1 Einleitung

Lehrpläne transportieren explizit wie implizit Werte, die auf das individuelle wie gesellschaftliche Lernen bezogen sind. Mit der hier vorgestellten empirischen UntersuchungFootnote 1 wird danach gefragt, welche Werte in den Lehrplänen eines Bundeslandes mit dreigliedrigem Schulsystem für unterschiedliche Schularten kommuniziert werden. Die Studie ist insofern explorativ, als dass kaum Vorbilder für die empirische Erfassung von Wertekonstellationen in Lehrplänen vorliegen. Zur Beantwortung dieser Frage wurden die fachübergreifenden und schulartspezifisch formulierten curricularen Richtlinien inhaltsanalytisch hinsichtlich der darin vorfindlichen Werte ausgewertet. Exemplarisch wurden die bayerischen Lehrpläne ausgewählt.

Im Folgenden wird zunächst der Diskurs um Werte in Lehrplänen im Überblick nachgezeichnet und verdeutlicht, warum die Untersuchung der schulartspezifischen Unterschiede von Bedeutung ist. Anschließend werden das Analyseinstrument und die inhaltsanalytische Auswertung beschrieben und damit der methodische Zugriff dokumentiert. Anschließend werden die Ergebnisse präsentiert und die schulartspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Basiswerte, der motivationalen Orientierungen und der Komplexität der Wertediskurse dargestellt. Die Befunde werden unter Berücksichtigung der Limitationen der Untersuchung diskutiert.

2 Forschungsstand, Theoriekontext und Forschungsfrage

2.1 Forschungsstand

Diese Studie versteht Lehrpläne als Ausdruck gesellschaftlicher Kommunikation. Schon Erich Weniger hatte Lehrplantexte als Produkt der Auseinandersetzung „geistiger Mächte“ interpretiert, „die den jeweiligen Machtverhältnissen der an der Schule beteiligten Faktoren entspricht“ (Weniger 1956 [1928]) und damit Lehrplantexte als Ausdruck gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse verstanden. Neuere Studien betonen, dass Lehrplantexte Ausdruck diffuser gesellschaftlicher Erwartungen an Schule und vielfältiger gesellschaftlicher Einflüsse sind (vgl. Biehl et al. 1999; Künzli 1986; Künzli et al. 2013; Priestley et al. 2021; siehe auch die Zusammenfassung bei Terhart 2021 sowie die historisch-systematische Darstellung bei Tröhler 55,56,a, b). Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse ist zu erwarten, dass vor allem in den fächer- und jahrgangsübergreifend formulierten Richtlinien bzw. den Fachlehrplänen voranstehenden Texten zu Erziehungs- und Bildungszielen gesellschaftliche Werte implizit transportiert werden.

Umgekehrt hat die Adressierung von Werten an Lehrpläne eine lange Tradition (Dolch 1959; Dörpfeld 1962 [1857]; Weniger 1956 [1928]). Auch aktuell werden an Lehrpläne Erwartungen an „erziehenden Unterricht“ (z. B. praxeologisch Nowak 2015; Matthes 2004; theoriebezogen Benner 2015; Rucker 2019) und zur Werterziehung in der Schule (vgl. z. B. für Bayern ISB 2013; Bayerisches Staatsministerium 2008 oder allgemein Ladenthin und Rekus 2008; Zierer 2010) herangetragen. Dabei wird mit einer Erwartungshaltung operiert, die eine Wirkungskette von in Lehrplänen formulierten Werten, auf deren Transmission in den Unterricht und von dort auf die Anbahnung entsprechender Wertehaltungen in den individuellen Wertekanon der Schülerinnen und Schüler unterstellt. Diese mit der Wertedebatte verbundenen Durchgriffserwartungen an Lehrpläne sind durch die empirische Forschung nicht gedeckt. Ein teleologischer Durchgriff von Lehrplänen auf Lernen ist governance- wie lehr-lerntheoretisch nicht zu erwarten (vgl. die empirischen Befunde von Rauin et al. 1999). Die Transmission von Werten ist offensichtlich komplex, es zeigen sich nur geringe Effekte der Werte von Lehrkräften auf jene von Schülerinnen und Schüler (Astill et al. 2002).

Wenn in der folgenden empirischen Studie die Wertekonstellation in den fächer- und jahrgangsübergreifenden Bildungs- und Erziehungszielkapiteln von Lehrplänen im Mittelpunkt stehen, dann werden damit keine Erwartungen an die Normierung des unterrichtlichen Alltags verbunden. Die nachfolgende Studie operiert also nicht mit dem Anspruch, Evidenz über Wertetransmission im Kontext schulischen Lernens herzustellen. Vielmehr geht es um die Aufdeckung gesellschaftlicher Ansprüche an schulisches Lernen.

Dieses Erkenntnisinteresse trifft auf eine nur wenig elaborierte empirische Forschung. Lehrpläne wurden als „Stiefkind empirischer Unterrichtsforschung“ bezeichnet (Rauin et al. 1999, S. 31), dieser Befund wird auch für die Gegenwart bestätigt, denn „in der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion“ sei das „Themenfeld Lehrplan und Curriculum kaum noch präsent“ (Terhart 2021, S. 141).

Die Mehrzahl der Publikationen zum Thema Werte und Lehrpläne fordert normativ Werte ein, die in Curricula Eingang finden sollten (siehe oben, sowie z. B. OECD 2021; Seah et al. 2016; Sharma 2020; Winter und Mills 2020).

