1 Einleitung

Das deutsche Mischwahlsystem sieht zwei Wege für Kandidierende vor, ein Mandat für den Deutschen Bundestag zu erhalten; durch einen Wahlsieg mit relativer Mehrheit in einem der 299 Wahlkreise oder durch eine (aussichtsreiche) Nominierung auf der Landesliste der Partei. In der einschlägigen Literatur hat dies zu einer Erwartungshaltung mit Bezug auf das politische Verhalten der Abgeordneten je nach Typ des Mandates geführt. Während von Abgeordneten, die durch den Sieg im Wahlkreis direkt in den Bundestag einziehen, erwartet wird, sich bevorzugt um lokale und partikulare Interessen der Wählerschaft vor Ort zu kümmern, so wird von Abgeordneten, die über die Liste gewählt werden, erwartet, sich bevorzugt mit programmatischen policies und solchen mit landesweiten Implikationen auseinanderzusetzen (siehe z. B., Stratmann und Baur 2002; Bawn und Thies 2003).

Die Annahmen hinter diesen Erwartungen fußen auf den unterschiedlichen elektoralen und selektoralen Anreizen, denen sich die Abgeordneten ausgesetzt sehen, sollten sie an einer Wiederaufstellung interessiert sein. Während Abgeordnete mit einem Direktmandat sich um lokale Bedürfnisse kümmern sollten, um die eigene Popularität und Wahlaussichten vor Ort im Wahlkreis zu maximieren, so sind Abgeordnete mit einem Listenmandat gut darin beraten, sich als loyal und fleißig der eigenen Partei gegenüber zu zeigen. Zahlreiche Studien haben aufbauend auf diesen Annahmen versucht zu zeigen, dass Direkt- und Listenmandate tatsächlich zu unterschiedlichen Verhalten beim Abstimmungsverhalten (z. B. Sieberer und Ohmura 2021), Ausschussmitgliedschaft (z. B. Stratmann und Baur 2002; Manow 2013) oder bei parlamentarischen Fragen (z. B. Papp 2020) führen.

Doch trotz dieser scheinbar klaren Unterteilung der Verhaltensanreize für die zwei Mandatstypen haben einige kürzlich erschienen Studien diese klare Aufteilung infrage gestellt. André und Depauw (2018), beispielsweise, zeigen, dass mit zunehmender Wahlkreisgröße Abgeordnete in mehreren Listen-Wahlsystemen vermehrt lokale Interessen vertreten. Ähnlich zeigen auch Borghetto, Santana-Pereira und Freire (2020), dass Abgeordnete in Portugal sich verstärkt für lokale Interessen engagieren, trotz des portugiesischen Verhältniswahlrechts mit geschlossenen Partei-Listen. Schließlich, so zeigen Geese und Martínez-Cantó (2022), kümmern sich auch Abgeordnete, die durch geschlossene Listen in Spanien und auch in Deutschland gewählt worden sind, um lokale Interessen.

Diese Untersuchungen deuten darauf hin, dass die traditionellen und dichotomisierten Annahmen bezüglich der elektoralen Anreize für das Verhalten von Abgeordneten zu hinterfragen und gegebenenfalls zu erweitern sind. Der vorliegende Beitrag will daher zeigen, wie ein Blick in die innerparteilichen Kandidatenaufstellungsprozesse eine Erklärung liefern kann, warum Listenabgeordnete im Deutschen Bundestag sich auch in der lokalen Interessensvertretung engagieren – typischerweise als Alleinstellungsmerkmal von Wahlkreisabgeordneten betrachtet. Dieser Beitrag argumentiert, dass die in der Literatur gemachten Annahmen im Bezug auf die durch das Wahlsystem gesetzten Anreize nicht die gesamte Bandbreite an relevanten Beweggründen für das Verhalten von Abgeordneten abbilden.

Die Kandidatenaufstellung ist die erste Hürde für zukünftige Kandidierende auf dem Weg in den Bundestag und stellt somit ein weiteres Set an selektoralen Anreizen für das politische Verhalten dar. Um erfolgreich zu sein, sind zukünftige oder wiederkehrende Kandidierende angehalten, die Wünsche und Vorlieben der Selektoren möglichst zu befriedigen. Dass diese Wünsche und Vorlieben tatsächlich lokale Interessensvertretung von Listenabgeordneten beinhaltet, versucht dieser Beitrag mittels eines Conjoint-Experiments mit Parteidelegierten zu zeigen.

Conjoint-Experimente sind in den letzten Jahren zu einem wichtigen Werkzeug der politikwissenschaftlichen Forschung geworden (vgl. Hainmueller et al. 2014) und wurden bereits bereichernd in der Forschung zur Kandidatenaufstellung eingesetzt (Berz und Jankowski 2022; Rehmert 2022). Sie ermöglichen das Messen von Präferenzen bei multidimensionalen Entscheidungen und erlauben es, die relative Wichtigkeit einzelner Faktoren bei Entscheidungsfindungen zu bestimmen. Um die Präferenzen von Delegierten für lokale Interessensvertretungen zu messen, wurde ein Conjoint-Experiment mit über 500 Delegierten von den fünf im Bundestag vertretenen Parteien durchgeführt, die ihre Landeslisten mittels Vertreterversammlungen bestimmen.

Die Ergebnisse verweisen auf klare Präferenzen für Abgeordnete, die die Interessen der Kreisverbände der jeweiligen Delegierten vertreten. Dieser Effekt besteht über alle untersuchten Parteien hinweg, einschließlich der FDP, die LINKE und Bündnis 90/Die Grünen, Parteien, deren Abgeordnete – mit einigen wenigen Ausnahmen – fast ausschließlich über die Landeslisten gewählt werden. Offene Fragen am Ende der Umfrage betonen die Rolle der Kreisverbände bei der Aufstellung und die Notwendigkeit für Kandidierende, sich mit diesen gut zu stellen. Diese Ergebnisse liefern Hinweise auf die Bedeutung lokaler Interessensvertretungen seitens Listenabgeordneter und verweisen darauf, dass in unserem Verständnis von elektoralen Anreizen für politisches Verhalten auch selektorale Anreize stärker mitberücksichtigt werden sollten.

