1 Einleitung

In diesem Beitrag soll es um die Überprüfung des Zusammenhangs von Konfession und Wahlverhalten in Deutschland anhand einer spezifischen Frage gehen, die sich überhaupt erst mit dem kürzlichen Eintritt einer neuen Partei in das deutsche Parteiensystem ergeben hat. Es geht um die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) und um die Frage, ob sich in Bezug auf sie ein konfessionelles Muster des Wahlverhaltens feststellen lässt, und zwar hier beschränkt auf die Frage nach einem Zusammenhang zwischen katholischer Konfession und einem solchen Wahlverhalten.

Nach ersten Studien, die in dieser Hinsicht keine systematischen Effekte identifizieren konnten oder widersprüchliche Befunde lieferten (Arzheimer und Berning 2019; Jäckle et al. 2018; Siegers und Jedinger 2021), ist kürzlich eine beachtenswerte Studie des Politikwissenschaftlers Lukas Haffert veröffentlicht worden, in der der Autor einen solchen Effekt in der Bundestagswahl 2017 eindrücklich nachweist; allerdings nur dann, wenn man nach dem ehemaligen Staatsgebiet Preußens differenziert (Haffert 2022a). Dann nämlich zeigen sich bemerkenswerterweise entgegenlaufende Effekte, die sich in einer bundesweiten Betrachtung des Wahlverhaltens von KatholikenFootnote 1 wechselseitig aufheben: Im Gebiet des ehemaligen Preußen wählen Katholiken signifikant seltener die AfD, in den ehemals nichtpreußischen Gebieten signifikant häufiger.Footnote 2 Das ist ein wichtiger, interessanter Befund, den der Autor zentral mit der Intensität des Kulturkampfs, der in Preußen deutlich intensiver geführt wurde als außerhalb, und dessen Niederschlag in einem organisatorisch dann dichter verfassten katholischen Milieu erklärt. Und dort, so die These des Autors, wo dieses Milieu bis heute über ein intakteres, aktiveres Organisationsnetzwerk verfügt, zeigt es sich dann weniger geneigt, rechtspopulistisch zu wählen.

Der folgende Beitrag diskutiert zunächst einen möglichen alternativen Kausalitätspfad, der nicht über das Organisationsnetzwerk des katholischen Milieus, sondern über die manifesten regionalen Unterschiede in der programmatisch-ideologischen Ausrichtung der Landesverbände der UnionFootnote 3 verläuft (2.). In der empirischen Überprüfung geht es dann darum, zwischen diesen beiden alternativen Erklärungen zu diskriminieren. Dazu dient vor allem die Betrachtung der letzten beiden Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, ein auch für die Haffert-These zentraler Fall, ist dieses Bundesland doch „zusammengesetzt“ aus ehemals preußischen und ehemals nichtpreußischen Gebieten (in Bezug auf Letzteres: die bayerische Pfalz, ursprünglich zu Bayern gehörig, Rheinhessen, ursprünglich Teil des Großherzogtum Hessens, und das Gebiet um Birkenfeld, ursprünglich eine Exklave Oldenburgs).

Unsere Auswertungen der letzten beiden Landtagswahlen in diesem Bundesland zeigen nun aber, dass ein Kulturkampfeffekt nicht nachgewiesen werden kann, und dabei werden auch generelle Probleme seiner Messung evident. Zugleich können wir einen robusten Effekt der programmatisch-ideologischen Position von Landesverbänden der Union auf das Wahlverhalten von Katholiken beziehungsweise generell von Wählern in den entsprechenden Bundesländern in den Bundestagswahlen 2017 und 2021 identifizieren – in der erwarteten Richtung: Dort wo die Landesverbände der Partei konservativer aufgestellt sind, finden wir einen positiven Interaktionseffekt zwischen Katholikenanteil und AfD-Zweitstimmenergebnis.Footnote 4 Wir interpretieren das als Hinweis darauf, dass es nicht langfristig wirkende Effekte eines katholischen Milieus sind, die das regional unterschiedliche Wahlverhalten von Katholiken bezüglich der AfD erklären, sondern – etwas trivialer, aber zeitnaher und direkter – programmatische Abweichungen zwischen Landesverbänden der Union und einer seit 2005 deutlich nach links rückenden Bundes-CDU. Wieweit diese programmatischen Differenzen selbst auf eine „konfessionelle Konstellation“ zurückverweisen, in der der Katholizismus entweder Mehrheitsreligion war (außerhalb Preußens, und deshalb bis heute konservativer geprägt ist), oder einen Minderheitenstatus besaß (in Preußen, und damit bis heute moderater positioniert ist), diskutieren wir, ohne dass unser Beitrag einen solchen Zusammenhang selbst überprüfen oder belegen kann oder auch nur will. Unsere Auswertung legt zumindest nahe, dass der Effekt der programmatischen Position der Union in den Ländern auf die jeweilige Wahrscheinlichkeit der AfD-Wahl unabhängig von der Konfession ist.

