1 Einleitung

Warum besteuern demokratische Gesellschaften Reiche nicht stärker? Diese Frage hat in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Emmenegger und Lierse 2022; Hakelberg und Seelkopf 2021). Eine deutliche Mehrheit der Wahlbevölkerung würde materiell von einer Umverteilung profitieren, die durch Vermögens- und Erbschaftssteuern oder höhere Spitzensätze in der Einkommenssteuer finanziert wird. Obwohl die Konzentration hoher Einkommen und Vermögen zugenommen hat, sind solche Steuern in den meisten Ländern tendenziell aber sogar gesunken (Hope und Limberg 2022; Piketty 2020; Saez und Zucman 2019). Deutschland bildet hier keine Ausnahme – weder in der Zunahme materieller Ungleichheit, noch in der Steuerpolitik (Bach et al. 2016; Fastenrath et al. 2022).

Die politikwissenschaftliche Forschung hat im Wesentlichen vier Erklärungen für die Zurückhaltung der „unteren 90 %“ in der Reichenbesteuerung untersucht. Die bekannteste betont wirtschaftsnahe Lobbyarbeit, die höhere Steuern trotz mehrheitlicher Unterstützung verhindere (Hacker und Pierson 2010). Zweitens wirke der globale Steuerwettbewerb als strukturelles Hindernis für höhere Steuern (Swank 2016). Drittens sei das subjektive Interesse der unteren 90 % an Reichenbesteuerung widersprüchlicher als vermutet (Stantcheva 2021). Niedrige Steuern für Reiche und Unternehmen könnten selbst in unteren Schichten Unterstützung finden, wenn sie als Beitrag zu besseren Beschäftigungsmöglichkeiten gesehen werden. Diese Unterstützung könne auch durch meritokratische Ideologien gestärkt werden, die Reichtum als individuelles Verdienst rechtfertigen (Scheve und Stasavage 2016). Viertens verhindere ein Mangel an Wissen über und ein Interesse an Steuern ihre Politisierung. Es bestehe eine weit verbreitete Unfähigkeit (oder ein Unwille), den Zusammenhang von Steuerpolitik und eigener wirtschaftlicher Lage zu durchdringen (Kuziemko et al. 2015). „Steueranalphabetismus“ in der Bevölkerung könne sogar dazu beitragen, dass Steuererleichterungen für Reiche in einem „unaufgeklärten Eigeninteresse“ (Bartels 2005) unterstützt würden.

Diese vier Mechanismen konnten zumindest indirekt für den deutschen Fall bestätigt werden. Ungleiche Responsivität gegenüber Wirtschaftsinteressen (Elsässer et al. 2017), die Angst vor schädlichem Steuerwettbewerb (Hilmar und Sachweh 2022), meritokratische Rechtfertigungen von Reichtum (Beckert und Arndt 2017) sowie mangelndes Steuerwissen (Engelhardt und Wagener 2018) lassen sich alle in Deutschland beobachten. Fastenrath et al. (2022) konnten zudem zeigen, dass sich diese Steuerhürden in der subjektiven Wahrnehmung linker Abgeordneter im Finanzausschuss des Bundestages widerspiegeln und damit politische Initiativen zur stärkeren Besteuerung hemmen. Tatsächlich haben Steuerreformen in den vergangenen zwei Jahrzehnten trotz wachsender Ungleichheitsaversion in Medien und Bevölkerung (Marx und Starke 2017; Schröder und Vietze 2015) dann auch fast ausschließlich Entlastungen für hohe Einkommen und Vermögen gebracht (Bach et al. 2016; Buggeln 2022).

So gelangt man schnell von der scheinbar selbstverständlichen Besteuerung der Reichen durch demokratische Mehrheiten zu einem ausgeprägten Pessimismus. Aus den in der politökonomischen Literatur beschriebenen Hürden für eine höhere Besteuerung sollten sich selbst für linke Parteien Anreize ergeben, das Thema in Wahlkämpfen zu meiden.Footnote 1 In der aktuellen Forschungsliteratur ist dann auch die Einschätzung weit verbreitet, Steuererhöhungen für Reiche seien nur in der Folge exogener Schocks umzusetzen. Nur wenn Kriege oder andere schwere Krisen – bzw. die durch sie notwendigen staatlichen Interventionen – unübersehbare Ungleichverteilungen von Belastungen erzeugten, ließen sich Steuern über kompensatorische Rechtfertigungen durchsetzen (Scheve und Stasavage 2016; Limberg 2019). In Abwesenheit solcher krisenbedingen UngleichbehandlungenFootnote 2 werden Steuererhöhungen für Reiche als riskante Priorität in Wahlkämpfen beschrieben, die gerade linken Parteien zugeschriebene Wirtschaftskompetenz kosten kann (Campbell 2011; Fastenrath et al. 2022).

Aus dieser Perspektive ist der deutsche Wahlkampf aus dem Jahr 2021 bemerkenswert. Verschiedene Formen der Steuererhöhungen für Reiche fanden sich nicht nur in Wahlprogrammen linker Parteien, was schon in den letzten Wahlkämpfen der Fall war. Wichtiger war, dass sie bewusst zu einem zentralen Thema in der Auseinandersetzung mit CDU/CSU und FDP gemacht wurden. Dieses Ausmaß an Politisierung und Salienz für Reichenbesteuerung ist, wie gesagt, in der jüngeren politischen Geschichte der BRD ungewöhnlich und vor dem Hintergrund des Forschungsstandes erklärungsbedürftig. Es ist umso überraschender, als unsere Interviews noch im Sommer 2020 eine ausgeprägte Zurückhaltung innerhalb der SPD zeigten, was die Erfolgschancen eines Steuerwahlkampfs anging.

In diesem Beitrag untersuchen wir daher, wie die Betonung der Reichenbesteuerung vor allem in der Wahlkampfführung der SPD zu erklären ist. Welche strategischen und ideologischen Aushandlungsprozesse haben zu dieser Entwicklung geführt? Welche Kommunikationsstrategien wurden verwendet, um dieses als riskant wahrgenommene Thema zu vermitteln? Und wie erfolgreich war der offensive Steuerdiskurs? Wir konzentrieren uns auf die SPD, da sie die Steuerpolitik der vergangenen Jahrzehnte mitgeprägt hat (Buggeln 2022) und da bei ihr der Kurswechsel 2021 besonders ausgeprägt war.

Dass ambitionierte Steuerreformen letztlich in den Koalitionsverhandlungen scheiterten, schmälert in unserer Auffassung nicht den Wert der vorliegenden Fallstudie. Die oben skizzierten Steuerhürden wirken theoretisch bereits vor dem Gesetzgebungsprozess. Sie sollten schon die Anreize mindern, Steuern für Reiche überhaupt auf die politische Agenda zu setzen. Wenn dies dennoch geschieht, wie in Deutschland 2021, liegt unabhängig von der letztlichen Umsetzung ein relevantes politisches Phänomen vor.

Wie die Liste von Forschungsfragen zeigt, bedarf unsere Studie einer Kombination sich ergänzender Methoden. Letztlich betreffen unsere Fragen Wechselwirkungen zwischen politischen Eliten und öffentlicher Meinung. Keine einzelne Methode kann dieses Zusammenspiel angemessen abbilden. Unsere Analysestrategie erfolgt daher in mehreren Schritten, die sich in der Struktur des Beitrags spiegeln.

Den Ausgangspunkt bildet eine Beschreibung der Auseinandersetzung über Steuerpolitik in Bundestagswahlkämpfen seit 2005. In diesem Zeitraum hat die SPD sich in einem intern konfliktbehafteten Prozess von einem Fokus auf Steuererleichterungen für Reiche entfernt. In den letzten Jahren ist eine Hinwendung zu höheren Steuern zu beobachten. Der Wahlkampf von 2021 bildet den vorläufigen Höhepunkt zunächst zaghafter Steuererhöhungsdiskurse.

Der zweite Schritt besteht in einer detaillierten qualitativen Analyse dieses Wahlkampfes. Sie basiert auf Interviews (siehe Anhang für Interviewliste) sowie Auseinandersetzungen mit Wahlprogrammen, Zeitungsberichten und TV-Debatten. Das Ziel der induktiven Fallstudie ist, die vor dem Hintergrund der vorherigen Wahlkämpfe (und der allgemeinen Forschungslage) überraschende Betonung der Reichenbesteuerung durch die SPD zu erklären. Die Fallstudie folgt also einem y‑zentrierten Forschungsdesign (Ganghof 2005). Konkret verwenden wir eine minimalistische und induktive Variante der Prozessanalyse (Beach 2020), um ein singuläres Ereignis zu erklären, ohne dabei Erklärungsfaktoren a priori einzugrenzen.

Die Ergebnisse bestätigen eine offensive Wahlkampagne der SPD zur Reichenbesteuerung, die selbst innerhalb der Partei als überraschend wahrgenommen wurde. Ein durch drei Umstände entstandenes Gelegenheitsfenster kann diese Wahlkampfführung erklären: Ein Kandidat mit hoher Kompetenzzuschreibung in Wirtschaftsfragen, die programmatische Schwäche der CDU in der Finanzpolitik und die Salienz hoher (und legitimer) Staatsausgaben in der Zukunft. Hinzu kommt die Rolle des Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans als „policy entrepreneur“ mit besonderer Motivation und Kompetenz in der Steuerpolitik. Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie hatten durch den mit ihnen verbundenen Fokus auf Staatsausgaben allenfalls einen indirekten Einfluss auf die Strategie der Partei.

