1 Einleitung

Der Morgen des 16. Juli 2016 markiert einen seltsamen Wendepunkt in der politischen Ordnung der Türkei. Wurde am Abend zuvor noch der Versuch unterbunden, die Regierung zu stürzen, ist am Morgen danach eine Verfassungspolitik dominant geworden, die sich im Namen der Demokratie begründete, in ihrer Substanz und Tragweite jedoch der Radikalität des verhinderten Putsches gleicht. Mögen die Putschisten gescheitert sein, das politische Ordnungsgefüge ist dennoch unter die Dynamik einer Autokratisierung geraten, die über das Diktum politischer „Säuberungen“ nicht nur umfassende Umbesetzungen im Staatsapparat, im Justizwesen und in den Universitäten des Landes auf den Weg brachte, sondern darüber hinaus dem Arsenal politischer Feindschaftsbilder eine neue Kategorie (FETÖ, Fethullaçi Terör Örgütü) hinzugefügt hat, die in den verfassungsrechtlichen Fachkreisen kaum diskutiert werden konnte (Gözler 2017). Mit den Wahlen vom 24. Juni 2018 hatte die Autokratisierung ihren transformativen Höhepunkt erreicht und mit einer Reihe illiberaler Verfassungsänderungen steht der radikal gestrafften Exekutive auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes das weite Spektrum außerordentlicher Regierungsmöglichkeiten erhalten (Kaboğlu 2017).

Binnen weniger Jahre ist aus einer „democratic consolidation“ (Erişen und Kubicek 2018) also eine „democratic recession“ (Diamond 2014) geworden, die das Stadium des „democratic breakdown“ (Somer 2016) rasch verlassen und sich mit der Annahme der neuen Verfassungsordnung in ein „full authoritarianism“ (Çalışkan 2018) verwandelt hat. Dabei hat sich die autoritäre Transformation zwar auf der Ebene des Regierungshandelns abgespielt, konstituiert hat sie sich jedoch im Alltagsleben der Zivilbevölkerung. Denn ohne die Erinnerungsarbeit ziviler Demokratiewachen (Demokrasi Nöbeti) hätte sich das autoritäre Projekt kaum als Ausdruck eines expliziten Mehrheitswillens präsentieren können (Carney 2018). Der öffentliche Raum ist nicht nur dadurch unter die herrschenden Verhältnisse geraten, weil sich die Regierung über die demokratischen Systemzwänge hinweggesetzt und autoritären Druck auf die Zivilgesellschaft ausgeübt hatte. Er ist es auch, weil zivile Akteure selbst dazu übergegangen sind, autoritäre Ideale zu propagieren und den demokratischen Kräften dort die Artikulationsmöglichkeiten zu entziehen, wo sich die für Demokratien so lebenswichtige Kritik am Regierungshandeln formiert.

Die Transformationsforschung hat einige Probleme diesen Befund zu erklären. Die Beiträge, die bislang vorliegen, beschränken sich auf die Frage der typologischen Zuordnung der neuen Ordnung, nehmen jedoch die Beweggründe und kulturellen Praktiken, durch die sie sich verwirklicht hat, nicht ins Visier. Das ist weniger der Unbeholfenheit der Türkeiforschung zuzuschreiben, als einer theoretischen Verlegenheit, die der Transformationsforschung selbst anhängt und aus ihren universalistischen Ansprüchen herrührt (Krastev 2011). Während die modernisierungstheoretischen Deutungsangebote nur die Rätselhaftigkeit des Befundes steigern, insofern die türkische Demokratie auf einem Wohlstandsniveau („level of wealth“) zerbrochen ist, wo diesen Theorien zufolge doch die Stabilisierung ihrer demokratischen Basisinstitutionen in Aussicht stünde (Przeworski et al. 2000; Boix und Stokes 2003), können die transitologischen Ansätze die komplexen Bindungskräfte des Neuen Autoritarismus kaum erfassen. Wenngleich sie die in Modernisierungstheorien oftmals vernachlässigte Akteursebene fokussieren (Acemoglu und Ucer 2015) und damit eine wichtige Beobachtungsperspektive einzunehmen erlauben, können sie nicht zur Klärung der Frage beitragen, wie die Türkei unter die normativen Zwänge einer einzigen Ordnungspräferenz geraten ist (Präsidentialisierung) und weshalb sich ihre autoritäre Umgestaltung nicht auf jene Verhandlungsräume beschränkte, die in der Transitionsforschung den zentralen Gegenstandsbereich der Akteursperspektive darstellen.

Wenn, wie es jüngere Studien nahelegen (u. a. Kailitz und Köllner 2013, S. 16; Lambach und Göbel 2010) auch Machtkonzentrationen komplexe Legitimierungswege durchlaufen und diese Wege nicht mehr in scharfer Abgrenzung zur demokratischen Idee und Praxis beschritten werden, dann ist die Erklärung im Bereich kultureller Hybridisierungen zu suchen; also dort, wo autoritäre Praktiken mit demokratischen Rechtfertigungsmustern zusammengehen. Am Beispiel der Türkei lässt sich dann etwa zeigen, dass der Neue Autoritarismus weder auf den Machtwillen und materiellen Interessen ihrer Träger allein, noch auf rein strukturellen Faktoren beruht, sondern seine Bindungskräfte durch die Aktivierung einer Repräsentationsformel erschließt, die sich als natürliche und unabänderliche Widerspiegelung des Volkswillens versteht (Diehl 2018). Das bedeutet nicht, dass materielle Motive und Konstellationen belanglos wären. Es bedeutet nur, dass für eine durch Wahlen vollzogene Autokratisierung eine rein ökonomische Erklärung zu kurz greift. Denn als Massenphänomen ist auch sie auf die Freisetzung legitimatorischer Bindungsenergien angewiesen. Dabei unterscheidet sich der vorliegende Beitrag von den Legitimationsstudien der neueren Autoritarismusforschung. Er ist nicht an einer theoretischen Beurteilung vorgefundener Legitimationsstrategien interessiert, sondern wird sie einer pragmatistischen Perspektive unterziehen, die an ihren mythischen Ressourcen orientiert ist. Mit Hans Blumenberg verstehe ich Legitimation hierbei als eine den strategischen und normativen Dispositionen der Akteure vorausgehende Arbeit am Mythos, die, wenngleich sie sich nicht immer klar zu erkennen gibt, immer dort am Werk ist, wo symbolische Vermittlungsprozesse stattfinden und sozial Bedeutsames ausgehandelt wird (Blumenberg 2006 [1979]). Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass es die Verkörperungsmythen des Souveränitätsdiskurses sind, durch die sich die autoritären Projekte der Gegenwart mit kulturellen Energien ausstatten. Dabei übernehmen zwei Metaphern eine zentrale Vermittlerrolle. Beide sind zwar kulturell strapazierfähig. Zugleich sind sie aufgrund ihrer anthropologischen Fundierung im menschlichen Geist mit einer „ikonischen Konstanz“ ausgestattet (Blumenberg 2006 [1979], S. 165), die ihre Gebrauchs- und Manifestationsmöglichkeiten auf die Erschaffung und Absicherung einer Höchstposition begrenzt. Das ist zunächst jene Metapher, die Politik aus der Perspektive häuslicher Gemeinwesen begreift und politische Subjektpositionen mittels familiärer Rollenkonstrukte formatiert. Daneben ist das Bild des Pastorats zu nennen, wie es Michel Foucault analysiert hat. Die erste steht in der Tradition der griechischen Logizität und ist elementarer Teil des Diskurses der Ökonomie (oikos/οἶκος), die zweite dagegen stammt aus der alttestamentarischen Theodizee und kreist um die Idee und Praxis einer mobilen Führung von Menschen. Beides sind keine bloßen Sinnübertragungsphänomene. Es wird sich vielmehr zeigen, dass der Verkörperungsmythos seine Manifestation in jenen Kippmomenten erlebt, in der die Metapher des Hauses in eine Pastoralmacht umschlägt und sich mit ihr verbündet. Mythos und Metapher sind insofern verwoben und liefern die denkermöglichenden Bildervorräte, durch die sich die mythische Widerspiegelung von Allen in Einem verwirklichen kann. Es gibt zahlreiche Beispiele für die erstarkende Bindungskraft autoritärer Verkörperungsmythen und ihrer metaphorischen Vermittlungen, was die Türkei zum ausgeprägten Fall des Neuen Autoritarismus macht. Die Präsidentschaft Donald J. Trumps beispielsweise ließe sich kaum erklären, wenn nicht die Prinzipien der häuslichen Führung berücksichtigt würden. Zwar durchläuft die USA keinen autoritären Regimewandel im transformationstheoretischen Sinne, unterliegt aber einem Regierungsstil, der nicht zufällig Familienmitglieder in höchste politische Ämter hievt (Lakoff 2016). Weitere Beispiele wie die verstärkte Rede vom Europa der Vaterländer oder die Auseinandersetzung mit evangelikalen Kabinetten wie in Brasilien belegen die neue globale und variationsreiche Anziehungskraft paternaler Ordnungsversprechen.

Im vorliegenden Beitrag geht es um die Frage, wie die Aktivierung des Verkörperungsmythos im Kontext des Neuen Autoritarismus nachvollzogen werden kann. Den theoretischen Vorüberlegungen (Abschn. 2) folgt eine dreigliedrige Fallstudie, die um das EmergenzereignisFootnote 1 der Putschnacht zentriert ist und Aspekte des Diskurses, der Rede und des Bildes zusammenführt (Abschn. 3). Der Ausblick bricht die metaphorologischen Befunde auf die elementaren Operationen herunter, die der Verwirklichungsprozess des autoritären Verkörperungsmythos durchläuft. Zwar handelt es sich hier um Verallgemeinerungen, die auf einer qualitativen Fallstudie beruhen. Aber durch die umsichtige Fallauswahl und die theoretische Einbettung eines heterogenen Datenensembles kann ein vertiefter Einblick in das Verhältnis von Mythos, Metapher und autoritärer Transformation gewonnen werden (Flyvbjerg 2006).