2 Minderheits- vs. Mehrheitskatholizismus

Die Kausalkette, die in dem Aufsatz von Lukas Haffert für das je nach historischer Zugehörigkeit von Regionen zum ehemaligen Preußen variierende Wahlverhalten von katholischen Wählern verantwortlich gemacht wird, verläuft von den Unterschieden in der Intensität des Kulturkampfs innerhalb und außerhalb Preußens hin zu differenten Graden der Verfestigung eines katholischen Milieus, einhergehend mit einer mal stärkeren, mal schwächeren Emanzipation dieses Milieus von der Kirchenhierarchie. Die Organisations- und Verbandsstrukturen, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden preußischen Nationalstaat etablierten, entfalten schließlich, so das Argument, eine bis heute sichtbare, vielfältige Aktivität und Wirkung innerhalb dieses Milieus. Letztlich, so Haffert, finden sie ihren Niederschlag auch in Unterschieden des Wahlverhaltens.

Der Autor fasst sein Argument wie folgt zusammen:

„In German states where Catholics were oppressed, in particular in Prussia, they developed a tight, strongly organized milieu in which they separated themselves from the state, but also from the clerical hierarchy. By contrast, political Catholicism in Southern Germany remained more closely related to the Church and was less driven by laity. When the Church began losing its influence over the voting behavior of the faithful, there was thus no equifinal mechanism that stopped Southern German Catholics from supporting the radical right“ (Haffert 2022a, S. 612).

Die vom Autor präsentierte empirische Evidenz passt weitestgehend zu dieser Erklärung; aber wie so oft in den Sozialwissenschaften gibt es auch hier einen alternativen Kausalmechanismus, der für die Bundestagswahl 2017 (wie auch für die BTW 2021; s. unten) das im Wesentlichen gleiche empirische Muster vorhersagen würde, und der vom Autor nicht thematisiert wird. Es handelt sich hier also um das in den Sozialwissenschaften notorische Problem der Überdetermination.

Eine Alternativerklärung für die vorfindbaren Muster im Wahlverhalten der Katholiken könnte mit dem Argument einsetzen, dass es bedeutsam ist, ob der Katholizismus Mehrheits- oder Minderheitsreligion war.Footnote 5 In Preußen war er deutlich Minderheitsreligion; in Bayern und Baden, als den zentralen katholischen Gebieten außerhalb Preußens, war er eindeutig Mehrheitsreligion. Wenn damit auch noch die Einschätzung übereinstimmt, dass der Katholizismus als Minderheit eine stärkere Unterdrückungserfahrung gemacht hat, so würde dieses Argument zumindest zusätzlich zu den Folgen für die Organisationsdichte des katholischen Milieus auch betonen, dass der konfessionelle Minderheits- vs. Mehrheitsstatus Konsequenzen für die Art des politischen Katholizismus hat, der daraus resultiert, für seine programmatisch-ideologische Ausrichtung. Das hat nicht zuletzt etwas zu tun mit politischen Kompromisszwängen (etwa Wahlkreisabsprachen oder Gesetzgebungskoalitionen), die für Minderheiten zwingender sind als für Mehrheiten (Schröder und Manow 2014). In der Konsequenz entwickelte sich das Zentrum als klassische party of religious defense in Preußen programmatisch moderater, weniger ultramontan, weniger klerikal.Footnote 6 Dort, wo der Katholizismus Mehrheitsreligion war, konnte das Zentrum hingegen kompromissloser, orthodoxer, antimoderner auftreten.

