufsatzes, dass sie, ebenso wie ihre Interviewpartner*innen, allesamt Nicht-Weiße bzw., in ihrer Diktion, „of Color“ seien und dies „nicht unabhängig von anderen Differenzlinien“, wie dem „sozioökonomischen Status“ oder dem Bildungsmilieu, zu betrachten sei. Ihre empirischen Rekonstruktionen konzentrieren sie dann aber auf die Degradierung als Nicht-Weiße, während sie andere Dimensionen selbst dort unbeachtet lassen, wo sie von ihren Interviewpartner*innen, die sich als „Mann“ oder aus einem „Arbeiter*innenhaushalt“ stammend ausweisen (zit. n. Ahmed et al. 2022, S. 147 u. 151), explizit zur Sprache gebracht werden.Footnote 5

Aus der Sicht der Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten gilt es demgegenüber, die Koexistenz verschiedener Dimensionen der Diskriminierung nicht nur (theoretisch) zu konstatieren, sondern ihre Verknüpfung zudem theoretisch und empirisch zu erforschen. Wie auch der bereits erwähnte Intersektionalitätsansatz gezeigt hat, sind soziale Positionierungen nie alleine durch eine (Diskriminierungs‑)Dimension geprägt, sondern in der Überlappung unterschiedlicher Dimensionen fundiert (wie etwa in der Kombination von Schwarz‑, Arbeiterin- und Frau-Sein; vgl. Walgenbach 2014). Aus einer rekonstruktiven Haltung heraus kann daher vorab der empirischen Analyse oder pädagogischen Diagnose einer konkreten Diskriminierungssituation nicht die eine oder andere Ungleichheitsdimension als primär bestimmt werden. Auch wenn eine von diesen historisch gesehen wirkmächtiger sein mag – diese Frage ist ja ebenfalls Gegenstand empirischer Analysen und theoretischer Kontroversen – gilt es empirisch zu untersuchen, welche Dimensionen in der jeweiligen Diskriminierungssituation dominant sind.Footnote 6

Im Unterschied zum Intersektionalitätsansatz geht die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten nicht nur von einander überlappenden Diskriminierungsdimensionen und ihnen unterliegenden Zuschreibungen aus. Vielmehr fragt sie auch danach, inwieweit im jeweiligen Fall unterschiedliche Erfahrungsdimensionen vorliegen, die einander überlagern. Denn neben der Diskriminierung können auch strukturgleiche (geschlechts-, generations-, migrations- oder klassenspezifische) Erfahrungen, die sich jenseits von Diskriminierung entfalten, vorliegen und Menschen so miteinander verbinden, dass es zu Vergemeinschaftungsphänomenen kommt. Empirisch ist dann auch zu untersuchen, wie unter den Bedingungen solch kollektiver Erfahrungen in den u. a. geschlechts-, generations- und klassenspezifischen Dimensionen die postkoloniale Herabwürdigung von Nicht-Weißen erfahren wird (siehe dazu ausführlich: Abschn. 5).

3 Dominanz des Gesellschaftlichen oder mehrebenenanalytische Haltung?

Von Seiten einiger postkolonialer Erziehungswissenschaftler*innen wird die rassistische Unterscheidung von Weißen und Nicht-Weißen vornehmlich auf der Ebene der Gesellschaft gesehen und – hiervon abgeleitet – dann auch in situativen Interaktionen wiedererkannt (siehe etwa bei Ahmed et al. 2022; Akbaba und Wagner 2022; Nguyễn 2022). Die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten, die bislang mit den mehrdimensionalen Milieus, innerhalb derer sich verschiedene konjunktive Erfahrungsräume (des Geschlechts, der Migration, der Klasse, etc.) überlappen, eine Mesoebene des Sozialen fokussierte, kann hiervon lernen und muss der Ebene der Gesellschaft und ihrer einzelnen Felder mehr Aufmerksamkeit schenken, wird doch auch und gerade in deren Diskursen und praktischen Mechanismen dem Rassismus, aber auch anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit, Dauerhaftigkeit und Wirkmächtigkeit verliehen.

