Zusammenfassung
Der Beitrag attestiert den gegenwärtig viel diskutierten Theorien radikaler Demokratie eine erziehungstheoretische Leerstelle. Wie in Auseinandersetzung mit Chantal Mouffe und Jacques Rancière gezeigt werden soll, gründet diese Nichtthematisierung in erster Linie in der theoriearchitektonischen Zentralstellung einer als absolut postulierten Kontingenzannahme. Infolgedessen sind radikaldemokratische Theorien entweder gezwungen, Fragen der Erziehung unbeachtet bzw. dem Zufall zu (über)lassen, oder aber eine radikaldemokratische Bildung zu propagieren, die ihrem Anspruch auf Abbildung von Grundlosigkeit nicht gerecht werden kann. Ausgehend von dieser dilemmatischen Konstellation werden abschließend einige Gedanken skizziert, wie dennoch eine zumindest radikaldemokratisch inspirierte Antwort auf diese Problemstellung aussehen könnte.
Abstract
The article attests to the currently much-discussed theories of radical democracy that there is a gap in educational theory. As will be shown in a discussion with Chantal Mouffe and Jacques Rancière, this non-thematization is primarily based on the central position in terms of architectural theory of an assumption of contingency postulated as absolute. As a result, radical democratic theories are either forced to ignore issues of education or leave them to chance, or to propagate a radical democratic education that cannot satisfy its claim to represent groundlessness. Based on this dilemmatic constellation, some thoughts will be sketched out as to what an answer to this problem might look like that is at least inspired by radical democracy.
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1 Einleitung
Theorien radikaler Demokratie wird nach wie vor ein reges Interesse zuteil, wovon zahlreiche, hier im Einzelnen gar nicht anzuführende Publikationen und nicht zuletzt ein im Sommer 2019 erschienenes, über 800-seitiges Handbuch Radikale Demokratietheorie (Comtesse et al. 2019a) zeugen.Footnote 1 Dieses Interesse ist naturgemäß vor allem in der Politischen Theorie und Ideengeschichte zu verorten, aber auch in anderen politikwissenschaftlichen Subdisziplinen wie der Politischen Soziologie, der Bewegungsforschung, der Politischen Geografie, den Internationalen Beziehungen oder der Europaforschung fanden und finden radikaldemokratietheoretische Annahmen Eingang und Niederschlag.Footnote 2 Die affirmativen Indienst- und Bezugnahmen werden freilich auch von skeptischen bis unverhohlen ablehnenden Stimmen flankiert. Im Rahmen kritischer Auseinandersetzungen mit radikaldemokratischen Theorieangeboten finden sich nebst anderen immer wieder jene mitunter nicht unberechtigten Vorwürfe, die den Theorien radikaler Demokratie Institutionenblindheit oder bestenfalls eine institutionentheoretische Leerstelle attestieren (z. B. Jörke 2005; Hirsch 2007; Wallaschek 2017), welche sowohl in analytisch-theoretischer Hinsicht Verkürzungen erzwinge, als auch in praktischer Hinsicht demokratiegefährdende Effekte zu zeitigen vermöge.Footnote 3
Indem sich der vorliegende Beitrag Fragen der Erziehung und (politischen) BildungFootnote 4 aus radikaldemokratischer Perspektive widmet – bzw. der Radikaldemokratietheorie aus einer an Fragen der politischen Bildung respektive Erziehung interessierten Perspektive –, kann er in spezifischer Weise vor dem Hintergrund dieser Diagnosen verortet werden, insofern die radikaldemokratischen Theorien auch eine weitreichende erziehungstheoretische Leerstelle kennzeichnet. Zwar taucht der Befund einer pädagogischen Leerstelle von politischen Theorien im Allgemeinen bzw. eines grundsätzlichen „Nicht-Verhältnis[ses] […] von Politischer Theorie und Politischer Bildung“ immer wieder auf (Gloe und Oeftering 2017, S. 10; Brumlik 1997; Honneth 2012),Footnote 5 aber nach meinem Dafürhalten gilt diese Diagnose für den radikaldemokratischen Diskurs in sehr spezifischer Weise – und das hat explizit theorieimmanente Gründe. Die radikale Demokratie und die Theorie der radikalen Demokratie – so die im Folgenden vertretene, grundlegende These – stoßen in Fragen der Bildung und Erziehung aufgrund ihres konstitutiv selbstentgrenzenden Charakters an Grenzen. Entweder, so soll im Weiteren gezeigt werden, wird eine radikaldemokratische Erziehung dem ihr eigenen Anspruch der Abbildung von Grundlosigkeit nicht gerecht, oder sie ist durch Einsicht in dieses Problem gezwungen, die Frage der Bildung radikaldemokratischer Subjekte unbeachtet zu lassen und damit dem Zufall zu überantworten.
Beginnen werde ich mit einer knappen Bestimmung des hier interessierenden Verständnisses von radikaler Demokratie sowie der damit verbundenen, bereits angedeuteten Problematik radikaldemokratischer Subjektivität. Die Frage radikaldemokratischer Subjektivität wiederum verweist auf den Topos der Bildung und Erziehung, der im radikaldemokratischen Denken eine problematische Leerstelle darstellt (Abschn. 2). Von Leerstelle soll hierbei nicht in dem Sinne die Rede sein, dass derartige Themen gar nicht verhandelt werden würden. Sofern das aber der Fall ist, bringt es – womöglich unlösbare – Probleme mit sich, die von einer vertieften Behandlung absehen lassen und die in einer sehr spezifischen Prämisse radikaldemokratischen Denkens gründen. Dem Topos der Erziehung und Bildung, so möchte ich im längeren zweiten Teil des Beitrags „Radikaldemokratie und Pädagogik – zwei konträre Positionen“ in Auseinandersetzung mit Chantal Mouffe (Abschn. 3.1) und Jacques Rancière (Abschn. 3.2) zeigen, kann sich die Radikaldemokratietheorie theoretisch konsistent nur in politisch unbefriedigender Weise widmen. Genau darin stößt sie – wenn man sie nicht ausschließlich als (erkenntnistheoretisches) Befragungsunterfangen oder Instrument der Krisenanalyse (vgl. z. B. Flügel-Martinsen 2017a; Nonhoff 2016), sondern auch als materielles politisches Emanzipationsprojekt verstehen will – an eine Grenze (Abschn. 3.3). Abschließend sollen sodann in solidarisch-kritischer Absicht einige erste Gedanken skizziert werden, wie dieser problematischen Konstellation begegnet werden könnte. Sich aus der zuvor entfalteten Argumentation bezüglich der Unmöglichkeit einer radikaldemokratischen Bildung im strengen Sinne ergebend, kann diese Modellierung freilich nicht umfassend im radikaldemokratischen Rahmen verbleiben, versucht jedoch, Impulse radikaldemokratischer Theoriebildung zu integrieren (Abschn. 4).