2 Autoritär-korporale Ordnungsmetaphoriken

2.1 Mythen, Metaphern und Politik

Die Politikwissenschaft hat sich mit der Wirkungsweise von Mythen und Metaphern bislang nur zögernd befasst. Zwar ist ihre politische Bedeutung gut dokumentiert (Lakoff und Johnson 2014 [1980]; Blumenberg 1998 [1960]; Bottici 2007; Haverkamp 2018; Heidenreich 2020). Allerdings steht eine politikwissenschaftliche Metaphorologie, die im bildlichen Sprechen keine „fröhliche Wortspielerei“ (Lüdemann 2004, S. 30), sondern eine „Form der Reflexion“ (Blumenberg 1998 [1960], S. 9) sieht, noch immer aus. Allein die interpretative Policy-Forschung hat erste Ansatzpunkte für eine metaphernanalytische Erweiterung des politikwissenschaftlichen Methodenspektrums entwickelt, die sich zwar an der Kognitionspsychologie orientiert und den Mythos ausklammert, aber die epistemologische Kraft von Metaphern und ihre empirischen Wirkungen doch gut thematisiert. Erik Ringmar (2007, S. 119) führt dies darauf zurück, dass die vielfach als interpretative Wende bezeichnete Öffnung zugunsten diskursanalytischer Verfahren gerade hier erkennbar gemacht habe, dass jegliches Beobachten, Erkennen und Herstellen intersubjektiver Wahrheitsansprüche notwendigerweise metaphorisch organisiert ist. Und das ist keineswegs kausalanalytisch zu verstehen, insofern Metaphern ihrer Phänomenologie nach elastischer Natur sind und als kulturelle Konstrukte weder selbst objektiv bestimmbare Funktionen übernehmen können, noch ihre Nutzer in die Lage versetzen, die Ereignisse, die sie als deutungsbedürftig empfinden, aber augenfällig nicht erkennen können, so einzufangen, dass eine außerhalb ihrer Deutungspraktiken liegende Objektivität abgebildet werden könnte. Die Aufgabe von Metaphern besteht vielmehr darin, dass weniger scharf Konturierte „in Begriffen des schärfer Konturierten“ verstehbar zu machen und Denkhorizonte aufzuspannen (Lakoff und Johnson 2014 [1980], S. 73) oder, wie Blumenberg es nennt, eine „Einstellung zur Wirklichkeit“ zu finden, in der sich Reflexionsmomente schaffen lassen (Blumenberg 2006 [1979], S. 13). Da in diesen Momenten stets „mehr“ enthalten ist, als es das Reale zu spenden vermag, lassen sich Metaphern eben nicht in abbildtheoretischen Kategorien begreifen, sondern „nur“ in ihren Performativitäten rekonstruieren. Es ist deshalb viel aufschlussreicher „zu sagen, die Metapher schafft Ähnlichkeit“, statt zu sagen, dass sie „eine bereits vorher existierende Ähnlichkeit“ lediglich formulieren würde (Max Black zit. n. Lüdemann 2004, S. 32).

Um zu verstehen, wie Metaphern Ähnlichkeiten schaffen ohne Ähnlichkeiten vorzufinden, ist es nützlich, sich über ihre mythischen Bezüge zu informieren, die in ihren Verwendungsweisen enthalten sind und die es erlauben, zwischen den Ziel- und Quellbereichen bildlicher Übertragungen vermittelnde Reflexionsmomente zu schieben. Dabei bleibt die Metaphorologie nicht beim Bestreiten der Möglichkeit einer metaphorisch vermittelten Korrespondenz zwischen Welt und Weltbild stehen. Sie ist um jene Bedingungen bemüht, die eine solche Vermittlung als den nachträglichen Effekt einer „primären, innersprachlichen Differenzierung“ hervortreten lässt (Lüdemann 2004, S. 34). Deshalb ziehe ich hier den von Blumenberg geprägten Ausdruck der Metaphorik vor. Bei ihm stellt sich die Schaffung als Präfiguration dar, als eine durch die Kontingenz der Welt geprüfte Arbeit am Mythos, die als Resultat der Kunst eine „historisch ambitionierte Handlung […] in die Zone der Fraglosigkeit“ rückt und gleichsam von jedem dieser Versuche berührt wird (Blumenberg 2014, S. 15). Der Begriff ist also umfassender konzipiert und macht uns auf die komplexen Zirkularitäten aufmerksam, die in metaphorischen Übertragungen wirksam sind und zwischen dem Imaginären (Mythen), dem Realen (Ereignishaftigkeit) und dem Symbolischen der Welt (Metaphern) vermittelnde Reflexionsmomente schieben (Abb. 1). Die „ästhetische Eigenwelt“, so Blumenberg (2006 [1979], S. 543), lässt sich nicht immer „von den Einbrüchen der ihr fremden Realität“ freihalten, womit er die pragmatische Funktion von Metaphern hervorhebt und in den Wechselwirkungen das Werk einer der Kontingenz ausgesetzten und mit ihr prozessierenden Welt sieht. Er setzt damit gegen die von Descartes geprägte Vorstellung, die Geschichte der Menschheit strebe auf einen vordefinierten Endzustand, die Sichtweise einer diachronen Begriffsgeschichte, die auf „die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen“ abhebt (Blumenberg 1998 [1960], S. 8/13). Seinen pragmatistischen Überlegungen folgend lokalisiert er die Metakinetik auf der Ausdrucksseite der Begriffsgeschichte und meint mit Mythos „das am Ende sichtbar Bleibende, das den Rezeptionen und Erwartungen“ jeweils Genügende (Blumenberg 2006 [1979], S. 192). Der Mythos diffundiert also nicht. Er ist im Menschsein verankert und verwirklicht sich in der Form einer rituellen Handlung, die durch ikonische Konstanz gekennzeichnet ist (Blumenberg 2006 [1979], S. 165). Eine so verstandene Metaphorologie ist insofern wichtig, weil Verkörperungsmythen dem historischen Prozess nicht vorausliegen, sondern mit ihm verkoppelt sind und selbst dort Veränderungen auslösen können, wo man sich ihrer epistemologischen Kräfte eher unbemerkt bedient oder auf Ausdrücke ausweicht, in denen die mythischen Spuren verschwommen sind: Wenn der Bau einer Mauer etwa dem US-amerikanischen Volk existenzielle Gefahren vom Leib halten soll, operieren kollektive Verkörperungsmythen weniger durch die verwendeten Termini oder durch eine Art historischer Mythenmission als auf der latenten Ebene des Gesprochenen; also dort, wo die situative Inanspruchnahme seiner Bildleistungen völlig ausreicht. Und auf dieser Ebene geht es nicht in erster Linie darum, die „Gefahr der US-mexikanischen Grenzregion“ als etwas Reales auszuweisen und ihren Wahrheitsanspruch durch die Fixierung bestimmter Referenten abzusichern (z. B. Drogenhandel, illegale Einwanderung), sondern darum, unterhalb des Deutungskampfes die energetische Qualität einer Vorstellungswelt zu steigern, die um die Idee einer korporal verfassten Nation kreist. Natürlich ist der Bebauungsplan auch ein migrationspolitisches Programm, in dem sich Interessen auszugleichen versuchen. Aber seine volle Bedeutsamkeit erlangt es erst durch eine Arbeit am Mythos, die sich eher im Verborgenen der Sprache vollzieht und unterhalb kognitiver Verfahren die Empfänglichkeit für restriktive Maßnahmen steigert. So bleibt festzuhalten, dass Metaphern weder durch ihre korresponsiven Qualitäten noch durch die Argumente, die sie zu generieren helfen, transformatorische Kräfte entwickeln, sondern allein dadurch, dass mit ihnen etwas Bestimmtes „gesehen“ und „getan“ oder, mit Blumenberg gesprochen, reflektiert werden kann.

Abb. 1
figure 1

Die Zirkularität von Metaphoriken

2.2 Die Grundzüge autoritär-korporaler Metaphoriken: Haus- und Pastoralmacht

Im Rückbezug zur Sozialtheorie lassen sich wichtige Anknüpfungspunkte für die semiotischen Praktiken des Neuen Autoritarismus finden. Es sind insbesondere zwei Bildervorräte, durch die sich autoritäre Ordnungen ihre „Seinsarten“ vergegenwärtigen und den Verkörperungsmythos mit politischer Wirkung ausstatten. Das ist zunächst das Bild des häuslichen Gemeinwesens, dessen „immanente Affinität zur Logik des Staates“ (Bourdieu 2014, S. 452) von Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007, S. 228–245) als Rechtfertigungsordnung rekonstruiert wird (a). Daneben sind auch die souveränitätstheoretischen Überlegungen von Michel Foucault zu nennen, der mit der Figur der pastoralen Führung die Praxisseite häuslicher Ordnungsbegründungen fokussiert. Beides sind die bildlichen Modi eines politischen Mythos, der die Perfektion einer Ordnung durch ihre Verkörperung in einem privilegierten Einzelnen denkbar macht. Zwar hat der Mythos seine „transzendenten Zuschüsse“ abgelegt. Die Leitidee aber, dass die Welt das „dingliche Eigentum“ derer sei, die besondere Einsichten in ihre Gesetzlichkeiten erlangt haben, ist weitgehend intakt geblieben (Blumenberg 1998 [1960], S. 96).

(a) Eine am Bild des Hauses ausgelegte Ordnungsvorstellung wurzelt in der antiken Lehre des Oikos, erlebt ihre politische Konjunktur aber erst mit Beginn der Neuzeit (Brunner 1968). Im Zuge der Herausbildung von Nationalstaaten, so Paul Münch, war es die Metapher des Hauses, die mit der Auflösung der agrarischen Lebensverhältnisse einhergehenden Wandlungen des politischen Raumes in einem „schichten- und ständeübergreifenden“ Kontext verstehbar zu machen ermöglichte. Mittels der antiken Hauslehre ließ sich die politische Ordnung entgegen ihrer neuzeitlichen Verkomplizierung weiterhin als Herrschaft begreifbar machen.