Wir können es für das hier verfolgte Argument letztlich dahingestellt lassen, ob dies der Grund für die (im Vergleich zu anderen Landesverbänden, dann aber auch zunehmend im Vergleich zur Bundespartei) konservativere programmatische Positionierung der CDU in Baden-Württemberg und der CSU in Bayern ist (vgl. Bräuninger et al. 2020). Das scheint uns zwar plausibel, nicht zuletzt, weil die Christdemokratie im Süden eine stärker katholische Prägung beibehalten konnte, während sie anderenorts nach 1945 eher zu einer konfessionsübergreifenden Partei wurde, zu einer „Union der Bekenntnisse“. Es war zum Beispiel vor allem dieser konfessionsübergreifende Charakter der Union, der nach dem Krieg als Gegenbewegung Zentrumsneugründungen in „Hessen, Baden, Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz“ (Schmidt 1986) motivierte, d. h. zumeist in nichtpreußischem Gebiet – die dann später, aufgrund der Anreizmechanismen des bundesdeutschen Wahlrechts, wieder in der Union aufgingen. Aber unabhängig von den genauen historischen Gründen ist für unser Argument letztlich der Umstand entscheidend, dass der bayerische und der baden-württembergische Landesverband der Christdemokraten in gesellschaftspolitischen Fragen systematisch konservativer aufgestellt sind als andere Landesverbände (siehe Abb. 1) – und beide Verbände damit auch besondere Schwierigkeiten mit dem Linksschwenk der Bundespartei unter Angela Merkel hatten und haben.

Abb. 1
figure 1

Die programmatischen Positionen der CDU (CSU) Landesparteien, 1990–2020, in der soziokulturellen Dimension; vgl. Bräuninger et al. (2020)

Wie aus Abb. 1 ersichtlich,Footnote 7 die die aus den Wahlprogrammen der Christdemokraten bei westdeutschen Landtagswahlen textanalytisch gewonnenen ideologischen Positionierungen seit 1990 berichtet, waren und sind die CSU und die baden-württembergische CDU in gesellschaftspolitischen Fragen regelmäßig konservativer orientiert als ihre westdeutschen regionalen Schwesterparteien. Sie vollziehen zwar seit den 1990er-Jahren einen generellen Liberalisierungsprozess mit, bleiben aber über den Betrachtungszeitraum in der Gesamtheit der westdeutschen Landesparteien konservativer positioniert.

Hier nun, so die zu Hafferts Longue-durée-Argument alternative These, könnte – sehr viel naheliegender als zeitlich 130 Jahre zurückreichende, wenngleich organisatorisch verfestigte Unterdrückungserfahrungen – ein Grund für unterschiedliche „Abwanderungswahrscheinlichkeiten“ katholischer Wähler liegen: In einer Situation, in der die Bundes-CDU unter dem Parteivorsitz von Angela Merkel markant nach links rückte und insbesondere in der Flüchtlingskrise ihr politisches Handeln das eigene Lager massiv verstörte, erhöhte sich in der Folge die Abwanderungswahrscheinlichkeit von CDU-Wählern zur AfD insbesondere in den Ländern, in denen ihnen zuvor immer ein deutlich konservativeres programmatisches Angebot gemacht wurde.

Schließlich war das Votum für die AfD bei vormaligen CDU-Wählern ja oftmals eine an die eigene Partei adressierte Proteststimme, und bestimmte Landesverbände der Union hatten 2017 – und erneut 2021 – große Schwierigkeiten, für Angela Merkel, der ostdeutschen Tochter eines protestantischen Pfarrers bzw. dann Armin Laschet, aus dem Herzen des rheinischen Katholizismus stammend und linientreuer Merkelianer, Bundestagswahlkampf zu betreiben.Footnote 8 Deutliche Kritik erst an der Eurorettungspolitik der Kanzlerin, vor allem dann aber an ihren Entscheidungen im Herbst 2015, hatte bei aller Loyalität der mächtige Repräsentant der baden-württembergischen CDU, Wolfgang Schäuble, formuliert. Das Bewusstsein, dass die Unterstützung für ihren Kurs nicht nur in Bayern, sondern auch unter den zahlenstarken baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten besonders fraglich war, hatte die Ernennung von Volker Kauder zum Fraktionsvorsitzenden motiviert. Der fast zum Bruch der Regierung und einer Verfassungskrise führende Konflikt zwischen der Merkel-CDU und der CSU im Jahr 2018 über die Migrationspolitik, schließlich auch die tiefen Konflikte im Jahr 2021 über die Kanzlerkandidatur Armin Laschets, ein klarer Repräsentant des linken CDU-Flügels, dem die bayerische CSU Markus Söder und die baden-württembergische CDU Friedrich Merz klar vorgezogen hätten, sind noch in frischer Erinnerung. Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass die prononciert konservativere Ausrichtung der süddeutschen Landesverbände der Union für das Wahlverhalten der katholischen Wähler dieser Länder 2017 und 2021 keinerlei Rolle gespielt haben soll. In Hafferts Studie findet sich dieser Aspekt nicht näher beleuchtet, seine Untersuchung der Determinanten für eine AfD-Stimmenabgabe in einer ja sonst am ehesten der Union zugeneigten Wählerschaft bleibt überraschend kontextfrei.