2 Kontingenz und Kontingenzvermittlung – eine radikaldemokratische Aporie
Zumindest für die poststrukturalistisch geprägten Positionen des in sich sehr heterogenen Diskursfelds radikaler DemokratietheorienFootnote 6 möchte ich vorschlagen, einen kleinsten gemeinsamen Nenner darin zu identifizieren, Demokratie als eine Form des Miteinanders zu begreifen, die wesentlich und primär durch radikale dynamische Stabilisierung gekennzeichnet ist.Footnote 7 Demokratie kann sich demzufolge nur insofern „treu bleiben“, d. h. sich stabilisieren, als sie auch für radikalen dynamischen Wandel offen ist. Um die spezifische Differenz der hier gemeinten Ansätze hervorzuheben, wäre hinzuzufügen: indem sie sich beständig radikal selbst entgrenzt bzw. beständig potenziell radikal selbstentgrenzend ist.Footnote 8 Denn dem Credo dynamischer Stabilisierung könnten sich oberflächlich betrachtet durchaus auch andere zeitgenössische Demokratietheorien verpflichtet wissen, seien es etwa systemtheoretisch oder auch liberal gefasste Modellierungen. Radikal sind die radikalen Demokratietheorien demgegenüber insofern, als sie die Dynamik der dynamischen Stabilisierung der Sache nach in keiner Weise begrenzt denken, weder durch die Bestimmung von Gegenstandsbereichen oder „Operationslogiken“, noch durch bestimmte, als „vernünftig“ bestimmte Institutionen, die das Miteinander in einer postessentialistisch begriffenen Gesellschaft kanalisieren und hegen. Ausgangspunkt aller diesem Diskursstrang zuzuordnenden Positionen ist das Postulat der Abwesenheit letzter Gründe des Sozialen, also dessen umfassende und unhintergehbare Kontingenz. Für Claude Lefort etwa, einer zentralen Figur des „französischen“ Diskursstrangs, ist für die radikaldemokratische Lebensform „das Wesentliche, daß die Demokratie sich dadurch instituiert und erhält, daß sie die Grundlagen aller Gewißheit auflöst“ (Lefort 1990, S. 296). Der radikaldemokratische Weltentwurf basiert demgemäß auf der Akzeptanz der Kontingenz sämtlicher Strukturierungen und Identitäten, sowie dem Anspruch, diese bewusst zu machen und zu halten, ihr institutionell und kognitiv „Raum zu geben“. Radikal verstandene Demokratie, so schreibt Oliver Marchart (2010, S. 331), steht zu diesem „Faktum ultimativer Grundlosigkeit“ in einem Verhältnis „institutionalisierter Akzeptanz“. Unter einer solchen Bestimmung können so unterschiedliche Ansätze wie die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985), Claude Lefort (z. B. 1990), Étienne Balibar (z. B. 2012) oder auch William Connolly (z. B. 1995) gefasst werden, wenngleich es auch extremere Positionen wie die Jacques Rancières (z. B. 2002) oder vor allem Miguel Abensours (2012, z. B. S. 222–223) gibt, der völlig auf den Aspekt der Dynamisierung setzt.Footnote 9
Gerade wegen der unbedingten Anerkennung der Abwesenheit vorsozialer Gründe aber steht die radikale Demokratie auch für ein äußerst fragiles Versprechen. Sie ist gerade deshalb radikal, so könnte man mit den HerausgeberInnen des Handbuchs Radikale Demokratietheorie sagen, „weil sie sich selbst immer wieder hervorbringen und absichern muss“ (Comtesse et al. 2019a, S. 14). Gerade weil sie als System radikaler dynamischer Stabilisierung die Kontestabilität aller sozialen Formationen in den Vordergrund rückt, ist ihr eigener Status prekär. Die radikaldemokratische Freiheit ist – so heißt es bei Lefort – eine gefährliche Freiheit (vgl. dazu Flügel-Martinsen 2015; Oppelt 2017). Sie steht für eine „angreifbare Verheißung“,Footnote 10gerade weil sie keine unerschütterlichen Grenzen aufweist. Trotz oder gerade wegen der ihr inhärenten Grundlosigkeit bietet sie stets auch die Möglichkeit zu „fundamentalistische[n] Neugrundlegungsversuche[n]“ (Marchart 2010, S. 330). Ein damit verbundenes Unbehagen lässt sich im radikaldemokratischen Gesprächsfeld immer wieder vernehmen: bei Lefort ist es die Sorge vor der „totalitären Versuchung“ (Flügel-Martinsen 2017a, S. 238; Oppelt und Sörensen 2015), Wendy Brown (2012, S. 69) warnt vor einem „Faschismus durch das Volk“. André Brodocz hat diesen Sachverhalt in Erweiterung der bekannten Sentenz Jacques Derridas vor einigen Jahren pointiert zum Ausdruck gebracht: Die radikale Demokratie sei nicht nur dauerhaft im Kommen, sondern stets auch im Gehen begriffen (vgl. Brodocz 2015, S. 39).
Radikale Demokratie, ihre Realisation und ihr Erhalt, ist demzufolge äußerst voraussetzungsvoll. Damit ist nicht zuletzt auch auf die aktoriale Ebene verwiesen, was auch Oliver Marchart andeutet, wenn er in seinem Buch zur Politischen Differenz konstatiert, dass die radikale Offenheit der Demokratie „eine gehörige psychologische Zumutung“ (Marchart 2010, S. 337) darstelle. Radikale Demokratie, verstanden als System radikaler dynamischer Stabilisierung, bedarf zu ihrer Hervorbringung und zu ihrem Erhalt radikaldemokratischer Subjekte, die sie beständig dynamisch stabilisieren – ohne dabei einer „totalitären Versuchung“ zu verfallen. Genau damit ist jedoch ein wunder Punkt einer jeden kontingenzbasierten Theorie der radikalen Demokratie benannt. Einerseits erscheint es zwar ohne Weiteres möglich, Überlegungen zu den idealen Eigenschaften radikaldemokratischer BürgerInnen anzustellen (vgl. z. B. Rasmussen und Brown 2002). Andererseits aber kann es natürlich nicht nur um die wünschenswerten „Produkte“ gehen, sondern es sind damit stets auch prozedurale und modale Fragen des Bildungs- und Erziehungsvorgangs verbunden. Diese aber, so will ich im Weiteren zeigen, stellen für diese Theoriefamilie eine besondere, womöglich unlösbare Herausforderung dar.
Für diese Annahme spricht, dass der Sachverhalt im radikaldemokratischen Denken eine weitgehende Leerstelle darstellt: Zwar ist zuletzt immer wieder von einer erforderlichen „Einübung demokratischer Subjektivität“ (Saar 2013, S. 409), der „kulturelle[n] und soziale[n] Einübung von Akzeptanz“ der Kontingenz (Marchart 2010, S. 347 und 345) und dem „freiheitlichen Umgang mit der gefährlichen Freiheit“ (Flügel-Martinsen 2015, S. 111) die Rede gewesen, oder es wurden Überlegungen zu einer radikaldemokratischen Ethik angestellt (ebenfalls Marchart 2010, S. 329–365, aber auch Connolly 1995 oder Mouffe 2010, S. 132–134), aber nach konkreten Überlegungen zum Inhalt und vor allem dem Wie der Hervorbringung eines solchen Ethos, sprich: Fragen der Bildung und Erziehung, sucht man nahezu vergeblich.Footnote 11 Hie und da finden sich Überlegungen, die in der Tradition Alexis de Tocquevilles auf die demokratisch subjektivierende, soll heißen, der Demokratie zuträgliche Verhaltensdispositionen ausbildende Wirkung von Institutionen setzen. Zweifelsohne kann einer derartigen Subjektformung eine wichtige Bedeutung zugesprochen werden, aber es erscheint fraglich, ob ein Vertrauen auf solch ein eher passives „Sich-Ereignen-Lassen“ radikaldemokratischer Subjektivierung ausreichend ist.Footnote 12