Diese Ergebnisse haben darüber hinaus auch Implikationen für die Debatte zur Wahlrechtsreform des Bundestages und die theoretisch-gegebene Möglichkeit von sogenannten verwaisten Wahlkreisen, die keine direkt gewählten Abgeordneten mehr in den Bundestag entsenden würden. Dieser Beitrag zeigt, dass aufgrund der selektoralen Anreize, denen sich Listenabgeordneten ausgesetzt sehen, eine Vertretung lokaler Interessen auch in verwaisten Wahlkreisen möglich sein wird.

Dieser Beitrag ist wie folgt strukturiert. Der nächste Abschnitt gibt einen Überblick über die Literatur zu den Präferenzen von Selektoren in Bezug auf Kandidierende. Anschließend wird das theoretische Argument dargelegt, warum Listenabgeordnete sich zusätzlichen lokalen selektoralen Anreizen ausgesetzt sehen. Im darauffolgenden Abschnitt wird die Methode und Datenerhebung für das Conjoint-Experiment dargestellt. Abschnitt 5 präsentiert die Ergebnisse des Umfrage-Experiments, bevor im Abschnitt 6 ein Fazit mit Ausblick auf zukünftige Forschung gezogen wird.

2 Was wollen Selektoren von ihren Kandidierenden?

Was schätzen Delegierte an Kandidierenden am meisten, welche Eigenschaften sollten diese mitbringen und welche (oder wessen) Interessen vertreten? Die Forschung hierzu in Bezug auf die Bundesrepublik hat in den letzten Jahren einige Fortschritte gemacht und sich verschiedenster methodologischer Mittel bedient, inklusive Beobachtungsdaten, Interviews, Umfragen und auch Umfrageexperimenten (z. B., Bailer et al. 2013; Reiser 2014; Cordes und Hellmann 2020; Berz und Jankowski 2022; Rehmert 2022). Immer wieder wurde hierbei lokales Engagement von Wahlkreisbewerbern und die berühmt-berüchtigte Ochsentour betont – allerdings hauptsächlich mit Blick auf Wahlkreiskandidaturen.

So berichtet Reiser (2013) beispielsweise, dass der innerparteiliche Wettbewerb um Wahlkreisnominierungen mit der Inkongruenz zwischen Wahlkreiszuschnitt und den Kreisverbandsgebieten steigt. Logischerweise versuchen alle Kreisverbände eines Wahlkreises ihre Kandidatin oder ihren Kandidaten die Wahlkreisnominierung zu verschaffen. Auch bei Bailers et al. (2013) Analyse von Karrierewegen in den Deutschen Bundestag klingt der Wunsch der Kreisverbände nach lokaler Interessensvertretung an. Die mit einer Sequenzanalyse ermittelten Karrierewege-Cluster der „Local Heros“ und „Parteiochsentour“ sind überproportional vertreten unter direkt gewählten Abgeordneten, während die anderen Karrieretypen wie „Seiteneinsteiger“ oder „Junge Karrieristen“ häufiger über die Parteilisten gewählt werden (vgl. S. 58). Auch die recht jungen Umfrageexperimente mit Parteieliten kommen zu dem Ergebnis, dass Kreisverbandsvorsitzende Kandidierende bevorzugen, die seit längerer Zeit im Gebiet des Wahlkreises leben (oder gar geboren sind), sich seit längerer Zeit in der lokalen Politik und im Kreisverband engagieren (Berz und Jankowski 2022).

Mit Rehmert (2022) besteht zurzeit nur eine (experimentelle Umfrage‑)Studie, die explizit nach der Rolle von Engagement im lokalen Verband der Partei für eine Nominierung auf die Landesliste fragt. Zudem wird gezeigt, dass eine Wahlkreisnominierung auch für Kandidierende kleinerer Parteien von Bedeutung ist, da Wahlkreisnominierungen in vielen Landesverbänden oftmals eine Voraussetzung sind für die Nominierung auf aussichtsreiche Listenplätze (vgl. auch Reiser 2014). Nichtsdestotrotz, hat sich die bestehende Forschung verstärkt auf die Rolle lokaler Interessensvertretung für die Wahlkreisnominierung konzentriert und vernachlässigt zu fragen, ob nicht auch Kreisverbände der kleineren Parteien ohne Wahlkreismandat eine lokale Interessensvertretung durch ihre über die Landesliste gewählten Abgeordneten wünschen. Diese Vernachlässigung kann dazu führen, die theoretischen Annahmen in Bezug auf die Verhaltensunterschiede zwischen Wahlkreis- und Listenabgeordneten zu zementieren, ohne sie getestet zu haben (vgl. z. B. Stratmann und Baur 2002; Bawn und Thies 2003).

3 Warum schätzen Delegierte lokale Repräsentation von Listenabgeordneten?

Welche Rolle spielt das Lokale bei der Kandidatenaufstellung auf Landeslisten? Aufgrund der theoretischen Dichotomisierung von Verhaltensanreizen für Wahlkreis- und Listenabgeordnete im deutschen Mischwahlsystem (siehe z. B. Stratmann und Baur 2002) wird die Relevanz von Lokalität der Kandidierenden eher bei Wahlkreisbewerbern und -abgeordneten verortet. Bewerbern auf den Landeslisten und Listenabgeordneten hingegen wird dies oft abgesprochen (vgl. Bawn und Thies 2003). Folgerichtig wird erwartet, dass Parteidelegierte, die über ihre Landeslisten abstimmen, auch keinen großen Wert auf Lokalität oder Vertretung lokaler Interessen seitens der Kandidierenden legen.