Empirisch untersucht wurden Wertorientierungen von Lehrkräften (Astill et al. 2002; Drahmann et al. 2020; Forster-Heinzer und Oser 2020; Häusler et al. 2019; Mägdefrau 2013) und Eltern (Cramer und Oser 2019; Drahmann et al. 2020) sowie von Schülerinnen und Schülern (z. B. in Bezug auf Fächer Wohl et al. 2017). Jüngst haben Oeschger et al. (2022) eine Untersuchung vorgelegt, in der Wertekonfigurationen in Lehrplänen der Grundschule der Schweiz mit jenen von Lehrkräften verglichen wurden; im Ergebnis stand, dass Lehrkräfte Werte nicht in der gleichen Bedeutung für die Schule wahrnahmen, wie in Lehrplänen beschrieben, vielmehr zeigten Lehrpläne eine stärkere Betonung des gesellschaftlichen Wandels und Lehrkräfte eine höhere Affinität zu bewahrenden Werten. Zu schulartspezifischen Unterschieden zur Wertekommunikation liegen keine Untersuchungen vor. Eine aktuelle Untersuchung von Drahmann et al. (2020, S. 39 ff., S. 63 ff.) zu Werthaltungen von Lehrerinnen und Lehrern fand keine signifikanten Unterschiede in den Werthaltungen der Lehrkräfte in Relation zur Schulart vor. Allerdings handelt es sich hier nicht um gesellschaftliche Wertekommunikation. Dazu konnten wir nur eine ältere Untersuchung (Fohrbeck et al. 1971) finden, die sich allerdings auf Schulbücher und nicht auf Lehrpläne bezog. Hier wurden Unterschiede in den Werten deutlich. Damals wurden für HauptschulenFootnote 2 Wertekonfigurationen der „Untertanentätigkeit und Kritiklosigkeit“ und für Gymnasien Selbstständigkeit und Gestaltungswille rekonstruiert (vgl. Fohrbeck et al. 1971, S. 64 ff.).

Insgesamt ist die Untersuchung von schulartbezogener gesellschaftlicher Wertekommunikation in Lehrplänen also ein Desiderat.

2.2 Theoriekontext

In der Forschung zu gesellschaftlichen Werten wird hervorgehoben, dass Werte als unscharfe Begriffe funktional sind. So hat beispielsweise Jürgen Habermas darauf hingewiesen, dass Wertediskurse immer ein unausgesprochenes Vorverständnis der Teilnehmenden voraussetzten (vgl. Habermas 1981), schließlich können Werte wie „Respekt“ gleichermaßen von der Mafia wie von der Polizei in Anspruch genommen werden. Andreas Urs Sommer hat Werte als ein Kommunikationsangebot interpretiert, das in seiner Abstraktheit Vergleichbarkeit zwischen Unvergleichbarem herstelle, Anhaltspunkte für Urteile verspreche und situative Interpretationen ermögliche (Sommer 2016). Notwendigerweise sind Werte damit konzeptionell unscharf und fluide (Sommer 2016, S. 83 ff.). Gerade durch diese konzeptionelle Unschärfe entfalten sie – so Niklas Luhmann – ihre orientierende Funktion, in „kommunikativen Situationen eine Orientierung des Handelns zu gewährleisten, die von niemandem in Frage gestellt wird“ (Luhmann 1997, S. 341; vgl. zur Umstellung der Argumentation von Inhalten auf deren Funktion auch Luhmann 1969; vgl. zur Funktion semantischer Unschärfe Scheunpflug und Affolderbach 2019).

Diese funktionale Unschärfe von Werten im Prozess der Kommunikation bedingt eine dezidiert theoriegeleitete Herangehensweise für die Erfassung von Werten durch eine empirische Untersuchung. Aufgrund der mit gesellschaftlicher Wertekommunikation im Kontext von Schule verbundenen Absicht auf das Lernen von einzelnen Personen haben wir uns für die in der psychologischen Werteforschung (vgl. z. B. Park et al. 2004; Peterson 2006; Peterson und Park 2004; Schwartz 1999) vertretene Auffassung entschieden, nach der Werte als Idealvorstellungen des Wünschenswerten beschrieben werden, die gesellschaftliche Akteure dahingehend leiten, wie sie Handlungsentscheidungen treffen, Menschen und Ereignisse einschätzen und ihre Entscheidungen und Handlungen deuten und begründen. Werte werden in diesem Kontext als situationsübergreifende Zielorientierungen und Entscheidungskriterien verstanden, die nach Bedeutsamkeit hierarchisiert und priorisiert werden, und die als Leitprinzipien im Lebensvollzug fungieren (vgl. Schwartz 1999, S. 24 f.). Diese expliziten und impliziten Wertorientierungen werden an Mitglieder der Gesellschaft durch Kommunikation, den alltäglichen Umgang mit Bräuchen, Gesetzen, Normen und organisationalen Strukturen weitergegeben, zum Ausdruck gebracht und gefestigt. Durch Kommunikation über Werte werden vor diesem Hintergrund Erwartungen formuliert, die Handlungen und Kooperation steuern und Orientierung in komplexen sozialen Zusammenhängen ermöglichen sollen. Damit verstehen wir die zu untersuchenden Wertekonstellationen also als implizit oder explizit formulierte Anforderungen im Kontext von Schule.