Dass in der Gesellschaft und ihren Feldern (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc.) Rassismen auf der Basis postkolonialer Konstellationen etabliert sind, sollte allerdings nicht zu der Annahme führen, dass sie gleichsam automatisch in alle Organisationen, Milieus sowie Interaktionssituationen der Gesellschaft ‚herabsinken‘ und auf jene gleichermaßen einwirken. Vielmehr gilt es für jede Organisation, jedes Milieu und jede Situation – und das heißt auch für jeden Fall, mit dem Pädagog*innen befasst sind – zu untersuchen, inwiefern und wie hier gesellschaftlich verankerten Rassismen Relevanz verliehen wird und wie dies u. U. mit anderen Diskriminierungs- und Erfahrungsdimensionen zusammenhängt. Denn historisch gewachsene und gesellschaftlich etablierte Diskriminierungen verbinden sich mit den Eigenlogiken der Organisationen, Milieus und Situationen, in denen sie ausgeübt oder erlitten werden. Will man nicht in der Diskussion gesellschaftlicher Diskurse verharren, ist es notwendig, in einer mehrebenenanalytischen Haltung (vgl. Helsper et al. 2010; Nohl 2013) auch diese ebenenspezifischen Eigenlogiken zu berücksichtigen sowie die Funktionen, die Diskriminierung in ihnen erhält, zu rekonstruieren.

4 Objektivistische oder rekonstruktive Analyseeinstellung?

Die Ebene der Gesellschaft mit dem in ihr verankerten Rassismus als primär zu betrachten, kann auch zu einer objektivistischen Haltung gegenüber den Erforschten verleiten. Ich möchte diese Problematik am Beispiel einer Analyse aufzeigen, die Akbaba und Wagner (2022) zu einer von ihnen geleiteten Lehrveranstaltung vorgelegt haben. Im Zentrum ihres rassismuskritischen Universitätsseminars stand die „pädagogische Professionalisierung in der postmigrantischen Gesellschaft“ (Akbaba und Wagner 2022, S. 436); zu seiner vorletzten Sitzung hatten die Autor*innen einen Vertreter der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland eingeladen.

Akbaba und Wagner möchten in ihrem Aufsatz „zeigen …, wie Weißsein als institutionelle Norm kritische Lehre über Rassismus rahmt, indem es ihr im Weg steht, die Aufarbeitung rassistischer Diskriminierung untergräbt und diejenigen Lehrenden und Lernenden in verletzliche Positionen bringt, die nicht mit dem weißen Hintergrund der Institution verschwimmen oder sich ihm unterordnen“ (Akbaba und Wagner 2022, S. 436). Ebendies werde insbesondere in der an den Vortrag des o. g. Aktivisten anschließenden Diskussion evident. Der Vortragende hatte den Studierenden vor Augen geführt, dass in ihrer Stadt (bei einer „‚Mohrenstraße‘“ genannten Straße und im Logo einer Firma, deren Besitzer „mit Nachnamen ‚Neger‘ heißt“ [Akbaba und Wagner 2022, S. 442], was im Logo durch ein stereotypisiertes Gesicht eines Schwarzen noch unterstrichen wird) kolonial geprägter Rassismus herrsche; dies wurde dann kontrovers von den Studierenden diskutiert. Zu denen, die sich gegen die Thesen des Vortragenden wehrten, schreiben die Autor*innen: „Die Studierenden, die darauf bestehen, gegen den Sprecher zu argumentieren, zeigen mit ihrem Sprachhandeln, dass das institutionelle Setting ein weißes Setting ist. Sie fühlen sich mandatiert, die Deutungshoheit zurückzufordern“ (Akbaba und Wagner 2022, S. 444).

Weiter geht die Diskussion, als einzelne Studierende fragen, ob es nicht auch Rassismus gegen Weiße gebe und was der Vortragende zur Diskriminierung von „Albinos in Südafrika“ (Akbaba und Wagner 2022, S. 445) sage. Mit Blick auf die Kritik einer Studentin heißt es dann: „Wohlmeinend könnte die Aussage der Studentin als nichts anderes als ihr mangelndes Verständnis von strukturellem Rassismus interpretiert werden. Das selbstbewusst vorgetragene fehlende Wissen über strukturelle Ungleichheiten ist jedoch ein Produkt (und eine Ursache) der Nicht-Thematisierung von strukturellem Rassismus. Die Ignoranz und Besserwisserei spiegeln das institutionelle Weißsein wider“ (Akbaba und Wagner 2022, S. 445).