Die Vertreterversammlungen zur Kandidatenaufstellung der Parteien bestehen aus Delegierten der einzelnen Kreis- oder Bezirksverbände. Je nach Mitgliederstärke dieser Kreis- oder Bezirksverbände schicken sie mehr oder weniger Delegierte zu den Aufstellungsversammlungen. Mitgliederstarke Kreisverbände haben dementsprechend größeres Stimmgewicht während der Aufstellung der Landesliste und bei Kampfkandidaturen – und auch im Vorfeld während der Zusammensetzung eines Listenvorschlags in solchen Landesverbänden, bei denen Listen oftmals nur akklamiert werden.

Die Delegierten der Kreisverbände befinden sich mit diesen in einer klaren Principal-Agent-Beziehung und vertreten die Interessen der Verbände bei der Auswahl der Kandidierenden. Unterschiedliche Kandidierende versprechen den Kreisverbänden und damit auch den Delegierten unterschiedlichen Nutzen, je nachdem wie stark sich diese für die spezifischen Interessen des Kreisverbandes einsetzen. Dies klingt bereits bei der von Reiser (2014) diskutierten informellen Quotierung der Regionen und dem Regionalproporz auf Landeslisten an und in der Präferenz von Kreisverbandsvorsitzenden für lokal verankerte Wahlkreiskandidierende (Berz und Jankowski 2022).

Der Wunsch nach lokaler Interessensvertretung von Listenabgeordneten kann dabei zwei Ursachen haben. Erstens, Kreisverbände möchten eine direkte Ansprechperson im Bundestag haben, eine Person, die die Sichtweise der eigenen Partei im Hinblick auf lokale Themen vertritt, ganz unabhängig davon, ob diese Person direkt in einem Wahlkreis oder durch eine Parteiliste gewählt ist. Ganz besonders relevant wird dies aber auch, wenn in Mischwahlsystemen wie dem Deutschen die politische Konkurrenz den Wahlkreis gewonnen hat und lokale Themen versucht, parteipolitisch zu vereinnahmen, beziehungsweise den alleinigen Anspruch auf Vertretung lokaler Interessen erhebt. In einer solchen Situation können Abgeordnete, die durch die Parteiliste gewählt und lokal gut verankert sind, für den Kreisverband einstehen und Paroli bieten.

Zweitens, die Vertretung von lokalen Interessen hat auch Implikationen für den Wahlkampf und die Betreuung der Wählenden einer Partei. Auch in Systemen mit geschlossenen Listen müssen die Parteien vor Ort in der Lage sein, ihren Wählenden glaubhaft nahezulegen, dass die Abgeordneten der Partei – auch wenn diese nicht direkt gewählt worden sind – sich für die Belange vor Ort einsetzen. Vor allem in Mischwahlsystemen ist der Konkurrenzdruck hierbei besonders ausgeprägt. Parteien ohne Direktmandat können durch ihre Listenabgeordneten in direkten Konkurrenzkampf mit direktgewählten Vertretern gehen und den Wählenden vor Ort glaubwürdige Alternativen präsentieren beziehungsweise lokale Missstände aufzeigen.

Aus diesen Überlegungen lässt sich nun die zentrale Hypothese dieses Beitrags ableiten, nämlich, dass die Delegierten zu Vertreterversammlungen Kandidierende bei der Listenaufstellung bevorzugen, die die lokalen Interessen des eigenen Kreisverbandes vertreten.

Diese Hypothese soll im Folgenden durch ein Conjoint-Experiment mit Delegierten derjenigen Parteien untersucht werden, die über ihre Landeslisten mittels Vertreterversammlungen entscheiden.

4 Forschungsdesign

4.1 Datenerhebung

Das Conjoint-Experiment wurde zwischen Januar und März 2023 mit den Delegierten aus fünf Landesverbänden derjenigen Parteien durchgeführt, die Vertreterversammlungen für die Aufstellung ihrer Landeslisten abhalten. Diese sind Bündnis 90/Die Grünen, die CDU, die FDP, die LINKE und die SPD. Die fünf kontaktierten Landesverbände sind Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz, um eine möglichst hohe Durchmischung von Regionen und Parteihochburgen zu erhalten.Footnote 1 Um die Delegierten zu erreichen, habe ich im Vorfeld die Landesgeschäftsführungen der betreffenden Parteien per E‑Mail kontaktiert und um Teilnahme bei meiner Forschung gebeten. Im Anschluss wurden dann telefonisch Rückfragen zum Projekt und zur Umsetzung besprochen. Für die Erhebung selbst sollte seitens der Landesgeschäftsführungen eine kurze E‑Mail mit einem Link zu meiner Umfrage über einen Verteiler an die Delegierten versandt werden, da deren Kontaktdaten aus Datenschutzgründen nicht herausgegeben werden können. Insgesamt haben von den 23 kontaktieren LandesverbändenFootnote 2 17 mitgemacht. Zwei Verbände haben abgelehnt. Die restlichen vier konnten entweder nicht erreicht werden während der Erhebungsphase, konnten auch nach mehrmaligen Nachfragen keine Stellung beziehen oder haben zugesagt, jedoch ohne verifizieren zu können, ob der Umfrage-Link tatsächlich versandt wurde.