Im Anschluss an diese grundlegenden Überlegungen wurde nach einem bewährten Instrumentarium gesucht, das einen Anspruch an die Gesamtheit von Wertesystemen repräsentiert, so dass auch eventuelle Lücken und Nicht-Thematisierungen deutlich würden. Der theoretische Bezugsrahmen sollte bereits für empirische Untersuchungen verwendet worden sein und er sollte den Wertediskurs möglichst breit abdecken. Nach Sichtung der einschlägigen Literatur standen zwei Modelle zur Wahl: die „Refined Theory of Basic Individual Values“ von Schwartz et al. (2012) sowie das „Values in Action Inventory of Strengths“ von Christopher Peterson und Martin Seligman (Peterson und Seligman 2004). Die Schwartzsche Wertetheorie trägt den Wertepriorisierungen und Hierarchisierungen von Werten durch Individuen und Gruppen Rechnung und setzt sie systematisch zueinander in Beziehung. Diese Theorie ist empirisch überprüft und ermöglicht den Vergleich von Werten unterschiedlicher empirischer Daten (vgl. Knafo et al. 2011; Schwartz 1992, 1999; Schwartz et al. 2012; so z. B. die oben zitierten Untersuchungen von Drahmann et al. 2020 und Oeschger et al. 2022, die auf dem Modell von Schwartz aufbauen). Im Unterschied zu dem Instrumentarium von Peterson und Seligman bezieht sich das Modell von Schwartz nicht auf wertebasiertes Handeln, sondern auf die kognitiven Vorstellungen für wertebasierte Entscheidungen.

Auch wenn es sich bei unserer Untersuchung um gesellschaftliche Wertekommunikation in Dokumenten und nicht um kognitive Vorstellungen handelt, sind mit Lehrplantexten gesellschaftliche Erwartung verknüpft, die individuelle Zielorientierungen evozieren wollen. Die Instrumentierung übersetzt nun die Werteanforderungen in individuelle Zielorientierungen (siehe unten die genaue Beschreibung) (Osterrieder et al. im Druck; Osterrieder und Banze 2022). Die Wertebeschreibung des Modells von Schwartz et al. (2012) ermöglicht es zudem, über Mehrfachkategorisierungen den assoziativen Hof der Lehrplanaussagen abzubilden, ohne die Sprache der Lehrpläne zu verwenden. Das Modell ist komplex genug, um widersprüchliche Werteperspektiven nachzuzeichnen und damit die Komplexität der Wertecluster von Lehrplänen wiederzugeben; es wurde auch bereits zur Lehrplanerfassung von Oeschger et al. (2022) eingesetzt.

Schwartz et al. (2012) unterscheiden 19 Werte, die sie selbst als „Basiswerte“ bezeichnen. Diese Basiswerte werden auf grundlegende menschliche Bedürfnisse und die daraus abgeleiteten Motivationsstrukturen zurückgeführt. Auf diese Weise werden antagonistische oder kompatible Werterelationen konstruiert. Die motivationalen Unterschiede zwischen den Wertetypen sind dabei eher fließend als diskret, wobei sich die Begriffsintensionen an den Rändern der angrenzenden Wertetypen zunehmend überlappen. Werte, die einander in unterschiedlichen Motivationstypen gegenüberstehen, können hingegen klar gegeneinander abgegrenzt werden (vgl. Schwartz 1994, S. 25). In der Rückbindung an Grundbedürfnisse werden zunächst der Selbst- und Sozialbezug der Werte bestimmt, und vier Grundhaltungen – Offenheit für Wandel (openness to change), Selbstverbesserung (self–enhancement), Erhaltung (conservation) und Selbsttranszendenz (self–transcendence) – sichtbar. Eine zweite Unterscheidung bezieht sich auf Werte im Zusammenhang mit „angstfreiem Wachstum“ (Offenheit für Veränderungen und Selbsttranszendenz) gegenüber „Selbstschutz und Angstvermeidung“ (Selbstverbesserung und Erhaltung). Eine dritte Unterscheidung bezieht sich auf den sozialen Fokus (Erhaltung und Selbsttranszendenz) gegenüber dem persönlichen Fokus (Selbstverbesserung und Offenheit für Veränderungen). Mit diesen antagonistischen Beschreibungen sehen wir Anschlussfähigkeit an die Operationalisierungen einer funktionalen Wertetheorie (siehe oben) gegeben, in denen Wertekonfigurationen zunehmend als „paradoxale oder antagonistische Metakommunikation“ beschrieben werden (Müller und Séville 27,28,a, b). Dabei wird davon ausgegangen, dass eine gleichzeitige Kommunikation antagonistischer Werte gesellschaftliche Komplexität besser widerspiegelt als eine einförmige Kommunikation von Werten.

2.3 Präzisierung der Forschungsfrage

Mit diesen Überlegungen ist deutlich geworden, dass bisher keine Untersuchung zu diesem Thema vorliegt. Gleichzeitig wird vor dem Hintergrund des Diskurses auch der Zugriff auf die Forschungsfrage erkennbar. Im Gegensatz zum normativen Diskurs zum erziehenden Unterricht und den sich aus diesem Diskurs ergebenden Anforderungen an Wertekommunikation in Lehrplanpräambeln und Lehrplantexten wird mit dieser Studie weder das Interesse verbunden noch konzeptionell davon ausgegangen, dass Wertekonfigurationen in Lehrplänen zu Aussagen über Schule oder Unterricht führen. Vielmehr verbindet sich mit dieser Studie das Interesse, einen Aspekt der gesellschaftlichen Kommunikation zu Werteanforderungen an Schulen zu erhellen. Wir halten die Untersuchung von Unterschieden zwischen den Schularten für relevant, da sich einerseits aus dem Forschungsstand der 70er-Jahre ein Unterschied zwischen den Schularten erwarten ließe, aber andererseits heute zu erwarten wäre, dass zukünftigen Bürgerinnen und Bürgern zumindest programmatisch mit gleichen gesellschaftlichen Werten begegnet wird.