Nun ist es durchaus plausibel, dass sich in den Äußerungen der Studentin der Versuch widerspiegelt, die Deutungshoheit zurückzugewinnen. Und dies lässt sich durchaus im Kontext des Weißseins der Institution Universität interpretieren. Problematisch erscheint allerdings, dass die Autor*innen dies – wie schon bei den anderen Studierenden (s. oben) – nicht aus den Äußerungen der Studentin herausarbeiten und überdies andere Gesichtspunkte, die zusätzlich hinzukommen oder alternativ vorhanden sein mögen, völlig ausklammern: die universitäre Diskussionskultur, die Widerspruch belohnt; die Gruppendynamik; persönliche Animositäten zwischen Studentin und Vortragendem; Gender‑, Generations- und Altersunterschiede etc. Wenn dann abschließend die Einwände der Studentin als „Ignoranz“ gegenüber dem strukturellen Rassismus bezeichnet werden, kommt überhaupt nicht in Betracht, dass die Studentin um diese Theorie – so ist nach zwölf Seminarterminen anzunehmen – nicht nicht weiß, sondern diese – aus welchen Gründen auch immer – nicht für akzeptabel hält, dass es also gar nicht um ein Wissens-, sondern um ein Orientierungsproblem geht.

Demgegenüber gehen die Autor*innen per se davon aus, dass ihre Interpretation postkolonialer Theorien zum strukturellen Rassismus richtig sei. Aus ihrer Sicht spiegeln die empirischen Daten – es handelt sich hier um Beobachtungsprotokolle im Rahmen einer Autoethnographie – „die Reaktionsmuster der ‚white fragility‘ wider, die in der anglofonen Literatur theoretisch entwickelt wurden: nicht verstehen, was Rassismus ist, sich nicht in die Geschichte verstrickt sehen, annehmen, dass jede*r die eigenen Erfahrungen macht, Arroganz, mangelnde Bereitschaft zuzuhören und Abwehrhaltung, die Umkehrung von Opfer und Täter und besserwisserisches Verhalten“ (Akbaba und Wagner 2022, S. 447).

Eine solche Diagnose, wie sie hier Akbaba und Wagner zu jenen Studierenden, die ihren Gastredner kritisierten, vorlegen, lässt sich als objektivistisch bezeichnen: Wie in den Zitaten evident wird, beanspruchen die Autor*innen einen gegenüber ihren Forschungspersonen (d. h. den Studierenden) privilegierten Zugang zu deren Wirklichkeit, die jenseits der Erfahrungen und Praktiken konkreter Menschen den Sinn ihres Handelns vorab bestimmt (siehe zur Kritik des Objektivismus in der Migrationsforschung: Bohnsack und Nohl 1998 u. Nohl 2001, S. 12 ff.). Dies geht, so Bohnsack, „mit der Tendenz“ einher, „den eigenen Standort des Beobachtenden … mehr oder weniger absolut zu setzen“ (2017, S. 219). Die so objektivierte Wirklichkeit wird zudem lediglich in Bezug auf die privilegierte Position von Weißen in der postkolonialen Gesellschaft ausgedeutet, ohne dass andere mögliche Deutungen – z. B. andere Dimensionen sozialer Ungleichheit und Diskriminierung (siehe Abschn. 2) oder die asymmetrische Rollenbeziehung zwischen Lehrenden und Lernenden – eine Relevanz gewinnen können.