Der Kausalmechanismus, der „Konfession“ in aktuelles Wahlverhalten übersetzt, wäre in diesem Fall nicht (oder zumindest nicht nur) die Organisationsdichte des katholischen Milieus, sondern (zumindest auch) seine je nach Kontext unterschiedliche ideologische Orientierung – transportiert von den Landesverbänden von CDU bzw. der CSU.Footnote 9 Wobei, wie wir zeigen, diese parteipolitisch vermittelte Orientierung dann auch kein exklusiv katholisches Phänomen ist. Anders formuliert: Es geht in dieser Erklärungsalternative nicht allein um Unterschiede in den Einstellungen von Wählern („Nachfrage“), sondern in einer stark föderalen Partei wie der CDU/CSU auch um Unterschiede im programmatischen Angebot – und um Parteien als Sozialisationsakteure. Das heißt auch, dass wir nicht unterstellen, (katholische) Wähler hätten in Süddeutschland prinzipiell und „von vornherein“ konservativere politische Präferenzen. Unser Argument stellt stattdessen auf ein anderes programmatisches Angebot ab, das dann sicherlich auch in den langen Jahren der Regierungsverantwortung der Union in Bayern und Baden-Württemberg einen sozialisierenden Effekt zeitigte. In unserer Erklärung geht es also nicht um eine „Church … losing its influence over the voting behavior of the faithful“, denn es gehört ja zur Ironie der Haffertschen Erklärung, dass gemäß ihr die offiziellen, prononciert vor einer Wahl der Rechtspopulisten warnenden Verlautbarungen der katholischen Kirche nun gerade bei denjenigen Katholiken auf besonders fruchtbaren Boden gefallen sein sollen, die sich von der Kirchenhierarchie frühzeitig emanzipierten. Die alternative Erklärung des gleichen empirischen Musters würde stattdessen abstellen auf bestimmte CDU-Landesparteien bzw. die CSU, die aufgrund manifester programmatischer Divergenzen in den letzten beiden Bundestagswahlen erkennbar keine Lust entwickelten, überhaupt noch einen großen Einfluss auf das Wahlverhalten ihrer Mitglieder oder üblichen Stammwähler zu gewinnen. Dann ist aber eine größere Abwanderungswahrscheinlichkeit dieser Wähler alles andere als überraschend und kann ohne Bezug auf historische Unterdrückungserfahrungen erklärt werden.

3 Empirie: Replikation und Erweiterung

Zwischen den zwei Erklärungsansätzen, die beide ihre eigene Plausibilität besitzen, lässt sich im Wesentlichen nur empirisch unterscheiden; aber da auch beide zur gleichen Zeit wahr sein können, sind einem „harten Test“ und wirklicher kausaler Identifikation gewisse Grenzen gesetzt.

In der nun folgenden empirischen Validierung soll zu Beginn eine einfache Plausibilitätsprüfung stehen, die zunächst das Haffertsche statistische Modell für die Bundestagswahl von 2021 repliziert. Wenn man zur Erklärung von Wahlverhalten auf institutionell verfestigte Langfristeffekte historischer Konflikte abstellt, müsste sich das vom Autor identifizierte Muster ja auch vier Jahre später, in der Bundestagswahl von September 2021, erneut in den Unterschieden im Wahlverhalten von Katholiken innerhalb und außerhalb des alten preußischen Staatsgebiets zeigen. Die AfD stand auch 2021 erneut zur Wahl, und sie hatte sich seit der letzten Bundestagswahl ideologisch weiter radikalisiert. Die identischen Mechanismen müssten daher am Werk gewesen sein.Footnote 10 Einschränkend wollen wir sogleich darauf hinweisen, dass die Alternativerklärung, die auf unterschiedliche ideologisch-programmatische Ausrichtungen des politischen Katholizismus in Deutschland abstellt, ebenfalls erwarten würde, dass die genannten Effekte sich so wie 2017 auch 2021 zeigen sollten, weil sich ja der Konflikt über die politisch-programmatische Ausrichtung zwischen CDU-Bundespartei und den Landesverbänden der Südländer mit der Entscheidung für die Merkel-Nachfolge fortgesetzt hatte, virulent blieb.

