1 Einleitung und Forschungsfrage

Seit der Salamanca-Erklärung (UNESCO 1994) und der von der Schweiz im April 2014 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK 2006, Art. 24) sind die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, alle nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Benachteiligungen die gleichen Chancen auf Bildung zu ermöglichen und ein inklusives Bildungssystem zu etablieren. Lernende, die früher in Sonderklassen oder -schulen unterrichtet wurden, werden zunehmend in die Regelklassen integriert sowie Lernende mit schulischen Schwierigkeiten zusätzlich unterstützt (Bundesamt für Statistik [BFS] 2020; Lanners 2020). Im Kontext der Inklusion ergibt sich so ein Spannungsfeld, indem die Regelschule einerseits auf den individuellen Bedarf einzelner Individuen reagieren („inclusion agenda“), andererseits ein nationales Curriculum („standard agenda“) umsetzen muss (Ainscow et al. 2006; Plate 2016; Rose 2014). Dieser Herausforderung wird u. a. mit unterschiedlichen integrativen Maßnahmen begegnet, die sich bezüglich Zielgruppen und Umsetzung stark unterscheiden. Mithilfe der Maßnahmen soll ein Chancenausgleich zwischen Schüler*innen mit und ohne besonderem Bildungsbedarf geschaffen und eine bestmögliche schulische und soziale Entwicklung aller Schüler*innen in den zunehmend heterogener werdenden Klassensettings gewährleistet werden (Sahli Lozano et al. 2021a).

In der Schweiz werden Lernende mit besonderem Bildungsbedarf und entsprechende Förder- und Unterstützungsmaßnahmen nicht primär entlang von spezifischen Diagnosen bzw. Förderschwerpunkten, sondern entlang des Schweregrades der Beeinträchtigung und dem daraus resultierenden Förderbedarf unterteilt. Grob wird zwischen niederschwelligen Maßnahmen für Lernende mit leichteren Beeinträchtigungen und verstärkten Maßnahmen für Lernende mit schwereren Beeinträchtigungen unterschieden (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren [EDK] 2007). Der vorliegende Beitrag fokussiert auf drei ausgewählte schulische Maßnahmen für Lernende mit leichteren Beeinträchtigungen oder spezifischen Benachteiligungen im Kanton Bern (vgl. Erziehungsdirektion des Kantons Bern 2019). Einerseits wird die Vergabe der niederschwelligen integrativen Förderung (IF), die durch eine sonderpädagogische Fachperson erfolgt, analysiert. Andererseits werden die zwei Maßnahmen reduzierte individuelle Lernziele (RILZ) und Nachteilsausgleich (NAG), die im Kanton Bern nicht zwingend mit einer integrativen Förderung (IF) einhergehen, in Bezug auf den Einfluss der sozialen Herkunft bei deren Vergabe betrachtet.

Die soziale Selektivität bei der Zuweisung zu unterschiedlichen Schultypen und ihre Auswirkungen auf den Bildungserfolg wird im Bereich der Regel- und Sonderschulen/-klassen seit Längerem breit untersucht und findet in jüngerer Vergangenheit auch Einzug in den Bereich der integrativen Maßnahmen. Soziale Selektivität meint, dass die Zuweisung von Kindern zu Sonderklassen sowie die vielerorts praktizierte schulische Selektion nach der Primarschulstufe nicht ausschließlich mit der Schulleistung und der Intelligenz der Schüler*innen zusammenhängen (Becker und Beck 2012; Ditton et al. 2017; Kronig 2007; Reisel 2011; Schmidt et al. 2015; Voigt 2018). Neben der Schulleistung und der Intelligenz beeinflussen auch der Wohnort und insbesondere die soziale Herkunft eines Kindes dessen Schullaufbahn maßgeblich (Baumert und Schümer 2001; Becker et al. 2013; Ditton und Krüsken 2010a; Kronig 2007). Zum einen gibt es einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der schulischen Leistung. So sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien bereits zum Zeitpunkt der Einschulung bei den Lernvoraussetzungen eher im Nachteil gegenüber Kindern höher gebildeter Erziehungsberechtigter aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status. Zum anderen gibt es einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Übergängen in die weiterführenden Schullaufbahnen auf Sekundarstufe I und II (für den Regelschulbereich in der Schweiz vgl. Glauser 2015; Meyer 2019; für den Sonderklassenbereich vgl. Sahli Lozano 2012).

Aus diesen Gründen wird die schulische Selektion im Sinne der äußeren Differenzierung seit Längerem von zahlreichen Bildungsforschenden in Frage gestellt und die beschriebenen herkunftsbedingten Stratifizierungen als Argument für den Wechsel hin zu integrativen Schulformen und zum Abbau schulischer Selektion genannt (vgl. M. Becker et al. 2016; Dumont et al. 2014; Hinz 2017; Kronig 2007; Pfahl 2012).

Ausgehend von den dargestellten Befunden zur sozialen Selektivität bei der äußeren Differenzierung und aufgrund der Tatsache, dass sich Selektionsprozesse in Form von unterschiedlichen Maßnahmen innerhalb einer Schulklasse zunehmend in die Regelschule hineinverlagern, stellt sich die Frage, inwiefern unterschiedliche integrative schulische Maßnahmen ebenfalls entlang der sozialen Herkunft vergeben werden. Dies ist insofern relevant, weil sie in ungleichem Masse Stigmatisierungspotenzial bergen (vgl. z. B. Goffman 1963; Link und Phelan 2001; Norwich 2009) und sich gegebenenfalls negativ auf die weiterführende Bildungslaufbahn und auf soziale und persönliche Entwicklungen auswirken können (vgl. z. B. Ercole 2009; Faulkner et al. 2013; Fox und Stinnett 1996; Ohan et al. 2011; Shifrer 2016; Woodcock und Vialle 2011).

Im Bereich der Sonderpädagogik befasst sich die bisherige Forschung insbesondere mit dem Einfluss der nationalen sowie der sozialen Herkunft auf die Vergabe unterschiedlicher Diagnosen (vgl. 2.2). Zur sozialen Stratifizierung der integrativen Maßnahmen IF und RILZ, die (zumindest im Kanton Bern) nicht zwingend an eine Diagnose gekoppelt sind, und NAG, von dem Lernende mit verschiedenen Diagnosen profitieren, liegt dabei noch keine systematische Forschung vor.

Die im vorliegenden Beitrag präsentierten Analysen untersuchen den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Vergabe dieser drei Maßnahmen im Kanton Bern. Aufgrund großer Disparitäten im Vorhandensein und der Umsetzung unterschiedlicher integrativer schulischer Maßnahmen innerhalb der Schweiz (Sahli Lozano et al. 91,92,a, b) ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt anhand eines ausgewählten Kantons zu erörtern, inwiefern sich die soziale Herkunft unter den hier gegebenen kantonalen Richtlinien auf die Vergabe und Umsetzung unterschiedlicher Maßnahmen auswirkt. Die Ergebnisse und daraus resultierende Folgerungen können auf andere Bildungssysteme mit ähnlich umgesetzten integrativen Maßnahmen übertragen werden und sind für deren Planung und Steuerung von hoher Relevanz.

2 Forschungsstand, theoretischer Rahmen, und Hypothesengenerierung

2.1 Gegenüberstellung der integrativen schulischen Maßnahmen reduzierte individuelle Lernziele, Nachteilsausgleich und integrative Förderung

Die Schweiz zeichnet sich traditionell und im internationalen Vergleich durch ein eher separatives Schulsystem mit früher Selektion, unterschiedlichen Niveaustufen ab der Oberstufe und einem gut ausgebauten Sonderschulsystem aus (Hollenweger 2014; OECD 2017). Trotz den seit 2004 in Gang gesetzten Bemühungen um ein integrativeres Schulsystem (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2004; Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren [EDK] 2007; UN-BRK 2014) und der damit in Verbindung stehenden vornehmlichen Reduktion von Sonderklassen werden schweizweit immer noch rund 3,2 % der Lernenden separativ in Sonderklassen oder Sonderschulen unterrichtet (Bundesamt für Statistik 2020), im Kanton Bern sind es rund 3,3 % (Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern 2022). Im Vergleich dazu beträgt die Separationsquote in Deutschland 4,3 % (Kulturministerkonferenz 2022) und in Österreich 1,4 % (Grundschulstufe) bzw. 2,2 % (Oberstufe; Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2021).

