1 Einleitung

Mit den Terrorangriffen der Hamas vom 7. Oktober 2023, denen rund 1200 Menschen zum Opfer fielen, wurde eine neue Welle antisemitischer Gewalt ausgelöst, der nicht nur die israelische Bevölkerung, sondern Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt ausgesetzt sind. Bereits innerhalb der ersten drei Wochen nach den Anschlägen registrierte das Bundeskriminalamt über 2000 Straftaten, darunter mehrere hundert Gewaltstraftaten (Gann 2023). Wenngleich schon vor den jüngsten Ausschreitungen eine Gleichsetzung Israels mit in der Diaspora lebenden Jüdinnen und Juden alles andere als die Ausnahme darstellte – insgesamt 43 % der Befragten stimmten in der Leipziger Autoritarismusstudie von 2020 teilweise oder ganz der Aussage zu, dass ihnen „durch die israelische Politik […] die Juden immer unsympathischer“ würden (Decker und Brähler 2020, S. 227) – scheint seit dem Oktober 2023 eine neue Quantität und Qualität des israelbezogenen Antisemitismus erreicht. Was insbesondere in Nordamerika bis vor wenigen Monaten vielen dort lebenden Jüdinnen und Juden noch unvorstellbar schien, nämlich dass sie aus Sicherheitsgründen in der Öffentlichkeit lieber darauf verzichten, als Jüdin oder Jude erkennbar zu sein, scheint heute an vielen Orten Normalität. In Deutschland, wo die Bekämpfung des Antisemitismus zur öffentlich proklamierten Staatsräson gehört, mussten im Herbst 2023 jüdische Schulkinder aufgrund der Bedrohungslage zuhause bleiben (Ferrari und Peter 2023) und wurden Häuser von Jüdinnen und Juden mit Davidsternen markiert (Middelhoff 2023).

Belastbare Daten und sozialwissenschaftliche Studien zum israelbezogenen Antisemitismus und der Rolle des „Nahostkonflikts“ für die Bedrohungswahrnehmungen in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden gibt es bisher kaum. Zwar zeigen einzelne Items aus Einstellungsbefragungen, so das oben zitierte, wie verbreitet der Kurzschluss zwischen (vermeintlicher) israelischer Politik und antijüdischen Einstellungen ist, aber einerseits dürften angesichts des bekannten „social desirability bias“ die Werte weitaus höher liegen (vgl. Beyer und Krumpal 2010), und andererseits kann die Einstellungsforschung zwangsläufig nur einen Teil des Phänomens abbilden. Untersuchungen zur Verbreitung und den Motiven sowie den Folgen antisemitischer Handlungen auf Basis repräsentativer Befragungen von Betroffenen liegen bisher nicht vor. So bleiben bisher auch die vielfältigen sozialen und psychischen Auswirkungen des Antisemitismus auf Jüdinnen und Juden weitestgehend im Dunkeln. Vereinzelte qualitative (Bernstein et al. 2020) und quantitative Studien (Zick et al. 2017; AJC 2022; FRA 2019, Beyer und Liebe 2020) lassen jedoch erahnen, dass israelbezogener Antisemitismus und allen voran die Legitimierung von Gewalt durch den Verweis auf die israelische Politik eines der gravierendsten Probleme darstellt, mit denen Jüdinnen und Juden heute in Deutschland konfrontiert werden (vgl. den Großteil der Beiträge in Grigat 2023 sowie Öztürk und Pickel 2022).

Das liegt vor allem daran, dass israelbezogener Antisemitismus für alle politischen Lager, Rechtsextreme und radikale Linke, Muslime wie Christen anschlussfähig und bis in die „Mitte der Gesellschaft“ hinein zu beobachten ist – wie auch die breite Zustimmung der eingangs genannten Aussage belegt. Die Auswirkungen für Jüdinnen und Juden umfassen dabei nicht nur direkte Anfeindungen, sondern ergeben sich aus einem allgemeinen Klima der Unsicherheit. Insbesondere wenn sich in der Vergangenheit die „politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen“ (Rensmann 2004) während der Eskalationsphasen des israelisch-palästinensischen Konflikts für antisemitische Mobilisierung geöffnet haben, mussten deutsche Jüdinnen und Juden immer wieder von Übergriffen auf jüdische Einrichtungen und Personen lesen und hören, wenn sie nicht sogar selbst davon betroffen waren. Dies hat das Sicherheitsempfinden der potenziell und real Betroffenen nachhaltig verschlechtert: In der von uns hier vorgestellten Studie, die noch vor dem 7. Oktober 2023 durchgeführt wurde, gaben 54,1 % der 295 in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden an, ihr Sicherheitsgefühl habe sich in den letzten 10 Jahren verschlechtert. Dies gilt insbesondere für solche Befragten, die einen „starken Einfluss des ‚Nahostkonflikts‘ auf [ihr] Sicherheitsgefühl als Jüdin bzw. Jude in Deutschland“ berichteten (Pearson r = 0,289, p = 5,959e-07, n = 286).

Neben den aktuellen Gewaltausbrüchen stellt das Jahr 2014 in der jüngeren deutschen Geschichte einen Höhepunkt israelbezogenen Antisemitismus dar. Als Israel mit Militärschlägen auf anhaltenden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen reagierte, kam es in mehreren deutschen Städten zu gewaltsamen Ausschreitungen, bei denen u. a. auch Brandanschläge gegen Synagogen verübt und Parolen wie „Zionisten sind Faschisten“, „Kindermörder Israel“ und „scheiß Juden“ bei Demonstrationen skandiert wurden (Zentralrat der Juden 2014). Selbst Polizei und Justiz scheinen jedoch solche gegen Juden und jüdische Einrichtungen gerichteten Delikte, sobald sie im Rahmen des sogenannten „Nahostkonflikts“ begangen werden, nicht konsequent als antisemitisch zu klassifizieren. So verneinten zum Beispiel sowohl das Amtsgericht Wuppertal als auch das Oberlandesgericht in Düsseldorf, dass beim Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge im Sommer 2014 antisemitische Motive eine Rolle gespielt hätten. Vielmehr habe es sich bei der Tat um unbeholfen artikulierte Kritik an Israel gehandelt (vgl. Laurin 2017; Dondera 2022).