Wie ein „princeps legibus solutus“ zu definieren sei, das blieb dem exklusiven Kreis gelehrter Diskutanten vorbehalten, was hingegen einen Vater ausmachte, vor allem die ihm eigentlich auszeichnende „väterliche Gewalt“ lag im Erfahrungsbereich auch des einfachen, illiteraten Untertanen (Münch 1982, S. 24–25).

Was bei Münch wie die bloße Veralltäglichung juristischer Fachdiskurse klingt, erweist sich bei näherer Betrachtung als Folge einer unauflöslichen Wechselwirkung. Denn das, was im Bereich des alltäglich Erfahrbaren liegt – die „väterliche Gewalt“ –, ist auch der Ausgangspunkt jenes ordnungspolitischen Prozesses, der an die Stelle gottgleicher Könige säkulare Oberhäupter setzt, ohne die „reiche Metaphorik des sorgenden, nährenden, prüfenden, aber auch strafenden Vaters“ preiszugeben (Koschorke 2000, S. 154). Das Denken in Begriffen des Hauses plausibilisiert also nicht nur die staatsrechtlichen Diskurse. Umgekehrt gilt auch, dass sich die Modernisierung des Staates im Medium eines Bildes vollzieht, das durch den „juristischen Diskurs objektiviert, kanonisiert und kodifiziert“ wird (Bourdieu 2014, S. 453). Blumenberg, der diese Transformation auf der Ebene der Literaturgeschichte nachspürt, erkennt hier die Wirkung einer gesteigerten Arbeit am Prometheus-Mythos. Sie habe der Säkularisierung die Figur eines aufopferungsbereiten Lichtbringers untergeschoben und dazu beigetragen, dass sich das Neue durch die Kategorien des Bekannten stabilisieren konnte. Zwar sei im „Geltungsschwund der allegorischen und emblematischen Verfahren, aber auch einer ätiologischen Prähistorisierung […] die Stelle der Promethie vakant“ geworden, aber zugleich auch „unbestimmter in der Funktion und vielfältiger besetzbar“ (Blumenberg 2006 [1979], S. 609). Die Bedeutung eines alltäglich, staatsjuristisch wie philosophisch gleichermaßen kraftvollen Mythos lässt sich an zwei Momenten der Hausmetaphorik festmachen. Der antiken Bestimmung nach an ihrem herrschaftlichen Moment: Wird die Ordnung als häuslich verfasster Raum vorgestellt, verwirklicht sich der Verkörperungsmythos im Modus einer väterlichen Gewalt, die ihre zentrale Aufgabe darin sucht, im Hause zu befehligen, „so daß die Untergebenen gern und willig gehorchen“ (Brunner 1968, S. 111). Brunner hatte damit den Machttypus angedeutet, der sich durch die Inanspruchnahme des häuslichen Ordnungsbildes entfaltet. Und dieser Typus entspricht nicht der transformationstheoretischen Definition, wo Macht als jene Chance begriffen wird, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1980, S. 28). Der Machttypus, um den es hier geht, dringt vielmehr durch die Subjekte hindurch und zielt auf die Formation ihres Willens, noch bevor diese die Chance entwickeln können, einen solchen zu äußern oder gar durchzusetzen. Im Begründungszusammenhang des Hauses, so Boltanski und Thévenot, hängt schließlich das Schicksal des großen Ganzen von einer väterlichen Führung ab, die, funktional gesprochen, aus der Ebene interessenpolitischer Streitigkeiten herausragt und aus der Masse lose verkoppelter Untertanen einen Kollektivkörper formt. So wird der hellenistische Oikodespotes (οἰκοδεσπότης) oder der pater familias des römischen Rechts zu einer Ordnungsfigur, die Macht ausübt, ohne Willensbrüche zu begehen: „Was die Seele im Körper, ist der Herrscher im Staat, der Hausvater im Hause, das organisierende, die Einheit begründende Prinzip“ (Brunner 1968, S. 114).

Ein unterhalb des herrschaftlichen Momentes liegender Mythenbezug betrifft die Reichweite des Wahrheitsprivilegs, das die väterliche Gewalt im Rahmen der häuslichen Ordnungsbegründung zu beanspruchen vermag. Sein Wort gilt nicht nur für sämtliche Bereiche des „Hauses und des zugehörigen Grundes und Bodens“ (Brunner 1968, S. 106). Es schließt auch die Rollendefinitionen ein, die in der räumlichen Ordnung des Hauses zu vergeben sind. So entsteht ein figurativer Moment, der die Polis zu einer schutzbedürftigen Mutter-Kind-Einheit fasst und die Gleichheitsbedürfnisse ikonologisch am „Band der Brüderlichkeit“ ausrichtet. In den klassischen Darstellungen wird die Macht des Hausvaters an seinem Züchtigungsrecht abgelesen, das ihm verbindlich zu bestimmen erlaubt, wie die häuslichen Rollen erfüllt werden und welche Opfer in Krisenzeiten vom Rentabilitätsstandpunkt zu erbringen sind (Brunner 1968, S. 107). Wenn die Mutter zur Schutzhaltung neigt und unter Brüdern der Zwist droht, ist es die schwankende Stellung des Vaters, der die notwendige Übersicht bietet. Dass die so begründeten Gehorsamspflichten selbst in Friedenszeiten als innere Zwänge erlebt werden, betonen Boltanski und Thévenot mit einer aussagekräftigen Passage aus Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika:

Bei den aristokratischen Völkern beginnt der Herr seine Diener schließlich als einen niedrigeren und untergeordneten Teil seiner selber anzusehen […]. Die Diener ihrerseits sind nicht weit davon entfernt, sich unter dem gleichen Gesichtspunkt zu betrachten, und manchmal werden sie mit der Person des Herrn eins, dergestalt, daß sie schließlich in ihren eigenen wie in seinen Augen zu dessen Zubehör werden. […] In dieser ausweglosen Lage hört der Diener schließlich auf, an sich selbst zu denken […]. Er schmückt sich selbstgefällig mit dem Reichtum derer, die ihm befehlen; er rühmt sich ihres Ruhmes, erhöht sich mit ihrem Adel und ergötzt sich beständig an einer fremden Größe […] (Tocqueville zit. n. Boltanski und Thévenot 2007, S. 132).

Will man die häusliche Machtdelegation nicht als die irrationale Selbstaufgabe der Herrschaftsunterworfenen abtun und ebenso wenig auf der Objektseite struktureller Determinismen verbuchen, ist es naheliegend, sie im Kontext einer metaphorisch vermittelten Zirkularität zu begreifen, die auf der Subjektseite ein geteiltes Verlangen nach kollektiver Stärke und Größe schafft und es auf der Objektseite mit Regulativen verknüpft, durch die sich „sämtliche Kräfte der Nation“ in die Hände eines Herrn legen (Bossuet zit. n. Boltanski und Thévenot 2007, S. 137; auch Vogl 2015, S. 43). Insofern nimmt die häusliche Ordnungsmetaphorik eine Vermittlerrolle ein. Sie ruft in den Untertanen das Gefühl auf, sie könnten an kollektiver Stärke nur gewinnen, wenn sie ihre individuellen Machtanteile in einem wohlwollenden Herrn bündelten, auf das er zu ihrem unbezwingbaren Verteidiger wächst. Andererseits evoziert sie das Ansinnen darauf, dass über die „kleinlichen Interessen“ und „Ränkespiele“ gewöhnlicher Menschen nur eine promethische Führungspersönlichkeit gelangen könne, die sich durch eine hellere, selbstlose Rationalität auszeichnet (Boltanski und Thévenot 2007, S. 138–9; in Anlehnung an Duby; auch Brunner 1968, S. 115). Blumenberg zitiert hierzu Goethes frühe Napoleon Bewunderung. Für ihn war Napoleon

immer erleuchtet, immer klar und entschieden gewesen, um das als notwendig Erkannte sogleich ins Werk zu setzen. Von ihm könne man sagen, er habe sich in dem Zustand einer fortwährenden Erleuchtung befunden – insgesamt ein Kerl, dem wir es freilich nicht nachahmen können! (Blumenberg 2006 [1979], S. 507).

Die Metapher des Hauses ist also einerseits mit anderen, epistemisch tiefer liegenden Bildern verwoben. Die hellere Rationalität ist nichts anderes als jene Metapher, die mit dem „Wahrheitsproblem am engsten verschwistert“ ist; und zwar die des Lichtes (Blumenberg 1998 [1960], S. 15). Andererseits weist die Stelle auf die hintergründige Existenz einer Metapher höherer Abstraktionsstufe hin, die Blumenberg Mythos nennt und der die Metapher des Lichtes in der Figur eines Lichtbringers geburtsgängig macht. Sobald Goethe Napoleon begegnet, wird der Lichtbringer zu Napoleon und Napoleon zu Prometheus: „Er ruft zwar nicht zu den Waffen, aber seine Entscheidung liegt in dem, was einer der Hirten den Schmiden entgegenhält: Doch nah und fern/Läßt man sich ein,/Und wer kein Krieger ist,/Soll auch kein Hirte sein“ (Blumenberg 2006 [1979], S. 550; kursiv Goethe zitierend).