In der Schweiz wird zwischen niederschwelligen Maßnahmen für Lernende mit leichteren Beeinträchtigungen und verstärkten Maßnahmen für Lernende mit schwereren Beeinträchtigungen unterschieden (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren [EDK] 2007). Zu den integrativen Maßnahmen, die vornehmlich im niederschwelligen Bereich zur Anwendung kommen und im Zentrum dieses Beitrags stehen, zählen die Lernzielreduktion (RILZ), der Nachteilsausgleich (NAG) und die niederschwellige integrative Förderung (IF). Auf integrierte Lernende mit Sonderschulstatus, die aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung (IQ unter 75) verstärkte Maßnahmen erhalten, wird nicht eingegangen. Diese Lernenden erhalten Unterstützung, die sich bezüglich Dauer, Intensität und Lerninhalte (Sonderschullehrplan) von den fokussierten Maßnahmen unterscheidet. Sie werden daher auch nicht zu den Lernendengruppen mit RILZ, NAG oder IF gezählt.

Vorwegnehmend gilt es zu bemerken, dass integrative Maßnahmen für Lernende mit besonderem Bildungsbedarf je nach Land (und auch in den Kantonen innerhalb der Schweiz) unterschiedlich klassifiziert, benannt, vergeben und umgesetzt werden (vgl. Grünke und Cavendish 2016; Powell 2018; Sahli Lozano et al. 91,92,a, b). Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass in anderen Bildungssystemen ähnliche Maßnahmen existieren. In Deutschland wird der Nachteilsausgleich z. B. im Rahmen von Förderschwerpunkten umgesetzt, denen Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf je nach Diagnose zugeteilt werden, gleiches gilt für den lernzieldifferenten Unterricht mit Anpassungen in den Lernzielen (Förderschwerpunkte Lernen und geistige Entwicklung) sowie (in den meisten Fällen) der individuellen Förderung durch eine sonderpädagogische Lehrkraft (Gresch et al. 2017; knw Kindernetzwerk e. V. 2018; Landesamt für Schule und Bildung 2019). Auch in vielen anderen Bildungssystemen finden sich prinzipiell identische Massnahmen zu NAG, RILZ und IF, wobei diese häufig, aber nicht immer, an eine formale Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gekoppelt sind. In den USA sind die Massnahmen NAG, RILZ und IF beispielsweise als „accomodations“, „modifications“ und „interventions“ bekannt und an eine entsprechende Abklärung bzw. formale Zuweisung gekoppelt („Individualized Education Program“ bzw. „504 plan“) (Conderman et al. 2017; Harrison et al. 2013).

Schweizweit erhalten rund 2,3 % der Lernenden RILZ. Für den Nachteilsausgleich in der Volksschule liegen keine offiziellen Zahlen vor. Aufgrund eigener Hochrechnung aus einer Befragung aller Berner Schulleitenden wird die Prävalenz für den Nachteilsausgleich auf Primarschulstufe zum Zeitpunkt der Datenerhebung (Sahli Lozano et. al. 2016) auf 1,3 % geschätzt. Die Prävalenz der Lernenden mit der niederschwelligen Unterstützungsmaßnahme IF wird in der Schweiz nicht systematisch und nicht differenziert erfasst. Schweizweite Schätzungen gehen von einer Gesamtprävalenz von rund 15 % aus, worunter neben IF auch weitere Maßnahmen wie z. B. Logopädie, Psychomotoriktherapie, Stützkurse für Deutsch als Fremdsprache, etc. gezählt werden (Lanners 2018). Generell sind die aufgeführten Prävalenzen aufgrund unterschiedlicher kantonaler Benennungen, Reglementen und Erhebungsmethoden mit entsprechender Vorsicht zu geniessen (Sahli Lozano et al. 2021a).

Die drei Maßnahmen RILZ, NAG und IF unterscheiden sich grundsätzlich bezüglich Zielgruppen, Zuweisung und Umsetzung. Tab. 1 gibt einen Überblick über die Maßnahmen und zeigt, wie sie im Kanton er zur Anwendung kommen (vgl. Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern 2020; Erziehungsdirektion des Kantons Bern 2019). Kinder mit RILZ zeichnen sich durch ein von der Lehrperson als niedrig eingeschätztes Leistungspotenzial aus, welches zur Folge hat, dass die Lernziele und -inhalte in einem oder mehreren Schulfächern reduziert werden. Die Lehrperson beantragt die Maßnahme mit Einverständnis der Erziehungsberechtigten bei der Schulleitung. Die Hürde, RILZ einzusetzen, ist im Vergleich zum NAG gering, da kein amtliches Gutachten bzw. keine sonderpädagogische Diagnose benötigt wird, solange die Lernziele in weniger als drei Fächern reduziert werden. Die Differenzierung nach Lernzielen bedeutet, dass Schüler*innen mit RILZ je nach Schulfach nicht dieselben Inhalte wie ihre Mitschüler*innen bearbeiten. Die Maßnahme ist nicht zwingend an die Maßnahme IF gekoppelt. Besonders interessant im Kontext des vorliegenden Beitrags ist, dass die Maßnahme RILZ im Zeugnis der Betroffenen sichtbar vermerkt wird (Bericht statt Note oder Note mit Stern und Bemerkung) und diese dadurch etikettiert werden. Eigene Analysen zeigen, dass RILZ zum Zeitpunkt des 5./6. Schuljahres in 80 % der Fälle seit 1–2 Jahren oder länger besteht. Aufgrund des Zeugniseintrages und des angepassten Curriculums kann RILZ als relativ dauerhafte Maßnahmen angesehen werden.

Tab. 1 Überblick über die Massnahmen reduzierte individuelle Lernziele, Nachteilsausgleich und integrative Förderung

Im Gegensatz zu RILZ umfasst die Zielgruppe des NAG Schüler*innen, welche die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten für das Erreichen der Grundanforderungen im Rahmen des Regelschullehrplans mitbringen, ihr Potenzial jedoch aufgrund einer spezifischen Beeinträchtigung (z. B. aufgrund einer Lese- und Rechtschreibstörung, einer Dyskalkulie, eines ADHS oder einer Autismus-Spektrum-Störung) nicht vollständig ausschöpfen können. Beantragt werden kann der NAG von einer erziehungsberechtigten Person oder einer Lehrperson bei der Schulleitung. Die Vergabe stützt sich in der Regel auf ein amtliches Gutachten einer anerkannten Fachstelle. Auf dieser Grundlage entscheidet die Schulleitung, ob ein NAG vergeben wird. Der NAG differenziert nach Methoden und Medien bei gleichbleibenden Inhalten und Zielen (z. B. Gewährung von zusätzlicher Zeit bei einer Prüfung, Verwendung eines Rechtschreibkorrektur-Programms, mündliche statt schriftlicher Prüfungen, etc.). Die Maßnahme wird im Zeugnis nicht erwähnt und ist somit für Außenstehende nicht ersichtlich. NAG kann aufgrund der damit eingehgehend diagnostizierten Beeinträchtigung als dauerhafte Maßnahme betrachtet werden.

IF kann im Gegensatz zu RILZ und NAG als eher temporäre Maßnahme angesehen werden: IF kann im Kanton Bern auf höchstens drei bis vier Semester beantragt werden, danach muss eine Abklärung durch eine Fachstelle und die Zuweisung zu verstärkten sonderpädagogischen Maßnahmen erfolgen (Erziehungsdirektion des Kantons Bern 2019). IF richtet sich an alle Schüler*innen mit leichten Beeinträchtigungen im niederschwelligen Bereich, z. B. mit Beeinträchtigungen im Lernen oder im Verhalten, unabhängig von ihren kognitiven Grundfähigkeiten. Schüler*innen mit dieser Maßnahme erhalten ergänzend zum ordentlichen Unterricht integrative Förderung durch eine sonderpädagogische Fachperson, welche im Einzel- oder Gruppenunterricht innerhalb oder außerhalb der Klasse durchgeführt wird. Gleich wie RILZ kann im Kanton Bern auch IF ohne amtliches Gutachten bzw. ohne sonderpädagogische Diagnose auf Antrag der Klassenlehrperson durch die Schulleitung bewilligt werden. IF zielt darauf ab, Lern‑, Leistungs- und Verhaltensstörungen vorzubeugen und einen Förderbedarf frühzeitig zu erkennen. IF wird – wie der NAG – nicht im Zeugnis vermerkt. Manche Schüler*innen mit RILZ oder NAG erhalten gleichzeitig auch IF. IF wird innerhalb des Kantons sehr unterschiedlich vergeben und umgesetzt, da die Schulgemeinden für den gesamten Bereich der niederschwelligen Maßnahmen eine gewisse Anzahl an Unterstützungslektionen erhalten, über die sie relativ frei verfügen können. Die Lektionen können allesamt integrativ genutzt oder auch für das Führen von Sonderklassen genutzt werden. Dies führt zu stark unterschiedlichen Ressourcen und damit verbundenen Förderpraktiken innerhalb des Kantons. Auch in anderen Ländern wird IF im Bereich der so genannt leichteren Beeinträchtigungen teilweise ohne Diagnoseverfahren und auf der Basis pauschaler Ressourcenzuweisungen vergeben (vgl. z. B. Gresch et al. 2017 für Deutschland).