5 Die postkoloniale Lagerung

Als Alternative zu einer objektivistischen Haltung, die die Ebene der Gesellschaft als primär betrachtet, möchte ich dafür plädieren, die postkoloniale Konstellation als eine von mehreren „sozialen Lagerungen“ (Mannheim 1964, S. 524) zu verstehen, die einen umgrenzten gesellschaftlichen Raum möglicher Erfahrungen definiert. Nicht nur begrenzt eine jede soziale Lagerung Erfahrungsmöglichkeiten, sie geht auch mit einer „Tendenz auf bestimmte Verhaltungs‑, Gefühls- und Denkweisen“ (Mannheim 1964, S. 528) einher. Beispiele hierfür sind die „Klassen“- und „Generationslage“ (Mannheim 1964, S. 525 u. 528) wie auch die „Migrationslagerung“ (Nohl 2001, S. 31). Zur ersteren schreibt Mannheim (1964, S. 526): „In einer Klassenlage befindet man sich; und es ist auch sekundär, ob man davon weiß oder nicht, ob man sich ihr zurechnet oder diese Zurechenbarkeit vor sich verhüllt.“ Im Unterschied zu einer Organisationsmitgliedschaft ist die „Zugehörigkeit“ zu einer sozialen Lagerung überdies nicht „durch einen intellektuellen willensmäßigen Akt kündbar“ Mannheim (1964, S. 525-526), sondern qua Habitus inkorporiert.

Der Begriff der sozialen Lagerung hält mithin viele Komponenten dessen bereit, was postkoloniale Forscher*innen mit ihren Überlegungen zu (post-)kolonialem Wissen und dem in diesem fundierten strukturellen Rassismus ausdrücken wollen. Denn es geht ihnen um eine auf der gesellschaftlichen Ebene angesiedelte Konstellation, die mit der rassistischen und eurozentrischen Legitimierung der Kolonisierung eingesetzt hat und die die Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten von Menschen gerade auch jenseits ihres eigenen bewussten Willens limitiert. Man könnte hier von einer postkolonialen Lagerung sprechen, deren historischen und regionalen Dynamiken eigens – etwa mit Diskursanalysen – empirisch nachzugehen ist.

Allerdings wird das durch die postkoloniale Lagerung zur Verfügung gestellte Potenzial an Erfahrungen und Handlungen nicht unbedingt auch von allen Menschen realisiert. Mannheim hat – im Zusammenhang der Generationenproblematik – einen zweiten Begriff, jenen des „Generationszusammenhangs“ entwickelt, mit dem er die „Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit“ (Mannheim 1964, S. 542) bezeichnet. Ob wir es also nur mit einer „in der Lagerung schlummernden Potentialität“ (Mannheim 1964, S. 550) zu tun haben, oder ob diese – etwa im Rahmen eines postkolonialen Erfahrungszusammenhangs – zur Entfaltung gekommen ist, muss daher zunächst anhand der (impliziten) Erfahrungen und Orientierungen der Betroffenen rekonstruiert werden.Footnote 7

Dass es zu entsprechenden Erfahrungen und Orientierungen kommt, impliziert indes noch nicht, welcher Art diese sind. Denn in der Überlagerung mit anderen (klassen-, generations-, gender- oder migrationsspezifischen) Erfahrungszusammenhängen entstehen erst jene mehrdimensionalen Milieus, die von gemeinsamen „Grundintentionen und Formungstendenzen“ (Mannheim 1964, S. 548), d. h. von gemeinsamen Orientierungen geprägt sind.Footnote 8

Für die postkoloniale Lagerung bedeutet dies, dass sie zwar mit dem Fortdauern „epistemischer Gewalt“ (Spivak 1992, S. 76) auch nach dem Ende des kolonialen Zeitalters zu existieren begann, ohne dass aber das mit ihr einhergehende Potenzial an Erfahrungen und Orientierungen notwendigerweise immer zur Geltung kommen musste. Es ist daher eine empirische Frage, seit wann sich welche (durchaus impliziten) postkolonialen Erfahrungszusammenhänge herauskristallisiert haben. Dabei wäre zu beachten, dass sich innerhalb dieses Erfahrungszusammenhanges – also bei all denjenigen, bei denen es zu (impliziten) postkolonialen Erfahrungen und Orientierungen kommt – sehr unterschiedliche bis gegensätzliche postkoloniale Milieus ausprägen können, deren Erfahrungen und Orientierungen divergieren mögen. Denn zur postkolonialen Lagerung, d. h. zum durch die Dauerhaftigkeit des kolonialen ‚Erbes‘ hervorgebrachten Potenzial an Erfahrungen, gehören ja nicht nur jene, die nicht-weiße Positionen in der „Subalterne“ (Spivak 1992) der Gesellschaften einnehmen, und jene, die als Weiße gesellschaftlich privilegiert werden. Zudem müssen hier auch Zwischenpositionen – wie etwa diejenige von in reiche Gesellschaften migrierten Nicht-Weißen (vgl. Castro Varela und Dhawan 2020, S. 324) – berücksichtigt werden, allzumal in die Konstitution der postkolonialen Milieus eben auch andere (u. a. klassen- und geschlechtsspezifische) Erfahrungszusammenhänge einfließen.