(b) Die Metaphorik des Hauses wird, wie die Zeile Goethes bereits andeutet, in einem historischen Kontext politisch, wo sich die von Foucault beschriebene Pastoralmacht säkularisiert und in das Medium einer irdischen Führung menschlicher Körper umschlägt (Lemke 2001, S. 110). Die Idee und Praxis der Pastoralmacht hängt eng mit der ordnungspolitischen Ausdeutung des Hauses zusammen, insofern der Hausvater für die Hausgemeinschaft das ist, was der Hirte für die Herde darstellt, ihr Ernährer und Beschützer. Es wäre allerdings verfehlt, es mit dieser Analogie bewenden zu lassen. Denn was Foucaults Beschreibung hier so bedeutsam macht, ist ihre Fokussierung der Praxisseite politischer Machtausübungen. Während sich die Arbeiten zur Metaphorik des Hauses mit ihrer internen Begründungslogik befassen, treiben Foucaults Studien die brüchigen Momente in das Blickfeld, die sich auf der Wirkungsseite der Metaphoriken ereignen. Denn als ordnungsbildende Vorgänge sind auch sie der Ereignishaftigkeit der Welt ausgesetzt und werden mit ihren integrativen Aufgaben zugleich auch mit der Frage konfrontiert, wie mit denen zu verfahren ist, die sich den Begründungslogiken entziehen. Das Bild des Hauses kann dann nicht mehr durch die Kraft seiner Verheißungen nach Totalität streben. Es muss die Arbeit mit Referenten aufnehmen, die von existenziellen Gefahren berichten, sodass sich die väterliche Gewalt auch dort als „innersprachliche Differenzierung“ aktualisieren kann, wo es zum Gegenstand kritischer Reflexionen geworden ist. Soll das Ordnungsversprechen auch in einem widerspenstigen Umfeld greifen und den Hausvater in jenes souveräne Subjekt verwandeln, nach dem es seiner Begründungslogik nach strebt, dann nur, wenn eine allgemeine Übereinkunft über die Wirklichkeit existenzieller Gefahren hergestellt werden kann; nicht im Modus eines bloß theoretischen Wissens, sondern im Sinne der „praktischen Identifizierung –, wer jeweils wer ist, wer der Freund und wer der Feind“ (Derrida 2002, S. 164, 171). Dies, so Blumenberg, „geschieht primär, nicht durch Erfahrung und Erkenntnis, sondern durch Kunstgriffe, wie den der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute […]. Es wird eine Sache vorgeschoben, um das Ungegenwärtige zum Gegenstand der abwehrenden, beschwörenden, erweichenden oder depotenzierenden Handlung zu machen“ (Blumenberg 2006 [1979], S. 11). In solchen Momenten stößt die hausväterliche Gewalt auf ihre mythischen Voraussetzungen und kann von dort auf pastorale Begründungsformeln ausweichen, sich also gegenüber ihrer Ausgangslage modifizierend zurückverhalten. Wenngleich der existenzielle Kampf in der Metapher des Hauses angelegt ist, bietet sie aufgrund ihrer Ausrichtung auf Stabilität und Ordnung eine nur unzureichende Basis für seine Formatierung. Die pastorale Figur dagegen liefert die mobilen Beschreibungsformeln, die zur Identifizierung des Feindes auf der Ebene unkalkulierbarer Handlungen erforderlich sind. Den Feind zu identifizieren, bedeutet schließlich den „sicheren“ Boden territorialer Begrenzungen zu verlassen und Angst zu rationalisieren. Während das Bild des Hauses den Menschen mit der „Möglichkeit des Menschen zur Herrschaft“ vertraut gemacht hat, ist es, wie Blumenberg schreibt, für ein Wachhalten kollektiver Gefährdungen letztlich untauglich. Das erfordert vielmehr, dass der Mensch an seine Ohnmacht erinnert wird und er sich „gleichsam in die archaische Resignation“ zurücksenkt (Blumenberg 2006 [1979], S. 15), sodass sich die Macht auf die orbis terrarum ausweitet und die Bewegung aller legitimiert sieht (Foucault 2006, S. 246). Mit dem Übergang von der häuslichen zur pastoralen Metapher gelingt es dem Verkörperungsmythos dann auch solch verabsolutierende Negationssymbole wie „Teufel“, „Dämonen“ oder „Wölfe“ zu aktivieren und den manichäischen Überlebenskampf in den Binnenraum der häuslichen Ordnung zu verlagern, was an der steigenden Diskursrelevanz von Begriffen des Dissidententums sichtbar wird. So nimmt das Bild des Hauses den Raum jenseits seiner Grenzpfähle in die metaphorische Zirkularität auf und schafft so die Bedingungen dafür, dass sich im „Niemandsland zwischen Haus und Staat“ die hellere Rationalität des Hausvaters in eine prometheische Herrscherpersönlichkeit verwandelt, die einen weitaus höheren Handlungsspielraum erreicht. Wenn Giorgio Agamben die unreduzierte Form der Souveränitätsmacht im Tötungsrecht des pater familias (vitae necisque potestas) verankert sieht (Agamben 2002, S. 97–100), schlägt er damit keine umgekehrte Argumentation ein, so als ob das Prinzip der pastoralen Führung der Metaphorik des Hausvaters nachgeordnet wäre. Vielmehr macht er deutlich, dass beide Prinzipien einer gleichursprünglichen Konstitution im Verkörperungsmythos folgen und in Führungsfragen denselben Ambivalenzen ausgesetzt sind. Denn auch dem Prinzip der väterlichen Gewalt geht es schließlich nicht nur um „bloße“ Züchtigung und um die Festigung eines als natürlich gedachten sozialen Bandes, wie es die merkantilistische Lesart Brunners nahelegt. Es geht ihm vielmehr darum, dass das soziale Band selbst „die Form einer Auflösung oder einer Ausnahme [annimmt], in der das, was eingebunden wird, zugleich ausgestoßen wird“ (Agamben 2002, S. 100). Erst durch das Relevantwerden dieser Ambivalenz kann sich die für die Autokratisierung so typische Übersteigerung sozialer Kohäsionspraktiken einstellen und legitimieren. Was aus Sicht der Transformationstheorien aus pathologischen Gründen in das Gegenteil seiner Zielsetzung umschlägt, wird es hier aufgrund einer oftmals verborgenen Arbeit am Mythos, die das politische Denken konstituiert. Die Gemeinschaft des Hauses, so auch Zygmunt Bauman (2009, S. 25–26), wird nicht „die ihrer Träume sein – eher die ihrer Alpträume: Sie wird ihnen neue Ängste und neue Unsicherheiten bringen, anstatt die alten zu lindern. Sie wird von ihnen verlangen, die Schwerter zu wetzen und rund um die Uhr auf der Hut zu sein; sie wird sie jeden Tag wieder zum Kampf rufen, um die Fremden vor den Toren abzuwehren oder die Abtrünnigen in den eigenen Reihen aufzuspüren.“

3 Der Verkörperungsmythos im türkischen Staatsdiskurs

Wie unter den institutionellen Bedingungen der Demokratie die metaphorische In-Bezug-Setzung von Haus, pastoraler Führung und Nation autoritären Umbrüchen den Weg ebnet, soll hier mittels eines ausgeprägten Falles untersucht werden. Damit sollen Verallgemeinerungsvorschläge gewonnen werden (Flyvbjerg 2006), die den Aktivierungsprozess autoritärer Verkörperungsmythen nicht als Wiederholung, sondern als Erneuerung zu begreifen erlauben. Die Fallstudie folgt dabei einer interpretativen Analytik, die anders als subjektphilosophische und quantifizierende Verfahren über den Weg begrifflicher Dekonstruktionen argumentiert (Diaz-Bone 2006). Dekonstruktion wird dabei durch das Eintauchen in die Infrasprache der Akteure und ihrer metaphorologischen Befragung erreicht. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist die Heterogenität des Datenmaterials. Das soll zu einem breiteren Verständnis der autoritären Legitimationspraktiken beitragen und dazu, die für den politischen Mythos so wichtige Wechselwirkung zwischen dem Außergewöhnlichen und dem Banalen mitzudenken. Er, so Chiara Bottici (2007, S. 247), wird zwar meist erst im Enthusiasmus großer Umbruchsituationen sichtbar, führt aber in den Erinnerungsgemeinschaften eine stille Existenz, die es zu berücksichtigen gilt. In diesem Sinne schließt sich einer diskursanalytischen Kontextualisierung von 138 Staatspräsidentenreden das Studium zweier Regierungsclips an. Mit der Hinzunahme audiovisueller Materialien soll eine bildakttheoretische Perspektive entstehen, die, weil Bilder nicht an die „Stelle der Wörter, sondern an die der Sprechenden“ treten (Bredekamp 2010, S. 51), besondere Einblicke in den Imaginationshaushalt der Transformationsakteure liefert. So wird schrittweise von der Diskursnormalität über die mobilisierende Rede auf die Ebene der bildlichen Manifestation eines sozial erhitzten und sich erneuernden Mythos geschlossen. Dabei kommt es auf die Identifikation der interpretativen Verfahren an, mittels derer die epistemologischen Brüche bewältigt werden. Es liegt der interpretativen Analytik fern, jeglichen Blick für die Anlässe zu verlieren und so zu tun, als käme eine außerhalb der Transformationsprozesse liegende Wirkkraft des Mythos zum Ausdruck, die im Sinne kausaler Pfadabhängigkeiten rekonstruiert werden könnte, wo doch allenfalls diskursive Verwurzelungen im Sinne rhizomatischer Verästelungen nachweisbar sind (Deleuze und Guattari 1977). Dass soziale Verästelungen kulturell unterschiedlich geprägt sind, soll nicht über die Modalitäten hinwegtäuschen, die mit der ikonischen Konstanz der Mythen verknüpft sind und wie Leibniz’ Monaden „ganz für sich allein existieren und zugleich mit der ganzen Welt konspirieren“ können (Latour 2009, S. 11).

3.1 Paternale Hausmetaphorik und die Republikgründung

Anders als es aktuelle Beiträge nahelegen, ist die autoritäre Transformation in der Türkei nicht nur als Absetzbewegung von den kemalistischen Prinzipien zu verstehen. Sie zeichnet sich auch durch die Evokation ihres Gründungsmythos aus, der seinerseits in den größeren Mythenkosmos der Nation eingebettet ist und ihm eine lokale Realität, eine kollektive Gestalt verschafft. Ähnlich wie die Republikgründung formiert auch sie sich in der Vorstellungswelt des häuslichen Gemeinwesens, ebenso wie auch sie sich in der Rechtfertigung autoritärer Reformen den Möglichkeiten der Pastoralmacht bedient. In ihrer vielbeachteten Studie zur korporatistischen Ideologie arbeiten die Autoren Taha Parla und Andrew Davison (2004) diese imaginären Ressourcen an zwei Charakteristika des Kemalismus heraus. Einerseits zeigen sie, dass die Republikgründung das zu errichtende Gemeinwesen analog zum häuslich-familiären Ordnungsbild als organische Einheit begriffen hatte (a). Zugleich erhellen sie den Revolutionskatechismus, in dessen Zentrum die radikale Erneuerung des sozialen Bandes durch eine politisch säkularisierte Pastoralmacht steht (b). Beides sind die Metaphern eines Prozesses, der nicht nur den Verkörperungsmythos im Vater aller Türken zu manifestieren verhalf, sondern grundlegender noch semantische Ressourcen für die Erneuerung autoritärer Beziehungen geschaffen hatte.