Tab. 1 Replikationen, für BTW 2017 (1) und 2021 (2 und 3)

Die vom Bundeswahlleiter zur Verfügung gestellte Wahlbezirksstatistik für die Bundestagswahl von 2021 und die vom Autor selbst öffentlich gemachten Kodierungen (Haffert 2021) erleichtern die Replikation seines Modells für die Wahl von 2021 (siehe Tab. 1; Modell 2) – und diese Replikation erbringt zunächst ein mit der Bundestagswahl vier Jahre zuvor im Wesentlichen übereinstimmendes Bild (Tab. 1). Die Beobachtungsebene ist weiterhin die Gemeinde, d. h. wir haben die Wahlbezirksstatistik mit ihren Beobachtungen für die etwa 85.000 Wahlbezirke auf die knapp 8000 Gemeinden aggregiert.

Wie Tab. 1 zeigt, stellen sich in der Bundestagswahl von 2021 die Effekte des theoretischen Interesses tatsächlich erneut ein: Das Wahlverhalten der Katholiken variiert auch in 2021 nach Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zum ehemaligen preußischen Staatsgebiet. Wie 2017 geht die Zugehörigkeit zum Gebiet des ehemaligen Preußen bei Katholiken mit einem schwächeren Ergebnis der AfD einher, entsprechend findet sich in den ehemals außerpreußischen Gebieten ein stärkeres AfD-Ergebnis. Die weiteren Kontrollvariablen bleiben im Wesentlichen stabil, was auch als Hinweis auf die Reliabilität des Modells gelesen werden kann. Die Variable, die den Effekt des katholischen Bevölkerungsanteils auf die abhängige Variable (AfD-Zweitstimmenanteil) misst, verliert allerdings an Signifikanz und Effektstärke. Nichtdestotrotz bleibt der Befund des ursprünglichen Modells, was den Interaktionseffekt zwischen Katholikenanteil und ehemals außerpreußischen Gebieten angeht, bestehen. Aber dieses Ergebnis wäre ja auch aus Sicht der Alternativthese zu erwarten gewesen, denn die süddeutsche Christdemokratie haderte mit dem loyalen Merkelianer Laschet ja nicht weniger als vier Jahre zuvor mit Merkel selber. Insofern erlaubt die Replikation auch zunächst noch nicht, zwischen beiden Erklärungen zu diskriminieren.Footnote 11

Wenn wir aber vermuten, dass die Unterschiede im Wahlverhalten sich weniger der historischen (organisatorisch vermittelten) Langfristwirkung konfessioneller Unterdrückung, sondern eher den Regionalunterschieden in der programmatisch-ideologischen Ausrichtung des politischen Katholizismus verdanken (die wiederum ein lange fortwirkender Effekt historischer konfessioneller Mehrheitsverhältnisse sein können und daher auch mit der Unterscheidung nach Preußen/Nichtpreußen kovariieren würden), dann ist es sinnvoll, eine Variable, die diese Unterschiede abbildet, in die Regression aufzunehmen. Dem dienen die oben bereits erwähnten Daten, d. h. die per Wordscore aus den Wahlprogrammen der CDU/CSU-Landesverbände für die Landtagswahlen der jüngsten Vergangenheit gewonnenen Positionierungen dieser Parteien auf einer soziokulturellen (oder sozioökonomischen oder einer generellen Links-Rechts‑)Skala (Bräuninger et al. 2013). Dies sind Positionierungen von sehr liberal bis sehr konservativ (soziokulturell etwa in der Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe), oder von sehr staats- und umverteilungsorientiert bis sehr marktliberal (auf einer sozioökonomischen Skala). Da zu vermuten steht, dass wir es bei der Frage einer Wahl der AfD zumindest mit einer dominant soziokulturell gerahmten Entscheidung zu tun haben, und da zumindest die Flüchtlingskrise wie auch die zuvor erfolgten familienpolitischen Entscheidungen der Merkel-Regierung insbesondere auf dieser Dimension „salient“ waren, sind es die gesellschaftspolitischen Positionen, die in die Regressionen von Tab. 2 Eingang finden.Footnote 12

Tab. 2 Ideologische Position der Union-Landesverbände, Katholikenanteil und AfD-Zweitstimmen