Da wertebezogene gesellschaftliche Kommunikation als diffus wahrgenommen wird, ist es umso wichtiger, für die Untersuchung klar zu definieren, was unter einem Wert verstanden wird. Für die Untersuchung wird ein funktionales Verständnis von Werten vorausgesetzt, das mit dem theoretischen Modell von Schwartz et al. (2012) untersucht wird. Vor dem Hintergrund dieses Modelles lässt sich die Forschungsfrage nach der schulartbezogenen gesellschaftlichen Wertekommunikation in Lehrplänen folgendermaßen präzisieren:

  • Welche Basiswerte kommen wie häufig in den untersuchten Texten vor und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede ergeben sich zwischen den Schularten?

  • Welche motivationalen Orientierungen lassen sich im Schulartenvergleich herausarbeiten?

  • Mit welcher Häufigkeit lassen sich antagonistische Werte berichten, um damit einen Blick auf den Grad an Komplexität gesellschaftlicher Wertekommunikation richten zu können?

3 Methodischer Zugang

Methodologische Grundentscheidung

Es geht im vorliegenden Forschungsprojekt also um die Erfassung von Werten in den fächerübergreifenden Texten von Lehrplänen. Dazu wurde die Methode der Inhaltsanalyse (vgl. Kuckartz 2014; Kuckartz und Rädiker 2022; Mayring 2016) gewählt. Diese Methode ist u. a. dazu entwickelt worden, Texte zur analysieren und Textpositionen quantitativ zu vergleichen. Die zu analysierenden Texte wurden vorab in Analyseeinheiten (genauer s. unten) unterteilt und in einem iterativen Verfahren mit unabhängigen Kodierenden den Schwartz’schen Wertekategorien zugeordnet. Diejenigen Einheiten, die von den unabhängigen Kodierenden in gleiche Kategorien eingeordnet wurden, wurden weiterverarbeitet (genauer s. unten).

Datengrundlage

Datengrundlage für die Untersuchung sind die einleitenden Textbestandteile der Lehrpläne, die die Verbindung zwischen dem gesetzlichen Bildungsauftrag der Schule, wie er in Landesverfassungen und Bildungs- und Erziehungsgesetzen formuliert ist, und den konkreten Fachlehrplänen herstellen. In diesen Texten werden die gesellschaftlich als wichtig erachteten Normen und Werte beschrieben, die sich aus der Verfassung ableiten und die Schule normativ bestimmen sollen. Diese einleitenden fachübergreifenden Richtlinien stehen im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Wir haben diese ausgewählt, da in diesen Texten Anforderungen unabhängig von einzelnen Fachprofilen beschrieben werden.

Ausgewählt wurden die Lehrplantexte aus dem Bundesland BayernFootnote 3. Diese Auswahl liegt in erster Linie in der langen Tradition des gegliederten Schulwesens begründet. Ferner bezieht sich die Erhebung um Fragestellung, Herangehensweise und Ertrag zunächst einmal zu testen, gezielt nur auf ein Bundesland. Die Konzentration auf die fachübergreifenden Richtlinien (und die Aussparung der Fachlehrpläne) erfolgte vor dem Hintergrund, dass diese Texte in besonderer Weise gesellschaftliche Konsensformeln enthalten. Beide Einschränkungen wurden auch vor dem Hintergrund forschungspragmatischer Überlegungen hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ressourcen getroffen. Sie limitieren den Aussagewert der Untersuchung (darauf gehen wir nochmals in Abschn. 5.2. ein). Der Untersuchung wurden also die Einleitungstexte der Lehrpläne von vier allgemeinbildenden Schularten in Bayern in der derzeit vorliegenden aktuellen Fassung zu Grunde gelegt (Grundschule, Mittelschule/Hauptschule, Realschule und Gymnasium). Jeder Lehrplan einer Schulart enthält Kapitel mit dem Titel „Bildungs- und Erziehungsauftrag“ sowie für die Grundschule zusätzliche die „Bayerischen Leitlinien für die Bildung und Erziehung von Kindern bis zum Ende der Grundschulzeit“. Es handelt sich hierbei um ca. 50 Seiten Text.

Auswahl des Analyseinstruments und Instrumentierung

Für die Erstellung des deduktiven Kodierschemas wurde entsprechend der beschriebenen theoretischen Entscheidung die Basiswerte des Modells von Schwartz et al. (2012) als Kategorisierungsinstrument verwendet. Damit standen folgende Kategorien zur Wahl: Selbstbestimmung im Denken (self-direction–thought), Selbstbestimmung im Handeln (self-direction–action), Stimulation (stimulation), Hedonismus (hedonism), Leistung (achievement), Macht über andere Menschen (power–dominance), Macht über Ressourcen (power–resources), Ansehen (face), persönliche Sicherheit (security–personal), gesellschaftliche Sicherheit (security–societal), Tradition (tradition), regelbezogene Konformität (conformity–rules), gruppenbezogene Konformität (conformity–interpersonal), Bescheidenheit (humility), Benevolenz als Zuverlässigkeit (benevolence–dependability), Benevolenz als Sorge für andere (benevolence–caring), gesellschaftsbezogener Universalismus (universalism–concern), naturbezogener Universalismus (universalism–nature) und Universalismus als tolerante Haltung (universalims–tolerance).