Scheinbar fehlt es den Behörden wie der Öffentlichkeit an einem durch sozialwissenschaftliche Studien geschulten Umgang mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen des aktuellen Antisemitismus und an Bewusstsein für die Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden. Um zur Lösung zumindest des sozialwissenschaftlichen Teils des Problems beizutragen, haben wir zwischen Mai 2022 und Februar 2023 eine Online-Befragung (n = 295) mit in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden durchgeführt und unter anderem nach dem Einfluss des sogenannten „Nahostkonflikts“ auf ihr Sicherheitsgefühl gefragt. Unsere Auswertungen zeigen, dass das Sicherheitsgefühl bei der Mehrzahl der Befragten stark mit dem „Nahostkonflikt“ zusammenhängt, und dass dieser Zusammenhang wiederum davon beeinflusst wird, wie die politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen für Antisemitismus in Deutschland wahrgenommen werden. Die Vermutung, dass die Meinung der Deutschen gegenüber Jüdinnen und Juden vom „Nahostkonflikt“ abhängt sowie Misstrauen in Medien und Gerichte, Antisemitismus angemessen zu adressieren, sind die wichtigsten Einflussfaktoren „Nahostkonflikt“ bezogener Bedrohungswahrnehmungen.

Diese Ergebnisse der Studie stellen wir im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags vor. Im folgenden ersten Teil erläutern wir zunächst die historischen und theoretischen Hintergründe des israelbezogenen Antisemitismus im Kontext des „Nahostkonflikts“ und erklären mithilfe des Konzepts der „politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen“ den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der politischen Kultur in Deutschland und dem Sicherheitsempfinden von hier lebenden Jüdinnen und Juden.

2 Zum Begriff des israelbezogenen Antisemitismus

Antisemitismus ist ein vielschichtiges Phänomen mit einer langen Geschichte, das in verschiedenen Formen auftritt (vgl. Voigt 2023) und aus mannigfachen theoretischen Perspektiven erklärt worden ist (vgl. Beyer 2015). Innerhalb der historischen Antisemitismusforschung wird in der Regel zwischen vormodernem Antijudaismus und modernem Antisemitismus unterschieden (vgl. Berding 1988). Antijudaismus bezeichnet die religiös begründete Judenfeindschaft bzw. ein „religiöses Ressentiment“ (Benz 2004, S. 65), das seine Ursprünge vor allem im mittelalterlichen Europa hat, sich aber bis heute fortschreibt. Inhaltlich bestanden diese Ressentiments aus Vorstellungen von „Ritualmorden“ der Juden an (christlichen) Kindern oder dem „Hostienfrevel“ (Benz 2004, S. 68). Unzählige „Judenpogrome“ des Mittelalters zeugen von der Verbreitung derartiger Vorstellungen ebenso wie vom dem ihnen inhärenten gewaltvollen Potenzial. Der Begriff des (modernen) Antisemitismus bezeichnet demgegenüber eine geschlossene Ideologie (beziehungsweise „Elemente“ dieser Ideologie; Horkheimer und Adorno 2019 [1944/47]: S. 177 ff.), die auf der Grundlage von Vorstellungen über vermeintlich „jüdische“ Eigenschaften eine Erklärung moderner gesellschaftlicher Phänomene, Projektionen verleugneter Selbstanteile und Konstruktionen nationaler und religiöser Identitäten anbietet. Gängige antisemitische Narrative schreiben Jüdinnen und Juden unter anderem „verschwörerische“, „raffgierige“ und „hinterhältige“ Umtriebe zu. Der moderne Antisemitismus identifiziert „das Jüdische“ dabei sowohl mit Hypermodernität – (Finanzkapital, Unterhaltungsindustrie, Kosmopolitismus) als auch Vormodernem (religiöser Orthodoxie, Familienbanden, Unzivilisiertheit), bis hin zur Gleichsetzung mit Tieren und Insekten (vgl. Salzborn 2010; Postone 1982). Moderner Antisemitismus erscheint dabei in unterschiedlichen Formen und Narrativen, die sich mitunter nicht auf den ersten Blick als Antisemitismus zu erkennen geben. Insbesondere die nationalsozialistische Judenvernichtung und die daraus resultierende deutsche Staatsräson der Sanktionierung explizit kommunizierten Antisemitismus bedingen dabei oftmals eine gewisse „Kommunikationslatenz“ und Notwendigkeit der „Umwegkommunikation“ (Bergmann und Erb 1986), also ein camoufliertes Artikulieren antisemitischer Einstellungen.

Neben dem vor allem (aber nicht ausschließlich) in Deutschland und Österreich anzutreffenden Schuldabwehr-Antisemitismus, der sich – z. B. in Form der Täter-Opfer-Umkehr – als Abwehr einer Thematisierung des Holocaust ausdrückt (vgl. Salzborn 2020), stellt gegenwärtig insbesondere israelbezogener Antisemitismus eine weltweit verbreitete Form des Antisemitismus dar (vgl. AJC 2022; FRA 2019). Im israelbezogenen Antisemitismus werden rhetorisch seltener direkt Jüdinnen und Juden, sondern zunächst „Israelis“ oder „Zionisten“ adressiert (für einen historischen und typologischen Überblick vgl. Holz und Haury 2021). Insbesondere der Begriff „Zionisten“ fungiert dabei in der Regel als „Chiffre“ (Rensmann 2015) für Juden und meint meist nicht nur zionistische Juden oder israelische Staatsbürger, sondern Juden im Allgemeinen. Durch die „Umwegkommunikation“ (Bergmann und Erb 1986; Bergmann und Heitmeyer 2005; Beyer und Liebe 2013) über Begriffe wie „Zionisten“ versucht israelbezogener Antisemitismus sich als politische Kritik zu legitimieren.