2.2 Forschungsstand

In Bezug auf die zentrale Fragestellung des vorliegenden Beitrages – d. h. der Frage nach der sozialen Selektivität bei der Vergabe der Maßnahmen RILZ, NAG und IF – gibt es noch keine unmittelbare Forschung. Zwar gibt es eine breite Forschungsgrundlage zu Herkunftseffekten bezüglich einer sonderpädagogischen Diagnosestellung. Die Zuweisung von Maßnahmen hingegen ist aber kaum untersucht und nicht immer an die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gekoppelt (zumindest nicht in der Schweiz und in Deutschland, vgl. Gresch et al. 2017). Bezüglich der sonderpädagogischen Diagnosestellung zeigen sich heterogene Herkunftseffekte, die vor allem im Hinblick auf Lernende mit Migrationshintergrund kontrovers diskutiert werden (vgl. Ahram et al. 2021). So zeigen beispielsweise Studien oftmals eine relative Überrepräsentation von Lernenden mit Migrationshintergrund bei sonderpädagogischen Förderdiagnosen. Diese verkehrt sich aber in eine eigentliche Unterrepräsentation, sobald für allgemeine Risikofaktoren (z. B. geringer sozioökonomischer Status, schwächere Schulleistungen) kontrolliert wird (z. B. Hibel et al. 2010; Kölm et al. 2020; Morgan et al. 2017; Shifrer et al. 2011), wobei Kontexteffekte, wie das Segregations- oder Schulleistungsniveau der Schulen, sowie das „Prestige“ einzelner Behinderungsdiagnosen für die Richtung des Effekts (bzw. der Über- oder Unterrepräsentation) eine wesentliche Rolle spielen (Fish 2019; Kölm et al. 2020; Morgan et al. 2017; Skrtic et al. 2021). Im Gegensatz dazu gehen Indikatoren für die soziale Herkunft, wie ein niedrigerer sozioökonomischer Status oder ein niedrigeres Bildungsniveau der Erziehungsberichtigen, meist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einer sonderpädagogischen Förderdiagnose einher (Fish 2019; Hibel et al. 2010; Kincaid und Sullivan 2017; Kölm et al. 2020; Shifrer et al. 2011), selbst unter Kontrolle von Leistungsvariablen (Fish 2019; Kölm et al. 2020; Shifrer et al. 2011). Allerdings spielt auch hier die Art der Diagnose eine Rolle: so zeigt sich in Studien aus den USA (Fish 2019; Morgan et al. 2017) ein negativer Zusammenhang des sozioökonomischen Status mit der Diagnose einer geistigen Behinderung oder emotionalen Verhaltensstörung, aber ein positiver Zusammenhang mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung. Unterschiedliche Herkunftseffekte werden hierbei mit Unterschieden im Stigmatisierungspotential und im Hinblick auf unterschiedliche Förder- und Unterstützungsmaßnahmen erklärt und mit Unterschieden im sozialen und kulturellen Kapital der Herkunftsfamilien sowie mit unterschiedlichen Lehrpersonenerwartungen (z. B. Kölm et al. 2019; Skrtic et al. 2021). Im Folgenden werden anhand dieser Aspekte mögliche Zusammenhänge der sozialen Herkunft mit der Vergabe der drei Maßnahmen RILZ, NAG und IF dargestellt und diskutiert.

Aus bildungssoziologischer Sicht ist dabei insbesondere der Vergleich der Schüler*innengruppen mit RILZ oder NAG interessant. Mit der Umsetzung der im Kanton Bern zugrunde liegenden Idee eines einschätzbaren Leistungspotenzials wird angenommen, dass im Sinne und Dienste der Meritokratie (vgl. Solga 2005) exakt zwischen Schüler*innen mit genügendem bzw. ungenügendem Leistungspotenzial zur Erreichung der Klassenlernziele unterschieden werden kann. Kinder mit RILZ werden demnach durch die Lehrperson als nicht in der Lage eingeschätzt, die Lernziele der Klasse zu erreichen und erhalten deshalb angepasste Lernziele, womit ihnen jedoch die Möglichkeit, in anspruchsvollere Schullaufbahnen zu wechseln, genommen wird. Somit entspricht RILZ einem verfrühten Selektionsentscheid, kann als „klasseninternes Tracking“ (Streckeisen et al. 2006) verstanden werden und mit anspruchsärmeren Lernumgebungen innerhalb der Schulklasse verbunden sein. Dies kann die Leistungsentwicklung negativ beeinflussen (vgl. Baumert et al. 2000, 2003; Becker et al. 2006; Neumann et al. 2007; Zurbriggen 2016). Der NAG hingegen soll es, getreu dem meritokratischen Prinzip, den als leistungsstark eingeschätzten Kindern erlauben, in anspruchsvollere Laufbahnen zu wechseln, wenn sie aufgrund angepasster Rahmenbedingungen die Voraussetzungen dafür erfüllen. Ein kritischer Einwand gegen die Idee der akkuraten Messbarkeit von Leistungspotenzial ist die große Überlappung zwischen den erbrachten Leistungen von Real‑, Sek- und Sonderschüler*innen (Kronig 2007). Kronig (2007, S. 14 ff.) spricht deshalb im Zusammenhang mit Bildungserfolg von einer „systematischen Zufälligkeit“, denn abhängig vom Schulstandort, gruppenspezifischer Kollektivierung und Zeitpunkt wird man dem einen oder anderen Schultyp zugeteilt. Da die Maßnahme IF im Kanton Bern eine breite Zielgruppe umfasst, die sich nicht rein entlang von Leistungsmerkmalen definiert und z. B. bewusst auch präventiven und temporären Charakter hat, können hierzu, anderes als bei RILZ, keine direkten Bezüge zu möglichen Auswirkungen von klasseninternen negativen Trackingeffekten gemacht werden.

2.3 Primäre und Sekundäre Herkunftseffekte

Dass die Trennlinie zwischen unterschiedlichen integrativen schulischen Maßnahmen möglicherweise ebenfalls entlang sozialer Schichten verläuft, kann mit Einflussfaktoren seitens Herkunftsfamilie erklärt werden: Gemäß Boudon (1974) lassen sich primäre Herkunftseffekte darauf zurückführen, dass aufgrund unterschiedlicher Sozialisationsbedingungen bereits vor Schuleintritt schichtspezifische Leistungs- und Kompetenzunterschiede bestehen (Blossfeld 2013; Moser et al. 2005; Moser und Bayer 2010), die in den darauffolgenden Schuljahren nicht ausreichend nivelliert werden (Becker 2010; Bos et al. 2004). So kann angenommen werden, dass insbesondere RILZ und tendenziell auch ein NAG und IF häufiger an Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten vergeben wird, da diese aufgrund ungünstiger Sozialisationsbedingungen tatsächlich tiefere Schulleistungen und mehr Unterstützungsbedarf zeigen.

Wenn gemäß sekundärer Herkunftseffekte aus Sicht der Theorie der sozialen Statusposition (Boudon 1974; Keller und Zavalloni 1964) und der Prospect Theory (Kahneman und Tversky 1979) davon ausgegangen wird, dass Erziehungsberechtigte bei ihrer Bildungsaspiration und Planung des Bildungsweges für ihre Kinder am Erhalt des bislang erreichten Sozialstatus interessiert und bestrebt sind, dieses Ziel in subjektiv optimaler Weise über Bildung zu realisieren, dann ist auch zu erwarten, dass sich Erziehungsberechtigte mit einem höheren sozioökonomischen Status eher dafür einsetzen, dass ihre Kinder anspruchsvollere Bildungswege beschreiten können, auch wenn Hindernisse, wie z. B. eine Lese-Rechtschreibschwäche, bestehen. Weiter schätzen Erziehungsberechtigte nach der Rational-Choice-Theorie den erwarteten Bildungsnutzen unterschiedlich ein. Je nachdem, wie sie ihre Erfolgswahrscheinlichkeit, die von der Bildung zu erwartenden Vorteile und die aus der Bildung resultierenden Kosten einschätzen, fällen sie andere Bildungsentscheidungen (Erikson und Jonsson 1996). Aufgrund dieser Überlegungen erscheint es wahrscheinlich, dass eher Schüler*innen aus sozial privilegierteren Familien von einem NAG profitieren. In Bezug auf die Maßnahme RILZ hingegen kann davon ausgegangen werden, dass diese auch aufgrund der sekundären Herkunftseffekte eher an Kinder aus statusniedrigeren Familien vergeben wird, da bei diesen Familien eine niedrigere Bildungsaspiration sowie ein höheres Investitionsrisiko in Bezug auf höhere Bildungslaufbahnen vorliegt (Becker 2000; Breen und Goldthorpe 1997; Glauser 2015). Daraus kann abgeleitet werden, dass der Vermerk von RILZ im Zeugnis für statustiefere Familien weniger schwer wiegt und sich diese weniger stark gegen diese Maßnahme wehren.