Vor dem Hintergrund einer Diagnose Axel Honneths, der auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2012 konstatierte, dass ganz grundsätzlich die einstmals enge „Verknüpfung von Demokratie- und Erziehungskonzept, von politischer Philosophie und Pädagogik zerrissen“ (Honneth 2012, S. 430) sei, scheint dieser Befund nichts Außergewöhnliches zu sein. Auch die radikaldemokratietheoretische pädagogische Leerstelle wäre dann unter dem generellen politiktheoretischen Verlust des Interesses „an dem einzigen Organ […], mit dem sich wenigstens versuchsweise und bei steter Anstrengung die fragilen Voraussetzungen einer demokratischen Willensbildung des Volkes immer wieder regenerieren ließen“ (ebd., S. 438), zu rubrizieren. Aufgrund der soeben genannten aktorialen Voraussetzungshaftigkeit stellen pädagogische Fragen meines Erachtens jedoch für radikale Demokratietheorien eine besonders dringliche Herausforderung und zugleich ein besonders substantielles, theorieimmanentes Problem dar.Footnote 13 Einmal abgesehen von einer möglichen anarchischen Grundströmung des Diskurses, die ein Desinteresse an vermeintlich notwendigerweise autoritativen Beziehungsverhältnissen (wie es das Erziehungsverhältnis wohl auch ist) erklären könnte, gründet die Problematik (und infolgedessen die weitreichende Nichtthematisierung pädagogischer Fragen) meines Erachtens in erster Linie in der theoriearchitektonischen Zentralstellung der als absolut postulierten Kontingenzannahme.Footnote 14 Ein radikaldemokratisches Bildungsprojekt müsste ganz wesentlich Kontingenzakzeptanz und -sensibilität vermitteln und dürfte dabei unweigerlich auf die Frage nach dem kontingenten Status der Kontingenzannahme stoßen, was wiederum die Frage nach der autoritativen Vermittelbarkeit dieser Annahme aufwirft. Die Problematik ist natürlich weder neu noch unbekannt, stellt sich aber mit Blick auf das pädagogische Szenario in spezifischer Form dar. Die spezifisch radikaldemokratische Problematik besteht freilich vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Dilemmas, mit dem zunächst einmal sämtliche freiheitlich gesinnten Theorien konfrontiert sind – wozu ja nicht nur liberale Theorien im engeren Sinne gehören –, und das sich im Feld der Pädagogik als basales „Strukturproblem moderner Erziehung“ schlechthin manifestiert: „Dieses kulminiert in der Frage, wie trotz des notwendigen Zwanges Freiheit möglich wird und bleibt, mitsamt den Folgefragen nach der Legitimität freiheitsbeschränkender, -ermöglichender und -erhaltender pädagogischer Arrangements und Strukturvorgaben.“ (Drerup 2012, S. 640) Diesem Dilemma wird häufig so begegnet, dass eine erzieherische, zwangsbewehrte Asymmetrie mit Verweis auf die anvisierte Realisation eines höheren, letztbegründeten Werts – eben der Freiheit – legitimiert wird. Eben so „beantwortet“ Immanuel Kant sich die selbst vorgelegte Frage, wie „Freiheit bei dem Zwange“ kultivierbar sei (vgl. Kant 1977 [1803]), und auch in zeitgenössischen pädagogischen Debatten lässt sich dieses Vorgehen beobachten.Footnote 15 Dem radikaldemokratischen Denken steht eine solchermaßen „inkonsistente“ Ausflucht ganz offensichtlich nicht zur Verfügung, operiert diese doch angesichts des Rekurses auf den höheren Wert Freiheit auf dem Terrain eines „letzten Grundes“. Wird die Kant’sche Frage also, wie eben angedeutet, häufig mit Verweis auf die Legitimität temporärer Asymmetrien beantwortet, sofern diese der Realisation eines höheren, letzten Werts dienen, so kann sich ein Kontingenzerziehungsprojekt auf eine derartige Position gerade nicht zurückziehen – außer es gibt sich seinerseits einem „Kontingenzfundamentalismus“ hin und stellt das Kontingenzpostulat nicht selbst unter einen Kontingenzvorbehalt.Footnote 16 Ein Kontingenzfundamentalismus aber stellt eine Antinomie dar und auch die Kontingenz lehrende Lehrperson ist in sich antinomisch. Mit einer ironischen Formulierung des schottischen Scholastikers Duns Scotus kann man sich etwas polemisch vor Augen führen, wie es in einem radikaldemokratischen Klassenzimmer zugehen müsste: „Wer leugnet, daß einiges Seiendes kontingent ist“, schreibt Scotus (zit. nach Arendt 2006, S. 270), „sollte solange gefoltert werden, bis er zugibt, es sei möglich, daß er nicht gefoltert werde.“ In dieser Antinomie, so meine ich, gründet nachvollziehbarer Weise – vielleicht sogar zwingend – die pädagogische Leerstelle des radikaldemokratietheoretischen Diskurses.
3 Radikaldemokratie und Pädagogik – zwei konträre Positionen
Wirklich zutreffend ist die Behauptung einer Leerstelle freilich nur, wenn die Aufmerksamkeit allein den TheoretikerInnen des radikaldemokratischen Diskurses gilt, die die Erforderlichkeit radikaldemokratischer Subjekte allenfalls postulieren. Angesichts der soeben geschilderten aporetischen Konstellation mag es zwar erstaunen, aber davon unbenommen finden sich im Bereich der Politischen Bildung durchaus einige Versuche, die in Anschluss an radikaldemokratische AutorInnen die Umrisse und mitunter ganze Curricula einer radikaldemokratischen Erziehungs- und Bildungspraxis skizzieren (z. B. Kirschner und de Moll 2011; de Moll et al. 2013; Riefling et al. 2012; Rodrian-Pfennig 2010; Wimmer 2011; Ruitenberg 2009, 2010; Spoto 2014; Wånggren und Sellberg 2012). Da ist dann beispielsweise von „Kontingenzorientierung“, „Veruneindeutigungsprinzip“, „Ausgeschlossenenorientierung“ oder auch einer „Unterbrechungskompetenz“ die Rede, die als zentrale Pfeiler eines radikaldemokratischen Erziehungsprojekts fungieren sollen. In den allermeisten Fällen beziehen sich diese Arbeiten auf Chantal Mouffe oder Jacques Rancière und in beiden Fällen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – ist die Bezugnahme meines Erachtens verkehrt.Footnote 17 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist die Bezugnahme auf Mouffe insofern verkehrt, als man sich dabei – mit Mouffe – eine Situierung außerhalb der eigenen radikaldemokratischen Theorieprämissen einhandelt (Abschn. 3.1), wohingegen die Bezugnahme auf Rancière deshalb verkehrt ist, weil dieser bei sauberer Lektüre keine theoretische Grundlage für die Entwicklung curricularer Bemühungen anbieten kann und das auch gar nicht will (Abschn. 3.2).
3.1 Chantal Mouffe: Freundschaftliche Feinde erziehen
Zunächst in aller Kürze zu Chantal Mouffe: Wenngleich Mouffe den Sachverhalt der Bildung und Erziehung zwar nicht explizit verhandelt, so scheint sie durchaus Ansatzpunkte für die Entwicklung einer radikaldemokratischen Pädagogik zu bieten, denn letztlich ist nichts anderes als ein Bildungsvorgang impliziert, wenn von einer Transformation des Antagonismus in einen Agonismus die Rede ist (z. B. Mouffe 2007, Kap. 1). Den Anderen nicht als Feind zu begreifen, den man auch physisch zu attackieren und letztlich sogar zu töten bereit ist, sondern als Gegner, „dessen Position im politischen Meinungsstreit bekämpft, aber nicht die Berechtigung abgesprochen wird“ (Flügel-Martinsen 2017a, S. 245) – das will gelernt sein.