Zur Abgrenzung von Israelkritik und israelbezogenem Antisemitismus kann zum einen das Kriterium der „De-Realisierung“ (Schwarz-Friesel und Reinharz 2012, S. 209) des Objekts „Israel“ herangezogen werden. Dabei wird die israelische Gesellschaft, Politik, Kultur und Geschichte „verzerrt, eingeengt oder komplett falsch wahrgenommen und bewertet […]“, wobei sich das „Kriterium der Falschheit oder Verzerrung […] aus der Inkongruenz zwischen subjektiver Betrachterperspektive und objektiver bzw. intersubjektiver Sachlage“ (Schwarz-Friesel und Reinharz 2012, S. 209) ergibt. Zum anderen zeigt die Verwendung tradierter antisemitischer Stereotype und Tropen an, dass nicht nur konkrete Kritik am Handeln einzelner politischer Akteure kommuniziert, sondern an eine antisemitische Tradition angeknüpft wird, durch die sich die Resonanz und Mobilisierungsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung vergrößert. Israel wird gewissermaßen als „Jude unter den Staaten“ (Poliakov 1992) betrachtet und mit denselben antisemitischen Attributen beschrieben, die im modernen Antisemitismus gegenüber jüdischen Individuen verwendet werden. Verbreitete Narrative sind u. a. jenes des Ritualmords an Kindern, der jüdisch-zionistischen Weltregierung oder der Rachsucht (vgl. Schwarz-Friesel 2020). In einigen Fällen richtet sich israelbezogener Antisemitismus aber auch verbal und physisch direkt gegen Jüdinnen und Juden, ohne dass der Versuch unternommen wird, antisemitische Aggressionen rhetorisch zu kaschieren. Als Legitimierung wird dabei die israelische Politik ins Feld geführt und Jüdinnen und Juden kollektiv dafür zur Verantwortung gezogen. Insbesondere auf letzteres Phänomen werden wir später ausführlicher eingehen.

Die antiisraelische Szene vernetzt sich inzwischen insbesondere über die von linken propalästinensischen Aktivisten ins Leben gerufene Bewegung Boycott, Divestment, Sanctions (BDS). BDS-Aktivist*innen leugneten in der Vergangenheit immer wieder das Existenzrecht Israels, verglichen die israelische Politik mit dem nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus und griffen in der Vergangenheit Jüdinnen und Juden auch direkt verbal und physisch an (vgl. Baier 2021). Während die BDS-Bewegung eher im linken Milieu verwurzelt ist, beschränkt sich israelbezogener Antisemitismus nicht auf einzelne politische Lager (vgl. Öztürk und Pickel 2022), sondern ist in linken und politisch-islamischen Milieus ebenso populär (vgl. KAS 2023; FRA 2019) wie unter Rechtsextremen, wo Vorstellungen von „Zionisten“ als „Zersetzer“ der ethnischen Identität der Völker zirkulieren (vgl. Rensmann 2015).

3 Geschichte des „Nahostkonflikts“

Israelbezogener Antisemitismus tritt heute in der Regel im diskursiven Kontext des sogenannten „Nahostkonflikts“Footnote 1 auf. Die Geschichte des „Nahostkonflikts“ beginnt bereits vor der Staatsgründung Israels mit dem Aufkommen des arabischen und jüdischen Nationalismus in der Region. Eine der ersten Eskalationsphasen des „Nahostkonflikts“ gipfelte im vom Großmufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini initiierten Massaker von Hebron 1929, bei dem die seit Jahrtausenden dort ansässige jüdische Gemeinde ermordet und vertrieben wurde (vgl. Küntzel 2003; Grigat 2020). Der UN-Teilungsplan für das britische Mandatsgebiet Palästina von 1947 sah dann sowohl einen israelischen als auch palästinensischen Staat vor. Nachdem die arabischen Vertreter diesen Teilungsplan abgelehnt und Israel 1948 seine Unabhängigkeit ausgerufen hatten, erklärten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak Israel den Krieg, aus dem Israel 1949 als Sieger hervorging. Nach heutigen Schätzungen flohen zwischen 1947 und 1949 circa 700.000 Araberinnen und Araber aus dem neuen israelischen Staatsgebiet. Aus den arabischen Staaten wiederum wurden zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren circa 800.000 Jüdinnen und Juden teilweise vertrieben, teilweise migrierten sie freiwillig nach Israel (Shulewitz 2000, S. 209; Bensoussan 2019).

Seit 1949 wurde die Region durch weitere Kriege zwischen Israel und seinen Nachbarn, dem „Sechstagekrieg“ von 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973 sowie militärischen Auseinandersetzungen während der „Intifadas“ Ende der 1980er- und Anfang der 2000er-Jahre erschüttert. Die Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023, bei denen circa 1200 Israelis ermordet und mehr als 200 Israelis entführt wurden, stellt den bisher gewalttätigsten Angriff auf die israelische Gesellschaft seit der Staatsgründung dar. Die israelische Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erwiderte die Terrorattacke mit Raketenbeschuss und Bodenoffensiven im Gaza-Streifen.

In vielen Ländern wurden die Angriffe der Hamas im Rahmen von spontanen und organisierten Demonstrationen bejubelt, so auch in Berlin (vgl. Beng 2023). In den ersten drei Wochen nach den Terroranschlägen registrierte das Bundeskriminalamt über 2000 antisemitische Straftaten (vgl. Gann 2023). Die Auswirkungen des „Nahostkonflikts“ auf die Sicherheit von Jüdinnen und Juden außerhalb Israels waren bereits in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen, beispielweise aufgrund antisemitischer Äußerungen während Demonstrationen am von Jassir Arafat ins Leben gerufenen „Nakba-Tag“. Auch im Kontext des „Al-Quds Tags“ ließ sich immer wieder beobachten, wie der „Nahostkonflikt“ als Rechtfertigung für antisemitische Äußerungen und Gewalt ins Feld geführt wurde. Der jährliche „Al-Quds-Marsch“ in Berlin wurde deshalb zuletzt verboten (vgl. Kopietz 2022).

4 Öffnungen der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen für Antisemitismus im Kontext des „Nahostkonflikts“

Aus der Perspektive der Forschung zu sozialen Bewegungen kann die Veränderung des Diskurs- und Handlungsraums in Eskalationsphasen des sogenannten „Nahostkonflikts“ als Öffnung „politisch-kultureller Gelegenheitsstrukturen“ begriffen werden. Der Begriff der „politischen Gelegenheitsstruktur“ (engl. political opportunity structures, POS) geht ursprünglich auf Peter K. Eisinger (1973) zurück und beschreibt die Elemente des politischen Systems, die sozialen Protest befördern oder verhindern. Insbesondere politische Institutionen, die als zwischen den Extremen sehr repressiv und sehr offen liegend klassifiziert werden können, liefern Anreize zum Protest, weil Proteste in sehr offenen Systemen unnötig erscheinen und in sehr repressiven Systemen mit zu hohen Kosten einhergehen. Genau genommen, und so haben es auch spätere Ansätze des an Eisinger anknüpfenden Forschungsprogramms interpretiert, ist die Protesthandlung wie auch die Reaktion darauf eine Funktion der wahrgenommenen Gelegenheiten und wahrgenommenen Bedrohungen (McAdam et al. 2001).

