Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden Grundzüge einer Theorie des erziehenden Unterrichts entwickelt. Zunächst wird der Begriff des erziehenden Unterrichts geklärt. Dabei wird insbesondere der Bildungsanspruch herausgearbeitet, der mit dem erziehenden Unterricht verknüpft ist. Danach wird im Lichte der Perfektionismus-Antiperfektionsmus-Debatte dafür votiert, den Bildungsanspruch eines erziehenden Unterrichts antiperfektionistisch zu rechtfertigen. Wie ich zu zeigen versuche, steht ein solches Votum in Spannung zu traditionellen Begründungsansätzen, die perfektionistisch ausgerichtet sind. Ausgehend von einer Kritik dieser Ansätze wird schließlich der Vorschlag für eine antiperfektionistische Rechtfertigung von Bildung im Lichte des für moderne demokratische Gesellschaften maßgeblichen Prinzips des Respekts entwickelt.
Abstract
In this paper I shall develop an outline of a theory of educative instruction. First, I will clarify the concept of educative instruction. In particular, I will describe what is meant by the concept of Bildung in this theoretical framework. After that, I will refer to the debate on the possibilities and limitations of perfectionist and antiperfectionist arguments in political philosophy. Against this background, I will argue that it is necessary to develop an antiperfectionist argument for Bildung as the main purpose of educative instruction. As I will show, such a position is in tension with traditional perfectionist arguments to justify Bildung. Starting from a problematization of such traditional positions, I will develop an antiperfectionist argument for Bildung regarding the principle of respect that is essential for modern democratic societies.
Notes
Die von Herbart in seiner Ethik formulierten Ideen des Wohlwollens, des Rechts und der Billigkeit lassen sich als der Versuch interpretieren, Kants kategorischen Imperativ relational zu bestimmten Grundkonstellationen menschlichen Zusammenlebens auszulegen (vgl. Benner 1993, S. 146).
Der in der Theorie des erziehenden Unterrichts beschriebene Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Moralität sollte m. E. nicht vorschnell zu der Interpretation verleiten, in dieser Theorie würde Selbstbestimmung allein als moralische Selbstbestimmung begriffen. Orientierungsgesichtspunkt ist vielmehr allgemein die „selbständige Person, die begründet ja oder nein sagen kann“ (Geissler 1976, S. 81). Dieser Hinweis ist gerade auch mit Blick auf die Perfektionismus-Antiperfektionismus-Debatte von Bedeutung. Hier wird Selbstbestimmung nämlich ebenfalls nicht notwendigerweise als moralische Selbstbestimmung begriffen. Vielmehr verdeutlicht diese Debatte die allgemeine Tendenz, dass „sich der Begriff der Autonomie [seit Kant] ‚individualisiert‘ und ‚entmoralisiert‘“ hat, so dass heute „kaum jemand behauptet, dass nur das moralisch gute Leben ein autonomes ist“ (Betzler 2013, S. 13). Auf die Fragen, die mit der Unterscheidung verschiedener Formen von Autonomie im Einzelnen verbunden sind, kann hier nicht näher eingegangen werden (vgl. Forst 2007, S. 196 ff.).
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Rucker, T. Erziehender Unterricht, Bildung und das Problem der Rechtfertigung. Z Erziehungswiss 22, 647–663 (2019). https://doi.org/10.1007/s11618-019-00871-7
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