Weiter zeigen Studien in Anlehnung an die konflikttheoretische Perspektive (Bourdieu und Passeron 1971; Collins 1971, 1979; Weber 1980), dass Erziehungsberechtigte aus höheren Sozialschichten bei unerwarteten Bildungsmisserfolgen ihrer Kinder verschiedene Strategien nutzen, um die Leistungsbeurteilung durch Lehrpersonen im Sinne ihres Statuserhaltmotivs zu beeinflussen (Becker 2000, 2003; Ditton 2007; Ditton und Krüsken 32,33,a, b; Stocké 2007, 2010). Im Gegensatz zu den weniger gebildeten Erziehungsberechtigten aus den niedrigeren Sozialschichten verfügen sie über das nötige ‚Insider‘-Wissen und auch die Kompetenzen, in entsprechender Weise Einfluss auf die Leistungsbeurteilungen zu nehmen (Becker et al. 2013; Meulemann 1985; Wiese 1986) oder Wege zu beschreiten, um an die gewünschten Leistungsbeurteilungen zu gelangen. Für den NAG beispielweise finden sich Hinweise für derartige Mechanismen bezüglich der Zugangstests auf Tertiärstufe in den USA, in denen Prüfungsanpassungen teilweise missbräuchlich erschlichen wurden (vgl. „admission scandal“ Goldstein und Patel 2019; Lovett 2020, 2021). Aus konflikttheoretischer Perspektive kann argumentiert werden, dass vermehrt Kinder aus sozioökonomisch starken und bildungsnahen Familien, welche Ressourcen und das kulturelle Kapital haben, um einen NAG zu beantragen und sich für ihr Kind einzusetzen, von diesem profitieren. Kinder aus sozioökonomisch schwachen und weniger bildungsnahen Familien verfügen hingegen über weniger Ressourcen und haben deshalb ein höheres Risiko, die Maßnahme RILZ zu erhalten.

2.4 Konklusion und Hypothesen

Aufgrund der oben genannten Theorien und Studien ist zu erwarten, dass solche Mechanismen auch bei der Vergabe der Maßnahmen RILZ, NAG und IF zu beobachten sind. Der Hauptfokus des vorliegenden Beitrags liegt dabei auf der Analyse des Einflusses primärer und sekundärer Herkunftseffekte.

In Anlehnung an die Untersuchungen zum Einfluss der sozialen Herkunft auf unterschiedliche Bildungszugänge (Scharf et al. 2020) wird der primäre Effekt als indirekter Einfluss der sozialen Herkunft auf den Erhalt einer Maßnahme, vermittelt über die Schulleistungen, berechnet. Aufgrund der herbeigezogenen Studien und Erklärungsansätze wird davon ausgegangen, dass die Zugehörigkeit zu einer Familie mit niedrigem sozioökonomischem Status/Bildungsniveau mit tieferen Schulleistungen assoziiert ist, was wiederum ein Risikofaktor für den Erhalt von Maßnahmen wie RILZ, NAG und IF darstellt (H1a–H3a → Primäre Herkunftseffekte finden sich bei RILZ, NAG und IF, wobei sich ein negativer indirekter Effekt der sozialen Herkunft zeigt). Im Gegensatz zu RILZ können die Maßnahmen IF und NAG zwar aus unterschiedlichen Gründen vergeben werden und sind nicht zwingend an eine Schulleistungsschwäche gekoppelt. Es ist aber zu erwarten, dass auch diese Maßnahmen vor allem dann eingesetzt werden, wenn Lernende schulische Schwierigkeiten zeigen.

In Bezug auf sekundäre Herkunftseffekte, die den Einfluss der sozialen Herkunft unter Kontrolle der Leistungsvariablen beschreiben, kann angenommen werden, dass Schüler*innen aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status/Bildungsniveau auch unter Kontrolle der schulischen Leistungsmerkmale eher die Maßnahme RILZ erhalten als Schüler*innen aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status/Bildungsniveau. Grund dafür ist, dass letztere vermutlich höhere Bildungsaspirationen hegen und durch die guten Kenntnisse des Bildungssystems die Maßnahme RILZ, die als früher Selektionsentscheid gewertet werden kann, zu vermeiden versuchen. Hingegen könnten Eltern aus höheren sozialen Schichten bei möglichen Schulschwierigkeiten ihrer Kinder eher versuchen, die Maßnahme NAG zu erhalten, damit diese trotz vorliegender Beeinträchtigung eine bessere Chance haben, einen höheren Schultyp zu besuchen. Da der NAG Anpassungen der Rahmenbedingungen und die Verwendung von Hilfsmitteln im Unterricht und bei Prüfungen bedeutet, jedoch nicht formal im Zeugnis vermerkt wird, könnte diese Maßnahme für privilegierte Familien besonders attraktiv sein. Da IF eine inhaltliche Förderung beinhaltet und nicht formal im Zeugnis vermerkt wird, spielen sekundäre Herkunftseffekte hier vermutlich eine geringere Rolle als bei RILZ. Eltern aus höheren sozialen Schichten könnten die Maßnahme IF möglicherweise dennoch ablehnen, wenn sie darin eine Vorläufermaßnahme des RILZ befürchten oder antizipieren, dass sich IF negativ auf den Selektionsentscheid auswirken könnte (H1b–H3b → Sekundäre Herkunftseffekte finden sich bei RILZ, NAG und IF, wobei sich bei RILZ und IF ein negativer direkter Effekt der sozialen Herkunft zeigt, bei NAG hingegen ein positiver direkter Effekt).

3 Daten und Methoden

3.1 Stichprobe und Datenerhebung

Für die vorliegende Untersuchung wurde eine Stichprobe von 66 Schulklassen aus dem Kanton Bern rekrutiert. Davon stammen 46 Schulklassen aus einer nach Schulregion und kantonalem Sozialindex stratifizierten Zufallsstichprobe. Da die Maßnahme NAG im Kanton Bern erst seit dem Jahr 2013 offiziell existiert, und um eine ausreichend große Teilstichprobe von Schüler*innen mit dieser Maßnahme gewährleisten zu können, wurden zusätzlich mithilfe einer vorausgegangenen Befragung sämtlicher Schulleitungen der Grundschulen im Kanton Bern zufällig weitere 20 Schulklassen rekrutiert, die gemäß Informationen über mindestens einen Fall von NAG verfügten. In den Schulklassen wurden standardisierte Leistungstests durchgeführt und die Schüler*innen und deren Erziehungsberechtigte sowie die Lehrpersonen zu integrativen Maßnahmen und weiteren Aspekten befragt. Da es sich bei vielen der ausgewählten Klassen um sogenannte „Mischklassen“ (Schüler*innen der 5. und 6. Klassenstufe werden gemeinsam unterrichtet) handelt, wurden auch Daten von Schüler*innen der 5. Klassenstufe erhoben und verwendet (rund 25 % des Samples, vgl. Tab. 2). Die Schüler*innenbefragungen fanden an den Schulen vor Ort statt. Alle Schüler*innen füllten unter Instruktion von Projektmitarbeitenden einen Fragebogen aus, in welchem sie unter anderem Angaben zur Herkunft sowie der beruflichen Tätigkeit der Erziehungsberechtigten machten, und absolvierten einen standardisierten Test in Deutsch und Mathematik sowie einen Intelligenztest. Ein weiterer Fragebogen mit Fragen unter anderem zum Bildungsniveau, der Herkunft und der beruflichen Tätigkeit wurde via Lehrperson an die Erziehungsberechtigten der Schüler*innen abgegeben und wieder eingesammelt. Dem Fragebogen für die Erziehungsberechtigten wurde zudem ein monetäres Incentive beigelegt, um die Rücklaufquote zu erhöhen. Gleichzeitig füllten die Lehrpersonen einen Online-Fragebogen aus, in welchem sie detaillierte Angaben zu den schulischen Maßnahmen aller Schüler*innen machten. Die Rücklaufquote fiel insgesamt sehr zufriedenstellend aus (Schüler*innen: 87,7 %; Lehrpersonen: 96,9 %; Erziehungsberechtigte: 72,3 %).

Tab. 2 Deskriptive Statistik der Stichprobe

3.2 Erhobene Variablen

Als Kriteriumsvariablen erhoben wurden der Erhalt bzw. Nichterhalt der integrativen schulischen Maßnahmen RILZ, NAG und IF. Bei IF handelt es sich um eine niederschwellige Maßnahme, die sowohl allein als auch in Kombination mit den Maßnahmen RILZ und NAG vorkommen kann. In Kombination mit RILZ und NAG handelt es sich bei IF aber meist um eine Begleitmaßnahme. Um die Prädiktoren für den Erhalt der Maßnahme IF isoliert betrachten zu können, werden daher für die Analysen des Erhalts der Maßnahme IF nur diejenigen Fälle berücksichtigt, die neben IF keine weitere Maßnahme (RILZ oder NAG) erhalten.