In Bezug auf Inhalt und Ton der Kampagne begründet die SPD Steuererhöhung zurückhaltend. Statt kompensatorischer Argumente (die durch die ungleichen Folgen der Pandemie möglich gewesen wären) oder der Politisierung von Einkommensungleichheit dominiert die nüchterne Begründung über Zahlungsfähigkeit. Die SPD verfolgt daher die „Ability to pay“-Diskurse, deren historische Erfolglosigkeit Scheve und Stasavage (2016) aufgezeigt haben. Diese Kommunikationsstrategie erklärt sich vor allem aus der Aversion, Ungleichheit „populistisch“ zu emotionalisieren und Konflikte mit fiskalpolitisch orthodoxen Teilen der SPD (Bremer 2020) zu riskieren.

Im dritten Analyseschritt untersuchen wir die Wirkung der Wahlkampfführung, um die Annahmen in der SPD über Präferenzen in der Bevölkerung zu überprüfen. Eine im Dezember 2021 durchgeführte Umfrage legt nahe, dass Reichenbesteuerung prinzipiell hohe Zustimmung erfährt und dass ihre Thematisierung der SPD nicht (wie oft befürchtet) geschadet haben. Allerdings konnte sie im Wahlkampf deutlich besser mit der Arbeitsmarktpolitik punkten, was der parteiinternen Analyse im Vorfeld der Wahl entspricht.

Im letzten Schritt vertiefen wir die Mikroanalyse in acht Fokusgruppen, die ein starkes Desinteresse an Steuerpolitik zeigen. Inhalte des Wahlkampfes zu dem Thema wurden nicht wahrgenommen und allgemein ist wenig Unterstützung für die Reichenbesteuerung erkennbar. Insbesondere meritokratische Erwägungen sowie die Internalisierung neoklassischer Besteuerungskritik scheinen die Unterstützung zu schwächen.

Insgesamt bestätigen diese Beobachtungen die Einschätzungen in der SPD zur Reichenbesteuerung als schwierige Mobilisierungsgrundlage. Die Widersprüche zwischen Fokusgruppen und Umfragedaten bestätigen zudem die Zurückhaltung in der SPD, aus abstrakten Survey-Items Unterstützung zu konkreten politischen Themen abzuleiten.

2 Steuerpolitik in Bundestagswahlkämpfen 2005–2017

Wir beginnen unsere Untersuchung mit einem kurzen historischen Überblick vergangener Wahlkämpfe und wie die SPD in diesen programmatisch und strategisch mit dem Steuerthema umgegangen ist (siehe auch Überblickstabelle im Anhang I). Hierfür fokussieren wir die inhaltliche Auseinandersetzung (insbesondere zwischen SPD und Union), sowie die strategische Kommunikation der SPD. Für letztere konzentrieren wir uns auf die TV-Duelle, da sie eine hohe Bedeutung in den Wahlkämpfen haben und in einem vergleichbaren Format Prioritäten erkennbar werden lassen.

Ziel des Überblicks ist, die Besonderheit des Wahlkampfs von 2021 herauszustellen. Diese Besonderheit ergibt sich nicht nur auf programmatischer Ebene. Ungewöhnlich ist eher, dass Steuererhöhungen für Reiche es in die strategische Schwerpunktsetzung der SPD geschafft haben. Damit hatte das Thema eine Salienz, die nach den Erfahrungen vorheriger Wahlkämpfe erklärungsbedürftig ist.

2.1 2005: Polarisierung um neoliberale Steuerpläne

2005 war Steuerpolitik neben der Agenda 2010 ein zentrales Thema (Schmitt-Beck und Faas 2006). Vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung polarisierten Positionen zur Besteuerung in einer für Deutschland ungewöhnlichen Weise (Schmitt-Beck und Faas 2006; Pulzer 2006). Dabei ging es allerdings hauptsächlich um Steuersenkungen für Wohlhabende. Die Mobilisierung der SPD, die ein fast aussichtsloses Rennen am Ende unerwartet knapp gestaltete, wurde nicht zuletzt auf die Attacken gegen die Steuerpläne der CDU/CSU zurückgeführt (Buggeln 2022; Schmitt-Beck und Faas 2006). Neben der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozent war die Union offen für die Abschaffung der Progression in der Einkommensbesteuerung auf Vorschlag des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof (Schmitt-Beck und Faas 2006). Diese wirtschaftsliberale Programmatik gab der SPD die Möglichkeit, sich als Partei der sozialen Gerechtigkeit und des „kleinen Mannes“ neu zu profilieren. Die Strategie war, die von der Agenda-Politik enttäuschte Stammwählerschaft durch „negative campaigning“ gegen die „sozialen Kälte“ der Union auf dem Feld der Steuerpolitik zu mobilisieren (Pulzer 2006; Schmitt-Beck und Faas 2006). Auch im TV-Duell wurden die steuerpolitischen Pläne der Union von Schröder scharf angegriffen.

Allerdings ist festzuhalten, dass die SPD fast ausschließlich eine defensive Strategie verfolgte, um den steuerpolitischen Status quo zu erhalten. Auf die Frage im TV-Duell, was Schröder dem steuerpolitischen Unionsprogramm entgegenzusetzen habe, ging er nicht etwa direkt auf die von der SPD geplante Erhöhung des Spitzensteuersatzes um 3 % (ab 250.000 €) ein, sondern verwies auf die eigenen Steuersenkungen:

„Wir setzen dem entgegen, was wir gemacht haben. Als ich ins Amt kam, lag der Spitzensteuersatz – Sie wissen das – bei 53 %. Jetzt sind es 42, und da wird er auch bleiben. […] Ich glaube, das ist eine Leistung, die man anerkennen muss“ (TV-Duell, 04.09.2005).

Schröders Widersprüchlichkeit verdeutlicht ein wiederkehrendes Muster. Das Programm der SPD beinhaltet zwar Steuererhöhung für Reiche; diese werden im Wahlkampf aber heruntergespielt.

Obwohl der Wahlkampf 2005 als steuerpolitischer Lagerwahlkampf gilt, lag dies also weniger an der SPD als an den radikal regressiven Steuerplänen der Union. In der anschließenden gemeinsamen Koalition wurden als steuerpolitischer Kompromiss sowohl die Mehrwertsteuererhöhung als auch die von der SPD geforderte leichte Anhebung des Spitzensteuersatzes umgesetzt. Dass die regressiv wirkende Mehrwertsteuer, gegen die sich die SPD im Wahlkampf massiv positioniert hatte, letztlich sogar stärker als von der Union gefordert erhöht wurde, hat ihrer steuerpolitischen Glaubwürdigkeit erheblichen Schaden zugefügt (Faas 2010, S. 895).

2.2 2009: Depolarisierung im Zeichen der Krisenbewältigung

Die ab 2008 eskalierende Finanzkrise dominierte politische Diskurse im Wahljahr. Die Notwendigkeit, als Koalitionspartner in der Krisenbewältigung zu kooperieren, erschwerte einen polarisierenden Wahlkampf zu sozioökonomischen Themen (Faas 2010), einschließlich der Steuerpolitik. Die SPD schränkte Forderungen nach umverteilenden Maßnahmen ein und verzichtete nach langen internen Debatten auf die Vermögensteuer (Elsässer et al. 2022). Steinmeier wollte ausdrücklich nicht als „Kandidat der Steuererhöhungen“ (Interview Poß, 02.06.2021; Der Tagesspiegel 2009) in den Wahlkampf ziehen. So beschränkte sich die SPD auf die Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 45 auf 47 % ab einem Einkommen von 125.000 €.

Der bedeutendere Wandel vollzog sich aufseiten der Union. Nach den Erfahrungen aus dem letzten, knapp gewonnenen Wahlkampf wurde eine Demobilisierungsstrategie verfolgt (Faas 2010). Sie verzichtete Steuersenkungspläne und führte den Grundsatz ein, dass es mit der Union keine Steuererhöhungen geben würde. Damit fehlte der SPD die Angriffsfläche für eine Steuerkampagne.

2.3 2013: Ambitioniertes Programm, defensiver Wahlkampf

Der Wahlkampf 2013 hat eine besondere Bedeutung für unsere Untersuchung, weil er wie kein anderer die Divergenz zwischen Steuerprogrammatik und Wahlkampfstrategie der SPD verdeutlicht. Außerdem wurden die Erfahrungen von 2013 in weiten Teilen linker Parteien als Evidenz interpretiert, dass mit Steuererhöhungen keine Wahlen zu gewinnen seien.

Zunächst wies der Wahlkampf durch den betont „konsensuellen Umgang“ mit der Krise Parallelen zu 2009 auf (Faas 2015, S. 241). Gleichzeitig verfolgte die Union erneut eine Demobilisierungsstrategie, die wenig Raum für inhaltliche Auseinandersetzung ließ. Die Steuerpolitik war auf den ersten Blick eines der wenigen kontroverseren Themen. Hier bewegte sich die SPD nach der Niederlage von 2009 wieder nach links und forderte unter anderem die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 %. Die Sichtbarkeit wurde durch eine klare Positionierung der Grünen für ähnliche Pläne erhöht. Tatsächlich schien der gesellschaftliche Rahmen vorteilhaft, vor allem durch die weitverbreitete Unzufriedenheit über die hohen Kosten der Bankenrettungen.

Im Wahlkampf gelang es der SPD jedoch nie – und dies ist entscheidend – eine offensive Kampagne für Steuererhöhungen (für Reiche) zu führen. Stattdessen wurden die Positionen verwässert oder von der Partei selbst torpediert. Bei der Vermögensteuer wurde eher die Rücksichtnahme auf Interessen des Mittelstandes betont, als ihre Dringlichkeit im Kontext gewachsener Vermögensungleichheit (Elsässer et al. 2022). Wenige Wochen vor der Wahl tauchte dann aus den Reihen der SPD-Führung die Idee auf, dass geplante Steuererhöhungen für Reiche rückgängig gemacht werden könnten, wenn es Fortschritte bei den Steuervermeidungsmaßnahmen gäbe (SZ 2013). Wie unsere Interviews zeigen, lag diese Widersprüchlichkeit an der inneren Spaltung der SPD und an der Sorge in der Parteiführung, eine als massiv wahrgenommene Mobilisierung von Wirtschaftsverbänden könne die eigenen Steuerpläne erfolgreich als Risiko für Arbeitsplätze darstellen.