Rensmann (2004) hat das Konzept der politischen Gelegenheitsstrukturen für die Antisemitismusforschung fruchtbar gemacht und um den Begriff der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen erweitert. Damit soll zusätzlich der meinungsklimatische und diskursive Kontext antisemitischer Mobilisierung beleuchtet werden. Mit den diskursiven Gelegenheitsstrukturen werden so auch Variablen „jenseits politisch-systemischer, d. h. organisatorischer, rechtlicher und institutioneller äußerer Bedingungen“ in den Blick genommen und „auch auf das Mögliche, Sagbare und Legitime im politischen Diskurs wie auf das politische Imaginäre innerhalb einer politischen Kultur im weiteren Sinn: also auf das, was in ihr im Wortsinn politisch ‚opportun‘, akzeptabel oder gar kollektiv identitäts- und mobilisierungsgenerierend sein kann“ (Rensmann 2004, S. 22 f.) fokussiert.

Ausgehend vom Konzept der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen kann der zugrunde liegende Mechanismus des Phänomens zunehmender antisemitischer Gewalt während des „Nahostkonflikt“ folgendermaßen expliziert werden: Im Diskurs des „Nahostkonflikts“ finden sich zwei Topoi, von denen der erste auch in Friedenszeiten weitestgehend von der Öffentlichkeit geteilt wird und der zweite vor allem in Eskalationsphasen ad hoc aktiviert zu werden scheint: Erstens stellt sich der „Nahostkonflikt“ für große Teile der Weltöffentlichkeit seit dem Sechstagekrieg von 1967 als ein ungleicher Kampf von David gegen Goliath dar, in dem Israel als „Unterdrücker“ und die palästinensische Seite als „Opfer“ gesehen werden (Muravchik 2015). In stärker involvierten Teilen der palästinensischen Befreiungsbewegung wird Israel entsprechend im Rahmen eines antiimperialen Weltbildes als imperialistisches Gebilde (Holz und Haury 2021) beziehungsweise inzwischen zeitgemäßer im Analyserahmen des Postkolonialismus als Kolonialmacht betrachtet (ein Beispiel für die zugrundeliegende Argumentation findet sich etwa bei Sabbagh-Khoury 2022).

Der zweite Topos bezieht sich auf das Verhältnis von Israel und nichtisraelischen Juden: Letztere gelten im israelbezogenen Antisemitismus als Repräsentanten des Staates Israels und werden für dessen Verhalten verantwortlich gemacht. Da die bundesdeutsche Öffentlichkeit und Politik in der Regel darum bemüht sind, antijüdische Einstellungen „kommunikationslatent“ (Bergmann und Erb 1986) zu halten, dürften offene Mobilisierungsaufrufe gegen jüdische Einrichtungen kostspielig erscheinen, weil die Bewegungsakteure mit medialen und politisch-institutionellen Sanktionierungen rechnen müssen. Dieser zweite Topos bleibt deshalb in der Regel im öffentlichen Diskurs- und Praxisraum latent, wenngleich er innerhalb der Bevölkerung alles andere als unpopulär ist, wie etwa die Leipziger Autoritarismusstudie zeigt (Decker und Brähler 2020, S. 227).

Dies ändert sich jedoch in Eskalationsphasen des „Nahostkonflikt“. In dieser „dynamic of contention“ (McAdam, Tarrow, und Tilly 2001) können Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen als Widerstand einer unterdrückten „challenging group“ gegen (wahrgenommene) „elite actors“ gerahmt und legitimiert werden (McAdam 2014, S. xvii). Dass Juden als übermächtig und einflussreich wahrgenommen werden, ist eine traditionsreiche Trope des modernen Antisemitismus (vgl. Salzborn 2010; Benz 2004). Während der Eskalationssequenzen des „Nahostkonflikts“, so legt es die Verknüpfung von Antisemitismus- und sozialer Bewegungstheorie nahe, sinken nun die Kosten, weil das politische System als responsiver und weniger repressiv wahrgenommen wird. Die politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen öffnen sich. Innerhalb des Diskurses des „Nahostkonflikts“ erscheint nun nicht nur antiisraelische, sondern auch offen antijüdische Mobilisierung ein gerechtfertigtes Mittel, um gegen die „Kolonialmacht Israel“ zu protestieren.

Wichtig anzumerken ist dabei, dass die Veränderung weniger die Einstellungen der „challenger“ als ihre Wahrnehmung der Gelegenheitsstrukturen betrifft. Die Erwartungen gegenüber der Responsivität von Bevölkerung, Medien, Politik, Polizei und Gerichten verschiebt sich mit den erfahrenen Grenzen des Sag- und Machbaren. Die Voraussetzung dafür, dass sich eine Öffnung der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen im Diskurs- und Praxisraum in kollektive Mobilisierung übersetzt, ist grundsätzlich, dass diese Veränderungen von den „challengers“ auch wahrgenommen werden, denn „[n]o opportunity […] objectively open, will invite mobilization unless it is a) visible to potential challengers and b) perceived as an opportunity“ (McAdam et al. 2001, S. 43). Eine große Rolle spielen deshalb frühere Episoden des Konflikts („legacies of contention“; vgl. McAdam 2007). Diese fungieren als Interpretationsschemata gegenwärtiger Konflikte.

Der wertvolle Beitrag des Dynamics-of-contentions-Ansatzes zur Konflikt- und Bewegungsforschung besteht darin, dass auch die als „elite actors“ wahrgenommene Gruppe in den Fokus rückt, in unserem Fall die von der antisemitischen Mobilisierung betroffenen als „übermächtig“ wahrgenommenen Jüdinnen und Juden. Für in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden stellt sich die Öffnung der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Mobilisierung als Bedrohung dar. Legen bisherige Episoden des Konflikts nahe, dass die „challenger“ ihre Mobilisierung ausweiten können, so steigt dementsprechend die Bedrohungswahrnehmung auf Seiten der Betroffenen.