Mouffe deutet diese pädagogische Dimension mal impliziter, mal expliziter an. Implizit etwa in ihrem Buch Das demokratische Paradox, wenn sie aus der Unüberwindbarkeit des Antagonismus folgert, dass es die „zentrale Aufgabe demokratischer Politik [sei], die Bedingungen zu erzeugen, die es weniger wahrscheinlich machen, dass solch eine Möglichkeit entsteht“ (Mouffe 2010, S. 29), in der sich die beteiligten Akteure als letztinstanzlich tötungsbereite Feinde begegnen. Expliziter in Über das Politische, wo sie von „Zähmung“, „Sublimierung“ und der Erforderlichkeit spricht, „eine Art gemeinsames Band“ (Mouffe 2007, S. 29) auszubilden. Verantwortlich für ein derartiges „set of ethico-political values“ (Mouffe 1991, S. 79) – oder, wie es in einer neueren Veröffentlichung heißt: eine „politische Verhaltensgrammatik“ (Mouffe 2018, S. 80) – könnte dann durchaus eine radikaldemokratische Wertekunde oder – wenn man den bundesrepublikanischen Kontext einbezieht – eine am Beutelsbacher Konsens orientierte radikaldemokratische politische Bildung sein.Footnote 18
Was der Sache nach auch nicht unbedingt schlecht sein muss, bringt jedoch eine Problematik auf Ebene der Theorieprämissen mit sich. Mit der „gemeinsamen Bindung an ethisch-politische Prinzipien“ (Mouffe 2010, S. 103) führt Mouffe nämlich Konsensprämissen ein (vgl. dazu Flügel-Martinsen 2017b, S. 56; ders. 2017a, S. 245), die mit der ansonsten postulierten Konfliktlogik nur schwer in Einklang zu bringen und, als politisches Bildungsprojekt verstanden, nur „autoritativ“ zu vermitteln sind. Der ansonsten hochgehaltenen, im Kontingenzpostulat gründenden Offenheit wird dadurch eine Beschränkung auferlegt. Das heißt freilich nicht, dass Kontingenz geleugnet wird, aber es wird ihr ein Riegel vorgeschoben, was aus radikaldemokratischer Perspektive, die der Kontingenz umfassend Raum geben möchte, durchaus als problematisch zu erachten ist. Um eine gelingende Entfaltung von Kontingenz zu gewährleisten, sieht Mouffe sich gezwungen, Kontingenz einzuschränken, was politisch wünschenswert sein mag, theoretisch aber nicht konsistent ist. Um einer „gelingenden“ radikalen Demokratie Willen ist Mouffe bereit, die (politik)bildnerische, autoritative Vermittlung bestimmter radikaldemokratieförderlicher Werte zu propagieren. Ein so verstandenes radikaldemokratisches Bildungsprojekt kann damit jedoch nicht seinen „eigentlichen“ Ansprüchen gerecht werden, Kontingenz umfassend abzubilden. Richtig sind die oben genannten Anknüpfungen seitens der Politikdidaktik somit insofern, als sie tatsächlich bei Mouffe angelegte Überlegungen materiell ausbuchstabieren. Verkehrt sind sie hingegen insoweit, als sie – wie auch Mouffe selbst – damit zugleich die behauptete kontingenztheoretische Grundierung unterlaufen.Footnote 19
3.2 Jacques Rancière: Ignorante Lehrmeister und die Verabschiedung der Pädagogik
Spiegelbildlich stellt sich der Sachverhalt bei Jacques Rancière dar. Bietet Mouffe durch die dargelegte Inkonsistenz tatsächlich die Möglichkeit für politikbildnerische Anschlüsse, so sind die entsprechenden, an Rancière orientierten curricularen Bemühungen aus dem Feld der Politischen Bildung durch und durch überraschend. Zwar ist Rancière meines Wissens der einzige Autor aus dem radikaldemokratischen Gesprächsfeld, der pädagogische Fragen explizit adressiert. Da er diese jedoch, wie gezeigt werden soll, radikaldemokratietheoretisch konsistent adressiert, muss er dafür den Preis zahlen – und ist diesen zu zahlen bereit –, letztlich jeglicher Form von Bildung und Erziehung eine Absage zu erteilen. Zu erklären sind die engagierten Entwürfe (vermeintlich) rancièrescher Curricula einer Radikaldemokratiepädagogik deshalb eigentlich nur mit einer möglicherweise etwas eklektizistische Lektüre seitens der PolitikdidaktikerInnen, die sich in der Regel nur einiger Passagen aus Das Unvernehmen bedienen, nicht aber die explizit mit Fragen der Pädagogik befasste Schrift Der unwissende Lehrmeister heranziehen.Footnote 20
Mit dieser 1987 veröffentlichten SchriftFootnote 21 intervenierte Rancière hintergründig auch in die Debatten um die Bildungsreformen der 1981 an die Macht gekommenen Regierung François Mitterands, an denen auch Pierre Bourdieu als Berater mitwirkte. Vor allem gegen Bourdieu richtete sich bereits Rancières 1983 unter dem Titel Der Philosoph und seine Armen veröffentliche Fundamentalkritik an den Sozialwissenschaften, in der er Bourdieu als modernen Platon und Soziologenkönig verunglimpfte (Rancière 2010a, S. 225–271). Rancières Kritik der Pädagogik ist in Analogie zur dort explizierten Kritik der Sozialwissenschaften zu verstehen. Beide eint, so Rancière, ein erkenntnistheoretischer Überlegenheitsanspruch, der sich in der Logik des Erklärens manifestiere. Das Erklären der Pädagogik – auch der vorgeblich antiautoritären –, wie auch das Erklären der Soziologie – auch der vorgeblich herrschaftskritischen – verkörpern eine herrschaftliche, soziale Logik, insofern sich die bestehende soziale Ordnung in und durch Erklärung vergegenwärtigt und reproduziert, jene diese dadurch perpetuiert und stärkt (vgl. Rancière 2010b, S. 6).Footnote 22„[D]ie Erklärung“, schreibt Rancière, ist „nicht nur die verdummende Waffe der Pädagogen, sondern auch das zusammenhaltende Band der gesellschaftlichen Ordnung selbst. […] Die alltägliche Erklärarbeit ist nur das Derivat der herrschenden Erklärung, die eine Gesellschaft charakterisiert.“ (Rancière 2007, S. 137) Die herrschende Erklärung einer Gesellschaft – mit Cornelius Castoriadis oder Charles Taylor könnte man auch vom sozialen Imaginären sprechen – materialisiert sich Rancière zufolge sodann auch in den Institutionen, gerade auch den Bildungsinstitutionen, der jeweiligen Gesellschaft: „Jede Institution ist eine Erklärung der Gesellschaft“ (ebd., S. 123).
Dem Erklären ist für Rancière – das erscheint unmittelbar einleuchtend – Ungleichheit eingeschrieben und – das erscheint nicht zwingend zutreffend – entgegen anderslautender Behauptungen sei durch Erklären auch nie ein Zustand der Gleichheit erreichbar. Denn dem Akt des Erklärens wohne per se eine selbsttätige und unaufhebbare, ungleichheitsreproduzierende Dynamik infiniten Regresses inne: „Die Logik der Erklärung beinhaltet […] das Prinzip eines unendlichen Regresses. […] Was die Regression beendet und dem System seine Grundlage gibt, ist ganz einfach, dass der Erklärende als Einziger darüber entscheidet, an welchem Punkt die Erklärung selbst erklärt ist.“ (Rancière 2007, S. 14; vgl. auch Wetzel und Claviez 2016, S. 13) Wenngleich sich Rancière in erster Linie wegen der Ungleichheit voraussetzenden Herangehensweise und der diese produzierenden und reproduzierenden Wirkung gegen jegliche Art des Erklärens ausspricht, so ist die Zurückweisung zugleich auch als kontingenztheoretisch grundierte zu verstehen, da das Erklären Kontingenz negiere beziehungsweise unterdrücke, insofern es eine feststehende Ordnung und damit auch die fixierte „Verteilung der Ränge“ (Rancière 2007, S. 137) der gesellschaftlichen Ordnung behaupte. Seinen paradigmatischen Ausdruck findet das Erklären für Rancière daher in den Status quo zementierenden Aussagen „Das ist der Fall“, „Das steckt dahinter“ und „Anders kann es nicht sein“.