„Sigmar Gabriel ist immer der Auffassung gewesen, dass Steuerthemen ein Verliererthema sind. […] Und wir haben ein ganz ausführliches Programm [zu Steuererhöhung] vorgelegt und vorsichtig ausgedrückt hatte der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel nicht das geringste Interesse daran und wollte uns keineswegs zu weit gehen lassen. Wir haben uns dann trotzdem durchgesetzt, aber natürlich spielte das letztlich keine Rolle. Es stand im Wahlprogramm, aber es spielte keine Rolle. Also es war ganz klar, dass er das nicht im Vordergrund haben wollte. Und natürlich gab und gibt es noch andere, die gleicher Auffassung sind“ (Interview SPD MdBT III, 08.09.2020).

Tatsächlich versuchte Merkel, die Steuervorschläge der SPD vor dem Hintergrund der guten wirtschaftlichen Lage im TV-Duell (mit einem typischen Laffer-Kurven-Framing) als Arbeitsplatzrisiko darzustellen:

„Wenn wir Menschen, die Arbeitsplätze schaffen, durch die Vermögensteuer, durch höhere Spitzensteuersätze in die Lage versetzen, nicht mehr Arbeitsplätze zu schaffen, dann haben wir am Ende höhere Steuern, aber weniger Steuereinnahmen“ (TV-Duell, 01.09.2013).

SPD-Kandidat Steinbrück, der zu den Steuerskeptikern gezählt werden kann (Interview Kühl, 27.08.2020), beschränkte sich auf eine defensive Argumentation, um die eigenen Vorschläge gegen „Steuermythen“ zu verteidigen:

„Wir wollen nicht alle Steuern für alle erhöhen. Das ist die Geisterbahn, in die uns unser politischer Gegner führen will, natürlich um allen Deutschen Angst zu machen. […] Ja, die CDU/CSU und die FDP, die versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass die Sozialdemokratie jetzt allen mit kalter Hand ins Portemonnaie greift“ (TV-Duell, 01.09.2013).

Die widersprüchliche Positionierung der SPD kann an der Person Steinbrück gut festgemacht werden. Als Finanzminister hatte er 2007–2008 noch eine Unternehmenssteuerreform mit erheblichen Entlastungen durchgesetzt sowie mit der Einführung der Abgeltungssteuer die progressive Besteuerung für Kapitaleinkünfte abgeschafft (Buggeln 2022; Grasl und König 2010). Als Vertreter von mehr Progressivität im Steuersystem war er damit denkbar ungeeignet.

Die Kombination eigener Zurückhaltung und Gegenmobilisierung durch bürgerliche Parteien und Wirtschaftsverbände verhinderten eine erfolgreiche Mobilisierung durch umverteilende Steuern. Interessanterweise wurde diese Erfahrung von Teilen der SPD und auch der Grünen als Beleg für die These von Steuern als „Verliererthema“ herangezogen. Dies etablierte sich gerade auch mit Blick auf das enttäuschende Abschneiden der Grünen in den Folgejahren parteiübergreifend als Lehre des 2013er-Wahlkampfes. Interessanterweise hat es zu dieser Interpretation laut unserer Interviews allerdings nie eine evidenzbasierte Aufarbeitung gegeben, zumal mit dem Pädophilieskandal und dem unpopulären Veggie-Day durchaus alternative Erklärungen vorhanden sind. Trotzdem sei das Scheitern wegen des Steuerwahlkampfs „der eindeutige Talk in der Hauptstadtpresse“ (Interview MdB Bündnis 90/Die Grünen, 24.08.2020) gewesen und „als Narrativ schon während der Wahlkampagne und danach sehr stark gepflegt“ worden (Interview Kindler, 09.09.2020). In der SPD schien dieses Narrativ, nicht zuletzt wegen der bereits vorhandenen Skepsis, auf fruchtbaren Boden zu fallen.

2.4 2017: Fokus auf Migrationspolitik und Steuerentlastung

Mit dem beinahe monothematischen Fokus auf die Migrationsfrage rückte die Bedeutung sozioökonomischer Themen 2017 abermals in den Hintergrund. Der eher unbekannte Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte vor allem in der ersten Zeit nach seiner Nominierung auf das Thema soziale Gerechtigkeit gesetzt (SPD 2018) und damit zu einem kurzen Zwischenhoch in Umfragen beigetragen. Die SPD entschied sich aufgrund seines Profils für eine Fokussierung traditioneller sozialdemokratischer Themen wie Arbeits- und Sozialpolitik (SPD 2018). Steuerpolitik spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle, was sich auch daran zeigt, dass am Tag der geplanten Vorstellung des Wahlprogramms die steuerpolitische Agenda noch nicht ausgearbeitet war. Am Ende war das Programm, wohl nicht zuletzt wegen der negativen Erfahrung, weniger progressiv als 2013. So entschied sich die Partei gegen die Aufnahme der Vermögensteuer und beließ es bei der Anhebung des Spitzensteuersatzes um zwei Prozentpunkte. Letztlich ähnelten sich SPD und Union in ihrer zentralen steuerpolitischen Forderung, der steuerlichen Entlastung mittlerer Einkommen.Footnote 3

Der insgesamt schwache Fokus auf Steuerfragen (und Wirtschaftspolitik insgesamt) wurde im TV-Duell deutlich. In dem neunzigminütigen Gespräch wurden wirtschaftspolitische Fragen erst nach etwa einer Stunde angesprochen. Die kurze Passage zur Steuerpolitik verdeutlichte Schulz’ Unfähigkeit oder Unwillen, mit dem Thema eine Profilierung gegenüber der CDU zu erreichen. Auf die Frage, wieviel Entlastung die SPD einer vierköpfigen Familie mit 3500 € Bruttogehalt biete, antwortete Schulz, „kommt drauf an“. Er sei „kein ambulantes Steuerbüro“. Auf die Steuererhöhungen für besonders Einkommensstarke ging er gar nicht ein, während Merkel es sich nicht nehmen ließ, die von der SPD gar nicht vertretene Vermögensteuer zu kritisieren.

2.5 Zwischenfazit

Insgesamt lässt sich bei einiger Varianz über die Zeit ein klares Muster bei der Behandlung der Steuerfrage in SPD-Wahlkämpfen feststellen. Als Konzession an den linken Flügel werden mehr oder weniger ambitionierte Pläne zur Reichenbesteuerung in das Programm aufgenommen. In der Wahlkampfführung gehören Steuerpläne aber nie zu den priorisierten Themen. Sie werden allenfalls halbherzig und widersprüchlich vertreten oder sogar von Teilen der Partei untergraben. Wie die Interviews mit Finanzpolitikerinnen und -politikern der SPD in Fastenrath et al. (2022) zeigen, hat dies mehrere Gründe, die auch in unserer kurzen Übersicht erkennbar werden: die Angst vor einer Gegenmobilisierung durch Wirtschaftsverbände, insbesondere durch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft; die Akzeptanz in Teilen der SPD von Narrativen über Steuer- und Standortwettbewerb; geringes Steuerwissen in der Bevölkerung, das eine Mobilisierung mit dem Thema erschwert; geringes Steuerwissen in der eigenen Partei, das selbstbewusstes Auftreten verhindert und ein Verharren in der Komfortzone „Arbeit und Soziales“ nahelegt.

Wie wir im folgenden Abschnitt zeigen werden, hebt sich der Wahlkampf von 2021 deutlich von diesem Muster ab. Höhere Steuern für Reiche waren nicht nur zentrale programmatische Punkte, sie wurden offensiv zur Abgrenzung von Union und FDP genutzt. Vor dem Hintergrund eines festverankerten Glaubens an Steuern als „Verliererthema“ ist diese Strategie als klare Kehrtwende zu verstehen. Wie lässt sich diese erklären?

3 Steuerpolitik im Wahlkampf 2021

Abgesehen von der erneuten Aufnahme der Vermögensteuer in das Wahlprogramm entsprachen die steuerpolitischen Forderungen der SPD (2021) weitgehend der bisherigen inhaltlichen Linie (Interview Kiziltepe, 27.05.2021). Die SPD setzte sich für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 45 % ab einem Einkommen von 100.000 €, für eine Reichensteuer von 48 % ab einem Einkommen von 250.000 € und für eine Ausweitung der Erbschaftsteuer ein. Wie 2017 wurden diese Steuererhöhungspläne mit Entlastungen für niedrige und mittlere Einkommen verknüpft. Diese Kombination von Entlastung und Belastung wurde im Wahlkampf mittels eines dominanten „95-5“-Framings verdeutlicht: Die unteren 95 % der Steuerzahler sollen entlastet werden, indem man die oberen 5 % etwas stärker belastet.