Die Rücklaufquote beläuft sich insgesamt auf 16,5 %, gemessen an den Delegiertenzahlen der Landessatzungen der Verbände und bezogen auf diejenigen Verbände, die am Projekt teilgenommen haben. Tab. 1 schlüsselt die Teilnahme der Delegierten nach Landesverband und Partei genauer auf. Am häufigsten haben Delegierte von SPD (n = 174, 15 %), Bündnis 90/Die Grünen (n = 106, 20,3 %) und FDP (n = 98, 10,9 %) teilgenommen, während die Teilnehmendenzahlen bei der CDU (n = 89, 12 %) und die LINKE (n = 92, 12,6 %) etwas niedriger sind. Diese Zahlen sind allerdings mit etwas Vorsicht zu genießen, da nicht eindeutig klar ist, an wie viele Delegierte (oder sogar Ersatz-Delegierte) der Link tatsächlich gesendet wurde. Bezogen auf das gesamte Sample sind die Parteien mit Ausnahme der SPD recht gleichmäßig vertreten: Während die SPD 31 % des Samples ausmacht, liegt dieser Wert zwischen 16,1 % (CDU) und 18,8 % (Bündnis 90/Die Grünen) für die anderen Parteien. Die Umfrage mit dem Conjoint-Experiment wurde von der Ethikkommission der Universität Zürich genehmigt.Footnote 3

Tab. 1 Teilnahme und Rücklaufquote der Umfrage

4.2 Das Conjoint-Experiment

Gegenüber herkömmlichen Umfragen haben Conjoint-Experimente den Vorteil, Präferenzen von Teilnehmenden in multidimensionalen Entscheidungen zu messen (vgl. Hainmueller et al. 2014; Bansak et al. 2021). Traditionell werden hierbei zwei hypothetische Kandidierende gegenübergestellt, die sich auf einer fixen Anzahl von Dimensionen unterscheiden. Diese Dimensionen, etwa Alter oder Geschlecht, variieren dabei zufällig und generieren dadurch immer wieder neue Profilkonfigurationen. Teilnehmende müssen sich dann für eines der Profile entscheiden. Die Zufallsverteilung der Werte auf den verschiedenen Dimensionen kann unter Umständen zu Profilen führen, die bevorzugte und weniger bevorzugte Eigenschaften vereinen und dadurch Zielkonflikte für die Entscheidungsträger bedeuten. Hierdurch erlauben Conjoint-Experimente zu messen, welche Dimensionen und Eigenschaften relativ mehr Bedeutung haben als andere (vgl. Berz und Jankowski 2022; Rehmert 2022).

Um in den Conjoint-Tabellen der Umfrage auch realitätsnah die Lokalität der hypothetischen Profile abzubilden, wurden die Delegierten zu Beginn der Umfrage nach ihrem Bundesland und ihrem Kreisverband gefragt, die sie aus einer Drop-down-Liste auswählen konnten. Diese Werte wurden im Anschluss in die Profile der hypothetischen Kandidierenden übertragen. Tab. 2 gibt einen Überblick über die Dimensionen und deren mögliche Ausprägungen. Die für die Lokalität relevanten Dimensionen sind der Geburtsort und vertritt hauptsächlich Interessen. Bei diesen beiden Dimensionen tauchen die eingangs gewählten Werte des Bundeslands und des Kreisverbands auf. Die hypothetischen Profile können dementsprechend im Gebiet des Verbands [Kreisverband des Delegierten], in [Bundesland des Delegierten] oder außerhalb [Bundesland des Delegierten]s geboren sein. Für einen Delegierten aus dem niedersächsischen Kreisverband Schaumburg würden diese Werte entsprechend wie folgt auf dem Bildschirm dargestellt sein: im Gebiet des Verbands Schaumburg, in Niedersachsen, oder außerhalb Niedersachsens.

Tab. 2 Dimensionen der hypothetischen Profile

Gleichfalls werden die möglichen Ausprägungen für Delegierte aus Schaumburg in Niedersachsen, für vertritt hauptsächlich Interessen generiert: vom Verband Schaumburg, von Verbänden in Niedersachsen, aber nicht Schaumburg sowie von Verbänden außerhalb Niedersachsens. Die weiteren Dimensionen wie Verortung in der Partei und Abweichung von der Parteilinie sollen hierbei zu Zielkonflikten in der Kandidatenauswahl führen, um zu testen, ob die beiden Indikatoren für Lokalität auch unabhängig von diesen vermeintlich wichtigen Faktoren bei der Nominierung von Kandidierenden bestehen können (vgl. Berz und Jankowski 2022; Rehmert 2022).

Auch wenn die theoretische Literatur eine klare Unterscheidung bezüglich der Arbeitsweisen von Wahlkreis- und Listenabgeordneten macht, so lässt sich diese nicht direkt auf die Dimensionen im Conjoint-Design übertragen, etwa mit den Ausprägungen „Fokus auf Parteiarbeit“ und „Fokus auf lokale Interessen“, da sich beides nicht unbedingt gegenseitig ausschließen muss und nebenher bestehen kann. Abgeordnete können sich beispielsweise um eine Rentenreform bemühen und gleichzeitig lokale Anliegen bedienen. Was diese theoretische Annahme jedoch impliziert, ist, dass Listenabgeordnete überhaupt keinen Wert auf lokale Repräsentation legen und Delegierte dies ebenfalls nicht honorieren sollten. Welche Form von lokaler beziehungsweise geografischer Repräsentation Listenabgeordnete tatsächlich an den Tag legen, sollte also keinerlei Einfluss auf die Nominierungsentscheidung der Delegierten haben. Als Indikator für ein eher programmatisches Verhalten dient im Conjoint-Design die Dimensionen der ideologischen Verortung innerhalb der Partei und der Parteidisziplin der Abgeordneten.

Den Delegierten wurden nach der Auswahl ihres Bundeslandes und Kreisverbands über die Conjoint-Aufgabe mit dem folgenden Text informiert:

„Im Folgenden werden Ihnen jeweils 5 hypothetische Paare von Mitgliedern des Bundestags (MdB) präsentiert, die sich anhand einiger Merkmale voneinander unterscheiden können. Beide bewerben sich erneut um eine Kandidatur für den Bundestag und treten gegeneinander in einer Kampfabstimmung an. Es geht um den letzten, als aussichtsreich geltenden Listenplatz.

Uns ist bewusst, dass der Entscheidungsprozess hier nur einige von vielen Facetten berücksichtigen kann und die Realität stark vereinfacht. Trotzdem möchten wir Sie bitten, anhand der gegebenen Informationen eine Entscheidung zu treffen.