Der neue Begriff der postkolonialen Lagerung eignet sich aber nicht nur dazu, postkoloniale Konstellationen rekonstruktiv statt objektivistisch zu identifizieren; er ergänzt die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten (und auch die Dokumentarische Methode) zudem um eine Analysedimension, der hier bislang keine systematische Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

6 Rekonstruktion totaler Identifizierung und ihrer gesellschaftlichen Fundierung

Eine rekonstruktive, mehrebenenanalytische Erkenntnishaltung ermöglicht es, einen differenzierten Blick auf die Art und Weise zu gewinnen, in der Menschen (interaktiv) aufeinander Bezug nehmen bzw. erfahren, dass auf sie Bezug genommen wird. Problematisch erscheinen solche Bezugnahmen immer dann, wenn das Handeln anderer Menschen lediglich durch eine eindimensional konstruierte oder durch eine nur vorgestellte Gruppenzugehörigkeit erklärt wird. Denn dann wird ein Mensch oder eine soziologische Gruppe von Menschen total identifiziert: Sie und ihr Handeln werden nicht nur beobachtet, sondern zusätzlich werden die Ursachen und Motive des Handelns (vermeintlich) klar identifiziert (vgl. Garfinkel 1972, S. 202; vgl. auch Bohnsack 2017, S. 246 ff.), ohne dass es hier einen ausreichenden Bezug zu den (mehrdimensionalen) Erfahrungen dieser Person bzw. Gruppe gäbe. Wenn das Handeln einer Person z. B. ausschließlich auf ihre geschlechtsspezifische Erfahrungsdimension zurückgeführt wird, oder wenn es – jenseits von Erfahrungen – gar ausschließlich als Folge der Zugehörigkeit zu einer vorgestellten nationalen Gemeinschaft gesehen wird, kommt es zu einer solchen totalen Identifizierung. Dann ist der „einzigartige, sich niemals wiederholende Charakter des Ereignisses oder der Person … verloren gegangen“ (Garfinkel 1972, S. 205). So wird eine „totale Identität“ (Garfinkel 1972, S. 205) hergestellt.

Der Begriff der „totalen Identifizierung“ geht über das hinaus, was im Postkolonialismus unter Rassismus verstanden wird, und bleibt zugleich dahinter zurück. Er bleibt hinter den Annahmen des Postkolonialismus zurück, da der Begriff „totale Identifizierung“ (gleich, ob er für die Ebene von Interaktionen oder Organisationen gebraucht wird) darauf fokussiert, dass alles Handeln der so identifizierten Person unter die totalisierende Kategorie (etwa ‚Mensch mit Migrationshintergrund‘) subsumiert wird, ohne aber danach zu fragen, ob diese totale Identifizierung in korrespondierende gesellschaftliche Diskurse eingebettet ist. Es macht jedoch im Sinne der postkolonialen Theorien einen Unterschied, ob jemand in einer Organisation oder in einer alltäglichen Interaktion als ‚Mensch mit Migrationshintergrund‘ total identifiziert wird und damit zu den in der (post-)kolonialen Matrix Dominierten zählt, oder ob jemand als ‚alter weißer Mann‘ total identifiziert wird. Denn Rassismus wird – mit guten Argumenten (vgl. Quijano 2019, S. 26–29) – von postkolonialen Theorien nicht als eine auf ethnische Zugehörigkeiten bezogene Diskriminierung von irgendwelchen Menschen begriffen, sondern als im Kolonialismus entstandene und ihn rechtfertigende, gesellschaftlich verankerte Ungleichheitsordnung, die machtvoll zwischen weißen und nicht-weißen Positionen unterscheidet. Es kann insofern keinen Rassismus gegen Weiße geben (siehe z. B. Akbaba und Wagner 2022), obwohl es sehr wohl eine totale Identifizierung als ‚alter weißer Mann‘ geben kann.