Der oben bereits erwähnte Wuppertaler Fall kann zur Illustration dieses Mechanismus dienen: Im Juli 2014 hatten drei palästinensische Täter insgesamt fünf Molotow-Cocktails auf die Wuppertaler Synagoge geworfen und dies damit begründet, auf den „Nahostkonflikt“ aufmerksam machen zu wollen. Das Amtsgericht Wuppertal sprach die Angeklagten daraufhin der schweren Brandstiftung schuldig, verneinte aber mit dem folgenden Wortlaut ein antisemitisches Motiv:

„Das Gericht konnte […] im Ergebnis nicht sicher ausschließen, dass möglicherweise auch tatsächlich eine rein politische Motivation, jedenfalls bei zwei der drei Angeklagten, der Grund für die Tatbegehung war. Sicherlich ist dabei klarzustellen, dass die in Deutschland lebende jüdische Bevölkerung, insbesondere die jüdische Gemeinde in X, nichts mit der Politik der israelischen Regierung und ihrer Auseinandersetzung mit den im Gaza-Streifen lebenden Palästinensern zu tun hat. Andererseits ist aber bei Würdigung aller Umstände und der Persönlichkeit der Angeklagten auch zu berücksichtigen, dass es keineswegs fernliegend ist, dass sie gerade diesen Schluss nicht gezogen haben, sondern – auch mangels eines anderen dem Staat Israel in der Tatnacht eindeutig zuzuordnenden Tatobjekts – eine Synagoge als Zeichen jüdischen Lebens zum Tatobjekt gewählt haben, um daran ihr Anliegen, Aufmerksamkeit auf den zwischen Israel und den Palästinensern lodernden Konflikt zu lenken, deutlich zu machen“ (AG Wuppertal, Urteil vom 05.02.2015–84 Ls 50 Js 156/14–22/14).

Die Widersprüche dieses Urteils und die anschließenden erfolglosen Revisionen vor dem Landgericht Wuppertal und dem Oberlandesgericht Düsseldorf führten im Fortgang zu einer kontroversen öffentlichen Debatte darüber, wo die Grenze zwischen antisemitischen und „israel-kritischen“ Straftaten zu ziehen sei. Vertreter der jüdischen Gemeinschaft wiesen darauf hin, dass der Angriff auf jüdische Einrichtungen, egal wie er begründet werde, von Politik und Öffentlichkeit klar als Antisemitismus benannt werden muss, ansonsten sei die Sicherheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden gefährdet (vgl. Schuster 2017).

Die Konsequenz unserer theoretischen Überlegungen und der anekdotischen Evidenz des Wuppertaler Falls für die Antisemitismusforschung besteht darin, dass der Zusammenhang zwischen „Nahostkonflikt“ und jüdischen Bedrohungswahrnehmungen präzisiert werden muss: Nicht der „Nahostkonflikt“ als solcher beeinflusst das Sicherheitsempfinden in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden negativ, sondern erst die Antisemitismus relativierenden Reaktionen von Gesellschaft, Medien, Politik und Justiz. Solche relativierenden Reaktionen sind es, die wir als offene politisch-kulturelle Gelegenheitsstrukturen konzeptualisieren können. Sie tragen erheblich zur antisemitischen Mobilisierung bei.

Wir unterscheiden dabei zwischen der politischen Kultur auf der einen Seite. Diesbezüglich vermuten wir: Je weniger (in der Wahrnehmung der Betroffenen) die Bevölkerung zwischen Juden und Israel unterscheidet, desto stärker hängt das Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden mit dem „Nahostkonflikt“ negativ zusammen. Und weiterhin: Je weniger Jüdinnen und Juden den Medien zutrauen, Antisemitismus angemessen zu thematisieren, desto stärker hängt ihr Sicherheitsgefühl mit dem „Nahostkonflikt“ negativ zusammen.

Auf der anderen Seite untersuchen wir den Einfluss der politischen Institutionen auf die Bedrohungswahrnehmungen: Je weniger Jüdinnen und Juden politischen Institutionen (Polizei, Gerichte, politische Entscheider) zutrauen, Antisemitismus wirkungsvoll zu bekämpfen, desto stärker hängt ihr Sicherheitsgefühl negativ mit dem „Nahostkonflikt“ zusammen.

Dass überhaupt das Sicherheitsgefühl vom „Nahostkonflikt“ beeinflusst wird, ist demnach darauf zurückzuführen, dass bei den potenziell Betroffenen die Erwartung entsteht, dass in zukünftigen Eskalationsepisoden des Konflikts von der deutschen Bevölkerung nicht ausreichend zwischen Juden und israelischer Politik differenziert wird, die Medien nicht ausreichend über Antisemitismus berichten sowie dass der Staat nicht ausreichenden Schutz gegen antisemitische Übergriffe bietet.

5 Daten und Methoden

5.1 Stichprobe

Die Daten der im Folgenden präsentierten Studie wurden von Mai 2022 bis Februar 2023 mittels einer Online-Umfrage unter in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden erhoben. Insgesamt nahmen 370 Personen an der Umfrage teil, von denen 295 den Fragebogen vollständig bis zum Ende ausfüllten. Der Zugang zum Feld erfolgte in einem mehrstufigen Verfahren: Zu Beginn haben wir 36 zufällig ausgewählte jüdische Gemeinden in Deutschland kontaktiert und sie gebeten, randomisiert per E‑Mail Einladungen zur Umfrage an einen Teil ihrer Mitglieder zu versenden. Ursprünglich sollte durch die doppelte Zufallsauswahl die Repräsentativität der Stichprobe gesichert werden. Parallel dazu wurde das jüdische Studierendenwerk ELES gebeten, die Umfrage über den E‑Mail-Verteiler mit aktuellen und ehemaligen Stipendiat*innen zu verteilen, um auch Nicht-Gemeindemitglieder zu erfassen. Aufgrund niedriger Rücklaufquoten auf Seiten der GemeindenFootnote 2 und unvollständiger Mitglieder-E-Mail-Listen der Gemeinden wurde zunächst die Gemeindestichprobe auf alle jüdischen Gemeinden sowie andere jüdische Institutionen in Deutschland ausgeweitet sowie eine Incentivierung implementiert (eine Lotterie, bei der jede*r zehnte Teilnehmer*in 100 € gewinnen konnte). Für die letzten beiden Monate der Studie haben wir zusätzlich eine Anzeige auf der Webseite der Jüdischen Allgemeinen geschaltet. Die Befragung konnte auf Deutsch, Englisch und Russisch beantwortet werden.