Der deutliche Unterschied zu 2017, aber auch zu 2009 und 2013, war das offensive Eintreten der SPD für ihre steuerpolitischen Positionen während des gesamten Wahlkampfes (Interview Walter-Borjans, 23.03.2022; Interview Petring, 24.03.2022; Interview Schrodi, 24.05.2022). Progressive steuerpolitische Positionen wurden zu keinem Zeitpunkt versteckt oder aus der Partei torpediert. Die Parteispitze bemühte sich geschlossen bis in die Endphase des Wahlkampfes um eine klare Kommunikation der Steuerpläne. Dies ist umso bemerkenswerter, als uns noch im Frühjahr 2021 SPD-Bundestagsabgeordnete und für die Wahlkampfstrategie zuständige Akteure im Willy-Brandt-Haus erklärten, die Steuerpolitik solle kein zentrales Thema werden. Nach den Erfahrungen der letzten Wahlkämpfe sei das „Risiko der Verhetzung“ als zu hoch einzuschätzen (Interview Petring, 08.09.2020; Interview SPD-MdBT; Interview SPD-MdBT II, 20.08.2020; Interview Binding, 26.08.2020). Damit ist gemeint, dass Union und FDP, Wirtschaftsverbände, Ökonomik und konservative Presse auf progressive Steuerpläne erfahrungsgemäß mit pauschaler Kritik reagieren, die in der Öffentlichkeit verfängt. Der typische, in Wahlkämpfen wirkungsmächtige Vorwurf lautet: „damit macht ihr unsere Wirtschaft kaputt, damit gefährdet ihr Arbeitsplätze, SPD kann keine Wirtschaft“ (Interview Petring, 08.09.2020). Die SPD tue sich erfahrungsgemäß schwer in der öffentlichen Steuerdebatte und schaffe es nicht, dem massiven Gegenwind von Medien und Wirtschaftsverbänden standzuhalten (Interview SPD-MdBT III). Ein Großteil der von uns interviewten Finanzpolitiker (auch von den Grünen) sahen in dem Thema daher mehr Risiko als Stimmenpotenzial.

Wenig Bedeutung wird Mehrheiten für progressive Steuerpolitik in Umfragen beigemessen. Aufgrund direkter Kontakte in Wahlkreisen überwiegt die Überzeugung, progressive Steuerpläne seien nicht wahlentscheidend (Interview SPD-MdBT II, 20.08.2020; Interview SPD-MdBT), auch nicht für die unteren Einkommensklassen. Die Gründe werden unter anderem in geringem Steuerwissen gesehen. „Bei der Bundestagswahl 2009 haben 15 % der Hartz-IV-Empfänger die FDP gewählt, weil sie weniger Steuern zahlen wollten […] Die Leute kapieren das alles nicht. Sie hören nur, dass sie mehr Steuern zahlen sollen“ (Interview SPD-MdBT).

So ging man ein Jahr vor Beginn des Wahlkampfes davon aus, dass progressive Steuererhöhungspläne als „Verliererthemen“ im Wahlkampf 2021 keine große Rolle spielen würden (Interview SPD-MdBT_III; Interview Petring, 08.09.2020). Entgegen diesen Erwartungen nahm die Bedeutung des Themas im Wahlkampf jedoch gerade gegen Ende entscheidend zu. In zahlreichen Talkshows und den drei TV-Triellen zwischen den Kanzlerkandidaten vermittelte die Partei selbstbewusst immer wieder ihre Botschaft der Notwendigkeit einer stärkeren Belastung von sehr hohen Einkommen in der Verbindung mit der Entlastung der unteren und mittleren Einkommen.Footnote 4 Wie kam es dann also zu dem überraschend beharrlichen Agieren der SPD?

Unsere Erklärung setzt nach der Wahl von 2017 an. Nachdem die SPD mit 20 % ihr historisch schlechtestes Bundestagswahlergebnis erzielte, kam es zu Konflikten, die im Juni 2019 in dem Rücktritt der Parteivorsitzenden Andrea Nahles mündeten. Die Wahl der neuen Vorsitzenden wurde erstmals als offener Wettbewerb mit starker Berücksichtigung der Parteibasis organisiert. Dieser Prozess bot Norbert Walter-Borjans (im Team mit Saskia Esken) ein Forum für seine Pläne zur Neuausrichtung der Partei, was sich als folgenreich für den steuerpolitischen Kurs herausstellen sollte. Sein Auftreten weist dabei Charakteristika eines „policy entrepreneurs“ (Kingdon 1995; Mintrom und Norman 2009) auf.Footnote 5 Walter-Borjans hatte in seiner bisherigen Laufbahn die Verteilungsgerechtigkeit und die damit verbundene Steuerpolitik in den Mittelpunkt seines politischen Wirkens gerückt. Entsprechend stellt Esken ihren Mitstreiter vor:

„Wie kein anderer steht Norbert Walter-Borjans für Steuergerechtigkeit, Steuerehrlichkeit und er stellt eine ganz wichtige Frage, das ist die Verteilungsfrage und ich finde, damit ist er wie kein anderer […] geeignet, […] die Glaubwürdigkeit, die Erkennbarkeit der SPD zu entwickeln“ (SPD-Regionalkonferenz, 05.09.2019).

Mit diesen Attributen konnte das Team Walter-Borjans-Esken starke Zustimmung mobilisieren. Auffällig ist, dass sich ihr Widersacher Olaf Scholz im Laufe des Wettbewerbs ebenfalls als Verfechter einer progressiveren Steuerpolitik inszenierte, die bislang nicht zu seinen Kernthemen zählte.Footnote 6 Er stimmt nicht nur mit Walter-Borjans Plänen für eine höhere Besteuerung der Reichen und Vermögenden überein, sondern stellt auch die Steuerpolitik in den Mittelpunkt seiner Gerechtigkeitsvorstellungen:

„[…] unser Land ist nur dann fair und gerecht, wenn es auch ein faires und gerechtes Steuersystem hat. Wenn wir nicht die höheren Vermögen besteuern, wenn nicht diejenigen, die sehr viel verdienen, einen höheren Beitrag zu Finanzierung des Gemeinwesens leisten, wird es nicht gelingen. Davon bin ich fest überzeugt. Übrigens bin ich aus solchen Einsichten in die SPD eingetreten und [habe sie] bis heute“ (Spiegel-Kandidatenduell, 06.11.2019).

Im Aufeinandertreffen der Finalistenteams kritisiert Walter-Borjans Scholz für seine Finanzpolitik in der Großen Koalition. Er beanstandet nicht nur Scholz positive Haltung zu ausgeglichenen Staatshaushalten („schwarze Null“), sondern spricht ihm auch Glaubwürdigkeit in steuerpolitischen Fragen ab, die Scholz zuvor als wichtige sozialdemokratische Vorhaben bezeichnet:

„Ich frage mich nur Olaf, kannst du verstehen, dass es Menschen gibt, die sagen: Wenn Olaf jetzt sagt, ich will eine Finanztransaktionssteuer […], ich glaub das wohl, dass er das jetzt sagt, aber was denn daraus wird, wenn er Vorsitzender ist, das weiß ich nicht. Und ich meine, mit diesen Zweifeln, musst du umgehen, denn das ist nen Punkt, der jedenfalls in der öffentlichen Debatte eine große Rolle spielt […] Ich glaube einfach, […] dass Menschen, Glaubwürdigkeit und Inhalte von Politik darüber wahrnehmen wer sie vertritt, was der vorher vertreten hat und wie sie glauben, wie er es künftig machen wird. Das ist der Punkt. Das hat […] mich auch veranlasst, […] zu kandidieren“ (SPD-Kandidatenduell, 13.11.2019).

Am Ende setzten sich Walter-Borjans und Esken überraschend gegen Scholz und Geywitz durch und wurden im November 2019 Parteivorsitzende. Somit war klar, dass die Steuerpolitik in den nächsten Jahren sowie im kommenden Wahlkampf eine höhere Bedeutung in der Partei erlangen würde. Das macht auch Walter-Borjans Rede auf dem Parteitag deutlich, in der er die Partei auf einen klareren Kurs in der Steuerpolitik einschwört und auf seine Fähigkeiten in der politischen Auseinandersetzung in diesem Politikfeld verweist:

„Die SPD, liebe Genossinnen und Genossen, muss wieder die Partei der Verteilungsgerechtigkeit werden in diesem Land. Es ist an der Zeit, dass hohe und höchste Einkommen und Vermögen einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens zahlen und Steuerbetrug und Geldwäsche in diesem Land müssen massiv bekämpft werden. […] Ich selbst weiß auch, wie das geht; denn ich habe es ja auch schon gemacht. […] Wir haben uns mit den Finanzlobbys angelegt – und wir haben gewonnen, weil wir uns nicht haben einschüchtern lassen. Natürlich gibt es immer wieder Stimmen, die sagen: ‚Vorsicht, du könntest auch verlieren!‘ Ja, wir hätten auch scheitern können. Aber Glaubwürdigkeit kommt nicht vom Zurückzucken. Glaubwürdigkeit kommt vom Standhaftbleiben, und das müssen wir noch ein Stück mehr zeigen“ (SPD-Parteitag, 06.12.2019).

Nach diesem innerparteilichen Beben, war es überraschend, als die Vorsitzenden acht Monate später den zuvor scharf kritisierten Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten präsentierten. Für dieses Amt brauche man Erfahrung in der Bundespolitik und jemanden, der sich das Amt zutraue. Walter-Borjans und Esken hatten frühzeitig angekündigt, nicht zur Verfügung zu stehen. Scholz hingegen wollte es unbedingt und erfüllte die Anforderungen (Interview mit Petring, 08.09.2020). Inhaltlich sei man sich völlig einig, und die Parteiführung setze auf Geschlossenheit. Das gelte auch für die Steuerpolitik, wie Walter-Borjans bei der Kandidatenkür hervorhob:

„Wir haben im Dezember auch Anträge verabschiedet, die sich mit einer gerechten Finanzierung, mit einer verteilungsgerechten Finanzierung eines starken Staates beschäftigen. Das sind Themen, die haben wir gemeinsam erarbeitet, gemeinsam beschlossen […], das wird mit Sicherheit auch ein gemeinsamer starker Punkt in dem Programm, mit dem wir in diese Bundestagswahl hineingehen“ (SPD-Pressekonferenz, 10.08.2020).