Für die Frage nach den Möglichkeiten einer radikaldemokratischen Bildung ist das folgenreich, denn hiermit tritt die oben umrissene antinomische Konstellation erneut deutlich zutage: Zu erklären, dass die soziale Verfasstheit kontingent ist, ist ein herrschaftlicher, kontingenznegierender, polizeilicher Akt. Das radikale Verdikt gegen das Erklären richtet sich notwendigerweise auch gegen ein Erklären oder Aufklären der kontingenten Grundlagen des Sozialen. Auch die radikale Demokratie, die société démocratique (Lefort), kann – oder besser: darf – sich nicht selbst erklären, will sie sich nicht einer grundlegenden Grundlosigkeit entziehen und herrschaftsförmig, polizeilich werden. Insofern jede Bildung oder Erziehung mit dem Erklären scheinbar auf einer polizeilichen, kontingenznegierenden Operation basiert, ist sie etwas, das aus radikaldemokratischer, die Grundlosigkeit zum Grund erklärenden Perspektive per se nicht konsistent als radikaldemokratisch gedacht werden kann. Anders als Mouffe geht Rancière über diesen Punkt nicht einfach hinweg. Eine radikaldemokratisch-emanzipatorische Pädagogik – eine Pädagogik der Politik – kann es für ihn nicht geben. Radikaldemokratische Bildung ist ein Oxymoron.Footnote 23
Und doch lässt es Rancière dabei nicht bewenden. Auf Grundlage einer womöglich etwas idealisierenden Auseinandersetzung mit den Erlebnissen des französischen Gelehrten Jean Joseph Jacotot und dessen Methode des „Universellen Unterrichts“ stellt Rancière der „klassischen“ Pädagogik eine Art gelingenden, angeblich emanzipatorischen Unterricht entgegen. Für die hier interessierende Frage ist eine knappe Darstellung des Szenarios ausreichend: Um 1820 gelingt es dem nach Löwen emigrierten Jacotot, der kein Flämisch spricht, mithilfe einer zweisprachigen Ausgabe des Jugendbuchs Telemach von François Fénelon, seinen flämischen Schülern, die zu Beginn kein Wort Französisch sprechen, die französische Sprache beizubringen – oder besser: sie bringen es sich selber bei. Für Rancière widerlegt dieses Beispiel die These von der Erforderlichkeit der Erklärung für Bildung und steht für einen radikalen pädagogischen Zugang, der seinen Ausgangspunkt nicht – anders als die „klassische“ Pädagogik – in der Ungleichheit habe (vgl. dazu Rancière 2010b, S. 11, sowie insg. ders. 2007).
Man könnte nun denken, dass darin doch noch die Möglichkeit einer radikaldemokratischen Bildung aufscheint. Aber nimmt man Rancières Überlegung ernst und denkt sie radikal zu Ende – was auch hieße, das von Rancière gewählte Beispiel Jacotots zurückzuweisen –, dann wäre die Rolle und Funktion der Lehrperson letztlich derart reduziert, dass im Grunde nicht einmal mehr die Auswahl der Gegenstände des Unterrichts zulässig ist.Footnote 24 Daniel Loick hat insofern mit seinem Hinweis völlig Recht, dass sich der rancièresche Lehrmeister streng genommen „einem curricularen Agnostizismus zu verschreiben“ (Loick 2012, S. 291) habe. Auch vermittels eines universellen Unterrichts à la Jacotot kann es dementsprechend also keine Radikaldemokratieerziehung geben, schlichtweg deshalb, weil die Vermeidung des Erklärens – auch des Für-bedeutsam-Erklärens – eine absolute inhaltliche Enthaltsamkeit in jeglicher Hinsicht erzwingt. In Verbindung mit der radikal individualistischen Aufladung, mit der Rancière das Projekt eines universellen Unterrichts nach Jacotot versieht – „Der universelle Unterricht kann sich nur an Individuen richten, niemals an Gesellschaften.“ (Rancière 2007, S. 123) – und der damit verknüpften Absage an eine Vorstellung des universellen Unterrichts als öffentliches politisches Projekt – „Er kann sich weder durch die noch in den Institutionen der Gesellschaft verbreiten“ (ebd., S. 123) –, ist es nur folgerichtig, dass Rancière selbst festhält, dass sich der universelle Unterricht nicht „auf die Herstellung einer bestimmten Kategorie von gesellschaftlichen Akteuren spezialisieren“ (ebd., S. 121) kann. Auch und gerade die Herausbildung radikaldemokratischer Subjekte, so wird hier nochmal aus anderer Perspektive ersichtlich, kann dadurch nicht bewirkt werden.
3.3 An den Grenzen der Selbstentgrenzung – ein Zwischenfazit
An dieser Stelle ist daher mit Blick auf das hier interessierende Thema eine ernüchternde Schlussfolgerung zu ziehen. Einmal abgesehen davon, dass Rancière mit seiner radikalen Privatisierung eines jeden Bildungsschicksals in bemerkenswerte Nähe zu konservativen oder neoliberalen Positionen rückt, die „eine Erweiterung der Bildungschancen mit dem Argument ablehnen, dass alle schon jetzt etwas erreichen konnten, wenn sie sich nur richtig anstrengten“ (Loick 2012, S. 300),Footnote 25 zeigt seine Perspektive in aller Radikalität auf, inwiefern eine auf dem Paradigma der dynamisch stabilisierenden Selbstentgrenzung basierende radikale Demokratie an ihre Grenzen kommt. Wenn man am Erhalt, der Verstetigung oder gar dem Florieren radikaler Demokratie als System dynamischer Stabilisierung interessiert ist, muss man sich entweder um die erzieherische Herausbildung radikaldemokratischer Subjekte bemühen oder aber hoffen, dass die BürgerInnen immer schon als RadikaldemokratInnen geboren werden. Beide Zugänge stellen sich aus radikaldemokratietheoretischer Perspektive als dilemmatisch dar. Der erste Weg ist einem sich selbst „rein“ haltenden radikaldemokratischen Zugang verbaut, denn theoretisch konsistent kann die Vorstellung einer radikaldemokratischen Bildung wie gezeigt nur zurückgewiesen werden. Der zweite Weg ist hingegen in politischer Hinsicht nicht überzeugend und letztlich apolitisch: Die radikale Demokratie ist zwar zu ihrem Erhalt und ihrer Vertiefung auf radikaldemokratische Subjekte angewiesen, kann deren Existenz aber nur dem Zufall überlassenFootnote 26.
Rancière selbst gesteht das implizit ein, wenn er im Unwissenden Lehrmeister die den universellen Unterricht orientierende „Methode der Gleichheit“ mit einer „Methode des Zufalls“ (Rancière 2007, S. 22) gleichsetzt. Insofern aber das von Rancière ersehnte, emanzipatorische „Zerbrechen der Aufteilung des Sinnlichen“ (z. B. Rancière 2002, S. 41) eines Wissens um deren Nichtnotwendigkeit, ihrer Kontingenz bedarf, dieses aber nicht vermittelt werden kann bzw. darf, wird auch – wie man mit Hannah Arendt (vgl. 1994, S. 224) sagen könnte – das „Nachströmen von Neuanfängen“, wird auch die radikale Demokratie dem Zufall überlassen.Footnote 27 Vor diesem Hintergrund kann es sodann auch nicht verwundern, dass Rancière Politik nicht nur für „selten“ erachtet – darauf wird ja immer wieder und zu Recht kritisch verwiesen –, sondern auch als „lokal und zufällig“ (Rancière 2002, S. 148; Hervorh. d. Autors).Footnote 28 Wenn aber Radikaldemokratie nur ein Zufallsprojekt ist, dann ist sie noch in einer weiteren Hinsicht begrenzt, nämlich in ihrer Attraktivität als politisches Projekt, für das es sich unter Umständen zu kämpfen lohnt.