Für die Analysen wurden folgende Einflussvariablen erhoben bzw. in die Modelle aufgenommen (vgl. Tab. 2):

Soziale Herkunft: Die soziale Herkunft der Schüler*innen wurde einerseits über den höchsten International Socio-Economical Index (hISEI) operationalisiert, welcher anhand der Angaben zum (zuletzt ausgeübten) Beruf der Erziehungsberechtigten gebildet wurde. Dazu wurden die genannten Berufe mittels der ISCO-08 Klassifizierung kodiert (International Labour Organization (ILO) 2016), wobei eine vom Schweizer Bundesamt für Statistik zur Verfügung gestellte Berufsdatenbank genutzt wurde. Im nächsten Schritt wurden die ISCO-08-Codes mittels der Rekodierung von Ganzeboom (2010) in den International Socio-Economical Index überführt. Abschließend wurde der hISEI aus den Berufen der Elternpaare gebildet, in dem jeweils der höchste Score der Paare gewählt wurde. Bei nur einer vorhandenen Angabe wurde diese als hISEI festgelegt. Zusätzlich wurde das Bildungsniveau der Erziehungsberechtigten (Elternausbildung) anhand der Angaben der Erziehungsberechtigten zum höchsten erreichten Bildungsabschluss operationalisiert. Für die Analysen wurde die Variable dummy-codiert (kein Abschluss auf Tertiärstufe bzw. Fachhochschul- oder Hochschulabschluss vs. Abschluss auf Tertiärstufe mindestens einer der Erziehungsberechtigten).

Schulleistungen Deutsch und Mathematik: Die standardisierten Schulleistungstests wurden aus dem Forschungsprogramm ‚Integration Separation‘ (INTSEP) der Universität Fribourg übernommen, in dessen Rahmen die Tests validiert wurden (Kronig 2007). Der Deutschtest beinhaltete 78 Aufgabenitems in den drei Teilbereichen Leseverständnis, Rechtschreibung und Grammatik, mit Item-Trennschärfen von 0,09 bis 0,63 und einer internen Konsistenz von α = 0,90. Der Mathetest beinhaltete 55 Aufgabenitems in den drei Teilbereichen halbschriftliches Rechnen, schriftliches Rechnen und Textaufgaben/Anwendung, mit Item-Trennschärfen von 0,14 bis 0,58 und einer internen Konsistenz von α = 0,89 (Kronig 2007). In beiden Tests wurden die erreichten Punkte in den drei Bereichen gleichwertig gewichtet und so transformiert, dass das Maximum der Gesamtpunktzahl bei 100 Punkten lag.

Variablen für die Adjustierung: Zur Messung der Grundintelligenz (IQ) wurde der normierte „Culture Fair Intelligence-Test“ 20‑R (Weiß 2006) verwendet. Die sprachfreien figuralen Aufgaben sind in den vier Subtests Reihen, Klassifikationen, Matrizen und topologische Schlussfolgerungen aufgeteilt. Der mittlere Trennschärfekoeffizient liegt bei 0,47, die interne Konsistenz (Split-Half) beträgt 0,95 (Weiß 2006). Die Rohwerte wurden anhand der Normtabellen für die 5. bzw. 6. Klassenstufe in IQ-Werte transformiert. Weiter wurden die dummy-codierten Variablen Geschlecht (nicht-weiblich vs. weiblich), Klassenstufe (5. vs. 6. Klassenstufe) und Migrationshintergrund (keine oder mind. ein Teil der Erziehungsberechtigten in der Schweiz geboren vs. beide Erziehungsberechtigten im Ausland geboren) als Kontrollvariablen in die Analysen aufgenommen.

3.3 Statistische Analysen

Um primäre und sekundäre Herkunftseffekte auf den Erhalt der integrativen schulischen Maßnahmen RILZ, IF und NAG zu prüfen, wurde für jede Maßnahme ein separates Mediationsmodell (vgl. Abb. 1) mittels STATA 14 (StataCorp 2015) berechnet. Die primären Herkunftseffekte der sozialen Herkunft (hISEI und Elternausbildung) entsprechen dabei den indirekten, via Schulleistung Deutsch und Schulleistung Mathematik mediierten Pfaden auf den Erhalt integrativer schulischer Maßnahmen (dichotome abhängige Variable). Die sekundären Herkunftseffekte entsprechen dem direkten, nicht-mediierten Pfad. Da die Regressionskoeffizienten genesteter logistischer Modelle aufgrund unbeobachteter Heterogenität nicht direkt verglichen werden können (Mood 2010), wurde die KHB-Methode verwendet, um die Koeffizienten entsprechend zu adjustieren bzw. vergleichbar zu machen (Kohler et al. 2011). Für die Effekte werden neben den odds ratio zusätzlich average marginal effects in % (AME%; Kohler et al. 2011) berichtet. Während die OR einen Hinweis auf die Effektstärke geben, können die AMEs als mittlerer Zuwachs in Prozentpunkten in der Übertrittswahrscheinlichkeit (adjustiert für die anderen Kovariaten) interpretiert werden. Zudem können mit Hilfe der KHB-Methode die primären Herkunftseffekte (d. h., die gesamten, via Schulleistung in Deutsch und via Schulleistung in Mathematik mediierten Effekte) für hISEI und Elternbildung in einem Schritt geschätzt werden. Der totale Herkunftseffekt entspricht dabei der Summe des primären und sekundären Herkunftseffekts. Alle Pfade im Modell wurden zusätzlich für die Hintergrundvariablen Geschlecht, Grundintelligenz, Klassenstufe und Migrationshintergrund adjustiert. Die komplexe Datenstruktur (Schüler*innen in Schulklassen) wurde mittels cluster-robusten Standardfehlern berücksichtigt. Zur besseren Interpretierbarkeit der Regressionsanalysen wurde der hISEI vorgängig z‑transformiert.

Abb. 1
figure 1

Pfadmodell zur Dekomposition der Herkunftseffekte in primäre Effekte und sekundäre Effekte. Anmerkung. Alle Pfade wurden zusätzlich für Geschlecht, Grundintelligenz, Klassenstufe und Migrationshintergrund adjustiert. Das Pfadmodell wurde für jede der drei Kriteriumsvariablen (RILZ, NAG, IF) separat geschätzt. Beispiel für primären, sekundären und totalen Herkunftseffekt für den sozioökonomischen Status (hISEI): PhISEI = ahISEI.D * bD + ahISEI.M * bM; ShISEI = chISEI; ThISEI = PhISEI + ShISEI

3.4 Umgang mit fehlenden Werten

Um dem Problem von fehlenden Werten zu begegnen, wurden zu einzelnen Variablen teilweise mehrere Quellen (Schüler*innen, Lehrpersonen, Eltern) befragt und insbesondere bei fehlenden Angaben zu den Maßnahmen RILZ und NAG bei Lehrpersonen nochmals gezielt nachgefragt. Fehlende Werte bei den Variablen RILZ, NAG und Geschlecht konnten so komplett ergänzt werden. Aufgrund der hohen Übereinstimmung der kodierten hISEI-Werte von Eltern- und Schüler*innenangaben (r = 0,71) wurden fehlende Angaben zu den Berufen der Erziehungsberechtigten (32,8 %, total 369 Fälle) durch die Angaben der Schüler*innen ergänzt (in 69,6 % bzw. 257 dieser Fälle).