Vor diesem Hintergrund wurde mit Hilfe des Instrumentariums von Schwarz ein Kategoriensystem erarbeitet. In einem ersten Schritt wurden die 19 Einzelwerte auf Basis der Fragebogenitems dokumentspezifisch definiert. Dabei bestand das Ziel zunächst darin, eine binäre Kodierung zu ermöglichen, also zu entscheiden, ob in einem Segment ein Wert vorliegt und diesen dann entsprechend zu bestimmen (Osterrieder und Banze 2022). Die vorläufigen Deskriptionen wurden im Rahmen eines ersten Kodiervorgangs geprüft und weiterentwickelt. Es wurden Ankerbeispiele im Kodierleitfaden festgehalten, sowie systematisch Abgrenzungen der Wertetypen untereinander formuliert und Entscheidungen kritisch problematisierend festgehalten. Die aus dem Wertemodell von Schwartz et al. (2012) übernommenen 19 Wertkategorien sind in Tab. 1 zusammengefasst.

Tab. 1 Wertekategorien und ihre Definitionen

Die deduktiv gewonnenen Kategorien wurden mittels Textstellen aus dem Material operationalisiert und zu einem Kodierleitfaden (vgl. Osterrieder und Banze 2022) verarbeitet, in welchem Definitionen, Schlagworthilfen, Ankerbeispiele und deren Fundstellen dargestellt sind. Außerdem wurden Präzisierungen von problematischen Zuordnungen und wichtigen Abgrenzungen zu anderen Werten genau aufgeschlüsselt. Tab. 2 zeigt an einem Beispiel, wie diese Operationalisierung im Kodierleitfaden erfolgte.

Tab. 2 Beispiel für die Operationalisierung einer inhaltsanalytischen Kategorie: „Self-diretion thought“

Datenerhebung

Die Texte wurden in MaxQDA (Kuckartz 2014) importiert und sodann in Analyseeinheiten eingeteilt. Eine Analyseeinheit besteht aus einem vollständigen Satz oder einer Überschrift. Insgesamt bestehen die Kapitel aus N = 876 Analyseeinheiten, die im Folgenden Segmente genannt werden. Auf die einzelnen Schularten verteilen sich diese Analyseeinheiten wie folgt: Grundschule: N = 358; Mittelschule/Hauptschule N = 178; Realschule N = 187; Gymnasium N = 153.

Zunächst wurde an einem Teil des Materials (ca. 25 %) vom Projektteam ein Kodierleitfaden [https://fis.uni-bamberg.de/server/api/core/bitstreams/83578233-6c78-462b-9ebb-b4dde5f877e1/content; Osterrieder und Banze 2022] entwickelt. Mit Hilfe dieses Kodierleitfadens wurde das gesamte Material einmal durch eine Projektmitarbeiterin durchkodiert. Eine Zweitkodierende wurde einen Tag geschult (mit einer allgemeinen Einführung in das Thema, einer Einführung in den Kodierleitfaden und Übungen am Material) und nahm dann unabhängig von der Erstkodierung eine erneute Kodierung des Materials vor. Nach der Durchführung dieser Zweitkodierung wurden Unstimmigkeiten durch zwei Interpretierende systematisch aufgelistet, analysiert und konsensuell wiederum durch zwei weitere unabhängige Kodierende (wiederum Projektmitarbeitende) in den Datensatz eingefügt.

Jedes Segment konnte entweder als keinen Wert enthaltend oder als einen oder mehrere Werte enthaltend kodiert werden. Bei der durchschnittlichen Anzahl der Kodierungen gab es keine Unterschiede zwischen den Kodierenden, chi2 < 1.

Für die weitere Analyse wurden nur diejenigen Segmente herangezogen, die beide Kodierende übereinstimmend zugeordnet hatten. Die Kodiererübereinstimmung wurde mit Cohen’s Kappa berechnet und betrug κ = 0,90. Die Übereinstimmungen variierten zwischen 76 % (Macht über andere Menschen; Macht über Ressourcen) und 94 % (naturbezogener Universalismus).

4 Ergebnisse

4.1 Häufigkeiten der Basiswerte

4.1.1 Segmente mit Wertekodierungen

Von den oben genannten 876 Segmenten wurden N = 472 (53,9 %) übereinstimmend als zumindest einen Wert enthaltend kodiert. Die verbliebenen 404 Segmente enthielten keinen Wertebezug und wurden nicht weiter berücksichtigt. Die wertbezogenen Segmente erhielten zwischen einer und 9 Kodierungen, N = 317 (67,2 %) erhielten eine Wertekodierung, N = 97 (20,6 %) zwei, N = 41 (8,7 %) drei, und N = 17 (3,5 %) erhielten mehr als drei Wertekodierungen. Es wurden alle Schwartzschen Kategorien in den Lehrplantexten in unterschiedlicher Zahl gefunden bis auf die Werte Ansehen/Face und Bescheidenheit/Demut. Diese wurden nie kodiert.