4 Präfigurative Pädagogik – Umrisse einer „unreinen“ radikaldemokratischen Bildung
Ist radikaldemokratische Erziehung somit also grundsätzlich unmöglich? Wenn man dem Rigorismus Rancières folgt, ist das sicherlich zutreffend – aber womöglich steht Rigorismus einem Projekt radikaler Demokratie ja gar nicht so gut zu Gesicht und es könnte sich lohnen, der Frage nach einer Ausgestaltung radikaldemokratisch motivierter Bildungsverhältnisse noch einmal nachzugehen. Ich möchte abschließend einige Gedanken skizzieren, wie ein solches Verhältnis zu bewerkstelligen bzw. über welche Fragen nachzudenken, wie also diese – mit den Worten Sigmund Freuds (1950, Kap. 7) – unmögliche Aufgabe anzugehen wäre. Eine unmögliche Aufgabe, die aber nichtsdestotrotz und um einer radikalen Demokratie Willen angegangen werden sollte.Footnote 29
Für die Frage einer radikaldemokratischen Erziehung gilt das freudsche Diktum der Unmöglichkeit zweifellos in besonderem Maße, muss sie sich doch nicht nur „auf eine Autonomie stützen, die noch nicht existiert, um an der Erschaffung der Autonomie des Subjekts mitzuwirken“ (Castoriadis 1989, S. 68), sondern zudem, wie oben erläutert, mit der Aporie der Kontigenzvermittlung umgehen. Das macht offenbar eine in gewisser Weise paradoxe pädagogische Intervention erforderlich, insofern diese – in Rancières Begrifflichkeit – eine polizeiliche Operation sein müsste, die auf das Transzendieren oder die Transgression von Polizeilichkeit selbst zielt. Anders aber als es in liberalen Erziehungsprojekten häufig der Fall ist,Footnote 30 sollten dabei die Zwecke nicht die Mittel rechtfertigen, sondern – wie es der deutsche Sozialphilosoph Gustav Landauer einmal formulierte – „das Mittel schon in der Farbe des Ziels gefärbt“ (2009 [1901], S. 276) sein. Es dürfe, so hielt auch Cornelius Castoriadis (1989, S. 68) in einem der freudschen Unmöglichkeitsthese gewidmeten Aufsatz fest, im Rahmen einer emanzipatorischen Pädagogik „keine von den Zwecken getrennte Mittel“ geben – womit wohlgemerkt nicht gesagt ist, dass gar keine emanzipatorische Pädagogik vorstellbar ist, sondern sie von einer bestimmten – emanzipatorischen – Modalität zu sein habe.Footnote 31
Häufig in Anschluss an Landauer findet zuletzt in bewegungspolitischen wie auch bewegungsforscherischen Kontexten unter der Bezeichnung der Präfiguration eine Form politischen Handelns Aufmerksamkeit, die ein derartiges Unterfangen orientieren könnte.Footnote 32 Als Präfiguration oder präfigurative Politik kann der Vollzug von Praktiken verstanden werden, die im Jetzt und Hier experimentell und im Wissen um die eigene Imperfektibilität Beziehungsformen erproben, die einen als ideal imaginierten Zustand vorwegzunehmen und sich ihm dadurch auch reflexiv korrigierend anzunähern gedenken (vgl. z. B. van de Sande 2013; mit Bildungsbezug Suissa 2009). Für Fragen des Vollzugs von Bildung im radikaldemokratischen Kontext hieße das, dass Kontingenz nicht nur vorrangiger Inhalt ist, sondern auch in der Form, in der Modalität des Bildungsvorgangs, bestmöglich zur Geltung zu bringen wäre. Es gelte dann, Räume der Ermöglichung des Lernens zu schaffen, in denen die Möglichkeit des personalen Wissens und auch des Wissensvorsprungs als Ausgangspunkt nicht – ebenso wenig wie die Wissensvermittlung – kategorial abgelehnt, Wissen aber auch nicht als unhinterfragbar, und Wissensvorsprünge nicht als ewige Gegebenheit hypostasiert werden.Footnote 33
Derridas Sentenz von der kommenden Demokratie ernst nehmend, wäre eine radikaldemokratische Erziehungspraxis zudem eine präfigurative Praxis, die beständig im Präfigurativen verbleibtFootnote 34 – das aber gleichwohl nicht als Makel begreift. Gegen Rancières von Sonderegger (2012; vgl. oben Fn. 26) identifizierte naiv-optimistische Einschätzung wäre mit Aletta Norval (2007, S. 139) zu formulieren, dass RadikaldemokratInnen immer wieder aufs Neue RadikaldemokratInnen werden müssen. Dieses Credo gilt wohlgemerkt für ,Schüler‘ wie ,Lehrerinnen‘ gleichermaßen. Eine beiläufige Notiz Antonio Gramscis aus den Gefängnisheften könnte vielleicht zur Orientierung dienen, wie deren Beziehungsverhältnis in einem radikaldemokratischen Setting beschaffen zu sein hätte: „[D]as Lehrer-Schüler-Verhältnis“, schreibt Gramsci, sollte „ein aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen [sein], [in dem] jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer ist.“ (Gramsci 1994, S. 1335)Footnote 35 Eine radikaldemokratische, postfundamentalistische Lehrperson wäre dann perspektivisch nicht so sehr ein unwissender – in Wahrheit: ignoranter – Lehrmeister im Sinne Rancières, sondern könnte in Anlehnung an das Gedicht Kinder und Linke von Erich Fried (1988, S. 77) vorgestellt werden, in dem man „rechts“ mit „fundamentalistisch“ und „links“ mit „postfundamentalistisch“ ersetzt:
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Eine solche Lehrperson ergeht sich nicht in ignoranter Indifferenz – ihr ist es nicht gleich, was die Kinder denken. Sie verweigert also nicht, mit Arendt gesprochen, die Übernahme einer „Verantwortung für die Welt“ (Arendt 1994, S. 271).Footnote 36 Diese Verantwortungsübernahme mündet jedoch nicht in eine doktrinär-autoritäre Vermittlungsarbeit. Die Lehrperson verordnet keinen Kontingenzfundamentalismus und ist – mit den Worten Duns Scotus’’ – nicht Willens, diesen notfalls mit Folter einzubläuen. Vielmehr – das symbolisiert die letzte Strophe des Gedichts von Erich Fried – wird die Zielsetzung in die Modalität des Unterrichts hineingezogen.Footnote 37
Eben darin könnte auch eine Antwort auf die Frage aufscheinen, wie aus radikaldemokratischer Perspektive mit Arendts Diktum umzugehen sei, dass sich „[i]n der Erziehung diese Verantwortung für die Welt in der Autorität“ (ebd., S. 270) äußere. Im Rahmen des zuletzt wiedererwachten, explizit auch demokratietheoretisch ausbuchstabierten Interesses an Autorität (z. B. Michael und Straßenberger 2018; Landweer und Newmark 2018), wäre eine dezidiert radikaldemokratische Autorität im Detail freilich erst noch zu entwickeln. Autorität in einem radikaldemokratischen Sinne wäre dabei dialektisch und differenziert zu denken. Anders als häufig behauptet, könnte dafür die ältere, keineswegs ausschließlich autoritätsfeindliche Kritische Theorie Inspirationspotenzial bieten, sei es in Form von Horkheimers (1963, S. 48) Kritik eines voluntaristischen Anarchismus, Adornos (1970, S. 140) Überlegungen zu Autorität als unerlässlichem Baustein einer Erziehung zur Mündigkeit, Löwenthals Thesen zu Autorität als „unentbehrliche[r] Voraussetzung des gesellschaftlichen Lebens“ (Löwenthal 1982, S. 253) und insbesondere Marcuses Gedanken, die für die hier entworfene Skizze besonders anschlussfähig zu sein scheinen, insofern er in seinem Versuch über die Befreiung nachdrücklich auf der Konvergenz von Zweck und Mittel in auf Emanzipation zielenden Projekten beharrt (Marcuse 1969, S. 130), wie auch in diesem Zusammenhang explizit auf präfigurative Subjektivierungspraktiken als modus operandi verweist (ebd., S. 24–25).Footnote 38 Ein solches Denken einer „anderen Autorität“ (Horkheimer 1963, S. 48) findet seine Fortsetzung in den Schriften von VertreterInnen der jüngeren Kritischen Theorie, etwa bei Maeve Cooke oder Hartmut Rosa. Während Rosa (2016, S. 414–415) insbesondere auch auf die unhintergehbare Erforderlichkeit eines personal-autoritativen Moments der Initiation von Bildungsprozessen verweist,Footnote 39 erlaubt Cookes (2019) institutionentheoretischer Zugang das Nachdenken über eine Auffassung von Autorität, die nicht ausschließlich oder in erster Linie als personale Autorität begriffen wird, sondern auch als eine situations- oder raumbezogene. Ein solches Verständnis ebnet den Weg, jene hier angesprochenen präfigurativen Orte der Erfahrbarmachung von Kontingenz, als Manifestationen einer nichtautoritären, radikaldemokratischen Autorität zu durchdringen. Autorität wäre dann nicht (nur) die Eigenschaft einer Lehrperson, sondern die Bezeichnung eines Settings, das das Erfahren, Erproben und Praktizieren von Kontingenz ermöglicht und in der das Verhältnis von LehrerIn und SchülerIn eine andere als die klassisch-hierarchische Form annähme, ohne zugleich völlig annulliert zu werden. Eine solch andere, radikaldemokratische Autorität gilt es um der radikalen Demokratie Willen zu erkunden.