Der Anteil fehlender Werte im Datensatz variierte danach von 0 % (Geschlecht, RILZ, NAG) bis 29,9 % (Bildungsniveau der Erziehungsberechtigten, vgl. Tab. 2). Fehlende Daten der Erziehungsberechtigten hingen unter anderem systematisch mit einem Migrationshintergrund zusammen (Anteil Migrationshintergrund bei vorhandenen Daten der Erziehungsberechtigten 9,2 % vs. 34,3 % bei fehlenden Daten) sowie mit dem sozioökonomischen Status (mittlerer hISEI bei vorhandenen Daten der Erziehungsberechtigten 52,4 vs. 45,6 bei fehlenden Daten), was auf eine verminderte Teilnahmequote von Erziehungsberechtigten mit Migrationshintergrund und niedrigerem sozioökonomischen Status hinweist. Auch bei den Leistungstests kam es zu einem erhöhten Anteil fehlender Daten (bis max. 12,8 % beim Leistungstest Mathematik). Der Grund für die fehlenden Werte lag neben krankheitsbedingten Abwesenheiten der Schüler*innen zum Testzeitpunkt überwiegend am Fehlen der schriftlichen Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten zur Teilnahme an den Befragungen. Insbesondere bei Schüler*innen mit Maßnahmen zeigte sich eine erhöhte Anzahl fehlender Werte bei den Leistungstests, am ausgeprägtesten bei denjenigen mit RILZ (Grundintelligenz: 19,7 %, Deutsch: 21,1 %, Mathematik: 29,6 % fehlende Werte; im Vergleich zu 8,2 %, 8,7 % und 11,1 % fehlender Werte bei Schüler*innen ohne Maßnahmen, vgl. Tab. 2). Die signifikant erhöhten Zahlen verweisen auf systematisch fehlende Werte im Zusammenhang mit schulischen Maßnahmen bzw. damit assoziierter Variablen (beispielsweise dem hISEI). Um mögliche Verzerrungen bei der Datenanalyse zu vermeiden, wurde der Ansatz multipler Imputation verwendet. Multiple Imputationsverfahren sind unter der Annahme von MAR (Missing at Random) deutlich weniger anfällig für Verzerrungen in den Schätzungen und daher dem listenweisen Fallausschluss vorzuziehen (Donders et al. 2006; van Ginkel et al. 2020). Fehlende Werte wurden in R (R Core Team 2019) mithilfe des Pakets MICE (Multiple Imputation by Chained Equations; Buuren und Groothuis-Oudshoorn 2011) imputiert. Um möglichst genaue Schätzungen zu erhalten und die MAR-Annahme plausibler zu machen, wurden neben der für die Datenanalyse relevanten Variablen zusätzliche Hilfsvariablen für die Imputation verwendet, bei denen Zusammenhänge insbesondere mit den Leistungsvariablen erwartet wurden (van Buuren 2018). Dazu gehörten Lehrpersoneneinschätzungen zur Leistung der Schüler*innen in den standardisierten Tests (Vorhersage der Punktzahl im standardisierten Deutsch- bzw. Mathematiktest bzw. des IQ-Werts), dem Selektionsentscheid (niedriges oder erweitertes Leistungsniveau) für die Sekundarstufe I in den Fächern Deutsch, Mathematik und global, sowie die Einschätzung der Lehrpersonen zum sozioökonomischen Status des Elternhauses der Schüler*innen. Die Mehrebenenstruktur der Daten wurde bei der Imputation berücksichtigt, indem binäre Variablen mittels eines 2‑Ebenen logistischen Modells und kontinuierliche Variablen mittels 2‑Ebenen predictive mean matching (miceadds package; Robitzsch und Grund 2020) imputiert wurden. Die fehlenden Werte wurden im Originaldatensatz 100-mal imputiert. Anschließend wurden die Modelle für die imputierten Datensätze mittels Stata berechnet und die Analyseergebnisse gepoolt (mittels der „mi estimate“-Funktion).

4 Ergebnisse

4.1 Erhalt der Maßnahme RILZ

Insgesamt 71 (6,3 %) der Schüler*innen erhielten die Maßnahme RILZ (vgl. Tab. 2). Es zeigte sich ein erwarteter Effekt der sozialen Herkunft, indem ein höherer sozioökonomischer Status mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit für die Maßnahme RILZ einherging (totaler Effekt: AME% = −1,94, p = 0,048; vgl. Tab. 3, Kriteriumsvariable RILZ). Dabei zeigte sich ein signifikanter indirekter Effekt der sozialen Herkunft, vermittelt über die Leistungstests in Deutsch und Mathematik (primärer Herkunftseffekt): Adjustiert für Geschlecht, IQ, Klassenstufe und Migrationshintergrund hatten Schüler*innen aufgrund besserer Schulleistungen ein um 1,09 Prozentpunkte verringerte Wahrscheinlichkeit RILZ zu erhalten, wenn sich der hISEI um eine Standardabweichung erhöhte (AME% = −1,09, p = 0,028). Der primäre Herkunftseffekt erklärte etwas mehr als die Hälfte (AME%, primärer Effekt/AME%, totaler Effekt = 56,6 %) des totalen Herkunftseffekts des hISEI. Für die Elternbildung hingegen zeigten sich hierzu keine signifikanten Effekte. Hypothese H1a zu den negativen primären Herkunftseffekten konnte somit teilweise bestätigt werden. Unter Kontrolle der Leistungsvariablen zeigte sich weder für den hISEI noch für die Elternbildung ein signifikanter sekundärer Herkunftseffekt (direkter Pfad). Hypothese H1b (negativer Effekt der sozialen Herkunft auch unter Kontrolle der Leistungen) konnte somit nicht bestätigt werden.

Tab. 3 Dekomposition der Herkunftseffekte in primäre und sekundäre Herkunftseffekte

4.2 Erhalt der Maßnahme NAG

Insgesamt 51 (4,5 %) der Schüler*innen erhielten die Maßnahme NAG (vgl. Tab. 2). Es zeigte sich ein erwarteter Effekt der sozialen Herkunft, indem ein höherer sozioökonomischer Status grundsätzlich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für die Maßnahme NAG einherging (totaler Effekt: AME% = 1,99, p = 0,018; vgl. Tab. 3, Kriteriumsvariable NAG). Dieser Effekt wurde aber durch den primären Herkunftseffekt abgeschwächt: Adjustiert für Geschlecht, IQ, Klassenstufe und Migrationshintergrund hatten Schüler*innen aufgrund besserer Schulleistungen eine um 0,62 Prozentpunkte verringerte Wahrscheinlichkeit NAG zu erhalten, wenn sich der hISEI um eine Standardabweichung erhöhte (AME% = −0,62, p = 0,037). Für das Bildungsniveau der Eltern zeigte sich diesbezüglich kein signifikanter Effekt. Hypothese H2a zu den negativen primären Herkunftseffekten konnte somit teilweise, d. h. für hISEI, jedoch nicht für Elternbildung, bestätigt werden. Für den sekundären Herkunftseffekt zeigte sich erwartungskonform ein gegenteiliger Effekt, jedenfalls bezüglich hISEI: Unter Kontrolle der Leistungsvariablen war der hISEI ein signifikant positiver Prädiktor für die Maßnahme NAG (AME% = 2,61, p = 0,003). Unabhängig der Schulleistung in Deutsch und Mathematik und adjustiert für Elternbildung, Geschlecht, IQ, Klassenstufe und Migrationshintergrund hatten Schüler*innen eine um 2,61 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit, einen NAG zu erhalten, wenn sie aus Familien mit einem um eine Standardabweichung erhöhten hISEI stammten. Da hier also primärer und sekundärer Effekt gegenläufig waren, war der sekundäre Effekt grösser als der Totaleffekt (AMEtotaler Effekt = −0,62 + 2,61 = 1,99). Für Elternbildung zeigte sich wiederum kein signifikanter Effekt. Hypothese H2b (positiver Effekt der sozialen Herkunft auch unter Kontrolle der Leistungen) konnte somit teilweise bestätigt werden.

4.3 Erhalt der Maßnahme IF

Insgesamt 86 (7,7 %) der Schüler*innen erhielten ausschließlich die Maßnahme IF (vgl. Tab. 2), auf welche sich die nachfolgende Analyse bezieht. Weitere 37 Schüler*innen (3,3 %) erhielten IF in Kombination mit RILZ und weitere 20 Schüler*innen (1,8 %) erhielten IF in Kombination mit NAG (diese wurden jeweils in den Analysen zu RILZ und NAG aufgeführt). Es zeigte sich kein signifikanter Einfluss der sozialen Herkunft auf den Erhalt der Maßnahme, weder in Bezug auf den sozioökonomischen Status noch in Bezug auf das Bildungsniveau der Erziehungsberechtigten. Dennoch gab es einen signifikanten indirekten Effekt für den hISEI, vermittelt über die Leistungsvariablen: Adjustiert für Geschlecht, IQ, Klassenstufe und Migrationshintergrund hatten Schüler*innen aufgrund besserer Schulleistungen eine um 0,68 Prozentpunkte verringerte Wahrscheinlichkeit IF zu erhalten, wenn sich der hISEI um eine Standardabweichung erhöhte (AME% = −0,62, p = 0,044). Der primäre Herkunftseffekt erklärte etwas weniger als die Hälfte (41,6 %) des totalen Herkunftseffekts des hISEI. Für die Elternbildung fanden sich keine signifikanten indirekten Effekte. Hypothese H3a zu den primären Herkunftseffekten konnte somit teilweise bestätigt werden. Unter Kontrolle der Leistungsvariablen zeigte sich weder für den hISEI noch für die Elternbildung ein signifikanter Herkunftseffekt. Hypothese H3b (negativer Effekt der sozialen Herkunft auch unter Kontrolle der Leistungen) konnte somit nicht bestätigt werden.