Aus einer innerparteilichen Logik heraus ist gerade die Wiederberücksichtigung der Vermögensteuer im Wahlprogramm ein zentraler Schritt, der die Geschlossenheit der Partei förderte (Interview Kiziltepe, 06.05.2022; Interview Petring, 24.03.2022; Interview Schrodi, 24.05.2022). Mit der frühen Aufnahme dieser Forderung in das Wahlprogramm konnte man Konflikte zwischen den Flügeln reduzieren. Das dominante Framing (wie bereits oben erwähnt) des Wahlkampfs und die anscheinend eindeutige Sprachregelung war jedoch, dass man den Steuererhöhungen für Reiche eine Steuerentlastung für untere und mittlere Einkommen voranstellte (SPD 2021). Dies hatte offensichtlich auch damit zu tun, dass man sich als Partei in der Vergangenheit mit der öffentlichen Zuschreibung als „die typischen Steuererhöher“ konfrontiert sah (Walter-Borjans I). In der Talkshow von Markus Lanz auf die radikalen Steuererhöhungspläne der Linken angesprochen antwortet Walter-Borjans:

„Deswegen sind wir auch anders da rangegangen und zwar richtig wie ich finde. Es geht nämlich nicht um die Frage, welche Steuern sollen erhöht werden. Wir wollen – es steht übrigens im Programm – für 95 % der Menschen die Steuern senken. Das sollte man vielleicht mal an den Anfang stellen. Und die fünf Prozent, die obersten fünf Prozent sollen ein Stück diese Senkung mitfinanzieren“ (Walter-Borjans bei Markus Lanz, 08.04.2021).

Ergänzt wurde dieses „95-5“-Frame immer wieder auch mit einer fiskalpolitischen Rechtfertigung: „Staaten müssen massiv investieren in Digitalisierung, in Infrastruktur, weil die sonst zurückfallen, und dann stellt sich die Frage, wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass das unumgänglich ist, womit machen wir das“ (ebd.). Dies wurde verbunden mit einem eher zaghaften kompensatorischen Krisenargument im Sinne von Scheve und Stasavage (2016): „es macht Sinn gewisse Investitionen auch mit Krediten zu finanzieren […] und dann kommt die Frage, ob diese Korrektur […] nicht auch ein Stück von denen mitgetragen werden muss, die jetzt in der Krise sogar besonders hohe Vermögenszuwächse haben“ (ebd.). Anders als die Linkspartei verzichtete die SPD jedoch darauf, die geforderten Steuererhöhungen für Reiche vorrangig als Kompensation für ungleiche Belastungen in der Pandemie zu rahmen (Interview Walter-Borjans, 23.03.2022). Unter anderem erschien die Gruppe derjenigen zu klein, die ein Krisen-Framing honoriert hätte, um eine solch riskante politische Kampagne weiter voranzutreiben (Interview Walter-Borjans, 23.03.2022). Letztlich gab es nur einen isolierten öffentlichkeitswirksamen Vorstoß in diese Richtung, als sich Esken für eine befristete Corona-bezogene Vermögensabgabe aussprach (Der Tagesspiegel 2020).

Auch wenn es die steuerpolitischen Forderungen (im Gegensatz zum Mindestlohn, Renten und Wohnungspolitik) nicht auf die Wahlplakate schafften, weil ihnen nach wie vor ein zu hohes „Verhetzungspotenzial“ zugeschrieben wurde (Interview Petring, 08.06.2021), ging die SPD nicht nur mit einem klar linken steuerpolitischen Programm in die Wahlauseinandersetzung; sie vertrat dieses auch bis zum Schluss selbstbewusst und geschlossen. Aus Sicht von Walter-Borjans lag das auch seiner eigenen Rolle:

„Es ist eigentlich immer ein Thema, aber dass wir jetzt mal etwas länger Pol gehalten haben in diesen Triellen und in diesen Diskussionen, das lag wirklich daran, dass Olaf Scholz wusste, dass mir das ein sehr wichtiges Thema ist. Darüber haben wir miteinander viel diskutiert und deswegen auch nach Wegen gesucht, das umzusetzen“ (Interview Walter-Borjans, 23.03.2022).

Diesen Einfluss Walter-Borjans bestätigten auch weitere Parteimitglieder (Interview Kiziltepe, 06.05.2022; Schrodi, 24.05.2022). Scholz’ Eintreten für Steuern wurde durch Entwicklungen im Parteienwettbewerb erleichtert. Er antizipierte früh, dass Union und FDP mit Forderungen nach Steuersenkungen für Reiche (so etwa die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags) eine empfindliche Angriffsfläche bieten würden (Tagesspiegel 2019). Dies ermöglichte der SPD die in der Steuerpolitik einfachere Verfolgung der Strategie der Gegenmobilisierung (siehe Wahlkampf 2005). Zudem bot es Scholz auch die Chance, sich in haushaltspolitischen Fragen zu profilieren. Es war abzusehen, dass die CDU angesichts allgemein anerkannter Investitionsbedarfe (in Klimaschutz und Digitalisierung) einem „Finanzierungstrilemma“ gegenüberstand (Interview Schrodi, 24.05.2022). Entweder müsse sie eines „der goldenen Kälber“ opfern (Interview Petring, 08.06.2021), also Verzicht auf keine Steuererhöhungen oder die Schuldenbremse. Oder sie müsse mit einem vagen und widersprüchlichen Programm in den Wahlkampf ziehen. Dieses Finanzierungstrilemma, das sich mit dem Corona-bedingten Staatsverschuldung verschärfte, ermöglichte es der SPD, mit den Steuererhöhungsplänen finanzpolitische Kompetenz und Seriosität zu reklamieren. Der Leiter des strategischen Zentrums der SPD, Alexander Petring, dazu bereits im Juni 2021:

„darauf freut sich Olaf durchaus, weil er dieses Dilemma der Union schon vor vielen, vielen Monaten explizit in Runden uns fein ziseliert auseinandergenommen hat, und gesagt hat, die werden da in Probleme kommen. Und das wird dann auch der Punkt sein, wo er sich vorgenommen hat da auch nicht locker zu lassen, sondern nachzubohren“ (Interview Petring, 08.06.2021).

Entsprechend dieser Kalkulation wurde die Finanzpolitik zu einem zentralen Thema im Wahlkampf, einschließlich kontroverser Debatten zur Steuerpolitik in Zeiten der Krise und zukünftiger Herausforderungen. Dies führte zum ersten Mal seit 2005 zu einem steuerpolitischen Lagerwahlkampf. Wie von Scholz erwartet, setzten Union und FDP auf Steuersenkungen (u. a. die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags) bei gleichzeitiger Einhaltung der Schuldenbremse. In den TV-Triellen kritisierte Scholz immer wieder die Unseriosität der finanzpolitischen Pläne der Union. Walter-Borjans stimmte in den Chor ein und äußerte sich u. a. wenige Wochen vor der Wahl in einer Talkshow provokativ: „Die Steuerpolitik der CDU ist Vodoo. […] Wenn man die Steuern für Reiche senken will, ohne auf Investitionen zu verzichten, dann ist das rein mathematisch nicht zu machen“ (SPD Parteivorstand, Twitter, 05.09.2021). In der SPD waren Sorgen über Jahre weitverbreitet, mit Steuererhöhungsforderungen wirtschaftspolitische Kompetenzzuschreibungen zu verlieren. Die programmatischen Widersprüche der Union boten nun die Möglichkeit, Steuererhöhung als verantwortungsbewusste und kompetente Finanzpolitik zu rahmen. Unter Verweis auf Studien, die die Finanzierungsprobleme der CDU bezifferten, erklärte Scholz im zweiten Triell, warum die SPD nicht auf Steuererhöhungen verzichten könne:

„Zunächst mal muss man dazu sagen, dass in den Wahlvorschlägen, die die Union zum Beispiel macht, die Idee steht, dass so Leute, die so viel verdienen wie ein Bundesminister oder noch mehr, Steuersenkungen bekommen sollen. Da haben einige ausgerechnet, dass das [...] dreißig Milliarden Euro pro Jahr kosten kann und ich finde das ist unfinanzierbar. Wir haben jetzt 400 Mrd. € Schulden gemacht […], um die Krise zu bekämpfen, wir haben Sorge getragen, dass Arbeitsplätze und Unternehmen gerettet werden […] und all das wird nicht gehen, wenn man jetzt sagt, die Leute, die sehr viel Geld verdienen, die sollen erstmal eine Steuersenkung bekommen. Das wird nicht funktionieren“ (Scholz, TV-Triell, 13.09.2021).

„Es wird auf alle Fälle zu einer steuerlichen Entlastung kommen, wir wollen nämlich die Mittelschicht und […] diejenigen die sehr wenig Geld verdienen ebenfalls entlasten. Und wir sind nur sehr seriös zu sagen, dass das dann bedeutet, dass jemand, der so viel verdient wie ich als Bundesminister zum Bespiel dann etwas mehr Steuern zahlen muss. Dadurch kann man das auch finanzieren […]“ (Scholz, TV-Triell, 19.09.2021).

Entsprechend konnte sich die SPD auf eine „rote Socken Kampagne“ (Interview Petring, 24.03.2022) der Union einstellen, die „sehr eng in Verbindung mit steuerpolitischen Geschichten“ stehen würde. Auch diese Erwartung erfüllte sich. Vor dem Hintergrund schlechter Umfragewerte beschwor die Union eine Richtungswahl. Es brauche Entlastungen für die Wirtschaft und nicht neue „Steuerorgien“ (Paul Ziemiak bei Anne Will, 29.08.2021), wie sie von der SPD und den Grünen geplant seien. Eine rot-rot-grüne Koalition würde der deutschen Wirtschaft außerordentlich schaden. Um dieser Argumentation entgegenzuwirken, nutzte die SPD das haushaltspolitisch konservative Image von Scholz, das er sich als Finanzminister der Großen Koalition erworben hatte, und welches man innerparteilich noch zwei Jahre zuvor harsch kritisierte. Kevin Kühnert, prominenter Vertreter des linken Flügels, konterte Zimiak: „Wer ernsthaft glaubt, den Leuten weismachen zu können, dass mit Olaf Scholz, ich wiederhole: Olaf Scholz, die kommunistische Gewaltherrschaft in Deutschland einzieht […], der ist ein bisschen falsch gewickelt. Und das wissen die Menschen in Deutschland ganz genau“ (Kühnert bei Anne Will, 29.08.2021).

Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, lässt sich zusammenfassend sagen, dass die SPD bis zu den Koalitionsverhandlungen offensiv für ihre progressiven Steuerpläne eingetreten ist, weil sie 2019 einen „policy entrepreneur“ zum Parteivorsitzenden machte, der kompetent und motivierend innerhalb und außerhalb der Partei für sein Herzensthema progressive Steuerpolitik warb und die öffentliche Debatte nicht scheute. Auch die Wahl von Scholz und ein auf die wirtschaftspolitische Kompetenz des Kanzlerkandidaten ausgerichteter Wahlkampf haben ihren Teil dazu beigetragen. Effektiv erlaubte sie eine „Nixon-goes-to-China-Logik“, in der progressive Steuerpolitik von einer pragmatischen Person vertreten wurde, von der klassenkämpferische Exzesse nicht zu befürchten waren. Die Projektion finanzpolitischer Kompetenz wurde von der programmatischen Schwäche der Union in diesem Feld befördert. Tatsächlich schrieben die Wählerinnen und Wähler der SPD eine deutlich höhere steuerpolitische Kompetenz zu als noch 2017 (+8 %) und bewerten sie auch höher als die von CDU/CSU und FDP (Infratest Dimap 2021; Forschungsgruppe Wahlen 2021).

4 Die Wirkung des Steuerwahlkampfs

Die SPD hat 2021 trotz tiefsitzender Bedenken auf eine Profilierung und Mobilisierung über die Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen gesetzt. Wie wir gezeigt haben, leiten sich diese Bedenken direkt aus Annahmen über die öffentliche Meinung ab: Steuern seien zu komplex, abstrakt, negativ konnotiert und – im Parteijargon – „verhetzbar“. Inwiefern diese Annahmen zutreffen, ist angesichts des Wahlsiegs der SPD eine wichtige empirische Frage. Ist es der SPD gelungen, Unterstützung für Reichenbesteuerung zu mobilisieren? Oder treffen die pessimistischen Annahmen zu und der Wahlsieg gelang trotz der Steuerkampagne? Und hat das Thema die Menschen überhaupt bewegt?

Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir im Dezember 2021 zunächst eine quasi-repräsentative Online-Umfrage (N = 5000) durchgeführt. Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse würde den Rahmen dieses Artikels übersteigen. Sie finden sich im Anhang. Insgesamt legen die Ergebnisse nahe, dass es in Deutschland zwar eine abstrakte Zustimmung zu höheren Steuern für Reiche gibt, dass die SPD im Wahlkampf aber eher mit anderen Themen, z. B. der Arbeitsmarktpolitik punkten konnte. In Bezug auf die Frage, ob die Steuerpolitik ein Gewinner- oder Verliererthema war, sind die Muster allerdings uneindeutig (siehe Anhang II für eine weiterführende Diskussion).

Insgesamt sollte allerdings die begrenzte Aussagefähigkeit abstrakter Umfrageitems über komplexe politische Einstellungen berücksichtigt werden. Zustimmung zu allgemeinen Formulierungen – hierauf wurde in unseren Interviews immer wieder hingewiesen – führen nicht notwendigerweise zur Unterstützung konkreter Gesetzesvorhaben oder Parteien. In der Umfrageforschung ist bekannt, dass Menschen selbst bei nicht vorhandenen oder schwachen Einstellungen Einschätzungen im Umfragekontext abgeben (Goerres und Prinzen 2014).

Um mit diesen Schwächen umzugehen, haben wir die Wahrnehmung des Wahlkampfes in Fokusgruppen untersucht. Neben der Möglichkeit, Nichteinstellungen abzubilden, haben Fokusgruppen Vorteile bei komplexen Themen wie Steuerpolitik. Erstens erlaubt das offene Format, Vor- und Nachteile zu benennen und zu gewichten. Zweitens können sich Individuen, die isoliert Probleme hätten, eine Position zu formulieren, die „Arbeit“ der Meinungsfindung in der Gruppe dialogisch teilen – was auch der Art entspricht, in der die Menschen Politik typischerweise im Alltag erleben (Cyr 2019). Durch den Einbezug der Interaktionsebene kann zudem ein besseres Verständnis der konkreten Argumente erreicht werden, die Menschen gegebenenfalls von der Unterstützung der Reichenbesteuerung abhalten.

Im Februar wurden zunächst vier neunzigminütige Fokusgruppen in Köln mit jeweils fünf Personen durchgeführt. Das Ziel war, Einstellungen zur Besteuerung von Reichen im Allgemeinen und zur Position der SPD im Speziellen zu untersuchen. Die Teilnahme war beschränkt auf Personen mit Bildungsabschlüssen unterhalb des Abiturs. Diese Gruppe sollte prinzipiell für die SPD mobilisierbar sein und vergleichsweise eindeutige ökonomische Anreize zur Reichenbesteuerung haben. Bildungshomogene Gruppen sollten auch einen geeigneteren Rahmen für die politische Meinungsäußerung bieten. Im April wurden vier weitere Gruppen mit Hochgebildeten (mindestens Fachhochschulabschluss) durchgeführt, die einer identischen Struktur folgten.

In einem semistrukturierten Vorgehen wurde zunächst offen nach Erinnerungen und Einschätzungen zum Bundestagswahlkampf 2021 gefragt, um aus den spontanen Antworten Prioritäten ableiten zu können. Darauf aufbauend wurde gefragt, ob Themen der SPD erinnert werden können und – je nach Gesprächsverlauf – ob und woran man ihr Eintreten für soziale Gerechtigkeit erkennen konnte. Erst dann wurde gefragt, ob Diskussionen zur Steuerpolitik wahrgenommen wurden und wie die eigene Meinung zur Reichenbesteuerung ausfällt. Als Gesprächsstimuli wurden Wahlplakate der SPD sowie ein Ausschnitt aus einem TV-Triell und/oder ein Wahlwerbespot gezeigt, bei dem es um Steuerpolitik ging. Außerdem wurde eine wissenschaftliche Studie zu den Folgen der Steuerpolitik diskutiert.

Trotz leicht unterschiedlicher Verläufe lassen sich klare Gemeinsamkeiten über die vier Gesprächsrunden mit Geringqualifizierten feststellen. Zunächst führte die Gesprächsaufforderung zu politischen Themen zu Verunsicherung, die aber schnell überwunden wurde. Alle vier Gespräche verliefen flüssig. Es wurde angeregt diskutiert. Zwar gaben viele Personen an, sich wenig oder gar nicht für Politik zu interessieren, sie waren aber durchweg in der Lage, Meinungen zu politischen Persönlichkeiten und sozioökonomischen Themen zu formulieren. Auffällig war dabei ein Bezug zu konkreten persönlichen Erfahrungen, während abstrakte Argumentationen selten waren. Ökonomische Ungleichheit wurde z. B. spontan nicht mit Reichtum verbunden, sondern mit Beobachtungen von Armut im eigenen Umfeld oder persönlichen Erfahrungen. So wurde mehrfach auf Rentnerinnen verwiesen, die Flaschen sammeln müssen, was als große Ungerechtigkeit empfunden wird. Auch steigende Preise für Lebensmittel und Benzin wurden wiederholt als gravierendes soziales Problem diskutiert. Trotz einiger (deutlicher) Unmutsbekundungen über das politische System können unsere Gruppen insgesamt weder als zynisch noch als apathisch beschrieben werden.

Trotzdem war das konkrete Wissen über und Interesse an Bundespolitik und Wahlkampf mäßig bis gering ausgeprägt. Es konnten spontan wenige Themen erinnert werden. Die Formulierung eigener Prioritäten fiel meistens schwer, auch, weil die Verbindung von Politik zu den sozioökonomischen Naherfahrungen selten hergestellt wurde. Dies war noch am ehesten bei der Arbeitsmarktpolitik und insbesondere dem Mindestlohn der Fall. Der Mindestlohn ließ sich scheinbar gut mit der Unterscheidung von „verdienter“ (Nichtbeschäftigung) und „unverdienter“ (Niedriglohn‑)Armut zusammenbringen, die häufig direkt oder implizit vorgenommen wurde. Vereinzelt wurden Sorgen geäußert, der Mindestlohn könne zu höheren Preisen und Arbeitslosigkeit beitragen.

Die genannten Tendenzen sprechen stark gegen ein Interesse für Steuerpolitik. Tatsächlich spielt diese für unsere Gruppen mit Geringqualifizierten keine Rolle. Ein Ausschnitt aus dem bei RTL ausgestrahlten Triell zum Steuerthema wurde als langweilig und unverständlich bewertet („Da hört man irgendwann nicht mehr hin. Also zu viele Informationen auf einmal“; „Also man blickt ja selbst bei dem kurzen Video irgendwann nicht mehr durch“; „Man blickt da als Normalo gar nicht mehr durch. Wo jetzt welche Steuern erhöht werden. Wo sind die? Ab wann zählt man als reich? Ab wann zählt die Reichensteuer? Wo greift die ein? Steht man doch da wie der Ochs vorm Berg“). Lediglich die Antwort auf Peter Klöppels Frage nach Olaf Scholz’ Einkommen erzeugte verlässlich eine Reaktion (Überraschung, milde Empörung). Unsere Frage, ob Scholz oder Laschet überzeugender argumentiert hätten, führte kaum zu substanziellen Antworten.