Diese Modellspezifikation liefert nun eine Bestätigung unserer Alternativvermutung: Dort, wo die CDU oder die CSU im Land konservativer aufgestellt ist, ist die AfD im Bund erfolgreicher (Modell 1). Dies ist ein Effekt, der auch unter Einschluss einer mit dem Haffertschen Originalmodell identischen Batterie von Kontrollvariablen stabil und signifikant bleibt, während sich seine Effektstärke nur geringfügig verringert (Modell 2). Dass das kein auf das katholische Milieu exklusiv zutreffender Effekt ist, womit weitere Evidenz für unsere alternative, auf programmatische Unterschiede abstellende Erklärung geliefert wird, zeigt sich, wenn man ganz generell auf die Abwanderungsneigung von der Union zur AfD blickt. Dazu interagieren wir unsere Variable der ideologisch-programmatischen Position der Landesverbände mit der Differenz des CDU- oder CSU-Ergebnisses zwischen 2017 und 2013, also den Verlusten, die die CDU/CSU in einer Gemeinde zu verzeichnen hatte. Hier zeigt sich, dass Verluste der Union dort stärker mit einem guten Abschneiden der AfD assoziiert sind, wo der Landesverband konservativer aufgestellt ist. Der Interaktionseffekt ist signifikant (Modell 3) und in Abb. 2 veranschaulicht. Eine solche Erklärung kommt also ohne Verweis auf den spezifischen Einfluss eines katholischen Milieus aus. Damit erklären sich die Befunde bei Haffert, so unsere Vermutung, auch nur als reiner Kompositionseffekt: Weil der katholische Bevölkerungsanteil in den Ländern mit konservativeren Landesverbänden der Union höher ist, findet man einen regional divergenten Einfluss auf katholische Wähler, ohne dass dies – zumindest gegenwärtig – irgendetwas mit Konfession zu tun haben muss.Footnote 13

Abb. 2
figure 2

Der Effekt des Verlustes der Union zwischen 2017 und 2013 auf das AfD-Ergebnis, nach soziokultureller Position des Landesverbandes der Union. Vorhergesagte Werte, basierend auf Modell 3 in Tab. 2. Die Werte der Position der Länder-Union wurden auf die Minimal- und Maximalwerte der Stichprobe festgesetzt, die sich in Schleswig-Holstein, bzw. Bayern vorfinden

Da diese Befunde auf die Bedeutung der Unterschiede im ideologisch-programmatischen Profil zwischen Bundes- und jeweiliger Landes-CDU verweisen und diese Unterschiede sich durch die signifikante Linksverschiebung der Bundes-CDU in der Zeit der Kanzlerschaft Merkels vergrößert haben, können wir in einem dritten Schritt für die weitere Überprüfung unserer Alternativhypothese eine Konstellation nutzen, die Lukas Haffert selbst als „natural experiment“ für seine These nutzt. Rheinland-Pfalz als Land, das erst nach 1945 aus einem ehemals preußischen und ehemals nichtpreußischen Landesteilen gebildet wurde, eröffnet uns nun die Möglichkeit einer Untersuchung rheinland-pfälzischer Landtagswahlen getrennt nach diesen historischen Landesgebieten.

Warum Landtagswahlen? Würde man der Haffert-These folgen, müsste man auch hier Unterschiede zwischen dem ehemals preußischen und den nichtpreußischen Landesteilen identifizieren können, denn diese sind ja, so der bei ihm unterstellte Kausalmechanismus, durch ein katholisches Milieu vermittelt, das aufgrund unterschiedlicher Unterdrückungserfahrungen unterschiedlich „dicht“ organisiert ist und damit unterschiedliche Prägewirkungen für katholische Wähler zeitigt. Folgt man allerdings unserer Alternativvermutung, sollten sich keine deutlichen Unterschiede zwischen den Landesteilen zeigen, denn in Landtagswahlen entstehen ja keine Mobilisierungsprobleme einer konservativen Landes-CDU für eine aus ihrer Sicht programmatisch „zu liberale“ Bundes-CDU; d. h. die Problematik des föderalen two-level games, in denen Landesparteien sich ja zuweilen auch gegen die eigene Bundespartei politisch profilieren, und die in der spezifischen Konstellation von 2017, in den Nachwehen der Migrationskrise, besonders virulent war, sollte hier entfallen. Entsprechend wäre die alternative Erwartung, dass sich in einer rheinland-pfälzischen Landtagswahl unter Katholiken keine zwischen den ehemals preußischen und nichtpreußischen Landesteilen variierenden AfD-Stimmenanteile zeigen sollten. Diese Ebene sollte uns also helfen, zwischen den beiden Thesen, der Haffertschen „katholisches Milieu“-These und der hier entwickelten alternativen „programmatische Differenz“-These, zu diskriminieren. Während die Haffert-These solche Effekte auch auf der Ebene der Landtagswahl erwarten müsste, erwartet sie die programmatische Differenz-These nicht. Zugleich können wir mit einer solchen auf ein Bundesland beschränkten Betrachtung eine Vielzahl konfundierender und möglicherweise unbeobachteter Varianz zwischen Bundesländern ausschließen.Footnote 14