Als Delegierte/r Ihres Stadt‑, Kreis- oder Bezirksverbands, für wen würden Sie anhand der gegebenen Informationen stimmen?“

Im Anschluss an die fünf Nominierungsaufgaben wurden die Delegierten zusätzlich gefragt, wie oft diese bereits bei einer Vertreterversammlung als Delegierte teilgenommen haben (ca. 11 % waren noch nie bei Aufstellungsversammlung, andere mehr als 10-mal, siehe Abb. 6 im Appendix) und wie sehr sie den Aussagen zustimmen würden, dass Delegierte im Allgemeinen gut über die Arbeit der MdBs des eigenen Kreisverbands, über die Arbeit der MdB des eigenen Landesverbands, über die Arbeit aller MdB der Partei sowie über tagespolitischen Themen informiert sind. Zudem wurde erhoben, ob die Delegierten selbst im Gebiet ihres Kreisverbands, im Bundesland ihres Kreisverbands oder außerhalb geboren sind.

5 Analyse

In den nachfolgenden Abschnitten werden zuerst die Gesamtergebnisse präsentiert und in den folgenden Analysen von Untergruppen, wie Parteien und dem Geburtsort der Delegierten selbst.

5.1 Gesamtergebnisse

Abb. 1 zeigt die Ergebnisse des Conjoint-Experiments für die beiden Dimensionen der Profile, die für Lokalität stehen. Da Marginal Means besser für Untergruppenanalysen geeignet sind, werden diese in dieser und den folgenden Analysen präsentiert (Leeper, Hobolt und Tilley 2020). Diese Werte geben an, wie häufig ein Profil mit einer bestimmten Ausprägung gewählt wurde, gemittelt über alle anderen Ausprägungen derselben Dimension, d. h. es gibt den Mittelwert an, wie oft ein Profil mit einer bestimmten Ausprägung ausgewählt wurde. Ausprägungen mit Werten größer als 0,5 zeugen von geschätzten Merkmalen – im Vergleich zu anderen möglichen Ausprägungen derselben Dimension – Werte kleiner als 0,5 von weniger geschätzten Ausprägungen einer Dimension.

Abb. 1
figure 1

Delegiertenpräferenzen für Lokalität von Listenabgeordneten. NB: Abbildung zeigt Marginal Means basierend auf n = 560 Delegierten; KV = Kreisverband

Wie Abb. 1 nun zu entnehmend ist, bevorzugen Delegierte klar Abgeordnete, die im Gebiet des Kreisverbands des Delegierten geboren sind und die hauptsächlich auch die Interessen des eigenen Kreisverbands vertreten. Im Umkehrschluss werden Abgeordnete, die auswärts geboren sind oder hauptsächlich Interessen von anderen Kreisverbänden in anderen Bundesländern vertreten, abgestraft.

Aber, wie ausschlaggebend sind diese beiden Dimensionen und ihre Ausprägungen im Vergleich zu den anderen sechs Dimensionen der Profile? Basierend auf den Marginal Means lassen sich auch der relative Einfluss einzelner Dimensionen der Conjoint-Profile bemessen. Dieser bemisst sich aus dem Utility Range einer jeden Dimension und der Total Utility Range, sprich die Summe der Utility Ranges aller Dimensionen. Für Dimension i berechnet sich der Utility Range aus der absoluten Differenz zwischen der Ausprägung mit dem höchsten und der Ausprägung mit dem niedrigsten Wert dieser Dimension. Der relative Einfluss von Dimension i ist dann der Anteil der Utility Range von Dimension i an der Total Utility Range. Natürlich muss hierbei beachtet werden, dass der relative Einfluss der Dimensionen auf die Entscheidungsfindung der Teilnehmenden von dem Angebot an möglichen Werten auf diesen Dimensionen abhängt.

Während der Geburtsort mit einem relativen Einfluss von 6,3 % den vorletzten Platz einnimmt – und damit auch bei den Delegierten als nicht besonders wichtig erachtet wird im Vergleich zu den anderen Dimensionen – rangiert das Vertreten von Interessen mit 16,9 % relativem Einfluss nur hinter der ideologischen Position (24,38 %) und dem Alter (17,02 %) der hypothetischen Profile (Abb. 7 im Appendix zeigt Gesamtergebnisse der Marginal Means für alle Dimensionen.). Als knapper dritter Platz hinter der ideologischen Position und dem Alter der hypothetischen Profile und klaren Effekte mit Verweis auf die Rolle der Vertretung lokaler Interessen, scheinen die Delegierten der Parteien diesem Merkmal hohen Stellenwert bei der Kandidatenaufstellung beizumessen. Ob diese Wertschätzung zwischen den Parteien unterschiedlich gehandelt wird, soll der nächste Abschnitt untersuchen.

5.2 Präferenzunterschiede zwischen den Parteien?

Ob die Effekte von Lokalität aus der Gesamtanalyse eventuell mögliche Differenzen zwischen den Parteien maskieren, soll nun untersucht werden. So kann etwa erwartet werden, dass die Delegierten der CDU und SPD – traditionell die beiden einzigen Parteien, die Direktmandate gewinnen – von ihren Listenabgeordneten weniger lokales Engagement erwarten, da Direktmandatäre diese Aufgaben in einer Art Arbeitsteilung übernehmen könnten (vgl. Bawn und Thies 2003; Stratmann und Baur 2002; Manow 2013). Im Vergleich dazu kann erwartet werden, dass Delegierte der Parteien, die traditionell nur Listenmandate erringen – sprich Bündnis 90/Grünen, FDP und LINKE – das Vertreten von lokalen Interessen auch durch eben jene Abgeordneten erwarten oder verlangen, die über die Parteiliste gewählt worden sind.