(a) Die Rezeption Brysons Oikonomikós durch islamische Gelehrte (Swain 2013), ihre Begeisterung für Alexander den Großen und für die Prinzipien der byzantischen Herrschaft (Georganteli 2012) sind ebenso gut dokumentiert, wie die Bewunderung der Jungtürken für die Französische Revolution (Parla und Davison 2004) und den Militarismus des deutschen Kaiserreichs (Altınay 2004). All das bildet die Grundlage für die kulturelle Aneignung einer modernen Weltsicht, die rezeptionsgeschichtlich kaum zu durchdringen ist. Deshalb empfiehlt es sich, der Analyse Blumenbergs folgend an der Ausdrucksseite des Säkularisierungvorhabens anzusetzen und die mythischen Voraussetzungen von den sichtbar bleibenden Dingen nachzuspüren. Besonders geeignet hierfür sind jene Passagen der republikanischen Gründungsdokumente, in denen sich die neuen Eliten mit der Frage befassen, wie den Untertanen im Kompositkörper des neuen Staates ein „richtiger Platz“ zugewiesen werden könne und wie das große Ganze zu repräsentieren sei. In keinem Werk der frühen Republik wird das so zentral und nachhaltig thematisiert wie in der Nutuk, einer Rede (Kemal 1928a, 1928b), die eine magische, das Volk absorbierende Lichtgestalt in das Zentrum der neuen Repräsentationslehre setzt und den Staat als Vaterfigur (devlet baba) zum „master trope of power“ erhebt (Kaplan 2006, S. 14). Der „sakrale Text“ (kutsal kitap) inszeniert – wie es für die bibliozentrische Ausrichtung moderner Diktaturen typisch ist (Koschorke und Kaminskij 2011; Diehl 2018, S. 29) – den Redner, Mustafa Kemal, zum Vater aller Türken und zur Inkarnation einer organologischen Staatskonzeption, die man sich aus einer revolutionär motivierten Auseinandersetzung mit der französischen Gründersoziologie eklektisch angeeignet hatte (Parla 1985). Wie verbreitet das organologische Bild ist, wird in der Einführung zur deutschen Übersetzung des Werkes schon deutlich. Kurt Koehler schreibt darin: „Aber schon heute ist gewiß, daß die Türkei, wie sie Mustafa Kemal schuf, ewig ein Denkmal sein wird heißer Vaterlandsliebe, überragenden Könnens und gigantischen Wollens“ (Kemal 1928a, S. XII). Diese Zuschreibung setzt sich nicht nur in der offiziellen Geschichtsschreibung fort, wo Mustafa Kemal zum „ewigen Helden und unsterblichen Führer“ wird (Präambel der türkischen Verfassung; siehe auch Welsch 1939). Sie wird auch in der Transformationsforschung unhinterfragt übernommen. Dankwart Rustow (1959) ebenso wie Daniel Lerner (1958) oder später auch Samuel P. Huntington (1968) können keinem der jungtürkischen Revolutionäre jene „personal courage, resoluteness, and even ruthelessness, combined with patience, foresight, and judgement“ (Rustow 1959, S. 537) sehen, wie sie in Mustafa Kemal in Höchstform verkörpert sei. Was das gigantische Wollen meint und worauf sich die außergewöhnliche Weitsicht bezieht, wird im Schatten der Bewunderungen kaum sichtbar, obgleich das Werk selbst in seinen einleitenden Passagen unmissverständlich feststellt:

In einem Staat, […] der in seinem Schoße entgegengesetzte Elemente mit verschiedenen Charakteren, Zielen und Kulturen vereinigt, ist es natürlich, daß die innere Organisation in ihrer Grundlage fehlerhaft und schwach ist. Unter diesen Bedingungen kann seine äußere Politik, da es ihr an den festen Grundlagen fehlt, nicht kraftvoll betrieben werden. Ebenso wie die innere Organisation eines derartigen Staates besonders unter dem Fehlen leidet, daß sie nicht national ist, so kann auch seine äußere Politik diesen Charakter nicht haben (Kemal 1928b, S. 3).

Die Rede enthält beide Momente der häuslichen Rechtfertigungsordnung. Stellenweise bedient sie sich einer äquivalenten Körperschaftsmetaphorik, die im Inneren des Hauses – dem „Schoße“ der Nation – schützende Wärme verspricht und in der durch Mustafa Kemal verkörperten Einheit von Staat und Volk seine äußere Stärke sucht. Die Rede stellt in diesem Sinne eine Theorie der Einheit der Gewalten vor, die alle Menschen

in absoluter Gleichheit und Brüderlichkeit umfassen und sie dazu bringen [soll], ihre partikularistischen Gefühle und Neigungen aller Art zu vergessen. […] Eine solche Regierung ist eine Volksregierung, die auf dem Grundsatz der Volkssouveränität beruht. Das ist die Republik. Das bei der Organisation einer derartigen Regierung grundlegende Prinzip ist die Theorie der Einheit der Gewalten (Kemal 1928b, S. 4–6; Hervorhebung TY).

Das Ideal der absoluten Brüderlichkeit wird symbolische Verfahren stärken, die 1934 Mustafa Kemal in AtatürkFootnote 2 verwandeln (Adak 2003; Gur 2013; Türköz 2014). Denn Brüderlichkeit aktiviert im kulturellen Kontext der Türkei nicht nur Gleichheitsideale. Sie dient auch der Legitimierung paternaler Ordnungsverhältnisse, insofern Rechte und Pflichten von Brüdern an den Merkmalen klein und groß bemessen werden und der Große als Vaterersatz (Ağabey) die schwankende Stellung des Oberhauptes im Hause auszugleichen hat. Da jeder Versuch, die organische Einheit in skalierten Verkörperungsmythen manifestieren zu wollen, aufwändige Vorkehrungen erfordert, ritualisiert sich in den Bildungsinstitutionen des Landes ein Personenkult, der jenseits der historischen Figur und der durch ihn repräsentierten Revolutionsgeschichte auch jene Vorstellung tradiert, wonach das Gemeinwesen die Vereinheitlichung der Macht in einem privilegierten Einzelnen verlangt (Berger 2019, S. 127). Hier trifft das zu, was Blumenberg über die Präfiguration geschrieben hatte: „Ein schon gebahnter Weg wird benutzt, und nichts schließt aus, daß er in umgekehrter Richtung begangen werden kann“ (Blumenberg 2014, S. 17). In diesem Sinne hat die posthume Bewunderung Atatürks die Grundlage für eine neue Selbstmythisierung geschaffen; eine, die in der Andeutung ihrer geschichtlichen Funktion zwar auf andere Inhalte setzt und stellenweise auch gegen den Präfiguranten vorgeht, sich aber in die präfigurierte Heilsgeschichte durchaus einzufügen weiß.

(b) Die Nutuk beschränkt sich nicht nur auf die Beschreibung und diskursive Festigung der organologischen Staatskonzeption. Sie zeichnet darüber hinaus einen Revolutionskatechismus, der den praktischen Fragen der Erzeugung einer nachrevolutionären Welt gewidmet ist und sich dabei an den Präfigurationen der Jakobiner in Frankreich orientiert. An diesem Punkt stattet sich die väterliche Lichtgestalt mit den Möglichkeiten der Pastoralmacht aus und schwenkt auf das Bild eines mobilen Kollektivs um, das um die Errichtung einer transfigurierten Welt nach westlichem Vorbild ringt. Die Untertanen werden zum Volk, zur Ulus, einer politischen Gemeinschaft, an deren Spitze ein Hirte steht, der in einer Lage der äußersten Bedrohung den Weg zu kollektiver Prosperität und Glückseligkeit weist:

We shall go far. We can’t go back. We must go forward. Civilization is such a strong flame that those who are detached from it [bigâne olanları] are burnt and destroyed. We will find, protect, and make known our deserved, special place in the family of civilization in which we find ourselves. Prosperity, happiness, and humanity is in this (Kemal 1925; zit. n. Parla und Davison 2004, S. 130).

Der totalitäre Anspruch präsentiert sich durch ein pastorales Heilsversprechen, das alle umfasst und keinen für gleichgültig hält, wodurch niemand dem Wirken des Hirten entgehen kann (Foucault 2004, S. 246). Im Diskurs der Republikgründung äußert sich dieser pastorale Machtmechanismus in einer über Heilsnarrationen und Lichtmetaphern geführten Totalisierung des väterlichen Lenkungsanspruchs, der sich wohl am deutlichsten in einem historischen Appell manifestiert, der darauf abzielt, die türkische Jugend durch ein stetiges rituell vollzogenes Wiederholen seiner Sätze in einen permanenten Erregungszustand zu versetzen (Parla und Davison 2004, S. 204–208). Der Appell ist Präfiguration und die Pastoralmacht eine zutreffende Beschreibung des Präfigurierten:

Türkische Jugend! Deine erste Pflicht ist es, die nationale Unabhängigkeit, die Türkische Republik auf immerdar zu wahren und zu verteidigen. Das ist die einzige Basis deiner Existenz und deiner Zukunft. […] Wenn du eines Tages dazu gedrängt bist, die Unabhängigkeit und die Republik verteidigen zu müssen, dann wirst du, um deine Pflicht zu erfüllen, von den Möglichkeiten und Bedingungen der Lage absehen müssen, in der du dich befinden könntest. […] Die Kraft, die du hierzu brauchst, ist mächtig in dem edlen Blute, das in deinen Adern fließt (Kemal 1928b, S. 388; Hervorhebung des Verf.).