Und in dieser Hinsicht geht der Begriff der „totalen Identifizierung“ über die postkoloniale Rassismuskritik hinaus, haben doch auch totale Identifizierungen jenseits gesellschaftlich mächtiger Subordinierungen (als Frau, BiPoC, etc.) eine Relevanz und zeitigen Folgen im Handeln. Denn derjenige, der etwa als ‚alter weißer Mann‘ total identifiziert wird, wird ja auf diese Weise auch nicht mehr in seinen Äußerungen und Handlungen ernstgenommen, wird doch alles, was er sagt oder tut, als Ausweis seiner totalen Identität interpretiert.

Das interaktive Geschehen nicht nur mit der postkolonialen Brille zu betrachten, sondern mögliche totale Identifizierungen in allen Richtungen empirisch zu rekonstruieren, ist kein Selbstzweck. Denn es geht nicht nur darum, totale Identifizierungen empirisch dingfest zu machen. Vielmehr stellt sich, ausgehend von solchen Diagnosen, auch die Frage, welche Funktion solchen totalen Identifizierungen im Interaktionsgeschehen zukommt und wie sie in den Erfahrungsräumen derjenigen, die sie tätigen und die sie erleiden, eingebettet sind.

7 Explizite Propositionalität und implizite Performativität

Die postkolonialen Theorien beziehen sich, wie eingangs erwähnt, überwiegend auf die Kolonialität des Wissens, es geht also darum, wie die (post-)koloniale Episteme die Zeit des Kolonialismus überdauert hat (Mignolo 2009; Spivak 1992). Entsprechend problematisieren postkoloniale Erziehungswissenschaftler*innen die „kolonialen Denkmuster“ (Knobloch 2019, S. 12) und fordern die „Dekolonisierung des Geistes“ (Akbaba und Heinemann 2023b, S. 21).

(Post‑)Koloniale Denkmuster können von ihren Träger*innen in so expliziter Weise proponiert werden, wie dies bei einem Lehrer der Fall war, der seine bevorstehende Versetzung an eine Schule in „Afrika“ gegenüber seiner derzeitigen Klasse damit begründete, die Menschen dort benötigten „unser Wissen“, und dies sähe man ja gerade auch an dem einzigen „afro-deutschen Mädchen“ seiner Klasse (siehe für das Zitat und Beispiel Bergold-Caldwell 2023, S. 93). Jedoch bleiben postkoloniale Denkmuster und Abwertungen von Nicht-Weißen oft eher implizit. Ihre Analysen zu Integrationskursen für (Neu‑)Einwander*innen in Deutschland etwa bezieht Heinemann (2018, 2023) gerade auch darauf, welche Implikationen und Suppositionen diesen Kursen unterliegen. Indem und insofern den Kursteilnehmer*innen etwa vermittelt werden soll, wie man über politische Themen kontrovers und trotzdem konsensorientiert diskutiert, wie man Müll trennt und sich im Schwimmbad benimmt, wird ihnen zugleich insgeheim unterstellt, sie entbehrten bislang der für diese Handlungsweisen notwendigen Kompetenzen (vgl. hierzu Nohl 2022, S. 135 ff.). Über die Kompetenzen hinaus gehöre es zu den „impliziten Lernzielen dieser Kurse“, „sich ‚anzupassen‘ und die kulturellen Praxen sowie die imaginierten Werte der Mehrheitsgesellschaft zu übernehmen“ (Heinemann 2023, S. 366).