Die Stichprobe ist aufgrund unbekannter Mechanismen der Selbstselektion nicht repräsentativ für die jüdische Bevölkerung in Deutschland. Im Vergleich zu offiziellen statistischen Daten über die Mitglieder jüdischer Gemeinden (vgl. ZWST 2023) in Deutschland ist die Stichprobe etwas jünger, die Geschlechterverteilung ist hingegen nahezu identisch. Da in unserer Stichprobe auch Personen auftauchen, die nicht in jüdischen Gemeinden gemeldet sind, übersteigt die Inferenzpopulation jedoch die Mitglieder jüdischer Gemeinden. Über die Grundgesamtheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden gibt es keine soziodemografischen Daten, was auch bedeutet, dass keine entsprechende Gewichtung durchgeführt werden kann.

Nichtzufallsbasierte Stichproben sind in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Minderheiten die Regel und haben neben dem bekannten Nachteil, durch Mechanismen der Selbstselektion eventuell verzerrte deskriptive Lage- und Streuungsmaße hervorzubringen, auch Vorteile (vgl. z. B. für die Diskussion in der Forschung zu sexuellen Minderheiten Turban et al. 2023): erstens, weil ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis gegenüber einfachen Zufallsauswahlen mit geringen Auswahlwahrscheinlichkeiten – der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der deutschen Gesamtbevölkerung liegt weit unter 1 % – erheblich besser ist. Zweitens können in spezifisch für die Zielgruppe entworfenen Fragebögen validere Messinstrumente eingesetzt werden als in Bevölkerungsbefragungen mit mehreren Tausend Teilnehmer*innen, die einem allgemeineren Forschungsinteresse folgen und die gegebenenfalls eine kleine Teilstichprobe der jeweiligen Minderheitengruppe umfassen würde. Drittens kann unsere Studie über in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden durch die allgemeine Rekrutierung Jüdinnen und Juden erreichen, die nicht in Gemeinden organisiert sind und somit bei einer Gemeindestichprobe nicht beachtet worden wären. Da von dieser Grundgesamtheit aus nachvollziehbaren Gründen keine Auswahlliste vorliegt, kann eine Zufallsstichprobe nur über „screen-outs“ realisiert werden, was wiederum zum im ersten Punkten genannten Kostenproblem führt.

Trotz dieser Vorteile einer nichtzufallsbasierten Stichprobe (bzw. den Nachteilen einer Zufallsstichprobe) bei Minderheitenbefragungen betonen wir, dass die univariaten Ergebnisse von den Verteilungen der Grundgesamtheit abweichen können. Die multivariaten Ergebnisse sind davon weniger betroffen, weil wir zum einen für allgemeine soziodemografische und aus theoretischer Sicht relevante Kontrollvariablen kontrollieren und zum anderen robuste Standardfehler verwenden. Trotz dieser rigiden Modellbestimmungen erzielen wir im Gesamtmodell hoch signifikante Effekte und eine hohe erklärte Varianz von circa 40 % (Adj. R = 0,40). Wir werden im Diskussionsteil mögliche Einflüsse der Selbstselektion genauer diskutieren.

Unsere Stichprobe besteht zu 45 % aus Personen, die sich als männlich und 55 %, die sich als weiblich identifizierten. 6 % der Befragten waren 18–21 Jahre alt, 26,4 % 22–30 Jahre alt, 19,7 % 31–40 Jahre alt, 11,9 % 41–51 Jahre alt, 13,2 % 51–60 Jahre alt, 12,5 % 61–70 Jahre alt, 8,5 % 71–80 Jahre alt und 2 % älter als 80 Jahre. Der Mittelwert der absolvierten Bildungsjahre liegt bei 15,57 (s = 2,78) und jener der Links-Rechts-Selbsteinschätzung (Skala von 1 = links bis 10 = rechts) bei 4,29 (s = 1,70), wobei die Werte 9 und 10 insgesamt nur von 0,8 % angekreuzt wurden. Rund 70 % der Befragten wohnen in Großstädten. 73,9 % der Befragten waren Mitglied in einer jüdischen Gemeinde. Von den Gemeindemitgliedern lebten 78,1 % in den alten Bundesländern, 11,2 % in den neuen Bundesländern und 10,7 % in Berlin. Von den Nichtmitgliedern wurde das Bundesland des Wohnortes nicht erhoben.

5.2 Operationalisierung

Wir gehen gemäß unseren Hypothesen davon aus, dass der wahrgenommene Zusammenhang zwischen „Nahostkonflikt“ und eigenem Sicherheitsempfinden eine lineare Funktion der wahrgenommenen Gelegenheitsstrukturen unter Kontrolle anderer Personenmerkmale ist. Der Wortlaut der abhängigen Variable der Modelle lautet: „Wie stark ist der Einfluss des sogenannten ‚Nahostkonflikts‘ auf Ihr Sicherheitsgefühl als Jüdin bzw. Jude in Deutschland?“ 4,1 % der Befragten berichteten, „keinen Einfluss“, 11,3 % einen „eher schwachen“ Einfluss, 20,5 % einen „mittleren“ Einfluss, 30,1 % einen „starken“ und 33,9 % einen „sehr starken“ Einfluss. Der Mittelwert der Variable liegt bei 3,8 und die Standardabweichung bei 1,2 (n = 292; vgl. die Übersicht in Tab. 1). In dieser Variable wird der Zusammenhang zwischen zwei Variablen subjektiv eingeschätzt. Eine Alternative wäre gewesen, diese beiden Variablen separat zu erfassen und den Zusammenhang „objektiv“ mit statistischen Zusammenhangsmaßen zu bestimmen (und die Hypothese anschließend mit Interaktionstermen zu testen). Angesichts dessen, dass es uns in diesem Beitrag gerade um die Perspektive der Betroffenen geht und die unabhängige Makrovariable „Nahostkonflikt“ auch schwer zu erfassen und variieren gewesen wäre, scheint uns die hier gewählte Operationalisierung sinnvoller.