Abb. 2 zeigt nun die Präferenzen der Delegierten, aufgeschlüsselt nach Parteizugehörigkeit. Die Parteien sind in ihren typischen Parteifarben abgebildet. Wie auch schon im vorangegangenen Modell scheint der Geburtsort des Listenabgeordneten keine Rolle zu spielen. Auch bei den Präferenzen für die Interessensvertretung lassen sich keine Unterschiede zwischen den Delegierten der Parteien ausmachen. Lediglich die beiden Parteien rechts vom Zentrum – die CDU und die FDP – scheinen besonders viel Wert auf das Vertreten lokaler Interessen zu legen. Delegierte von Bündnis 90/Grünen hingegen scheinen nur eine schwache Tendenz für lokale Interessensvertretung zu haben.

Abb. 2
figure 2

Delegiertenpräferenzen für Lokalität von Listenabgeordneten nach Parteien. NB: KV = Kreisverband; Anzahl der Delegierten nach Partei: B90/Grüne n=105; CDU n=90; FDP n=98; LINKE n=93, SPD n=174

Während die Vorlieben für die Vertretung lokaler Interessen allen Parteien eigen ist, lässt sich auch hier der relative Einfluss aller Dimension für jede Partei analysieren. Berechnet wie oben beschrieben, trägt Abb. 3 die Werte des relativen Einflusses einer jeden Dimension für alle Parteien ab. Interessanterweise ergeben sich hier Unterschiede vor allem zwischen Delegierten der CDU und von Bündnis 90/Die Grünen. Bei CDU-Delegierten hat das Vertreten lokaler Interessen den größten Einfluss, während es bei Delegierten von Bündnis 90/Die Grünen an vorletzter Stelle steht. Bei FDP und SPD rangiert das Vertreten lokaler Interessen im vorderen Mittelfeld. Der Geburtsort, im Vergleich, rangiert entweder an letzter Stelle oder im hinteren Mittelfeld bei allen Parteien.

Abb. 3
figure 3

Relativer Einfluss der Dimensionen nach Parteien. NB: Basierend auf Marginal Means. Punktschätzung mit 95 %-Konfidenzintervall geschätzt mit n= 1000 wiederholtem Ziehen mit Zurücklegen („bootstrapping“). Die beiden Dimensionen zu lokaler Repräsentation sind schwarz hervorgehoben

Von größerem Einfluss auf die Entscheidungen der Delegierten als das Vertreten lokaler Interessen ist vor allem die ideologische Positionierung der Listenabgeordneten. Auch das Alter sowie eine Wahlkreisnominierung haben relativ großen Einfluss auf die Entscheidungen der Delegierten fast aller Parteien. Nun kann spekuliert werden, ob eventuell Interaktionseffekte zwischen einer (nicht) vorhandenen Wahlkreisnominierung und dem Vertreten lokaler Interessen am Spiel sind und die Entscheidungen der Delegierten besser erklären können. Theoretisch etwa könnte das explizite Vertreten lokaler Interessen umso wichtiger werden, wenn eine Wahlkreisnominierung nicht vorliegt. Sowohl im vollen als auch in den Partei-samples zeigt sich jedoch kaum ein Interaktionseffekt, was eventuell auch an den hypothetischen Profilen liegen kann.

5.3 Unterschiedliche Präferenzen von heimischen vs. zugezogenen Delegierten?

Letztendlich soll nun noch untersucht werden, ob die Lokalität der Delegierten selbst einen Einfluss auf ihre Präferenzen für lokale Listenabgeordnete hat. Intuitiv kann erwartet werden, dass Delegierte, die selbst im Gebiet des Kreisverbands oder im Bundesland des vorliegenden Kreisverbandes geboren sind, einen höheren Wert darauflegen, dass auch Listenabgeordnete lokale Interessen vertreten und sich nicht bloß für allgemeine Parteipositionen engagieren. Dementsprechend bildet Abb. 4Marginal Means ab, aufgeschlüsselt nach dem Geburtsort der Delegierten; ob diese im Gebiet des Kreisverbands, im Bundesland des Kreisverbands oder außerhalb des Bundeslandes geboren sind.

Abb. 4
figure 4

Präferenzen für Lokalität von Listenabgeordneten nach Geburtsort der Delegierten. NB: Anzahl der Delegierten nach Geburtsort: außerhalb des Bundeslands n=197; im Bundesland n=145; im Gebiet des KV (Kreisverband) n=217

Wie aus der Abbildung zu sehen ist, gibt es keine systematischen Unterschiede zwischen autochthonen und zugezogenen Delegierten. Wie im allgemeinen Modell favorisieren Delegierte jeglicher Herkunft Listenabgeordnete, die hauptsächlich die Interessen des eigenen Kreisverbands vertreten und strafen jene, die sich um die Interessen auswärtiger Kreisverbände kümmern. Kaum eine Tendenz lässt sich für den Geburtsort der Profile erkennen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Delegierte aller Parteien und unabhängig der eigenen Herkunft Listenabgeordnete bevorzugen, welche sich für den Kreisverband des Delegierten einsetzen gegenüber Abgeordneten, die dies nicht tun. Auch wenn diese Tendenz über Parteien und Geburtsorte der Delegierten hinweg besteht, so gibt es beachtliche Unterschiede zwischen den Parteien, was das Vertreten von Interessen für die Entscheidung der Delegierten betrifft. Vor allem für Delegierte der Mitte und Mitte-rechts-Parteien polarisieren die drei Ausprägungen auf der Dimension der Interessensvertretung.