Schulspezifisch wurden 206 der 358 Segmente der Grundschule (57,5 %) hinsichtlich mindestens eines Wertes kodiert, bei der Mittelschule/Hauptschule waren es 86 von 178 Segmenten (48,3 %), bei der Realschule 93 von 187 Segmenten (49,7 %) und beim Gymnasium 87 von 153 Segmenten (56,9 %).

4.1.2 Basiswerte insgesamt

Tab. 3 zeigt die Anzahl der Kodierungen pro Kategorie. Am häufigsten wurden „Selbstbestimmung im Handeln“ (123 Kodierungen), „Leistung“ (94 Kodierungen), „Selbstbestimmung im Denken“ (88 Kodierungen), „Benevolenz als Fürsorge“ (75 Kodierungen) und „Universalismus“ bezogen auf die Gesellschaft (58 Kodierungen) kodiert.

Tab. 3 Häufigkeit der Kodierungen

Betrachtet man die übergeordneten zehn Basiswerte, wurde „Selbstbestimmung“ am häufigsten kodiert (88 + 123 = 211), es folgen „Universalismus“ (125) und „Benevolenz“ (124) sowie „Leistung“ (94) und „Konformität“ (84).

Für die weiteren Analysen wurden nur die zehn Basiswerte, aber nicht ihre Differenzierungen betrachtet, da letztere teilweise recht gering besetzt waren (z. B. „Macht über Ressourcen“).

4.1.3 Basiswerte nach Schularten

Anschließend wurde berechnet, in wie vielen der kodierten Segmente die Basiswerte vorhanden waren – unabhängig davon, ob sie einmal oder mehrfach kodiert wurden. Abb. 1 zeigt die entsprechenden Prozentsätze pro Schultyp.

Abb. 1
figure 1

Basiswerte nach Schularten in %

Zunächst zeigt sich über alle Schularten hinweg die hohe Bedeutung der Werte der „Selbstbestimmung“, der „Benevolenz“, von „Universalismus“, der „Erbringung von Leistung“, und von „Konformität“. Vergleiche zwischen den verschiedenen Schularten erbrachten signifikante Unterschiede bei „Leistung“ (Cramer’s V = 0,20, p < 0,001), bei „Macht“ (Cramer’s V = 0,14, p = 0,02) und bei „Benevolenz“ (Cramer’s V = 0,13, p < 0,05). „Leistung“ ist als Wert für die Haupt‑/Mittelschule besonders bedeutsam und für die Grundschule besonders wenig bedeutsam. „Macht“ wurde häufiger für Gymnasien als für die anderen Schularten kodiert und „Benevolenz“ wird als Wert für Grundschulen und Mittelschule/Hauptschulen häufiger kodiert als für Realschulen und Gymnasien. Die entsprechenden Mittelwerte unterschieden sich zwischen den Schularten jedoch nicht, alle Vergleiche F < 1.

4.2 Motivationale Orientierungen nach Schularten

Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zwischen den Schularten werden noch deutlicher, wenn man die Basiswerte in die von Schwartz und anderen vorgeschlagenen motivationalen Orientierungen integriert (z. B. Schwartz und Bilsky 1990; Schwartz et al. 2012).

Diese motivationalen Orientierungen beziehen sich auf „Offenheit für Veränderungen“ (Selbstbestimmung, Stimulation; N = 235 Kodierungen), „Selbstverbesserung“ (Leistung, Macht, N = 115 Kodierungen), „Erhaltung“ (Konformität, Tradition, Sicherheit: N = 121 Kodierungen) und „Selbsttranszendenz“ (Benevolenz, Universalismus: N = 249 Kodierungen).

Eine zweite Unterscheidung bezieht sich auf Werte im Zusammenhang mit „angstfreiem Wachstum“ (Offenheit für Veränderungen, Selbsttranszendenz: N = 484 Kodierungen) und Werte im Zusammenhang mit „Selbstschutz und Angstvermeidung“ (Selbstverbesserung, Erhaltung: N = 236 Kodierungen).

Eine dritte Unterscheidung bezieht sich auf den sozialen Fokus (Erhaltung, Selbsttranszendenz) gegenüber dem persönlichen Fokus (Selbstverbesserung, Offenheit für Veränderungen). Der persönliche Fokus wurde N = 350 Mal, der soziale Fokus wurde N = 370 Mal kodiert.

Tab. 4 zeigt die Ausprägungen dieser motivationalen Orientierungen getrennt nach Schularten. Wir vergleichen die Mittelwerte der motivationalen Orientierungen zwischen den vier Schularten mit Hilfe von einfaktoriellen Varianzanalysen mit post-hoc Vergleich (Duncan) (Tab. 5).

Tab. 4 Motivationale Orientierungen in den vier Schularten
Tab. 5 Mittelwerte der motivationalen Orientierungen in den vier Schularten

Der größte Unterschied nach Schularten zeigt sich bei „Selbstverbesserung“ mit den höchsten Werten für das Gymnasium und den niedrigsten für die Grundschule. „Offenheit gegenüber Veränderung“ unterscheidet sich zwar nicht generell zwischen den Schularten, doch ist der Unterschied zwischen Mittelschule/Hauptschule und Gymnasium signifikant. „Erhaltung“ und „Selbsttranszendenz“ unterscheiden sich zwischen den Schularten nicht.