Die Frage, ob die Reichen in Deutschland insgesamt mehr Steuern zahlen sollten, wurde von Geringqualifizierten tendenziell verneint. Allerdings kamen hier angeregte Diskussionen zustande, in denen Vorteile höherer Steuern erwogen und anerkannt wurden. Dabei wurde deutlich, dass sich die Haltung zur Steuerpolitik nicht nur aus Desinteresse speist, sondern auch konkrete, meritokratische Werte widerspiegelt.Footnote 7 Reichen Menschen wurde prinzipiell zugutegehalten (teilweise in elaborierten Argumentationen), dass sie für ihre Position gearbeitet hätten und diese verdienten. Dabei wurde eine Stigmatisierung von Neid deutlich sowie das Bedürfnis, sich davon zu distanzieren.

„Die reichsten der Reichen, ja! Wenn du das Geld nicht mehr ausgeben kannst, das du auf dem Bankkonto hast. […] Aber es gibt auch Leute, die haben sich ihren Reichtum hart erarbeitet, haben viel dafür getan, Tag und Nacht geschuftet. Warum sollen die dann dafür quasi bestraft werden, für ihre Leistung, die sie erbracht haben?“

„Was mich einfach nervt, ist, dass die immer sagen, die Reichen sollen mehr Steuern zahlen. Also ich selber lebe am Existenzminimum und ich sehe das nicht so, dass wenn die sich das selber erarbeitet haben, dass die dann – das klingt jetzt scheiße, so sehe ich das – dass die dann für alle dann aufkommen müssen.“

In den Fällen, in denen für höhere Steuern argumentiert wurde, kam mehrfach der im deutschen Steuerdiskurs weitverbreitete Einwand auf, dies führe zu Steuerflucht („Ich könnte mir auch vorstellen, dass dann viele in die Schweiz ziehen oder woanders hin“; „Dann wandern die halt ins Ausland“). Eine weitere Tendenz bestand in der Verbindung mit eigenen Steuererfahrungen, die durchweg negativ sind und z. B. über Verbrauchssteuern transportiert werden.

„Und natürlich auch Steuern mit Lebensmittel und das ganze Zeug. Das wird dann ja auch erhöht.“

„Ich scheiß auf die Steuern, aber guck doch erstmal, dass die Leute auch Essen auf dem Tisch haben […]. Aber das betrifft beim Essen ja auch die Steuern, dass das dann erhöht wird und so.“

„Kaffee soll jetzt wieder 22 % teurer werden mit der Begründung, andere Länder, Einfuhr, und hier ne Steuer, da ne Steuer. Gehen Sie mal tanken! Das ist das Gleiche.“

„Ich glaube, es sucht jeder für sich das raus, was am günstigsten wäre. Da würde unsereiner, der normal arbeiten geht, sagen, das wäre schön, wenn man uns entlasten würde, sage ich jetzt mal. Wär jetzt für mich das Sinnvollere wie als jetzt mehr Steuern […] also für die Reichen Steuern zu zahlen.“

„Das ist halt schwierig. Auf der einen Seite sage ich mir, das ist ja auch deren Geld [der Reichen], ob weniger oder mehr oder wie auch immer.“

Die allgemeine Annäherung an sozioökonomische Themen aus der persönlichen Erfahrung schien auf der Assoziationsebene teilweise eine Identifikation mit reichen Menschen zu schaffen („Ob das fair ist oder nicht jetzt, mal beiseitegestellt. Aber wäre ich in deren Position würde ich auch denken: ‚Wieso ausgerechnet wir? Ich habe mir das doch erarbeitet!‘“). Dabei wurden teilweise auf Selbstständige aus dem Bekanntenkreis verwiesen, die unter Steuern leiden.

„Meine Freundin ist z. B. Kosmetikern mit nem kleinen Studio. Wenn die auf einmal noch mehr bezahlen soll […]“

„Das steckt schon in dem Wort drin ‚selbstständig‘, ‚selbst‘ und ‚ständig‘. Du kannst nicht mal eben Urlaub machen wie du lustig bist und so. Da finde ich schon, dass das nicht unbedingt bestraft werden sollte, wenn man sehr viel leistet.“

Scheve und Stasavage (2016) argumentieren, dass Zustimmung zur Reichenbesteuerung vor allem in Krisensituationen möglich ist, in denen staatliche Reaktionen auf exogene Schocks eine Bevorzugung von Wohlhabenden erzeugen. Unsere Fokusgruppen sind der ideale Rahmen, um zu prüfen, ob eine solche „kompensatorische Logik“ im Kontext der Corona-Pandemie überzeugt. Die Antwort lautet: Nein. „Krisengewinner“ wie Amazon werden als umtriebig oder clever wahrgenommen. Ihnen höhere Steuern aufzuerlegen, sei auch schwierig wegen der Arbeitsplätze, die diese Unternehmen in der Krise geschaffen hätten.

„Das hat für mich so ein bisschen was von: ‚Wir bestrafen dich jetzt dafür, dass du jetzt Profit gemacht hast‘“

„Wir stecken alle mit im Boot. Und jetzt zu sagen: ‚Es gibt Corona-Profiteure und die sollen stärker besteuert werden!‘ […] Da kommt ein Brief in den Briefkasten, da steht: ‚Herr [–], ja, Sie müssen jetzt mehr Steuern bezahlen, weil Sie haben zu gut verdient während dieser globalen Pandemie und wir wollen jetzt was vom […]‘. Ich glaube, das fänd ich so nicht moralisch vertretbar, irgendwie.“

Bemerkenswert waren die Reaktionen auf Ergebnisse einer Studie (Buhlmann et al. 2021), in der finanzielle Auswirkungen der Steuerpläne der Parteien auf unterschiedliche Einkommensgruppen berechnet wurden. Die tabellarisch dargestellten Einkommenseffekte wurden als überraschend deutlich wahrgenommen und führten zu Zustimmung zum umverteilenden SPD-Programm. Mehrfach wurde geäußert, man hätte sich diese Information im Wahlkampf gewünscht.

Die vier weiteren Fokusgruppen mit Hochgebildeten ergaben insgesamt überraschend ähnliche Ergebnisse. Obwohl in dieser Gruppe insgesamt eine stärkere Auseinandersetzung mit politischen Inhalten festzustellen war, zeigten sich bei der Steuerthematik bemerkenswerte Parallelen. Keiner der zwanzig Befragten erinnerte sich unmittelbar an die Steuerpolitik als ein wichtiges Wahlkampfthema. Dies wurde ebenfalls auf mangelnde direkte Betroffenheit zurückgeführt. Auch wenn sich einzelne Teilnehmer auf Nachfrage leidenschaftlich und nachdrücklich für höhere Steuern für Reiche aussprachen, ist die ablehnende Grundtendenz ähnlich stark ausgeprägt wie in den ersten vier Gruppen. Auch Gründe für die Ablehnung ähneln sich bei leicht unterschiedlicher Gewichtung.

Wie bei Geringqualifizierten scheinen Steuern erstens grundsätzlich negativ konnotiert („Das Steuerthema ist immer sensibel weil man damit verbindet, die wollen noch mehr Geld von uns haben […] die wollen uns was wegnehmen“, „Und dann denk ich, oah […] jetzt habt ihr wieder mehr Schulden gemacht, jetzt muss ich dafür zahlen, so ungefähr“).

Zweitens werden auffällig häufig negative Effekte auf mittelständische Unternehmen betont. Dahinter steht die Überzeugung, höhere Steuern zwängen diese Unternehmen zum Stellenabbau.

„Ich hab jetzt nur diese Reichensteuer im Kopf. […] Hat mich aber null betroffen. Ich bin nicht reich. Ich werd niemals reich. Ich werd nicht zu dieser Gruppe gehören. Man muss auch immer nochmal gucken. Ein Mittelständler, der macht ja auch möglich, dass es Jobs gibt, und am Ende, wenn wir alle arbeiten können oder ein Großteil, dann muss man auch mal gucken, was ist der Nutzen?“

Ein entsprechender Bezug von Steuern zu mittelständischen Familienunternehmen und Arbeitsplätzen, den Laschet im präsentierten TV-Ausschnitt-Triell vorträgt, wurde dann auch am häufigsten als überzeugende Argumentation betrachtet.

Drittens spielen meritokratisch inspirierte Steuerkritiken ebenfalls eine Rolle, wenn auch eindeutig weniger als in der Gruppe der Geringqualifizierten. Viertens gibt es im Vergleich zu den Geringqualifizierten einige Ausreißer mit elaborierten Argumentationen für oder gegen Steuern. Zum Beispiel wurde von einem Teilnehmer die Laffer-Kurven-Kritik vorgetragen, während ein Steuerbefürworter über gesamtgesellschaftliche Probleme im Zusammenhang mit Ungleichheit reflektierte. Diese partielle Informiertheit führte zu einer differenzierteren Betrachtung nach Unternehmenstypen, die bei Geringqualifizierten nicht beobachtet werden konnte. Vor allem wurde fast einhellig gefordert, große Tech-Unternehmen stärker zu belasten. Die Steuervermeidungsstrategien werden als unmoralisch verurteilt. Auch gab es stärkere Sympathien für die Besteuerung von Krisengewinnern in der Pandemie. Allerdings muss betont werden, dass die Gespräche zu diesen Themen von einzelnen, interessierten und informierten Personen getragen wurden.