Was bedeutet dies nun für die Abgeordneten selbst? Da es für die Delegierten der meisten Kreisverbände bei einer Kampfkandidatur rein mathematisch nicht um eine Personalie des eigenen Verbands geht, stehen wohl in erster Linie Charakteristiken im Vordergrund, die die Ziele und das Ansehen der Partei im Allgemeinen mehren. Trotzdem kann auch für diese Delegierte lokale Interessensvertretung eine Rolle spielen, da vor allem bei den Parteien, die kaum oder keine Direktmandate erzielen, lokale Interessensvertretung ausschließlich über Listenabgeordnete geschehen muss, die sich dann oftmals um mehrere Kreisverbände gleichzeitig kümmern. So betreut etwa Julian Pahlke (Bündnis 90/Die Grüne) nach eigenen Angaben auf seiner Website die niedersächsischen Kreisverbände Aurich, Emden, Emsland, Leer und Wittmund, welche sich auf die drei Bundeswahlkreise 24 „Aurich – Emden“, 25 „Unterems“ und 26 „Friesland – Wilhelmshaven – Wittmund“ aufteilen.Footnote 4 Ähnlich liegt der Fall bei Pascal Kober (FDP), der auf seiner Website erklärt, neben seinem Heimatwahlkreis 289 „Reutlingen“, auch die Kreisverbände in den Wahlkreisen 290 „Tübingen“ und 295 „Zollernalb – Sigmaringen“ zu betreuen.Footnote 5 Delegierte von Kreisverbänden die auf diese Weise betreut werden, erhöhen damit die Anzahl an Delegierten die bei einer Kampfkandidatur in ihrer lokalen Interessensvertretung tangiert werden. Für Abgeordnete, auf der anderen Seite, impliziert dies, die eigene Koalition von Verbänden bezüglich der Interessensvertretung zufriedenzustellen, damit diese nicht revoltieren und sich anderweitig um Betreuung bemühen. Dass Kreisverbände Allianzen schmieden, um ihre eigenen Personalien zu fördern, weiß auch Hans-Josef Fell (Bündnis 90/Die Grünen) zu berichten. Im Zeitungsinterview betont der ehemalige MdB, der Grund für seine schlechte Positionierung auf Platz 12 der bayerischen Bundestagsliste sei nicht in erste Linie eine Abrechnung mit seiner Arbeit, sondern, dass „einige Bezirksverbände Allianzen gebildet [haben], um gegenseitig ihre regionalen Kandidaten zu unterstützen“.Footnote 6 Um sich vor solchen Konterkoalitionen zu schützen, ist es für Abgeordnete daher zweckrational, sich auch um die lokalen Interessen andere Verbände zu bemühen.

5.4 Hilfsanalysen und anekdotische Evidenz

Trotz dieser sehr konsistenten Befunde bleibt jedoch eine Frage noch offen, nämlich ob Delegierte überhaupt etwas über die Arbeit ihrer Abgeordneten wissen? Wie sollen sie informierte Entscheidungen in Bezug auf das Vertreten lokaler Interessen treffen, wenn sie eventuell gar nichts über die Arbeit der MdBs ihres Kreis- oder Landesverbands wissen. Um diese zentrale Annahme meiner Argumentation zu überprüfen, wurden die Delegierten im Anschluss an die Conjoint-Aufgaben gefragt, inwiefern sie den Aussagen zustimmen würden, dass Delegierte im Allgemeinen gut informiert sind über die Arbeit der MdBs ihres Kreisverbands, ihres Landesverbands, der gesamten Partei und – um dies in Verhältnis zu setzen – über tagesaktuelle Themen. Die Antwortmöglichkeiten rangieren von „stimme überhaupt nicht zu“ (1) zu „stimme voll und ganz zu“ (7) auf einer 7‑Punkte-Skala.

Abb. 5 zeigt die Verteilung der Zustimmung zu den vier abgefragten Aussagen – getrennt nach Partei. Die visuelle Betrachtung deutet darauf hin, dass – wie zu erwarten – Delegierte vor allem über die Arbeit der MdBs des eigenen Kreis- bzw. Bezirksverbands informiert sind, während diese Informiertheit mit der geografischen Distanz zu den MdBs und ihrer Anzahl abnimmt. Wird die Informiertheit über die Arbeit der MdBs des eigenen Verbands verglichen mit den Kenntnissen der Delegierten über tagespolitischen Themen, so lässt sich visuell kaum ein Unterschied ausmachen. In der Tat, eine Reihe Mittelwert-Tests getrennt nach Parteien zeigt, dass Mittelwerte zwischen der Informiertheit über die Arbeit der MdBs des eigenen Verbands und die Informiertheit der Delegierten über tagespolitische Themen nicht signifikant unterschiedlich ist für alle Parteien außer Bündnis 90/Die Grünen. Mittelwert-Tests zwischen der Informiertheit über tagespolitische Themen und der Arbeit der MdBs der Landes- oder Bundesverbände sind hingegen signifikant unterschiedlich für alle Parteien.

Abb. 5
figure 5

Informiertheit der Delegierten über die Arbeit der MdBs ihrer Partei. NB: Abbildung zeigt Verteilungen der Zustimmung der Delegierten zu den vier Aussagen mit dem Prompt: „Wie sehr stimmen Sie den folgenden Aussagen mit Bezug auf die Delegierten Ihrer Partei zu? Delegierte sind gut informiert über …“