3.2 Die präsidiale Aktivierung der Pastoralmacht und die Erneuerung des Verkörperungsmythos

Die Vaterattribute gehen nach dem Tod Atatürks auf die Militärführung über (Cizre 2012, S. 129–131). Wie keine andere Institution scheint sie dafür geeignet, das häuslich-pastorale Versprechen des Republikgründers abzusichern und den Verkörperungsmythos in einem der politischen Disposition entzogenen Handlungsbereich auf Dauer zu stellen. Wenngleich im Zuge der europapolitischen Reformen die Ungewissheit darüber gewachsen ist, ob die Militärführung die ihr angedachte Rolle überhaupt erfüllen könne, wenn sie doch selbst partikularistischen Neigungen unterliegt, ist es nicht gelungen, die Politik des Landes an einer demokratischen RechtfertigungsordnungFootnote 3 auszurichten und dem Wirkungsbereich des Verkörperungsmythos zu entziehen. So hat das Militär seinen souveränitätspolitischen Status eingebüßt,Footnote 4 die pastoral aufgeladenen Vaterattribute aber sind auf das Amt des Staatspräsidenten zurückgewandert. Schon die unmittelbare Reaktion auf den Interventionsversuch liefert erste Hinweise darauf. Nur wenige Stunden nach Bekanntwerden des Putschversuches wendet sich der Staatspräsident mit einer Facetime-SchaltungFootnote 5 an die türkische Bevölkerung und ruft mit pastoraler Anweisung zur Erfüllung der ersten Pflicht auf:

[…] Ich lade unser Volk auf die öffentlichen Plätze und Flughäfen ein, dort als Nation zusammenzukommen. Soll diese kleine Minderheit doch mit ihren Panzern und Waffen tun, was sie dem Volk antun will. Bis heute habe ich jedoch keine Kraft gesehen, die größer als die des Volkes ist. […]. (Recep Tayyip Erdoğan, danach RTE)

Mein geehrter Staatspräsident, Sie rufen das Volk dazu auf, die Demokratie zu beschützen, Sie rufen sie auf die öffentlichen Plätze und wir wiederholen diesen Ruf hier. Wird dieser Putschversuch vereitelt und können sich die Verantwortlichen vor Recht und Gesetz behaupten? (Abdulkadir Selvi, Moderator)

Sie werden vor Gericht einen hohen Preis zahlen. Und das wird die Arbeit derjenigen vereinfachen, die an die Demokratie glauben […] (RTE; Hervorhebungen des Verf.).

Der Aufruf formiert sich in der narrativen Struktur des Appells an die türkische Jugend und leitet einen Prozess ein, in dessen Zuge sich die politische Macht auf den Staatspräsidenten übertragen wird. Während er sich auf der Ebene seines subjektiv gemeinten Sinns als demokratisch motiviertes Gebot zum zivilen Ungehorsam präsentiert, lässt die Analyse seines Interpretationskontextes doch erkennen, dass es sich hier um den Sprechakt einer Souveränitätsmacht handelt, die im Widerstand das Spannungspotenzial politischer Differenzen aufzuheben versucht, statt ihnen Geltungskraft verleihen zu wollen: Das Volk soll als Nation zusammenkommen und eine Einheit höherer Gewalt formen, wie ein Körper, ein Herz und ein Volk. Es ist der situative Gebrauch metaphorischer Verfahren, die den Gründungsmythos in den Dienst einer erneuerten Transformation stellen. Nicht zufällig weist das Datum der Putschnacht mit 357 Stellen die höchste Wortkombinationsquote im KorpusFootnote 6 auf. In der narrativen Konstruktion der Reden übernimmt es die Rolle eines Umschlagsplatzes, in der die Weitsicht eines Vorausdenkenden in die Vermeidung des kollektiven Todes umschlägt.

Gut, ich frage; wenn der 15. Juli erfolgreich verlaufen wäre und die Türkei mit 81 Provinzen und 80 Millionen Bürgern in die Hände von FETÖ gefallen wäre, was wäre aus uns geworden? Was sie in Çanakkale nicht zustande gebracht haben, was sie in Sèvres und im Befreiungskampf nicht zustande gebracht haben, hätten sie dies nicht am 15. Juli geschafft? (RTE-Rede auf der 41. Tagung der Gemeindevorsteher, 09.11.2017).

Wird auf der Ebene des Textkorpus nach den sprachlichen Niederschlägen der Hausmetaphorik und ihrer pastoralen Wendungen gesucht, ist es ratsam, sich mit der symbolischen Konstruktion jener Ereignisse zu befassen, die ihre Aktivierung veranlassen. Es sind die Momente der höchsten Instabilität, die das Ordnungsversprechen des häuslichen Gemeinwesens plausibilisieren und jene Machtdelegationen einleiten, durch die sich „sämtliche Kräfte der Nation“ in eine Hand legen. Prometheus (/Napoleon/Atatürk) „kann nur wiederkehren, in dem er eingebunden ist in eine Konfiguration, die angesichts der äußeren Ohnmacht die ästhetische Selbstmächtigkeit nicht als pure Illusion erscheinen lässt, sondern als die wohltätige Gelegenheit, gerade den Illusionen der äußeren Bedingtheit des Glücks oder Unglücks zu entsagen“ (Blumenberg 2006 [1979], S. 545). Und so wie die Theorie der Einheit der Gewalten in den traumatischen Kriegserfahrungen der Jungtürken herangereift ist und sich als das Resultat einer wohltätigen Gelegenheit präsentierte, kommt auch die jüngste Gleichschaltung von Partei, Regierung und Staat nicht ohne den Gang durch prekäre Situationen aus. Aus der Möglichkeit eines kollektiven Todes wird „ein großes Geschenk Allahs“ (Erdoğan in der Putschnacht auf CNN Türk).

Ein weiterer Hinweis auf die pastorale Wendung der Hausmetaphorik liegt im wiederkehrenden Verlangen nach dem Einsatz des väterlichen Züchtigungsrechts. Zwar werden auch hier rechtstaatlich-demokratische Termini verwendet. Aber sie stehen in einem Deutungskontext, dessen zentraler Bezugspunkt nicht das Recht, sondern das Politische ist. So wird die Frage nach den Sanktionsmöglichkeiten immer wieder mit Verweis auf die unabhängigen Gerichte beantwortet, die allerdings auf eine passive Aktanten-Rolle begrenzt sind und sich darauf beschränken, diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die von den Fahndungsdiensten der Regierung bereits als Putschisten erkannt worden sind.Footnote 7 Diese Praxis folgt nicht allein dem Machtwillen des Präsidenten. Sie konstituiert sich vielmehr durch die Struktur des Ausnahmezustandes, die nach der Putschnacht zur legalen Form dessen wurde, „was keine legale Form annehmen kann“ (Agamben 2004, S. 7). Die Frage nach den Sanktionsmöglichkeiten wird zum Dreh- und Angelpunkt des Demokratiediskurses. In einer seiner ersten Reden wendet sich der Präsident an die Anwaltskammer und dies nicht mit verfassungsrechtlichen Einlassungen, sondern durch die Sprache der nationalen Poesie: „Mein Junge, bekommst du ein Zeichen von deinem Vater, wirst du laufen und das Volk läuft mit dir“ (16. August 2016). Das Zitat ist beachtlich. Denn in der Vorstellungswelt des alttestamentarischen Verkörperungsmythos kann es das, was sich in der Putschnacht auf der Seite des Volkes als Verhinderung vollzogen hatte, auf der Seite des Rechts als Verfolgung fortführen. Das wird an dem Raum erkennbar, der nationalen Untergangsszenarien beigemessen wird und in denen ausnahmerechtliche Begriffe wie Terror, Verrat und Bedrohung das zentrale Argumentationsmaterial bilden.

An die Artikulationen existenzieller Gefahren schließen sich immer wieder subtile Machtansprüche an und immer dort, wo sich die politische Lage des Hauses als fundamental bedroht präsentiert, kann sich eine für autoritäre Prozesse konstitutive Dichotomisierung der Akteurskonstellationen vollziehen. So treten aus den Schattenbereichen des Hauses die Umrisse eines seltsam omnipotenten und zugleich degenerierten Bösen hervor, wohingegen auf der Lichtseite das kollektive Verlangen nach pastoraler Führung aufkeimt; einer Führung, die das Böse gerade noch rechtzeitig zur Strecke bringt und sich dann auf die Realisierung der „großen Vorhaben der Nation“ zurückzieht.

Ich rede offen. Nur eine Türkei, die ihre Einheit, Gemeinsamkeit und Brüderlichkeit stark hält, wird sich nicht auf ihrem Weg nach Frieden, Unabhängigkeit und Wohlfahrt aufhalten lassen. […] Als erster direkt gewählter Staatspräsident der Türkei ist es meine Aufgabe, eine solche Türkei aufzubauen (RTE Rede, Millete Hitap, 19.07.2016).

Nur wenige Wochen nach dem gescheiterten Putschversuch stellt sich die Rede um. Sie ist nicht mehr nur um pastorale Lenkung bemüht, sondern begrenzt sich zunehmend auf das Prinzip der väterlichen Gewalt. Auch dieser Übergang zeichnet sich durch eine produktive Ambivalenz aus. Er beansprucht demokratische Motive, wenn sich das Vorhaben auf dem „Weg nach Frieden, Unabhängigkeit und Wohlfahrt“ präsentiert, verlässt aber nicht den Rahmen der autoritären Metaphorik, insofern das Ziel in nichts Geringerem als der Errichtung einer Neuen Türkei liegt, deren Stärke und Unaufhaltsamkeit auf das korporale Band der Brüderlichkeit bezogen werden. Aber anders als Atatürk wird kein rein ideeller, sondern auch ein empirischer Repräsentationsanspruch erhoben. Als erstes direkt gewähltes Staatsoberhaupt beschränkt sich die Amtsführung nicht mehr nur darauf, eine vorgestellte Türkei zu realisieren. Es geht ihr darum, eine reale Türkei vorzustellen. Zwar bleibt der Nexus von Vorstellung und Stellung der Nation intakt. Es vollzieht sich jedoch eine folgenreiche Verlagerung, weil das Volk in seiner realen Existenz nicht erzogen, sondern repräsentiert werden muss. So kann sich das autoritäre Vorhaben demokratietheoretischer Begründungsformeln bemächtigen und dennoch eine Souveränitätsmacht ausbilden, die selbst die Nischenbereiche der Realität ausleuchtet.