Insgesamt verdeutlichen die Fokusgruppen eindrücklich, dass die Abgeordneten der SPD die öffentliche Meinung zu Steuern durchaus richtig einschätzen. Eine erfolgreiche Mobilisierung durch Reichenbesteuerung erscheint, zumindest in den acht von uns geleiteten Gesprächsgruppen, extrem unwahrscheinlich. Die Gründe liegen auch, aber nicht nur, in der sehr geringen Bereitschaft, sich mit dem Zusammenhang von Steuern, Ungleichheit und eigener wirtschaftlicher Lage zu beschäftigen. Dies gilt für Gering- wie auch für Hochgebildete. Bei Geringqualifizierten spielen Wertvorstellungen zu harter Arbeit und Neid eine wichtige Rolle, die eine Internalisierung meritokratischer Rechtfertigungen erkennen lassen. Hinzu kommt die Internalisierung des Globalisierungsdiskurses zu unvermeidlicher Steuerflucht, die Pro-Steuer-Argumenten in den Gesprächen schnell entgegengehalten werden. Bei Hochgebildeten herrscht mehr Varianz im politischen Interesse, sodass rezipierte mediale Steuer- und Ungleichheitsdiskurse stärker in die Gespräche einfließen. Die grundlegende Haltung zu Steuererhöhung ist aber vergleichbar.

5 Schlussfolgerungen

Unsere Studie hat gezeigt, dass der Bundestagswahlkampf 2021 eine außergewöhnlich prominente Debatte über die Reichenbesteuerung bot. Diese lässt sich auf die Entscheidung insbesondere der SPD zurückführen, das Thema offensiv zu vertreten und zum Gegenstand der Auseinandersetzung mit der Union zu machen. Wie kam es zu dieser Entscheidung in einer Partei, die über Jahrzehnte vor Steuerdebatten zurückschreckte und noch kürzlich darin ein „Verliererthema“ ausmachte? Unsere Analyse legt eine Erklärung nahe, die parteiinterne Prozesse, Parteienkonkurrenz und öffentliche Meinung berücksichtigt.

Zunächst muss anerkannt werden, dass in linken Parteien ein durchaus realistisches Bild der Steuerpräferenzen und -kompetenzen in der Bevölkerung vorherrscht. Wir konnten bestätigen, dass die Aufmerksamkeit für das Thema überaus gering ist und dass selbst in niedrigen Einkommensschichten Skepsis dominiert. Das Mobilisierungspotenzial von Steuererhöhungen für Reiche ist begrenzt. Sozialdemokratische Kernthemen wie Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik scheinen leichter vermittelbar. Allerdings konnten wir die parteiinterne Wahrnehmung, es mit einem „Verliererthema“ zu tun zu haben, nicht bestätigen.

Hierbei ist möglicherweise eine in der politischen Einstellungsforschung nicht ausreichend reflektierte, in der Wahlkampfführung aber wohl-bekannte Komplexität zu berücksichtigen. Bei der Formulierung politischer Positionen geht es nicht ausschließlich um die direkte inhaltliche Zustimmung. Vielmehr fügen sich inhaltliche Positionen in ein Gesamtbild ein, das in der Bevölkerung letztlich in Form diffuser Kompetenz- und Sympathiezuschreibungen aggregiert wird. So ist es möglich, dass Steuererhöhungen an sich mäßige Zustimmung erfahren. Im Wahlkampf aber glaubwürdige Antworten geben zu können, wie Ausgabenpläne finanziert werden, kann zur (wahrscheinlich wichtigeren) wahrgenommenen Wirtschaftskompetenz beitragen.

Dies führt uns zum zweiten wichtigen Faktor, der Form des Parteienwettbewerbs in der Wahl von 2021. Die Union entschloss sich, nach der Merkel-Ära, die durch eine Vereinnahmung und Depolitisierung sozialdemokratischer Positionen geprägt war, konservative fiskalpolitische Positionen zu betonen. Dabei begab sie sich in ein Finanzierungstrilemma zwischen Investitionsbedarfen, schwarzer Null und Steuersenkungen. Die SPD erkannte früh die Angriffsfläche für Kompetenz und Glaubwürdigkeit der Union. Diese programmatische Schwäche der Union, gepaart mit einem als wenig kompetent wahrgenommenen Spitzenkandidaten, erklärt, warum es Steuererhöhungen hoch auf die sozialdemokratische Prioritätenliste schafften.

Aus unserer Sicht der entscheidende Faktor ist allerdings das Zusammenwirken von zwei Akteuren innerhalb der SPD. Besonders wichtig ist die Rolle von Norbert Walter-Borjans als „policy entrepreneur“. In einer kontrafaktischen Welt ohne seine Wahl zum Ko-Vorsitzenden wäre es in unserer Einschätzung nicht zum Kurs der SPD gekommen. Sein Beitrag lässt sich in drei Bereichen beobachten. Er warb in einer auf Sozialpolitik fokussierten Partei erfolgreich dafür, Steuerpolitik als Gerechtigkeitsfrage ernst zu nehmen und schuf damit eine stärkere motivationale Grundlage. Gleichzeitig zeigte er einen Weg auf, Steuerpolitik selbstbewusst in der Öffentlichkeit zu behandeln und dabei Wirtschaftskompetenz zu projizieren. Schließlich erhöhte er mit diesen beiden Beiträgen die Kosten für den fiskal-konservativen Flügel, die Pläne der Parteilinken zu ignorieren oder gar zu bekämpfen (ein Problem in vielen vergangenen Wahlkämpfen).

Auch die Rolle von Olaf Scholz – sowie sein Zusammenwirken mit Walter-Borjans – muss betont werden. Letztlich wäre für Walter-Borjans das Risiko groß gewesen, zwar als kompetent und authentisch wahrgenommen zu werden, aber eben auch als klassenkämpferisch diskreditiert zu werden. Scholz erkannte, dass sich ein Schulterschluss mit der Parteilinken nicht vermeiden lässt und dass dieser unter Walter-Borjans Steuererhöhungen einbeziehen muss. Gleichzeitig wurde früh erkennbar, dass sich Olaf Scholz mit seiner ausgewogenen Haltung und seinem konservativen Image das Eintreten für Steuererhöhung würde leisten können. Letztlich glich das Vorgehen der bekannten „Nixon goes to China“-Logik, der zufolge die Bevölkerung umstrittene Maßnahme eher akzeptiert, wenn sie von eigentlich skeptischen Akteuren vertreten werden (denen man eine verantwortungsvolle Umsetzung zutraut). Mit Olaf Scholz als Spitzenkandidaten war das in der SPD gefürchtete „Verhetzungspotenzial“ von Steuererhöhungen deutlich geringer.

Hier soll der geplante Charakter dieser Strategie nicht überbetont werden. Nach unserer Einschätzung haben Intuitionen, Improvisationen und Zufälle wohl eine beträchtliche Rolle gespielt. Parteien sind komplexe Organisationen (gerade vor Wahlen), die sich nicht leicht im Sinne solcher Strategien lenken lassen. Dennoch steckt in der „glücklichen Fügung“ der Personenkonstellation von 2021 möglicherweise eine Lehre. Die Kombination konkreter und ambitionierter Programmatik, vorgetragen von einem als besonnen und konservativ wahrgenommenen Spitzenkandidaten, scheint der SPD geholfen zu haben (nach innen wie auch nach außen).

Abschließend möchten wir die Bedeutung unserer Ergebnisse für zwei Literaturstränge diskutieren. Die Literatur zur Politik der Besteuerung hat sich stark an den Hürden für höhere Steuern abgearbeitet. Eine Vielzahl von Beiträgen konzentriert sich dabei entweder auf die Nachfrageseite der Steuerpolitik (Präferenzen auf der Mikroebene) oder untersucht steuerpolitische Reformen aus einer Makroperspektive. Unsere Analyse verweist hingegen auf die Erklärungskraft parteiinterner Prozesse auf der Mesoebene. Die Chancen und Risiken eines Steuerwahlkampfs sind abhängig von den organisatorischen Ressourcen, die Parteien in einem jeweiligen Kontext einbringen können. Hierzu zählt insbesondere geeignetes Personal, das den Anforderungen des komplexen Politikfeldes gewachsen ist. Damit ergänzen wir die pessimistische, auf exogene Schocks beschränkte Erklärung von Scheve und Stasavage (2016).

Sowohl die langfristigen, durch Lobbyarbeit unterstützen diskursiven Barrieren wie auch der Wahlkampf von 2021 verdeutlichen wichtige endogene politische Einflüsse auf Steuerpolitik. Aktuelle Beispiele für erfolgreiches Agenda Setting mit Reichenbesteuerung lassen sich auch im Ausland finden (z. B. Bernie Sanders, Jean-Luc Mélenchon oder Jeremy Corbyn). Es ist eine wichtige Frage für zukünftige Forschung, ob und wie sich daraus ein vorteilhafter Rahmen für progressive Steuerreformen ergibt.

Unsere Studie wirft zudem Fragen für die Literatur zu ungleicher politischer Responsivität auf (Elsässer et al. 2017; Schäfer und Zürn 2021). Aus dieser Perspektive ließe sich das Ausbleiben umverteilender Steuerpolitik als mangelhafte Repräsentation unterer Schichten interpretieren. Hier gilt es allerdings anzuerkennen, wie unklar das von der Bevölkerung ausgehende Signal ist und welche Schwierigkeiten politischen Eliten daraus erwachsen. Präferenzen sind nicht exogen gegeben. Vielmehr werden sie in subtilen Machtprozessen endogen geformt (Lukes 2005/1974). Im Bereich der Steuerpolitik können sich solche Prozesse beispielsweise in einem verzerrten, an Unternehmensinteressen orientierten medialen Steuerdiskurs manifestieren (Theine und Grisold 2020). Umverteilungspolitik durch Besteuerung erfordert also keine „einfache“ Responsivität. Gerade, weil die öffentliche Meinung von Unsicherheit und Skepsis geprägt ist, bedarf es engagierter Diskurse, um überhaupt die eindeutige politische Nachfrage sicherzustellen. Unsere Forschung zeigt, wie schwierig es für linke Parteien ist, solche Diskurse zu gestalten.