Zum Abschluss der Umfrage habe ich die Delegierten in einer offenen Frage gefragt, ob sie bereits einmal erlebt haben, dass amtierende MdBs bei einer Listenaufstellung nicht wieder nominiert wurden und den vermeintlichen Gründen dazu. In keiner Weise wurde hierbei die Rolle von Lokalität der MdBs salient gemacht. Neben Nennungen zu Flügelkämpfen innerhalb der Partei, des Alters und Amtszeit sowie der Persönlichkeit der MdBs haben Delegierte von fast allen Parteien und Landesverbänden auch von sich aus auf die Rolle von Präsenz im und Kommunikation mit dem Kreisverband hingewiesen. Ein Delegierter von Die LINKE aus Niedersachsen etwa schreibt zu den möglichen Gründen einer Nichtnominierung „Der MdB war vor Ort nicht verankert und wenig Präsenz“. Ein FDP-Delegierter aus Baden-Württemberg weiter: „… Ursula Sailer-AlbringFootnote 7 wurde nicht wieder nominiert, keine Bindung zur Basis“. Ein anderer Delegierter der FDP aus Niedersachsen schreibt, „… zu wenig präsent im eigenen Verband“. Zwei Hamburger Delegierten der SPD – beide beziehen sich wohl auf denselben Fall – nennen „fehlende Wahlkreisarbeit“ und „… war zu wenig im WK [Wahlkreis] präsent“. Drei Delegierte aus Rheinland-Pfalz von Bündnis 90/Die Grünen sehen die Gründe für eine Nichtnominierung in „unzureichende[r] Kommunikation mit der Parteibasis“, darin, dass „er … zumindest gefühlt in seiner letzten LP [Legislaturperiode] wenig Präsenz im Land gezeigt“ hatte und, dass „der MdB als Fraktionsvorstand so sehr in Berlin gebunden [war], dass er in RLP [Rheinland-Pfalz] kaum in Erscheinung treten konnte“.

Zahlreiche Delegierte haben darüber hinaus mangelhafte Arbeit und Leistung im Bundestag als Gründe für Nichtnominierungen von MdBs angeführt. Ein weiteres Indiz dafür, dass Delegierte gut informiert sind darüber, was MdBs im Bundestag leisten – oder auch nicht leisten.

Letztendlich bleibt die Frage, wie relevant Delegierte und ihre Vorlieben bei der Listenaufstellung tatsächlich sind. Auch wenn vor allem die traditionell größeren Parteien wie die CDU und SPD ihre Listenvorschläge von ihren Delegierten oftmals bloß akklamieren lassen und echte Kampfkandidaturen eher selten sind, deuten Arbeiten wie die von Schüttemeyer und Höhne (2019) darauf hin, dass zwischen knapp 17 % und 55 % der Listenkandidaturen bei Die LINKE, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP umkämpft sind. Ebenfalls deuten die Antworten zu meiner offenen Frage darauf hin, dass Kampfkandidaturen in allen Parteien vorkommen und darauf, dass die Präferenzen der Delegierten bei diesen innerparteilichen Auseinandersetzungen Einfluss haben können auf die Nominierungsentscheidungen der Parteien und letztendlich darauf, wer im Parlament Platz nimmt.

6 Fazit

Welche Rolle spielen Indikatoren von Lokalität bei der Kandidatenaufstellung der Bundestagsparteien? Die etablierte Forschung verweist darauf, dass Parteien und damit implizit auch die Delegierten der Parteien, die mit geschlossenen Parteilisten antreten, wenig Augenmerk auf die Lokalität ihrer Kandidierenden und Abgeordneten legen. Lokalität – als Indikator von Personal-vote Earning Attributes – wird eher von Kandidierenden in Wahlkreisen mit Direktwahl und bei offenen Parteilisten erwartet (siehe z. B. Shugart et al. 2005; Stratmann und Baur 2002). Was dies impliziert ist jedoch, dass Delegierte von Parteien, die de facto nur Listenabgeordnete im Parlament haben, keine Vertretung lokaler Interessen wünschen. Dass dies zu kurzgefasst ist, ist der Befund dieses Beitrags.

Die Ergebnisse des Conjoint-Experiments mit Delegierten von fünf Bundestagsparteien die ihre Kandidierenden per Delegiertenversammlungen aufstellen, deutet auf die Präferenz für das Vertreten lokaler Interessen bei Listenabgeordneten. Während diese Präferenz sich nicht unterscheidet zwischen den Delegierten verschiedener Parteien sowie autochthonen und zugezogenen Delegierten, so lassen sich Unterschiede in Bezug auf den relativen Einfluss von Lokalität verglichen mit anderen Faktoren zwischen den Parteien finden. Vor allem Mitte- und Mitte-rechts-Parteien scheinen mehr Wert auf das Vertreten lokaler Interessen von Listenabgeordneten zu legen. Erstaunlicherweise hat der Geburtsort der Kandidierenden – für Wählerinnen oft von großer Bedeutung (vgl. Schulte-Cloos und Bauer 2023; Velimsky et al. 2023) – keinen großen Einfluss auf die Entscheidungen der Delegierten.

Diese Befunde zu den Präferenzen von Delegierten haben Implikationen für unser Verständnis von lokaler Repräsentation in Wahlsystemen mit geschlossenen Parteilisten. Entgegen der simplifizierenden Dichotomisierung von politischem Verhalten ausgehend von elektoralen Anreizen, können die Präferenzen der Selektoren weitere Anreize selektoraler Natur in die Gleichung hineintragen und eventuell eine weitere Erklärung bieten für das lokal-orientierte Verhalten von Abgeordneten, die unter Wahlsystemen mit geschlossenen Parteilisten agieren (vgl. Borgettho et al. 2020; Geese und Martínez-Cantó 2022).

Nichtsdestotrotz, ist dieser Beitrag limitiert in Bezug auf mindestens zwei Punkte. Erstens konnte nicht untersucht werden, ob die Vorliebe von Delegierten für lokale Repräsentation tatsächlich Implikationen für das Verhalten von Abgeordneten im Bundestag (oder während des Wahlkampfes) hat und, zweitens in Bezug auf die hypothetische Natur des Conjoint-Designs. Zukünftige Studien könnten die Frage nach der (lokalen) Interessensvertretung in einer stärker polarisierten Form fragen, um den vermeintlichen Unterschied zwischen geografischer und programmatischer Repräsentation zuzuspitzen. Zudem könnten diese Studien expliziter untersuchen, ob und wie diese Präferenzen der Delegierten auf das tatsächliche Verhalten von Abgeordneten wirken und eventuell weiter die bisherigen als klar betrachteten (Verhaltens‑)Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Mandatstypen in Mischwahlsystemen aufweichen.