Notes
Frühere Versionen dieses Aufsatzes konnte ich im Kolloquium zur Politischen Theorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie im Panel Die Entgrenzung der radikalen Demokratie auf dem Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft „Grenzen der Demokratie“ in Frankfurt am Main vorstellen und diskutieren. Den TeilnehmerInnen und OrganisatorInnen, insbesondere Regina Kreide, Susanne Martin, Andreas Mix, Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen und Martin Nonhoff, sei an dieser Stelle für die Einladung und wertvolle Anregungen und Hinweise gedankt. Den beiden anonymen GutachterInnen verdanke ich einige sehr hilfreiche Hinweise, die mich an verschiedenen Stellen zu wichtigen Präzisierungen genötigt haben.
So veranstaltete etwa die Sektion Politische Soziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auf ihrer Regionalkonferenz in Jena im Herbst 2019 ein Panel mit dem Titel Modelle Radikaler Demokratie. Für die Bewegungsforschung kann exemplarisch auf die Beiträge des von Ingmar Hagemann und Johanna Leinius verantworteten Panels Soziale Bewegungen als Grenzphänomene des Demokratischen auf dem DVPW-Kongress 2018 in Frankfurt am Main verwiesen werden. Vgl. für die politische Geografie schon früh z. B. Doreen Massey (1995), für die Internationalen Beziehungen Herrschinger (2017) und für die Europaforschung Bruell (2017).
Diese doppelte Ausrichtung verfolgt auch ein unlängst erschienener Beitrag von Grit Straßenberger (2018, S. 66), die den radikalen Demokratietheorien vorwirft, „die Ambivalenzen politischer Autorität in der Demokratie“ zu verkennen.
Ich verwende die Begrifflichkeiten „(politische) Bildung“ und „Erziehung“ in diesem Beitrag mehr oder weniger synonym.
Der von den Politikdidaktikern Markus Gloe und Tonio Oeftering (2017) editierte Sammelband Politische Bildung meets Politische Theorie kann als gelungener Auftakt einer die Subdisziplinen verbindenden Beziehungsstiftung gewertet werden. Ganz grundsätzlich gilt m. E., dass die mit Blick auf das dort konstatierte Nichtverhältnis durchaus selbstkritische Subdisziplin der politischen Bildung weit größere Bemühungen erkennen lässt, politiktheoretische Überlegungen aufzunehmen und zu integrieren, als dies andersherum der Fall ist. Exemplarisch sei hier auf den sehr theorieaffinen Sammelband von Lösch et al. (2010) verwiesen, wie auch auf die Übersicht entsprechender Ansätze in Gloe und Oeftering (2017), S. 10–18.
Für einen hervorragenden Überblick über verschiedene Spielarten und Stränge radikaldemokratischen Denkens siehe jetzt Comtesse et al. (2019b).
Hierbei bediene ich mich einer im Kontext des Jenaer DFG-Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“ elaborierten Bezeichnung (z. B. Rosa et al. 2017), versehe sie jedoch mit einer anderen Bedeutung.
Das deckt sich auch mit der Bestimmung der OrganisatorInnen des Panels „Die Entgrenzung der radikalen Demokratie“ auf dem DVPW-Kongress „Grenzen der Demokratie“ 2018 in Frankfurt/Main. In deren Beteiligungsaufruf hieß es: Demokratie muss verstanden werden als eine stete Bewegung der Entgrenzung bestehender institutioneller Begrenzungen.
Um einem möglichen Einwand vorzugreifen: bei Rancière finden sich fraglos Passagen, die ihn als Antipoden eines überhaupt an Stabilisierung und Form interessierten demokratietheoretischen Denkens ausweisen. Gleichwohl aber wird diese Haltung an anderer Stelle unterlaufen, vgl. z. B.: „Die Demokratie ist die Form der ‚Macht‘-Ausübung, in der keinerlei ‚Natur‘ mehr die Plätze der Regierenden und der Regierten verteilt.“ (Rancière 2000, S. 102) Oder: „[D]ie Formen der Demokratie sind nichts anderes als die Formen der Verfassung der Politik als spezifische Weise eines menschlichen Zusammenseins.“ (Rancière 2002, S. 111) Man könnte vielleicht sagen, dass Rancière nicht Form, sondern Herrschaftsförmigkeit zurückweist (vgl. auch Rancière 2002, S. 110–111) und damit in diesem Punkt analog zu Pierre Proudhons Unterscheidung von Ordnung und herrschaftsförmiger Ordnung gelesen werden kann, wobei dieser Anarchismus bekanntlich als Ordnung ohne Herrschaft beschrieb (vgl. Proudhon 1969). Zu Rancières Verhältnis zum Anarchismus siehe z. B. das Interview mit Tod May et al. (2008).
Auch diese Formulierung stammt von den OrganisatorInnen des Panels „Die Entgrenzung der radikalen Demokratie“ (vgl. Fn. 8).
Darauf haben bspw. auch Nancy Luxon (2013) und Leszek Koczanowicz (2013) hingewiesen. Dezidierte Ausnahmen aus dem Feld der Politischen Theorie im deutschsprachigen Raum sind Westphal (2018) und Sörensen (2015), deren Aufmerksamkeit jedoch im Grunde nur dem inhaltlichen Was, nicht aber dem Wie gilt, weshalb sie dem weiter unten aufgeworfenen Problemen m. E. nicht entgehen.
Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang auf de Tocquevilles (2006, S. 172–181) Darstellung des Jurywesens in Amerika verwiesen werden. Für den zeitgenössischen Kontext z. B. auf Connolly (1993, S. 210) oder Castoriadis (2006, S. 58). Castoriadis erkennt explizit auch die Möglichkeit eines solchen „Zuwenig“, wenn er davor warnt, sich lediglich auf die erzieherischen Effekte des Formalen der Demokratie, ihrer Institutionen, zu verlassen. Diese Einschätzung ist es, die Castoriadis im Unterschied zu anderen RadikaldemokratInnen dazu veranlasste, auch über die Idee einer passiv-institutionellen Formung hinausgehende Überlegungen zu einer radikaldemokratischen Erziehung anzustellen (vgl. Sörensen 2016, S. 410–411).
Insofern Honneth die von ihm dargestellte Entwicklung unter anderem auf ein „falsch verstandene[s] Neutralitätsgebot des Staates“ (Honneth 2012, S. 431) zurückführt und dies mit der Vorherrschaft liberalen politischen Denkens in Verbindung bringt, veranschlagt er zumindest indirekt jedoch auch theorieimmanente – in diesem Fall dem politischen Liberalismus inhärente – Gründe.
Zur Idee einer anarchischen Grundströmung im radikaldemokratischen Denken der Gegenwart vgl. Flügel (2006) und May (2009). Gleichwohl ist festzuhalten, dass sich die anarchistische Theorie und Praxis durchaus und immer wieder intensiv mit dem Thema der Erziehung beschäftigt hat. Vgl. dazu Suissa (2006).
So plädiert etwa Johannes Drerup (2012) in Auseinandersetzung mit und in Anschluss an Rousseau für einen strukturierten bzw. libertären Paternalismus zum Zwecke der Realisation einer „wohlgeordneten Freiheit“.
So lautet die Kritik von Oliver Flügel-Martinsen (2017a, S. 177–178), nicht zuletzt an Oliver Marchart, der die Grundlosigkeit ihrerseits ontologisiere. Insofern Marchart der Kontingenzannahme eine „über-historische oder supra-kontextuelle Geltung“ (Marchart 2010, S. 79) zuspricht, ist dieser Vorwurf nicht völlig abwegig.
Ausnahmen stellen in meiner Sicht die hervorragenden Arbeiten Werner Friedrichs (z. B. 2017) und ein Aufsatz von Itay Snir (2017) dar. Beide identifizieren die tieferliegende Problematik eines radikaldemokratischen Bildungsvorhabens zwar treffend und versuchen damit kompatible Antwortversuche zu geben, die in der jetzigen Fassung aber (noch) nicht zu überzeugen vermögen. Darauf werde ich weiter unten nochmal zurückkommen.