Idealerweise fanden die letzten beiden rheinland-pfälzischen Landtagswahlen 2016 und 2021 in zeitlicher Nähe zu den Bundestagswahlen von 2017 und 2021 statt, sodass man ausschließen kann, dass größere politische Ereignisse im Land oder im Bund in der Zwischenzeit die jeweiligen Wahlentscheidungen unvergleichbar gemacht hätten.Footnote 15 Im Gegenteil, im Fall der letzten Landtagswahl in Rheinland-Pfalz vom 14. März 2021 könnte man eher eine zu große Nähe zur Bundestagswahl vom 21. September befürchten, weil im Frühjahr die Debatten um die Spitzenkandidaturen der Parteien für die Bundestagswahl die landespolitischen Vorkommnisse möglicherweise schon zum Teil überlagert haben. Tatsächlich zeigen sich in der Auswertung beider Landtagswahlen aber keine Unterschiede – sowohl 2017 als auch vier Jahre später findet sich keinerlei „Kulturkampf“-Effekt. Tab. 3 berichtet die Replikation des Haffert-Modells für die rheinland-pfälzische Landtagswahl von 2016 (siehe Haffert 2022a, S. 605–606, insbesondere Tab. 2), im Online-Anhang sind die entsprechenden Modelle für die Landtagswahl von 2021 berichtet (Tabelle A.1).

Tab. 3 Die rheinland-pfälzischen Landtagswahl 2016, Persistenz des Preußen-Effekts?

Wie in dem Original-Artikel berichten die Modelle 1–3 von Tab. 3 zunächst den Effekt des Preußen-Dummies und seiner Interaktion mit dem Katholikenanteil; und wie im ursprünglichen Aufsatz bleiben die Variablen von theoretischem Interesse insignifikant. Betrachten wir nun allerdings nicht die Unterschiede zwischen den ehemaligen Landesteilen, sondern – erneut wie im Originalaufsatz selbst – stattdessen die Intensität der katholischen Unterdrückungserfahrung im Kulturkampf (mit oder ohne Kontrollvariablen; Modell 4 und 5), so stellt sich nicht nur keinerlei signifikanter Effekt ein, auch das Vorzeichen dreht sich um (Modell 5). Zwischen Katholikenanteil und Kulturkampfintensität in ihrer Wirkung auf den AfD-Stimmenanteil wäre also, wenn überhaupt, ein negativer Effekt festzustellen. Den gleichen Befund finden wir in der Analyse der 2021er-Wahl (siehe Tabelle A.1).

Damit entfällt in unserer Übertragung des Haffertschen Modells auf die Landtagswahlen von Rheinland-Pfalz von 2016 und 2021 der entscheidende Beweis für einen Zusammenhang zwischen historischer Unterdrückungserfahrung, Organisationsdichte des katholischen Milieus und aktuellem Wahlverhalten. Dieser lässt sich schlicht nicht nachweisen. Da in der Interpretation von Interaktionseffekten die konstitutiven Terme selbst schwer zu interpretieren sind, ist der Interaktionsterm selber die entscheidende Größe – er verbleibt hier insignifikant (Brambor et al. 2006; Kam und Franzese 2007). Wir werten das als weiteren Hinweis darauf, dass für die regionalen Unterschiede in der Abwanderungsbereitschaft katholischer Wähler zur AfD andere als die von Haffert vermuteten Gründe ursächlich sind.

Auf die sich im Anschluss stellende Frage, warum der Autor dann solche Effekte in Rheinland-Pfalz für die Bundestagswahl von 2017 gefunden hat, ist viererlei anzumerken:

  • Zunächst waren diese Effekte ja auch schon bei ihm äußerst schwach ausgeprägt.