5 Zusammenfassung und Diskussion

Die Tatsache, dass sich seit rund 20 Jahren landesweit zunehmend verschiedene integrative Maßnahmen etablieren – was zu einer Verlagerung der Selektionsprozesse in die Regelschulklassen hineinführt –, betont die bildungspolitische Relevanz der vorliegenden Studie. Im Kontext der Inklusion resultiert das Spannungsfeld, dass die Regelschule einerseits auf den individuellen Bedarf einzelner Individuen reagieren („inclusion agenda“), andererseits ein nationales Curriculum („standard agenda“) umsetzen muss (Ainscow et al. 2006; Plate 2016; Rose 2014). Diesem Spannungsfeld wird u. a. mit unterschiedlichen integrativen Maßnahmen begegnet, welche sich bezüglich Zielgruppen und Umsetzung stark unterscheiden, und welche ein unterschiedlich hohes Stigmatisierungspotenzial bergen. Der vorliegende Beitrag geht deshalb der Frage nach, inwiefern unterschiedliche integrative schulische Maßnahmen für Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf sozial selektiv vergeben werden.

Primäre Herkunftseffekte

Die Ergebnisse zu den Hypothesen 1a bis 3a zum Einfluss primärer Herkunftseffekte bei RILZ, NAG und IF zeigen, dass schichtspezifische Unterschiede im schulischen Leistungsniveau einen Risikofaktor für den Erhalt der Maßnahmen darstellen, selbst wenn für wesentliche Hintergrundvariablen wie Geschlecht, Migrationshintergrund und IQ kontrolliert wird. Dies scheint vor allem den sozioökonomischen Status und weniger das Bildungsniveau des Elternhauses zu betreffen. Dies kann möglicherweise damit zusammenhängen, dass aufgrund ungünstiger Sozialisationsbedingungen bereits bei Schuleintritt niedrigere Schulleistungen und Kompetenzen in vielen Bereichen bestehen, welche auch in den darauffolgenden Schuljahren nicht ausreichend ausgeglichen werden können (vgl. Becker 2010; Bos et al. 2004). Die primären Herkunftseffekte aufgrund des sozioökonomischen Status fallen aber eher gering aus: pro Standardabweichung verändert sich die Wahrscheinlichkeit für den Erhalt der Maßnahmen durchschnittlich von 0,6 % (bei NAG) bis 1,1 % (bei RILZ).

Sekundäre Herkunftseffekte

Die Ergebnisse zu den Hypothesen 1b bis 3b zum Einfluss sekundärer Herkunftseffekte zeigen ein etwas anderes Bild: Während der sozioökonomische Status bei der Vergabe von RILZ und IF unter Kontrolle der Schulleistungen keinen signifikanten Prädiktor für den Erhalt der Maßnahmen darstellt, gewinnt dieser für den NAG sogar noch an Einfluss. Der Grund liegt hier in schichtspezifisch gegenläufigen Effekten: einerseits ist eine höhere soziale Schicht eher ein protektiver Faktor, da ein höherer hISEI mit besseren Schulleistungen einhergeht, während bei guten Schulleistungen die Wahrscheinlichkeit, einen NAG zu erhalten, sinkt. Andererseits sind Eltern aus höheren sozialen Schichten stärker am Statuserhalt ihrer Kinder interessiert und legen entsprechend einen stärkeren Fokus auf deren akademische Leistung (Becker 2003; Stocké 2010). Sie sind bei unterdurchschnittlichen Schulleistungen ihrer Kinder daher stärker motiviert diese zu kompensieren. Konkret verändert sich die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, einen NAG zu erhalten, pro Standardabweichung im hISEI (und unter Kontrolle von Schulleistung in Deutsch und Mathematik, Geschlecht, IQ, Klassenstufe und Migrationshintergrund) um 2,6 %. Im Hinblick auf die Prävalenz von NAG von 4,5 % erscheint dieser Effekt durchaus bedeutsam. Eltern aus höheren sozialen Schichten sind wahrscheinlich besser über das Schulsystem, Unterstützungsmöglichkeiten und Vorgehensweisen informiert, haben mehr zeitliche und finanzielle Ressourcen, Abklärungen in die Wege zu leiten, und beantragen daher auch eher einen NAG als Eltern aus sozial schwächeren Familien. Bezugnehmend auf Befunde im Bereich sonderpädagogischer Diagnosen, kann die Maßnahme des Nachteilsausgleichs möglicherweise auch Unterschiede in der Art der Diagnosestellung in Abhängigkeit der sozialen Herkunft erklären: Hauptgrund für einen NAG sind oftmals Diagnosen wie die einer Lese-Rechtschreibstörung, ADHS oder eine Autismus-Spektrum-Störung (in 77 % der untersuchten Fälle mit NAG bestand eine oder mehrere dieser drei Diagnosen). Dabei handelt es sich um Diagnosen, die von statushöheren Gruppen bevorzugt werden, da sie einerseits weniger stigmatisierend wirken, andererseits zusätzliche Unterstützungen und Anpassungen ermöglichen (vgl. Fish 2019; Skrtic 2021).

Eine naheliegende Erklärung dafür, dass für die Maßnahme RILZ unter Kontrolle der leistungs- und begabungsbezogenen Variablen kein bedeutsamer Einfluss der sozialen Herkunft mehr gezeigt werden konnte, ist, dass diese Schüler*innen zum Zeitpunkt des 5./6. Schuljahres effektiv leistungsschwächer sind und von den Lehrpersonen folglich ‚adäquat‘ eingeschätzt werden. Zu bedenken gilt es jedoch auch, dass die schlechtere Schulleistung nicht nur Ursache, sondern auch eine Folge von RILZ selbst sein könnte. Vergleichbar mit einer konstant anspruchsärmeren Lernumgebung innerhalb der Schulklasse, die sich negativ auf die weitere Leistungsentwicklung auswirken kann (vgl. Baumert et al. 2000, 2003; Becker et al. 2006; Neumann et al. 2007; Zurbriggen 2016), könnte die Maßnahme selbst dazu führen, dass die Leistungsentwicklung gebremst wird. Entgegen der Absicht, über eine Zuordnung zu Gruppen mit unterschiedlichen Curricula die Leistungsfähigkeit der Schüler*innen zu fördern und die soziale Ungleichheit zu reduzieren, können sie laut Becker (2009) die Segregation nach sozialer Herkunft und eine damit verbundene Verschärfung der primären Herkunftseffekte sogar verstärken. Die sozial selektive Zuordnung zu anregungsärmeren Lernumwelten, die mit RILZ zusammenhängt, könnte zudem zu einer Demotivierung, sinkenden Lernanstrengungen, einem negativen Selbstwertgefühl und geringeren Leistungseinschätzungen führen und damit verbunden Prozesse der (Selbst‑)Stigmatisierung auslösen, die sich wiederum negativ auf den Schulerfolg auswirken (vgl. Becker 2009; Greber et al. 2017; Sahli Lozano et al. 2017).

Kumulierung von Bildungsbenachteiligungen und daraus resultierende Folgerungen

Die vorliegenden Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Maßnahmen RILZ, IF und NAG, welche dazu gedacht sind, Bildungsungleichheiten zu reduzieren, diese unter Umständen sogar verstärken können. Wenn Kinder aus Familien mit niedrigem sozialem Status, die bereits schlechtere Bildungschancen haben, bei der Vergabe eines NAG – der Vorteile im Unterricht, bei Prüfungen und bei Übertrittsverfahren schafft – benachteiligt werden, und vermehrt von möglicherweise stigmatisierenden Maßnahmen wie der Lernzielreduktion betroffen sind, führt dies zu einer Kumulierung von Bildungsbenachteiligungen.

Um zusätzliche Stigmatisierungen zu vermeiden und soziale Stratifizierungen zu reduzieren, muss sichergestellt werden, dass die Maßnahme NAG allen Schüler*innen, unabhängig von Herkunft und weiteren askriptiven Merkmalen, gleichermaßen zur Verfügung steht. Unter der Voraussetzung, dass Anspruchsberechtigte das kognitive Potenzial aufweisen müssen, um die regulären Lehrplanziele erreichen zu können, werden zudem Schüler*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen explizit vom NAG ausgeschlossen, was im Widerspruch zur UN-BRK (2006, Art. 24) steht.