Tab. 1 Übersicht der Variablen

Das Konzept der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen wurde in einem mehrdimensionalen Schema operationalisiert: Zum einen geht das konkrete wahrgenommene Meinungsklima zum „Nahostkonflikt“ in die Modelle ein. Dieses wurde mit der Frage „Inwiefern hängt Ihrer Meinung nach die Einstellung gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland mit dem sogenannten ‚Nahostkonflikt‘ zusammen?“ erhoben. 4,1 % der Befragten antworteten hier mit „gar nicht“, 3,4 % mit „ein wenig“, 20,1 % mit „mittel“, 32,8 % mit „stark“ und 39,6 mit „sehr stark“ (m = 4,0; s = 1,1; n = 293). Zum anderen untersuchen wir den Einfluss des wahrgenommenen allgemeinen Umgangs mit Antisemitismus, a) der Medien, b) der Gerichte, c) der Polizei und d) der Politik. Die Einschätzung der Befragten ist hier insgesamt eher pessimistisch. Der Aussage „In den Medien in Deutschland wird zu wenig über Antisemitismus berichtet?“ stimmen 17,4 % „voll und ganz zu“ und 27,4 % „eher zu“. 6 % stimmen hingegen der Aussage „überhaupt nicht zu“ und 20,6 % „eher nicht zu“. 28,5 % waren unentschieden (m = 3,3; s = 1,2; n = 281). „Eher großes“ oder sogar „sehr großes Vertrauen“ in Gerichte berichteten 20,6 %, in die Polizei 16,5 % und in die Politik 28,6 % der Befragten. Dass ihr Vertrauen in die genannten Institutionen bezüglich der Antisemitismusbekämpfung „eher gering“ oder „sehr gering“ sei äußerten 52,3 % in Bezug auf Gerichte, 51,2 % in Bezug auf die Polizei und 45,4 % in Bezug auf die Politik (Mittelwerte und Standardabweichungen in Tab. 1).

Neben soziodemografischen Kontrollvariablen halten wir auch die bisherige Erfahrung mit antisemitischen Hassverbrechen konstant. Einerseits können so Selektionseffekte der Umfrageteilnahme bezüglich bisheriger Antisemitismuserfahrungen minimiert werden und andererseits stellen bisherige Erfahrungen gerade mit „Nahostkonflikt“ bezogenem Antisemitismus eine wichtige Erklärungsvariable des „Nahostkonflikt“ bezogenen Sicherheitsgefühls dar. Auch entsprechende Mediationseffekte sind nicht auszuschließen. Die Befragten sollten zunächst berichten, ob sie in den letzten 10 Jahren „aufgrund ihres Jüdischseins“ mindestens einmal Opfer entweder von Beleidigungen oder Gewalt gewesen sind, oder ob „aufgrund [i]hres Jüdischseins [i]hr Eigentum beschädigt oder zerstört“ worden ist. Auf 67,5 % der Befragten trifft dies zu, wobei Beleidigungen mit Abstand am weitesten verbreitet waren. Im Anschluss an die entsprechenden Items wurde jeweils gefragt „[w]oran […] [s]ie erkannt [haben], dass die Tat gegen Ihr Jüdischsein gerichtet war?“ Eine der Antwortmöglichkeiten lautete: „Die Tat geschah während einer Eskalation des sogenannten ‚Nahostkonfliktes‘“. Etwas weniger als die Hälfte der von Antisemitismus Betroffenen bzw. 30,7 % des Gesamtsamples markierte diese Antwort.

6 Befunde

Um unsere Hypothesen zu überprüfen, haben wir jeweils bivariate und multiple lineare Regressionsmodelle geschätzt. Aufgrund der leicht linksschiefen Verteilung der abhängigen Variable wurden zusätzlich ordinal-logistische Regressionsmodelle berechnet, die jedoch analoge Ergebnisse hervorbringen, sodass wir aufgrund der intuitiveren Interpretationsmöglichkeit hier (Tab. 2) die linearen Modelle berichten.

Tab. 2 Lineare Regressionsmodelle (OLS) zum Einfluss des „Nahostkonflikt“ auf das Sicherheitsgefühl

Zunächst schätzen wir die bivariaten Effekte der unterschiedlichen Dimensionen politisch-gesellschaftlicher Gelegenheitsstrukturen. Hier zeigt sich durchgängig ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Einschätzung der Gelegenheitsstrukturen und dem wahrgenommenen Einfluss des „Nahostkonflikts“ auf das eigene Sicherheitsgefühl als Jude/Jüdin in der hypothetisch angenommenen Richtung: Je stärker die Meinungen gegenüber Juden in der Wahrnehmung der Befragten mit dem „Nahostkonflikt“ zusammenhängen und je stärker das Misstrauen gegenüber Medien und staatlichen Institutionen ausfällt, über Antisemitismus angemessen zu berichten bzw. Antisemitismus zu verfolgen, desto stärker werden die Folgen des „Nahostkonflikts“ für die eigene Sicherheit wahrgenommen.

Der Effekt ist beim sich konkret auf den „Nahostkonflikt“ beziehenden Meinungsklima am stärksten. 24 % der Varianz können mit dieser Variable erklärt werden. Steigt die negative Einschätzung des Meinungsklimas um eine Skaleneinheit an (5-Punkt-Skala), so steigt die „Nahostkonflikt“ bezogene Bedrohungswahrnehmung um ungefähr eine halbe Skaleneinheit (ebenfalls 5‑Punkt-Skala). Misstrauen in Medien und Gerichte sind ebenfalls vergleichsweise stark mit der abhängigen Variable korreliert und erklären 7 % respektive 8 % deren Varianz, was einem Anstieg von etwa einem Drittel der Bedrohungsskala entspricht. Die Effekte für Misstrauen in Polizei und Politik sind etwas schwächer. Im multiplen Regressionsmodell 6, das alle Erklärungsvariablen sowie zusätzliche Kontrollvariablen enthält, sind sie nicht mehr signifikant. Dieses Modell weist einen sehr guten „goodness of fit“ (Adj. R2 = 0,40) auf. Damit lässt sich insgesamt festhalten, dass die Elemente der Gelegenheitsstrukturen, die eher die allgemeine politische Kultur abbilden bedeutsamer scheinen als jene, die den institutionellen Teil des politischen Feldes betreffen – mit Ausnahme der Justiz.

Mittels des schrittweisen Hinzufügens von Termen lässt sich näher untersuchen, welche Drittvariableneffekte zur Reduktion des Effektes der beiden politisch-institutionellen Elemente führen. Diese Modelle zeigen, dass es sowohl hinsichtlich des Vertrauens in die Polizei als auch der Politik die Variable Vertrauen in Gerichte ist, die zur Reduktion des Effektes und höheren p-Werten führt. Dieser Mediationszusammenhang lässt sich so interpretieren, dass in den Augen der Befragten es letztlich auf die Arbeit der Gerichte ankommt, Antisemitismus zu sanktionieren und Politik und Polizei nur deswegen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, weil das Vertrauen in sie mit dem Vertrauen in die Gerichte korreliert ist.