  • Dann verhielten sie sich auch anders als im Gesamtmodell: Für Rheinland-Pfalz war der Befund ja nicht der einer geringeren AfD-Wahlneigung unter Katholiken in den ehemals preußischen Gebieten und einer höheren AfD-Wahlneigung in den ehemals nichtpreußischen Gebieten; ohnehin blieb die Unterscheidung zwischen Preußen/Nichtpreußen auch schon im Originalartikel ohne Erklärungskraft; nur bei Betrachtung der Intensität der Kulturkampfkonflikte stellten sich die theoretisch erwarteten Effekte (schwach) ein.

  • Das schließlich lenkt den Blick auf die Problematik einer solchen Messung von „Intensität“. Im Falle von Rheinland-Pfalz, das zeigt der genauere Blick auf die Daten des Autors, beruht die Eingruppierung nach unterschiedlichen Intensitätsgraden im ehemals preußischen Landesteil auf recht wenigen Beobachtungen historischer Unterdrückungserfahrungen (siehe Abb. 3). Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von „unobserved variance“. In diesem Zusammenhang könnten die Unterschiede in der Einschätzung der Kulturkampfintensität nicht zuletzt auf dem trivialen Fakt beruhen, dass im Norden von Rheinland-Pfalz zwei Bistümer mit entsprechendem Bischofssitz (Mainz und Trier), im Süden hingegen nur ein Bistum (Speyer) angesiedelt waren. Wenn man vermutet, dass der Staat/Kirche-Konflikt sich insbesondere dort abspielt, wo die Kirche auch institutionell-administrativ stark repräsentiert ist, würde sich ein entsprechender Kodierungsunterschied erklären lassen.

    In der Tat lässt sich ein starker, deutlich signifikanter Zusammenhang zwischen Kulturkampf-Intensität und Bischofssitzen feststellen: der Staat/Kirche-Konflikt war – wie erwartet – dort besonders intensiv, wo die Kirche besonders institutionell präsent war (siehe Abb. 4).

  • Damit rückt letztlich auch in den Blick, dass der Autor mit seiner geografischen Varianzvariable womöglich etwas misst, was mit historischen Unterdrückungserfahrungen von Katholiken nichts zu tun hat. In diesem Zusammenhang muss verwundern, warum die bekannten, sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen im Norden von Rheinland-Pfalz und der Pfalz selber, in der sich in den letzten 50 Jahren einer der brutalsten De-Industrialisierungsgeschichten der alten Bundesrepublik vollzog (Ludewig et al. 2007), die man allein mit einer Kontrollvariable wie Arbeitslosigkeit im Jahr 2017 nicht einzufangen vermag, im Aufsatz keinerlei Erwähnung finden.Footnote 16

Abb. 3
figure 3

Die Messung der Unterdrückungsintensität auf dem Gebiet von Rheinland-Pfalz bei Haffert (2022a)

Abb. 4
figure 4

Verteilung der Kulturkampfintensität aus Haffert (2022a) nach Bischofssitzen in Westdeutschland im Betrachtungszeitraum 1874/75. (Gemeindeebene. Kulturkampf- und Bischofssitzvariable aggregiert auf Niveau der historischen Gerichtsbezirke). p-Wert eines einseitigen t‑Testes für die Mittelwertsdifferenz zwischen beiden Gruppen: 0,0000

4 Schluss

Gibt es in Deutschland einen Zusammenhang zwischen Konfession und rechtspopulistischem Wahlverhalten? Zumindest hinsichtlich der katholischen Wählerschaft und bei ihrer regional differenzierenden Betrachtung hat Lukas Haffert vor Kurzem einen solchen Zusammenhang identifiziert. Die Erklärung, die der Autor selbst für diese regionalen Unterschiede anbietet, sieht sich jedoch durch die hier vorgenommene nähere Betrachtung infrage gestellt. Und damit zeigen sich die regionalen Unterschiede, die in Hafferts Studie zutreffend identifiziert wurden, als sehr wahrscheinlich nicht konfessionell verursacht und deswegen auch nicht nur auf Katholiken beschränkt. Wir haben zumindest hier empirisch die höhere Plausibilität einer anderen Erklärung demonstriert: die des Effekts regional unterschiedlicher programmatisch-ideologischer Angebote der Unionsparteien in den Bundestagswahlen 2017 und 2021.