Bei der zweiten Unterscheidung, „angstfreies Wachstum“ versus „Selbstschutz und Angstvermeidung“, gibt es keine Unterschiede hinsichtlich „angstfreiem Wachstum“, aber Unterschiede hinsichtlich „Selbstschutz und Angstvermeidung“ mit geringeren Werten für die Grundschule als für die drei anderen Schularten.

Bei der dritten Unterscheidung schließlich, dem personalen versus dem sozialen Fokus, ist der personale Fokus für das Gymnasium deutlich höher ausgeprägt als für die anderen drei Schularten. Hinsichtlich des sozialen Fokus gibt es keine schulspezifischen Unterschiede.

4.3 Antagonistische Wertekommunikation

Als letzten Schritt der Datenanalyse betrachteten wir speziell diejenigen Segmente, die mehrfach, d. h. hinsichtlich mehr als eines Wertes, kodiert worden waren. Hier interessierte uns, inwieweit multiple Kodierungen das Spannungsverhältnis zwischen antagonistischen Werten, z. B. gleichzeitig Werteformulierungen zu Selbsttranszendenz und zu Selbstverbesserung, ausdrücken (Tab. 6).

Tab. 6 Antagonistische motivationale Orientierungen bei Mehrfachkodierungen in den vier Schularten

Zwischen 32 % (Grundschule und Realschule) und 36 % (Gymnasium) aller Segmente wurden multipel kodiert. Diese weisen in hohem Maße antagonistische Werte auf. Im Text für das Gymnasium wird die Gleichzeitigkeit von „Offenheit für Veränderungen“ und „Erhaltung“ sowie von persönlichem und sozialem Fokus häufiger und die „Selbstverbesserung“ und „Selbsttranszendenz“ seltener genannt als in den Texten anderer Schularten.

5 Diskussion

5.1 Zusammenfassung und Diskussion der empirischen Befunde

In dieser Studie ging es darum, die in Texten der Präambeln von Lehrplänen Bayerns für unterschiedliche Schularten thematisierten Werte in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden herauszuarbeiten. Diese werden als schulbezogene gesellschaftliche Kommunikation wahrgenommen (wie in Abschn. 2 dargestellt).

Die Befunde zeigen zunächst, dass es Übereinstimmung darin gibt, dass „Selbstbestimmung“, „Leistung“, „Konformität“, „Universalismus“ und „Benevolenz“ häufiger thematisierte Werte sind, hingegen „Stimulation“, „Hedonismus“, „Macht“, „Sicherheit“ und „Tradition“ durchgängig seltener aufgerufen werden. Damit lässt sich über die verschiedenen Schularten hinweg die gesellschaftliche Bedeutung von Selbstbestimmung und sozialen gesellschaftlichen (Universalismus) wie individuellen (Benevolenz) Werten und die geringe Bedeutung von Werten des Machterhalts, der Sicherheit und hedonistischen Werten sowie Werten der Bescheidenheit und des Ansehens, die gar nicht aufgerufen werden, zeigen. Insgesamt zeigt sich also eine große Übereinstimmung.

Gleichzeitig werden zwischen den einzelnen Schularten leichte Unterschiede sichtbar, die – jenseits der den einzelnen Schularten inhärenten jeweils unterschiedlichen Leistungsanforderungen – verschiedene gesellschaftliche Werteprofile sichtbar werden lassen. Die Unterschiede sind klein.

  • Im Profil für das Gymnasium werden Selbstbestimmung sowie die Offenheit für gesellschaftliche Veränderungen kommuniziert. Es stehen im Vergleich leicht häufiger Werte der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit als Werte mit sozialem Fokus im Mittelpunkt.

  • Im Profil für die Realschulen werden tentativ Konformitätswerte und Universalismus (im besonderem Maße Toleranz) akzentuiert. Es stehen Werte mit sozialem Fokus im Vordergrund.

  • Mit dem Profil für Mittelschulen/Hauptschulen werden tendenziell besonders Leistungsbereitschaft sowie Benevolenz und Werte der Konformität hervorgehoben. Auch hier stehen Werte mit sozialem Fokus im Vordergrund. Tendenziell wird implizit ein Bedarf an sozialem Lernen und der Förderung der Leistungsbereitschaft unterlegt und gesellschaftliche Anpassung als Anspruch formuliert.

  • Für Grundschulen sind gleichermaßen Selbstbestimmung, Konformität und Benevolenz von Bedeutung. Auffallend ist die Zurückhaltung hinsichtlich leistungsbezogener Werte.

  • In allen Schularten wird die Komplexität moderner Gesellschaften durch die Gleichzeitigkeit der Thematisierung antagonistischer Werte erkennbar. Das Gymnasium hebt sich von den anderen Schularten insofern ab, als die Gleichzeitigkeit von Offenheit für Veränderungen und Erhaltung sowie von persönlichem und sozialem Fokus häufiger genannt wird als in den anderen Lehrplänen. In Verbindung mit den genannten Ergebnissen zum Gymnasium, nach denen insgesamt soziale Werte seltener genannt werden, könnte dieser Befund so interpretiert werden, dass soziale Werte im Gymnasium an die Entfaltung der eigenen Person gekoppelt werden.