Von den Kontrollvariablen zeigen die Links-Rechts-Selbsteinstufung sowie bisherige Erfahrungen mit „Nahostkonflikt“ bezogenem Antisemitismus signifikante Effekte (im logistischen Regressionsmodell zudem die Variable Alter auf dem 10 %-Fehlerniveau). Eher rechts eingestellte Befragte und solche, die in den letzten zehn Jahren Erfahrungen mit Nahost bezogenem Antisemitismus gemacht haben, verknüpfen ihr subjektives Sicherheitsgefühl eher mit dem „Nahostkonflikt“.

7 Fazit und Diskussion

Der vorliegende Artikel ging von der Frage aus, wie sich die öffentlich zu beobachtende und durch Meinungsbefragungen bestätigte Gleichsetzung von „israelischer Politik“ und „jüdischer Schuld“ auf das Sicherheitsgefühl in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden auswirkt und welche Rolle dabei die Reaktionen der Öffentlichkeit und der politischen Institutionen spielen. Bezugnehmend auf den Ansatz der „politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen“ sind wir davon ausgegangen, dass das „Nahostkonflikt“ bezogene Sicherheitsgefühl davon abhängt, wie offen oder geschlossen diese Strukturen von den (potenziell) Betroffenen wahrgenommen werden. Wir vermuteten: Je günstiger die Gelegenheiten für antisemitische Mobilisierung erscheinen, desto negativer wirkt sich der „Nahostkonflikt“ auf das Sicherheitsgefühl der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden aus, weil in der Wahrnehmung der Betroffenen antisemitische Übergriffe nicht angemessen thematisiert und juristisch verfolgt werden.

Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass das Sicherheitsgefühl der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden vor allem durch das Meinungsklima in der Bevölkerung beeinflusst wird. Fast ein Viertel der Varianz der abhängigen Variablen wird dadurch erklärt. Zudem scheitern in der Wahrnehmung der Befragten Medien und Gerichte daran, jene meinungsklimatische Vermengung von „Nahostkonflikt“ und hiesigem Judentum öffentlich und juristisch zu korrigieren. Das Vertrauen in die Politik und Polizei, angemessen auf Antisemitismus zu reagieren, ist zwar kaum höher ausgeprägt als in die Gerichte, aber es ist weniger stark mit „Nahostkonflikt“ bezogenem Sicherheitsgefühl korreliert. Im Gesamtmodell ist es nicht signifikant. Scheinbar werden der Politik und der Polizei im Vergleich zu Gerichten weniger Handlungskompetenz in der Bekämpfung des „Nahostkonflikt“ bezogenen Antisemitismus zugeschrieben.

Wie bereits angesprochen, handelt es sich bei unserem Stichprobenverfahren um keine Zufallsauswahl. Die Wahrscheinlichkeit, in die Stichprobe zu gelangen, war insbesondere für Gemeindemitglieder mit hinterlegter E‑Mail-Adresse, deren Gemeinden unsere Anfrage weitergeleitet hatten, sowie für Leser*innen der Online-Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen und für aktuelle und ehemalige Stipendiat*innen des ELES-Studienwerkes höher als für andere in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden. Aus den Merkmalen der Rekrutierungsadressaten lässt sich eine Gruppe konstruieren, die möglicherweise hier unterrepräsentiert ist: Diese Nichtbefragten haben keinen Online-Zugang, sind weder in Gemeinden gemeldet noch lesen sie die Jüdische Allgemeine oder waren sie im ELES-Netzwerk involviert. Obwohl uns Daten zu dieser Gruppe fehlen, dürfen wir vermuten, dass es sich um eher alte Personen mit vergleichsweise niedriger Bildung handelt, da der Online-Zugang vor allem mit dem Alter korreliert ist und weil die ELES-Befragten eher jünger sind, sowie weil letztere wie auch die Leser*innen der Online-Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen eher hoch gebildet sind.

Da ausreichend Varianz für die Variablen Alter und Bildung vorliegt und das Gesamtmodell auf Alter und Bildung sowie weitere Einflussgrößen kontrolliert, können die Ergebnisse, auch angesichts der hohen Goodness-of-fit-Werte, als durchaus aussagekräftig gelten – wohlgemerkt mit der angemessenen Vorsicht. Zumal selbst bei Zufallsstichproben systematische Ausfälle bezüglich sehr alter und eher ungebildeter Befragter keine Seltenheit darstellen.

Zusätzlich zu den in den Regressionsmodellen dargestellten Effekten finden sich in den Daten relativ hohe Korrelationen zwischen dem Einfluss des „Nahostkonflikts“ auf das Sicherheitsgefühl (abhängige Variable) einerseits und dem momentanen Sicherheitsgefühl der Befragten (0,303, p = 1,382e-07, n = 286) sowie dessen Veränderung über die letzten 10 Jahre (0,289, p = 5,959e-07, n = 286) andererseits. Je mehr also der „Nahostkonflikt“ das Sicherheitsgefühl der Befragten beeinflusst, desto unsicherer fühlen sie sich insgesamt; sowohl momentan als auch relativ im Zeitverlauf. Letzteres könnte ein Indiz dafür sein, dass sich während der letzten 10 Jahre der negative Einfluss des „Nahostkonflikts“ verstärkt hat, eventuell, weil sich die politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Mobilisierung geöffnet haben. Es steht zu vermuten, selbst wenn bisher keine Längsschnittdaten vorliegen, dass die Befragten eine gesamtgesellschaftliche Tendenz wachsenden israelbezogenen Antisemitismus’ wahrnehmen.

Um diese und weitere Trends zu beobachten, müssen zukünftig regelmäßige Erhebungen der Erfahrungen der Betroffenen und der Folgen für deren Bedrohungswahrnehmungen durchgeführt werden. Bisher steht die empirische Antisemitismusforschung diesbezüglich noch am Anfang. Durch eine noch engere Kooperation mit den jüdischen Gemeinden könnten die Teilnahmebereitschaft verbessert und zumindest für die in Gemeinden organisierten Jüdinnen und Juden perspektivisch auch auf Zufallsstichproben basierende Ergebnisse vorgelegt werden. Die aktuelle Studie versteht sich als ein erster Schritt in diese Richtung. Angesichts der Virulenz antisemitischer Straftaten seit dem 7. Oktober 2023 sind nicht nur die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden auf diese Forschung angewiesen, sondern auch die Akteure der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen, die jenem Antisemitismus etwas entgegensetzen müssen.