Auf der einen Seite steht FETÖ mitsamt seinen Unterstützern, um unser Land, unser Volk und unsere Zukunft herzugeben; und auf der anderen ein Volk, das für seine Souveränität, seine Demokratie und für seine Freiheit mit seinem Leben einsteht. Diejenigen, die eine Grauzone zwischen den Putschisten und dem Volk zu ziehen versuchen, sind den Terroristen verfallen, weil es hier einen solchen Bereich der Ungewissheit nicht gibt […]. Das sind keine Tage, an denen wir parteipolitisch denken können, ideologischen Verwirrungen folgen oder auf Unterschiede in Sichtweisen oder Charakteren bestehen dürfen (RTE-Rede, Millete Hitap, 19.07.2016).

Die Dichotomisierung ist ein bekanntes Stilmittel des Autoritarismus und die Kontingenzleugnung ein elementarer Bestandteil der politischen Paranoia (Schneider 2010). Neu an ihrer Aktualisierung im türkischen Staatsdiskurs ist neben dem veränderten Status des Realen auch der Gebrauch des Begriffs FETÖ, einem Negationszeichen, das im Korpus 221 Stellen findet und im Gleichklang mit Terror, Verrat und Bedrohung eine gesteigerte Form staatlicher Dämonisierung einleitet. Während die gängigen Negationen auf die peripheren Bereiche des Staates beschränkt waren, tritt mit FETÖ ein Gegenspieler auf die Bühne, der dem Hausvater auf derselben ontischen Ebene begegnet, aber als hostis „jederzeit seines Hab und Guts beraubt oder getötet werden“ kann (Agamben 2004, S. 95).

3.3 Die visuelle Repräsentation der Pastoralmacht

Die Analyse der Staatspräsidenten-Reden gibt bereits zu erkennen; das Verhältnis zwischen Untergangserzählungen und Machtartikulationen verteilt sich überraschend asymmetrisch; umso beharrlicher das Szenario der Putschnacht bespielt wird, desto weniger muss in Zwangsmaßnahmen investiert werden. Der Verkörperungsmythos erhält seine Effektivität nicht allein durch Drohungen und egozentrische Erzählweisen. Er realisiert sich durch ein pastorales Versprechen, das im Subtext der Untergangszenarien Rachegefühle stimuliert und so einen repräsentationslogischen Schliff erhält. Dass sich die Machtkonzentration nicht als persönlicher Machtwille, sondern als kollektives Phänomen konstituiert, lässt sich an der visuellen Inszenierung der Putschnacht besonders gut nachvollziehen. Fakt und Fiktion vermengen sich hier zu einer überaus mächtigen Erinnerungsarbeit, in der sich die dritte Republik und ihre Verfassungsordnung als Neue Türkei präsentiert; eine Türkei, die dem Zivilisationsniveau des Westens nicht mehr hinterherhinkt, sondern ihm durch einen abenteuerlichen Akt der Selbstreinigung vorausgeht. Beide Clips sind Regierungsaufträge, der erste (Vakit Gelir) gar vom Staatspräsidenten eingesprochen. Die Clips sind um die Darstellung der Putschnacht bemüht und erzählen die Geschichte einer Wiedererlangung historischer Größe. Dabei vermitteln sie eine dokumentarische Qualität, so als ob die Regierung das Ereignis in seinem objektiven Vollzug eingefangen hätte (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

a Tod der Frau/Fall der Nation, 1:04, b Ansturm des Volkes, 1:47, c Treffen der Märtyrer/Auferstehung, 2:52, d Die vollendete Nation, 2:55

In beiden VideoclipsFootnote 8 findet die metaphorische Legitimationskraft des Neuen Autoritarismus seinen topologischen Niederschlag. Sie sind keine Wahlwerbungen, die Brückenschläge zu den Präferenzen eines (noch) verunsicherten Wahlvolkes zu schlagen versuchten. Sie setzen sich vielmehr zu einer visuellen Performanz zusammen, durch die sich das Wir des Volkes mit der Erfahrung der Putschnacht neu justiert und szenografisch aufrichtet. Die Clips geben nicht nur vor, wie die Putschnacht zu begreifen ist. Sie setzen sie in das Format eines nationalen Gründungsmythos und beflügeln als Schauplatz eines unmittelbaren Evidenzerlebnisses die Idee einer Neuen Türkei, ohne sich auf die fragilen Überredungsrhetoriken eines Machtprotagonisten beschränken zu müssen.

Die sequenzielle BildordnungFootnote 9 der Clips folgt der Dramaturgie des altägyptischen Phönix-Mythos. Ein am Abend noch tot geglaubtes Volk steigt zur Morgenröte auf der Asche seiner Märtyrer zu neuem Glanz empor. Die Neue Türkei wird an ihrem „vermeintlichen Todestag“ als Präfigurat geboren und kann durch den präsidialen Aufruf „sich selbst verscheidend“ nachfolgen (Blumenberg 2014, S. 30). Die Clips setzen als Dispositive der mythischen Denkform an der plötzlichen Außerkraftsetzung der häuslichen Ordnung an; einem Vorgang, der sich analog zur formativen Phase der Republik als kollektive Nahtoderfahrung vermittelt und wichtige Hinweise darauf liefert, wie aus dem ersten Moment der Ohnmacht eine von „unten“ nach „oben“ und zurückzirkulierende Macht entstehen konnte, die im Wiedererlangen der organischen Einheit ihre Vollendung sucht. Die Bildsequenzen sind entsprechend aufgebaut. Am Anfang steht der Tod der Frau, die als schutzbedürftiges Wesen den „Fall der Nation“ repräsentiert (Abb. 2a), worauf der Ansturm der Männlichkeit gegen eine dunkle aber nicht gänzlich unkenntliche Macht folgt (Abb. 2b). Die Clips münden in der Wiederaufrichtung der Nation, einmal durch ein Treffen der Märtyrer, so als ob die Neue Türkei ein Bündnis mit der Ewigkeit geschaffen hat (Abb. 2c) und ein anderes Mal durch den Zusammenschluss von Individuen zu einem nationalen Kollektiv, das zur außergewöhnlichen Größe herangewachsen ist (Abb. 2d). Die letzte Einstellung schließt die Projektion mit der Ikonologie des Leviathans ab, die als Kulminationsbild der hausväterlichen Ordnungsmetaphorik (Bredekamp 2006; Nitschke 2012, S. 127–9) den Kopf des Kollektivkörpers durch die Flagge ersetzt und es so vermeidet, dass die bildlich vollzogene Machtkonzentration nicht als die Selbstdokumentation despotischer Herrschaftsansprüche, sondern als organischer Prozess gelesen wird.

Die erste Bildsequenz (Abb. 2a) ist um die Inszenierung einer größtmöglichen Störung bemüht und aktiviert eine Ikonologie historischen Ausmaßes. Eine junge Frau und Mutter verlässt das Haus und trifft auf ihrem abendlichen Weg in den asiatischen Teil Istanbuls auf eine Gruppe rücksichtsloser Militärs, die sie gen Westen abdrängen und heimtückisch ermorden. Die Frau fällt stellvertretend für eine Nation, die verraten wurde und sich nun in einem Gewaltakt behaupten muss. Die Eingangsszene ist aus zwei Gründen interessant. Erstens, weil sie dem Ordnungsdenken der Moderne folgend die Verletzlichkeit der Nation durch ihre Verbildlichung im weiblichen Körper vorstellt (Wenk 2007, S. 164). Nicht zufällig sind es Väter und Söhne, die den Wendepunkt zur Selbstbehauptung des Volkes herbeiführen (Bildsequenz in Abb. 2b). So lässt sich der semantische Code der Bildsprache in jenem figurativen Moment rekonstruieren, der die Kernfamilie mit der ihr eigenen Geschlechterlogik zur kleinsten Einheit der Nation erhebt und so die väterliche Repräsentationslehre in das imaginäre Zentrum des Kollektivs zurücksetzt. Zweitens, weil durch die militärische Absperrung der Brücke eine Situation geschaffen wird, die sich im kulturellen Gedächtnis der Türkei als Kappung zu ihrem Wesen dekodiert. Dem Gründungsmythos zufolge ist es das anatolische „Kernland“, durch das sich die türkische Nation definiert (Kieser 2000). So wird die erste Bildeinstellung (Verlassen des Hauses) zum symbolischen Ankerpunkt der weiteren Bildfolgen, in denen sich die Öffentlichkeit zur notwendigen Erweiterung häuslicher Lebensformen präsentiert. In der Bildsprache ist sie weder der Ort deliberativer Streitgespräche, noch der Handlungsraum politischer Basisbewegungen. Sie ist der Bereich, indem sich die kleinsten Einheiten der Nation (Kernfamilien) zusammenfinden, um ihre nationale Existenzweise zu begründen oder sie zu verteidigen.