Dem Befund, dass die Vergabe der Maßnahmen entlang der sozialen Herkunft verläuft, könnte mit einer obligatorischen Abklärung durch eine Fachinstanz entgegengewirkt werden, was jedoch auch Gefahren birgt. Unter dem Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma werden Vor- und Nachteile der Etikettierung durch eine diagnostische Abklärung im Zusammenhang mit der Ressourcensprechung (z. B. Unterstützung durch IF) diskutiert (Ahrbeck 2014; Gresch et al. 2017; Norwich 2009; Wrase 2017). Diagnostische Verfahren können wichtig sein, u. a. um Ressourcen gezielter und weniger (sozial) selektiv zu vergeben, damit diejenigen Schüler*innen, welche Unterstützung benötigen, diese auch erhalten (Gresch et al. 2017; Pitsch 2015; Ricken und Schuck 2011). Gegen die Diagnosestellung spricht, dass die Förderung flexibler und kurzfristiger erfolgen kann. Ferner könnten Diagnoseverfahren eine zusätzliche stigmatisierende Wirkung haben (z. B. Pfahl 2011; Wocken 2010; Ziemen 2015).

Aufgrund der sozialen Selektivität und den früher gezeigten negativen Auswirkungen der Maßnahme RILZ (Greber et al. 2017; Sahli Lozano et al. 2017) scheint hier eine genaue fachliche Abklärung des kognitiven Potenzials der Schüler*innen empfehlenswert. Dies insbesondere, da RILZ aufgrund des formalen Charakters (Zeugniseintrag) einen frühen Selektionsentscheid bedeuten kann. Die Maßnahme IF hingegen ist eher geeignet, den Schüler*innen die nötige Unterstützung zukommen zu lassen, ohne dass sie mit weiterführenden formal negativen Bildungszertifikaten verbunden ist. Allgemein ist darauf zu achten, eine ‚Sonderklasse light‘ zu vermeiden, indem von Maßnahmen betroffene Schüler*innen nicht konstant in einer isolierten Lerngruppe mit eigenen Lernzielen und Inhalten gefördert werden, damit die Durchlässigkeit und der Anschluss an den regulären Schulstoff und das Curriculum sowie an die Lerngruppe stets gewährleistet ist. Zudem sollten Lehr- und Fachpersonen Chancen und Risiken integrativer schulischer Maßnahmen kennen und für mögliche soziale Herkunftseffekte bei deren Vergabe sensibilisiert sein, um möglichen Benachteiligungen entgegenwirken zu können.

Limitationen und Implikationen für weiterführende Forschung

Durch die geringen Fallzahlen der einzelnen Maßnahmengruppen ist die Aussagekraft der Befunde teilweise eingeschränkt. So können Nullbefunde im Hinblick auf sekundäre Herkunftseffekte bei den Maßnahmen RILZ und IF auch auf eine zu geringe Testpower zurückzuführen sein. Dies gilt analog für die fehlenden Hinweise auf den erwarteten Zusammenhang der Vergabewahrscheinlichkeit der Maßnahmen in Abhängigkeit des Bildungshintergrunds des Elternhauses. Diese könnten außerdem damit zusammenhängen, dass die Variablen hISEI und Elternbildung simultan in die Modelle aufgenommen wurden und um Varianzaufklärung konkurrierten, wobei die Elternbildung aber nur sehr grob erhoben wurde (keine Differenzierung auf Tertiärstufe) und eine hohe Zahl fehlender Angaben aufwies (ca. bei einem Drittel aller Fälle, bei RILZ bis zu 50 %). Dies schränkte die Schätzgenauigkeit ein. Weiter blieb trotz der differenzierten Betrachtung verschiedener Maßnahmengruppen eine wesentliche Heterogenität innerhalb der einzelnen Gruppen bestehen (z. B. in Bezug auf den Umfang der Lernzielreduktion bei der Gruppe RILZ oder auf Art und Schweregrad des festgestellten Förderbedarfs, die Ressourcenverteilung, das Fördersetting, den Förderfokus, etc. bei der Gruppe IF). Diese Heterogenität bildet sich möglicherweise auch in schulischen Kontexteffekten (wie Vergabehäufigkeit der Maßnahmen, Schul- und Klassenkompositionseffekten oder Lehrpersonenerwartungen) bei der Vergabe der Maßnahmen ab, die in dieser Studie nicht detaillierter bzw. lediglich mittels Schätzung von cluster-robusten Standardfehlern berücksichtigt wurden, da der Fokus auf primären und sekundären Herkunftseffekten lag. Beispielsweise werden Schüler*innen aus niedrigeren sozialen Schichten und mit Migrationshintergrund trotz gleicher Leistung von der Lehrperson häufig als leistungsschwächer eingeschätzt (Becker 2013; Ditton 1993; Lorenz et al. 2016; Schulze et al. 2009; Stahl 2007; Stubbe et al. 2012), und individuelle Leistungen werden vor dem Hintergrund des Klassenkontextes beurteilt, der als Referenzrahmen dient (Schrader und Helmke 2001; Südkamp und Möller 2009). Solche Kompositionseffekte könnten sich unterschiedlich auf die Vergabe von Maßnahmen auswirken, indem z. B. Schüler*innen mit unterdurchschnittlichem Leistungspotenzial in leistungsstarken Schulklassen eher Maßnahmen erhalten als in leistungsschwachen Schulklassen. Entsprechende Befunde gibt es auch im Hinblick auf die sonderpädagogische Diagnosestellung (Fish 2019; Hibel et al. 2010; Kölm et al. 2020). Auch die konkrete Umsetzung von Maßnahmen kann je nach Schulstandort variieren, da die Schulen im untersuchten Kanton trotz übergeordneter Richtlinien eine relativ hohe Teilautonomie bei der konkreten Ausgestaltung ihres Angebots haben. Bezüglich der Generalisierbarkeit der gefundenen Effekte muss berücksichtigt werden, dass sich die vorliegende Untersuchung spezifisch auf den Kanton Bern bezieht. Integrative Maßnahmen wie RILZ, NAG und IF gibt es zwar in den Bildungssystemen vieler Länder. Vergabekriterien, Umsetzung und Konsequenzen dieser Maßnahmen können aber stark variieren. Es kann daher kein Anspruch auf eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu den einzelnen Maßnahmen über den Kanton Bern hinaus erhoben werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die anhand der vorliegenden Befunde aufgezeigten Mechanismen der sozialen Selektivität bezüglich mehr oder weniger vorteilhafter integrativer Maßnahmen – analog zur äußeren Differenzierung über die Zuweisung zu unterschiedlichen Bildungsgängen – auf andere Bildungssysteme mit ähnlichen Maßnahmen übertragen lassen.

Trotz der Einschränkungen ist eine besondere Stärke der vorliegenden Studie die erstmalige getrennte Analyse verschiedener Maßnahmen, wie RILZ, NAG und IF, und deren Allokationsmechanismen. Bisherige Untersuchungen im sonderpädagogischen Kontext fokussierten hauptsächlich auf sozial selektive Herkunftseffekte bei der Zuweisung zu Sonderklassen oder bei der Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs. Darüber hinaus sind es aber die konkreten integrativen Maßnahmen, die über spezifische Kosten und Nutzen für betroffene Individuen und deren weiteren Bildungsweg entscheiden. Dies wird insbesondere beim Vergleich der Ergebnisse zu den Allokationsmechanismen der Maßnahmen RILZ und NAG deutlich. Aufgrund der geringen Fallzahlen in den Maßnahmengruppen sollten die Ergebnisse aber unbedingt mit größeren Stichproben in unabhängigen Studien repliziert werden. Bedeutsame weitere Einflussvariablen, wie z. B. Art und Schweregrad des festgestellten Förderbedarfs, die eng mit den Vergabewahrscheinlichkeiten für Maßnahmen zusammenhängen, sollten dabei mitberücksichtigt werden, um differenziertere Aussagen zu ermöglichen; ebenso mögliche Kontexteffekte, wie z. B. Unterschiede in der Vergabehäufigkeit von Maßnahmen auf Klassen- und Schulebene. Um kausale Effekte prüfen und differenziert untersuchen zu können, z. B., ob der Erhalt der Maßnahme RILZ effektiv mit objektiven Leistungskriterien zusammenhängt, wären zudem längsschnittliche Untersuchungen erforderlich, in welchen die Schüler*innen bereits früher bzw. vor dem Erhalt der Maßnahme erfasst und über den Vergabezeitpunkt der Maßnahme hinaus begleitend befragt werden. Weiterführend erscheint es zudem wichtig, insbesondere in Anbetracht der vorliegenden Befunde, längerfristige Auswirkungen der unterschiedlichen Maßnahmen auf soziale und leistungsmotivationale Aspekte der Schüler*innen sowie deren Leistungsentwicklung und weiterführende Ausbildungslaufbahnen zu untersuchen. Die vorliegende Studie kann keine Aussage darüber machen, wie und mit welchen Begründungen es zur unterschiedlichen Vergabe der Maßnahmen kommt, insbesondere, wie die Zuweisung vollzogen wird, und welche Rolle hierbei verschiedene schulische und elterliche Interessen spielen. Dies ist eine interessante Frage, für deren Beantwortung vertiefende qualitative Untersuchungen gewinnbringend erscheinen.