Zusammenfassend wären demnach Werte für das Gymnasium stärker mit Werten der Selbstverwirklichung unterlegt. In diesen Texten erscheint eine Gesellschaftstransformation, die Reckwitz (2012) als Kreativitätsdispositiv bzw. Ausprägung von Singularität (Reckwitz 2017) beschreibt und als Anspruch einer „neuen Mittelklasse“ darstellt. Werte für die nicht-gymnasiale Sekundarstufe akzentuieren hingegen tendenziell leicht stärker Konformität und die Erziehung zu sozialem Verhalten. Damit wird in den Lehrplantexten des Gymnasiums ein größerer Raum für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, zur Teilhabe und zur Gestaltung gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zugesprochen, während in Texten der Realschule wie der Mittelschule/Hauptschule stärker die Einordnung in bestehende soziale Ordnungen thematisiert wird.

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Unterschiede klein sind. Sollten sich diese Befunde in weiteren Untersuchungen stabilisieren, würden sich Hinweise auf die Kommunikation einer gesellschaftlichen Ordnung ergeben, die weiterhin Über- und Unterordnungen transportiert. Dann würden die für die 1960er-Jahre von Fohrbeck et al. (1971) beschriebenen Formen der Privilegierung sich subtil auch heute zeigen. Damit verweist die Untersuchung auch auf weiteren Forschungsbedarf in der empirischen Lehrplanforschung und zeigt gleichzeitig einen methodischen Zugang auf, der erfolgsversprechend scheint, auch diffuse Werte einer empirischen Untersuchung zu unterziehen.

5.2 Methodische Diskussion

Mit dieser Untersuchung wurde Neuland betreten. Hinsichtlich der methodischen Umsetzung wurde ein Zugang gewählt, mit dem ein deduktiv theoretisch wie empirisch fundiertes Kategoriensystem an das Material angelegt wird. Damit wird es ermöglicht, Werte sowie wertebezogene Leerstellen zu identifizieren. Wir hatten uns für das Modell von Schwartz entschieden und damit gesellschaftliche Wertesemantik mit Hilfe eines Modells kognitiv repräsentierter Wertevorstellungen erhoben. Die Risiken und methodologischen Probleme dieses Zugriffs haben wir an anderer Stelle diskutiert (vgl. Osterrieder und Banze 2022; Osterrieder et al. under review). Kritisch wäre gegen dieses Vorgehen einzuwenden, dass kognitive Repräsentationen von gesellschaftlicher Semantik kategorial unterschieden sind, und dass das Instrumentarium selbst als Fragebogen in anderer Form konzipiert ist, als es hier als Kategoriensystem verwendet wurde. Für das gewählte methodische Vorgehen spricht, dass Lehrplänen in der ihnen inhärenten Form der Adressierung von Werten die individuelle kognitive Repräsentanz nahelegen.

Vor dem Hintergrund der explorativen Fragestellung war der Datenkorpus begrenzt (ein Bundesland, nur die fachübergreifenden Richtlinien, keine Berücksichtigung der fachbezogenen Richtlinien). Hinsichtlich der Konzentration auf die fachübergreifenden Richtlinien sind wir von der Annahme ausgegangen, dass diese in besonderem Maße Konsensformeln gesellschaftlicher Wertesemantiken darstellen; diese Annahme konnten wir nur kommunikativ durch einen intensiven Austausch mit der für die Lehrpläne verantwortlichen Verwaltungseinheit validieren, nicht aber empirisch erhärten. Die Auswahl des Bundeslandes war durch den Forschungskontext einerseits und das in diesem Bundesland ausgeprägte gegliederte Schulwesen andererseits geprägt. Ob die Befunde über dieses Bundesland hinaus für ganz Deutschland Geltung beanspruchen können, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten. Die Lehrpläne in Bayern entsprechen in Duktus und Aufbau jenen anderer Bundesländer mit Differenzierung der Schularten ohne ein zusätzliches Gesamtschulangebot, so dass zumindest in dieser Hinsicht davon ausgegangen werden kann, dass die bayerischen Lehrpläne exemplarisch für Bildungspläne mit starker Ausdifferenzierung der Schularten stehen. Allerdings fehlen für diesen Sachverhalt solide empirische Daten.

Zudem war der Datenkorpus immanent begrenzt; denn schließlich haben wir nur fachübergreifende Lehrplantexte einer Untersuchung unterzogen. Die Einbeziehung der fachbezogenen Texte würde nicht nur den Datenkorpus vergrößern und absichern, sondern auch Aussagen über die Kohärenz der Werte über die Fächer hinweg ermöglichen. Dieses muss aus Gründen der begrenzten Projektlaufzeit nachfolgenden Untersuchungen vorbehalten bleiben.

Würden sich in nachfolgenden Untersuchungen die Befunde erhärten, wäre dann sicherlich über praxisbezogene Implikationen und Konsequenzen nachzudenken. Dazu erscheint es zum gegebenen Zeitpunkt noch zu früh und die Ergebnisse zu wenig abgesichert zu sein.

Author Contribution

Martina Osterrieder und Anne-Christine Banze haben die Kodierung der Texte vorgenommen und gemeinsam mit Annette Scheunpflug das Kodierungssystem entwickelt. Andrea Abele-Brehm und Annette Scheunpflug haben eine nochmalige Kodierung strittiger Codes vorgenommen. Andrea Abele-Brehm hat die Ergebnisse ausgewertet und beschrieben. Annette Scheunpflug, Andrea Abele-Brehm und Martina Osterrieder haben die übrigen Textteile in unterschiedlichen Anteilen verfasst.