Die zweite Bildsequenz (Abb. 2b) markiert den Anfang einer kriegerischen Wiedergeburt, die sich in der Mitte der Erzählung als Außerkraftsetzung der Außerkraftsetzung darstellt. Die Sequenz nimmt in ihrer dramaturgischen Steigerung eine Audiospur auf, die den visuellen Eindrücken eine poetisch-mobilisierende Ansprache des Staatspräsidenten unterschiebt und so den Eindruck verstärkt, dass Machtkörper und Machtrepräsentation unauflöslich miteinander verbunden sind: Eine anstürmende Masse couragierter Männer nimmt durch die Klammer der Präsidentenrede die Form einer kollektiven Handlungseinheit an, wogegen der Erzähler einen Standpunkt oberhalb des sichtbaren Geschehens besetzt, wo er nicht nur mitteilen kann, was dem Einzelnen im Getümmel der Ereignisse verborgen bleiben muss. Sein erhöhter Standpunkt versetzt ihn auch in die Lage, zu erkennen, was unten am besten zu tun ist. Väterliche Gewalt und pastorale Ansprüche fallen zusammen und der Vater spricht, um jenen kollektiven Körper zu formen, den er am Ort des Handlungsgeschehens benötigt, um auf seinen Lauf einwirken zu können. Während auf der Metaebene des Erzählers Sprechakt und Bildakt zusammenfallen, verlässt sich die Ebene der Ereignisdarstellung auf die epistemische Kraft der Bildakte, die als aktive Handlungsfiguren nur Väter und Söhne zulassen und sie dem figurativen Moment folgend aus der Biomasse des Kollektivkörpers als abgestufte Autoritäten hervortreten lassen. Auch hier ist die Reaktivierung frührepublikanischer Formatierungsregeln unübersehbar, folgten doch die „Schöpfer der Nation“ schon dem narrativen Format eines Ansturmes und setzten der technologischen Übermacht und List der kleinen Minderheit die schiere Überzahl euphorisierter Körper entgegen (Heffening 1916). Und selbst dort, wo sich dieses Bild nicht explizit väterlicher Herrschaftsformeln bedient, läuft es immer wieder auf die Figuration einer unumstrittenen Höchstposition hinaus, „für die es zumindest naheliegend erscheint, sie mit einem Alleinherrscher zu besetzen“ (Koschorke et al. 2007, S. 234). Der Clip schließt mit einem kollektivistischen Märtyrer-Finale ab. Die letzte Sequenz (Abb. 2c), in der die Rede des Staatspräsidenten zum Abschluss kommt, weil das Ziel der Handlungsmobilisierung erreicht ist, greift einen Ahnenkult auf, der sich um eine harmonische Vater-Sohn-Beziehung zentriert. Die Gefallenen treffen im Jenseits aufeinander und beglaubigen eine neue Ordnung, die sich anders als die Überkommene mit den höheren Mächten der Ewigkeit im Bündnis sieht. Es sind Märtyrer, die mit weißer Weste durch das Himmelstor schreiten (Abb. 2d). Die Abschlusssequenz ist szenisch so ausgestaltet, als ob der Verrat die türkische Nation zu Höchstleistungen gezwungen und ihre Fähigkeit gestärkt habe, „in absoluter Gleichheit und Brüderlichkeit“ zu einem Organismus höheren Ranges zusammenzuwachsen. Hier wird jene symbolische Doppelung sichtbar (Diehl 2018, S. 35–37), die im Anschluss an den „Sturm auf die Bastille“ prägend für alle revolutionären Bewegungen der Moderne werden sollte: Das Volk wird im Zusammenkommen der Vielen zu Einem und begegnet darin seiner in der allegorischen Tradition verwurzelten Symbolisierung als ideales Volk (siehe hierzu die Ereignisse am Berliner Reichstag vom 30.08.2020 oder dem Capitol in Washington am 06.01.2021).

4 Ausblick

In nur wenigen Jahren ist das politische Regime der Türkei zu einem moving target geworden. Der demokratische Reformprozess, wie er mit der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen erfolgreich voranzuschreiten schien, ist einem autoritären Rückschlag gewichen, der mit der Annahme der neuen Verfassung das Land über die Schwelle des full authoritarianism getragen hat. Diese Entwicklung ist kein Einzelphänomen, vielmehr der ausgeprägte Fall eines Neuen Autoritarismus, der seine Stabilisierungsmomente aus pastoralen Legitimierungsstrategien bezieht und um die Idee einer homogenen Volkseinheit kreist (Moffitt 2016). Der Beitrag hat diese Beobachtung metaphorologisch untersucht und die jüngsten Autokratisierungsprozesse der Türkei als Theoretisierungsmaterial aufbereitet. Wenngleich weitere, vor allem vergleichende Forschungen nötig sind, wird mit der Fallanalyse bereits erkennbar, dass Autokratisierungen einem semiotischen Verwirklichungsprozess unterliegen, der sich in vier Schritten rekonstruieren lässt. Sie folgen keiner chronologischen Ordnung, sind vielmehr als heuristische Abschnitte ihrer Konstitutionsbedingungen zu verstehen.

Der erste Moment liegt auf der Ebene der Referenten. Er hat mit der Frage zu tun, ob Emergenzereignisse stattfinden, die sich in den Anwendungsbereich der häuslich-pastoralen Ordnungsmetaphorik ziehen lassen. Nicht jedes Ereignis eignet sich gleichermaßen dazu. Es sind insbesondere solche, die ein nationales Wir verstören und Anlässe für die mediale Diffusion existenzialistischer Szenografien bieten. Dabei sind zwei Kriterien wichtig; die Irritationsqualität der Ereignisse, die uns empfänglich für autoritäre Politiken macht und die Betroffenheit, die uns in die Ereignisse führt und zu Protagonisten der Geschehnisse werden lässt. Dabei empfiehlt es sich hinter die Gegenüberstellung von Objekt und Subjekt zurückzugehen und die Existenzialisierung durch das Zusammenspiel von Ereignis und Ereignisdeutung zu rekonstruieren. So ist der Klimawandel als wissenschaftlicher Befund trotz der Dominanz apokalyptischer Szenarien nicht imstande, existenzielle Ängste so weit zu evozieren, dass radikale Maßnahmen als notwendig erscheinen. Die Politik bleibt im Modus des inkrementalistischen Handelns, weil das berechenbare Ereignis (Abschmelzen der Gletscher u. a.) allenfalls eine diffuse Gruppenidentität (die Menschheit) bedroht, die weder zu schützende Außengrenzen kennt, noch imstande ist, sich durch einen einzigen Existenzmodus zu verkörpern (Latour 2014). „Flüchtlingsströme“ oder „Interventionsversuche“ dagegen eignen sich gut, um die damit einhergehenden Irritationen in kollektive Existenzängste zu übersetzen und die staatliche Politik auf ein jakobinisches Jagdverhalten umzustellen oder eine solche Umstellung zumindest plausibel einzufordern.

Der zweite Moment hat mit der Frage zu tun, ob im kollektiven Gedächtnis der Transformationsgemeinschaften Untergangserzählungen enthalten sind, mittels derer die Irritationserfahrungen als existenzielle Bedrohungen formatiert werden können. Es ist nicht nur die wahrgenommene Struktur der Ereignisse, die uns in die Legitimationsprozeduren des Verkörperungsmythos einzieht. Es ist auch die Verfügbarkeit von narrativen Verfahren, die existenzialistischen Realitätsdeutungen zur Dominanz verhelfen. Das können, wie im Falle der deutschen Dolchstoßlegende, verschüttete Erzählungen sein (Dörner 1993), deren Sinnpotenziale in das „Reservoir der kulturellen Semantik“ (Koschorke 2016, S. 10) zurückgeführt werden müssen. Es kann sich aber auch um kulturell gepflegte Erzählmuster handeln, wie dies im Falle der kemalistischen Revolutionserzählung der Fall ist. Dabei ist darauf zu achten, dass sich der Verkörperungsmythos nicht einfach nur über die Nutzung der kulturellen Ressourcen in die politischen Ordnungen einschreibt, sondern die Ordnung durch das Medium des Mythos überschrieben wird. Zentrale Verfassungssätze bleiben erhalten (z. B. die in der Präambel enthaltenen Grundprinzipien des unsterblichen Führers), während andere unter der Prämisse der Einheitsstärkung neu gefasst werden (vor allem staatsorganisatorische Verfassungssätze, vgl. Kaboğlu 2017).

Drittens hängt die Autokratisierung von den assoziativen Fähigkeiten ihrer Träger ab; nicht im Sinne bloßer Diskursaktivierungen, sondern als narratives Anschmiegen an die Emergenzereignisse. Die Schwierigkeit besteht hier darin, den Bruch mit den Institutionen durch neue Grenzzeichen herbeizuführen ohne das Bekannte aufzugeben. Was die Metaphorik des Hauses hier bedeutsam macht, sind ihre narrativen Formatierungsregeln, die neben einer heroischen Vaterfigur auch die Erzählung von Verratsgeschichten begünstigen. Es ist die Heimtücke, die eine Irritationserfahrung über „Schichten und Stände“ hinweg erzählbar macht und ihren Ausweg nicht nur in der Verfolgung stereotypisierter Personen findet, sondern auch in der Erschaffung einer Höchstposition, die historische Taten zu realisieren vermag. Die Umwandlung der Ayasofya ist eine solche Tat. So wie Mustafa Kemal seine Machtverhältnisse mit der Musealisierung des Gebäudes symbolisch nach innen abzusichern versuchte, so ist ihre jüngste Islamisierung das nach außen gerichtete Symbol einer wiedererlangten Größe.

Viertens hängen Autokratisierungen auch davon ab, ob sich im Zwischenbereich der Untergangserzählungen und Feindbilder verborgene Machtartikulationen in die Herrschaftsunterworfenen verlagern können. Während bloße Machtproklamationen fragil sind und den Einsatz kostspieliger Sicherheitsmaßnahmen erfordern, kann der Gebrauch pastoraler Legitimationsformeln die Machtkonzentration als gemeinschaftliches Phänomen erlebbar machen. Soll nicht nur der Feind und Verräter zur Strecke gebracht werden, sondern das Haus über den Moment der akuten Gefahr hinaus so umgestaltet, dass eine historische Größe erreicht wird, dann muss sich die Machtkonzentration als kollektives Anliegen manifestieren. Während persönliche Machtwillen grundsätzlich verdächtig sind, erlaubt es die häusliche Gemeinwohlbegründung, dass sich das Gemeinwesen über den „zweiten Körper“ des Hausvaters zu repräsentieren beginnt und in Krisenzeiten pastorale Führungsansprüche legitimitätspolitisch veredelt.