Wenn die postkoloniale Episteme auch und insbesondere im „impliziten Wissen“ (Polanyi 1985) der Gesellschaft und ihren Feldern verankert ist, kommt es auf die Performanz, auch des Denkens und Sprechens, an. Gerade dort, wo Diskriminierung auf gesellschaftlich verankerten Ungleichheitsunterstellungen aufbauen kann, funktioniert sie bereits in der Performanz des Sprechens, d. h. in dessen (implizite) „Modus Operandi“ (Bohnsack 2017, S. 93).Footnote 9

Ein gutes Beispiel hierfür ist eine von Frantz Fanon geschilderte, häufig zitierte Begebenheit. In „Schwarze Haut, weiße Masken“ berichtet Fanon, wie er in Paris, wohl in einem Zug sitzend, hört, wie ein Mädchen zu ihrer Mutter sagt: „Sieh mal, ein Neger!“ (Fanon 1989, S. 81). Auf der propositionalen Ebene (also im Sinne einer inhaltlich-thematischen Feststellung) wird er mit diesem Satz auf seine Hautfarbe reduziert und damit total identifiziert. Dieser Proposition unterliegen jedoch Implikationen und Suppositionen, die in der performativen Struktur dieser Äußerung verankert sind: Erstens basiert der Klassifizierung von Fanon als „Neger“ (Fanon 1989, S. 81) auf der Wahrnehmung, dass Fanon überhaupt jemand darstelle, der sich vor den anderen Reisenden abhebt, der also etwas Besonderes sei. Und zweitens geht das Kind implizit davon aus, dass es dazu legitimiert sei, mit lauter Stimme seine Mutter auf diese ‚Besonderheit‘ aufmerksam zu machen und dabei zugleich eine mithörende Person – Frantz Fanon – zum Objekt werden zu lassen. Damit ist drittens unterstellt, dass das Mädchen und seine Mutter zu einem Interaktionssystem gehören, zu dem Fanon keinen legitimen Zugang hat.

Der Modus Operandi dieses Sprechens über Fanon ist allerdings nicht auf die Ebene des Interaktionssystems beschränkt. Ebenso wie der Ausruf „Sieh mal, ein Neger!“ nur vor dem Hintergrund gesellschaftlich verankerter Propositionen (der postkolonialen Abwertung des Nicht-Weißen) funktioniert, ebenso verweist die Performanz des Ausrufs auf Ebenen jenseits der Interaktion, über die hier allerdings nur spekuliert werden kann: Offenbar ist für das Mädchen die Bezeichnung „Neger“ in einem konjunktiven Erfahrungsraum wichtig geworden, den sie mit der Mutter teilt. Sonst könnte es nicht davon ausgehen, dass die Mutter diesen Ausruf akzeptabel findet und, anstatt das Mädchen zu tadeln, ihren Blick auf Fanon richten wird.

Es geht bei der Analyse dieses Beispiels also nicht nur darum, Implikaturen und Suppositionen, die unterhalb der propositionalen Logik – in der Performanz des Sprechens – angesiedelt sind, zu rekonstruieren. Neben der Ebene der Gesellschaft sind es auch bestimmte konjunktive Erfahrungsräume, die den Satz des Mädchens erst möglich machen. Dass Erfahrungen, und zwar implizite bzw. inkorporierte Erfahrungen, nicht nur für das Verständnis dieser Szene wichtig sind, sondern auch für die Folgen, die sie für Frantz Fanon haben, wird in dessen eigener Analyse evident. Vor dem Ausruf des Mädchens hat Fanon nämlich beschrieben, wie er, an seinem Schreibtisch sitzend, sich üblicherweise eine Zigarette anzündet. Zu den hierfür nötigen Handbewegungen schreibt er: „Und all diese Gesten mache ich nicht aus Gewohnheit, sondern aufgrund einer stillschweigenden Erkenntnis. Langsamer Aufbau meines Ichs als Körper innerhalb einer räumlichen und zeitlichen Welt, das scheint das Schema zu sein“ (Fanon 1989, S. 80). Der Ausruf des Mädchens aber hat ihn dann nicht nur total identifiziert – zu einem „Neger“ und nur zu diesem gemacht –, sondern auch der Selbstverständlichkeit seines impliziten (Körper‑)Wissens beraubt. Denn in diesem Moment brach „das Körperschema … [des Zigarettenanzündens etwa; AMN] zusammen und machte einem epidermischen Rasseschema Platz“ (Fanon 1989, S. 81). Fanon erfährt sich hier also von einer Person, die ein eigenes implizites Körperschema hat, reduziert auf seine schematisierte Hautfarbe. Der Ausruf des Kindes beraubt ihn mithin der Selbstverständlichkeit seiner eigenen impliziten und inkorporierten Erfahrungswelt.

8 Ausblick

Der Postkolonialismus bringt starke Theorien in Anschlag, die die Verfasstheit Europas und der Moderne dadurch grundsätzlich in Frage stellen, dass sie die Kolonisierung als ihr tragendes Fundament herausarbeiten (Quijano 2019). Dass die rassistische Abwertung all jener Menschen, die nicht als weiß gelten, durch die Kolonisierung hervorgerufen wurde, aber auch nach dem Ende der Kolonialzeit fortdauert, ist eine zentrale, wenngleich sehr differenziert ausgearbeitete These der Postkolonialist*innen, die auch in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft breite Resonanz gefunden hat (vgl. Akbaba und Heinemann 2023a; Drerup und Knobloch 2022). Mir ging es in diesem Aufsatz nicht darum, diese These grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern zu ergründen, wie sie in die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten aufgenommen und mit einer rekonstruktiven Erkenntnishaltung verknüpft werden kann. Wie gezeigt, ist hiermit zugleich eine Kritik problematischer Tendenzen in der erziehungswissenschaftlichen, rassismuskritischen Rezeption des Postkolonialismus verbunden.

Ausgehend von dem Begriff der postkolonialen Lagerung geht es der (revidierten) Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten darum, die Überlappung unterschiedlich gelagerter (auch geschlechts-, generations-, klassen- und migrationsspezifischer) Erfahrungszusammenhänge, wie sie sich in (postkolonialen) Milieus zeigen, zu rekonstruieren. Die postkolonialen Theorien unterstreichen allerdings, dass diese Milieus nicht losgelöst von gesellschaftlichen Diskursen und den in ihnen etablierten Ungleichheitskonstruktionen in den Blick genommen werden sollten. Hier bietet sich eine mehrebenenanalytische Vorgehensweise an, die zugleich vor einer objektivistischen Haltung gegenüber den Erforschten schützt. In die empirischen wie auch pädagogischen Rekonstruktionen einbezogen werden sollten dabei auch totale Identifizierungen jenseits des postkolonial fundierten Rassismus. Diese liegen nicht immer als explizite Propositionen vor, sondern können auch in die implizite performative Struktur des Sprechens und Handelns eingelassen und in die konjunktiven Erfahrungsräume jener, die sie tätigen oder erleiden, eingebettet sein.

Diese Antwort auf die postkoloniale Herausforderung ist aber noch nicht erschöpfend. Zwei wichtige Punkte gilt es in Zukunft zu diskutieren: Erstens können das erziehungswissenschaftliche Forschen und die pädagogische Diagnostik keineswegs von den postkolonialen und anderweitigen Erfahrungszusammenhängen, die sie in den Fokus nehmen, abstrahiert werden; vielmehr sind sie selbst jenen sozialen Mechanismen, (postkolonialen) Epistemen und Wissensbeständen unterworfen, die sie beobachten (Schondelmayer 2019, S. 337). Es wird an dieser Stelle nicht genügen, die eigene (mehrdimensionale) Positionalität explizit zu benennen, sondern darauf ankommen, mit der auch postkolonial gelagerten „Seinsverbundenheit“ (Mannheim 1985, S. 230) der Erkenntnis in methodologisch reflektierter Weise umzugehen. Zweitens strukturiert gerade in einem Gegenstandsbereich wie jenem, der von postkolonialen Erziehungswissenschaftler*innen und der Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten fokussiert wird, das Erkennen der Situation die Bandbreite der (pädagogischen) Handlungsmöglichkeiten (Radvan 2010; Schondelmayer 2010). Es ist daher eigens zu erörtern, welche pädagogischen Handlungsmöglichkeiten sich aus diesen Diagnosen ergeben und wie welche pädagogischen Grundprozesse initiiert werden können, um mit der postkolonialen Lagerung angemessen umzugehen.