Zugegebenermaßen verhehlt Mouffe das auch gar nicht, sondern bringt den Sachverhalt mit dem Ausdruck „demokratisches Paradox“ begrifflich auf den Punkt (vgl. insb. Mouffe 2010). Mit der Bezugnahme auf Freiheit und Gleichheit als unhintergehbare (gleichwohl aber nicht letztbegründbare) Werte eines radikaldemokratischen Projekts wird Mouffes Theorie zu einer dezidiert politischen bzw. hegemonie-politisch intervenierenden Theorie. Auch damit hat Mouffe freilich nie hinter dem Berg gehalten, wie bereits mit dem Hinweis auf die sozialistische Strategie im Titel ihres gemeinsam mit Ernesto Laclau verfassten, in radikaldemokratietheoretischer Hinsicht bahnbrechenden Buche von 1985 ersichtlich (vgl. Laclau und Mouffe 1985). Insofern geht sie mit der hier konstatierten Inkonsistenz offen um – und befindet sich (auch) in dieser Hinsicht durchaus in Übereinstimmung mit Antonio Gramsci (1994, S. 1335), insofern dieser vermerkt: „Jedes Verhältnis von ‚Hegemonie‘ ist notwendigerweise ein pädagogisches Verhältnis“.
Das französische Original ist damit zwar bereits deutlich vor Texten wie La Mésentente (Rancière 1995), Dix thèses sur la politique (Rancière 2000) oder La haine de la démocratie (Rancière 2005) erschienen, mit denen Rancière sich explizit dem radikaldemokratischen Gesprächsfeld zuordenbar machte, aber wie spätere Veröffentlichungen zeigen (z. B. Rancière 2010b), hält er an den dortigen Überlegungen fest. Zu Rancières Verhältnis zur radikalen Demokratie siehe Bohmann (2018) oder Abbas (2019).
Neben Bourdieu stellt für Rancière wenig verwunderlich auch sein früherer Mentor und akademischer Lehrer Louis Althusser und dessen ideologietheoretischer Ansatz ein bevorzugtes Kritikobjekt dar. In seiner Schrift Die Lektion Althussers findet sich daher paradigmatisch verdichtet ebenfalls seine Kritik aller, auch der vorgeblich emanzipatorischen, Bildungs- und Aufklärungsprojekte: „[J]ede Erziehungstheorie strebt danach, eine Macht aufrechtzuerhalten, die sie aufklären will.“ (Rancière 2014, S. 83) Eigentümlicherweise klingt in dieser Feststellung jedoch zugleich auch wieder ein ideologiekritischer Unterton an. Diese Spannung durchzieht Rancières Überlegungen freilich insgesamt und tritt nicht zuletzt auch mit seiner Rolle als öffentlich intervenierender Intellektueller zutage.
Darauf weist auch Nora Sternfeld in ihrer instruktiven Studie zu Fragen des Lehrens und Lernens bei Foucault, Gramsci und Rancière hin. Für Rancière könne es „keine politische Pädagogik geben, denn diese wäre bereits wieder Unterweisung, Anleitung, Autorität“ (Sternfeld 2009, S. 41). Aus diesem Grund halte ich auch die Einschätzung von Wånggren und Sellberg (2012, S. 548) für falsch, bei Rancière lasse sich eine politische Pädagogik des Dissenses finden.
Genau das tut Jacotot allerdings. Darin besteht folglich auch eine Schwäche des Rancière’schen Beispiels, welches es daher konsequenterweise auch zurückzuweisen gelte. Selbst wenn, wie Wetzel und Claviez (2016, S. 13) schreiben, die Aufgabe des unwissenden Lehrmeisters „lediglich darin [besteht], den Schülern und Schülerinnen Aufgaben zu stellen und allen den Glauben an ihre eigene und prinzipiell gleiche Lernfähigkeit einzuimpfen“, so ist es doch ein Stellen von Aufgaben über etwas, das die Lehrperson für erlernenswert erklärt – in diesem Fall die französische Sprache –, sowie die Vorgabe eines für geeignet erklärten Instruments zur Erfüllung der, wenn auch autodidaktisch zu vollziehenden, Aufgaben – in diesem Fall die zweisprachige Ausgabe des Telemach. Problematisch erscheint das Beispiel noch aus einem anderen Grund. Denn der Unterrichtsgegenstand (Fremd)Sprache ist keineswegs so unkompliziert, wie es Rancières Darstellung nahelegt. Durch seine Fixierung auf die Lehrperson droht dies jedoch in den Hintergrund zu treten und subtilere Machtkonstellationen durch die offen zutage liegende, personale Autoritätskonstellation überdeckt zu werden. Diese subtileren, von Rancière hier ausgeblendeten Machtkonstellationen liegen in zweifacher Weise vor: Zum einen scheint Rancière in seinen pädagogischen Überlegungen davon auszugehen, dass beherrschende Macht und Autorität nur durch personale Erklärung ins Spiel kommen. Aus diesem Grund kann er völlig bedenkenlos auf die kindliche Befähigung zum Erlernen der Muttersprache verweisen und diesen Vorgang als herrschaftsfrei behaupten (vgl. Rancière 2010b, S. 2–3). Sieht man einmal davon ab, dass Erwachsene in der Regel durchaus – bspw. durch Verbesserung und Korrektur – in diesen Vorgang eingreifen, so werden auch jenseits davon Machteffekte wirksam, indem sich Kinder nachahmend – oder mit Wittgenstein: blind einer Regel folgend – in die Sprache „einarbeiten“, deren zumindest vergleichsweise festgefügten Sinn- und Bedeutungsmuster übernehmen. Indem Rancière diesen Vorgang als einen neutralen, und Sprache hier als eine unbelebte, nicht von Macht durchzogene Entität erscheinen lässt, verkennt er, was ihn seine Feststellung, dass „[j]ede Institution […] eine Erklärung der Gesellschaft“ (Rancière 2007, S. 123) ist, eigentlich zu erkennen erlaubt hätte: dass Sprache, wie man mit Castoriadis bzw. Wittgenstein sagen könnte, auch eine Institution bzw. materieller Ausdruck einer Lebensform (vgl. Castoriadis 1985; Wittgenstein 2006) und damit von Macht durchzogen, diese ausübend und reproduzierend ist. Auf dieser grundlegenden subtilen Machtkonstellation sitzt eine zweite auf, die Rancière in seinem Beispiel ebenfalls verkennt bzw. zumindest als unproblematisch erscheinen lässt: Die Macht der Übersetzung. Wie der Komparatist Peter Zima prägnant bemerkt, ist der Übersetzer stets „zugleich ein Vermittler, der auf den Rezeptionsprozess und die ästhetische Normbildung einwirkt“ (Zima 2011, S. 251). Selbiges gilt freilich auch für politische und soziale Normen, die selbstverständlich auch – auch darauf verweist Zima – durch belletristische Texte und deren Übersetzungen vermittelt werden können. Indem sich Rancière ausschließlich auf die Autoritätseffekte der Lehrperson konzentriert, ignoriert er die normbildenden Autoritätseffekte, die in der nur vermeintlich neutralen Unterrichtsmaterialie eingelagert sind. Aber selbst wenn Rancière das einzubeziehen bereit wäre, dürfte der unwissende Lehrmeister – dem Verdikt des Erklärens Folge leistend – dies nicht problematisieren. Gerade darin aber könnte die Aufgabe eines emanzipatorisch gesinnten Lehrmeisters ja bestehen: er soll und muss nicht die richtige Übersetzung liefern (die es ohnehin nicht gibt), sondern könnte – um beim Beispiel zu bleiben – über die Machtförmigkeit von Übersetzung und die konkreten machtvollen Wirkungen je konkreter Übersetzungen aufklären und damit einem Kontingenzunterricht dienen, der Kontingenz nicht mit bloßer Beliebigkeit verwechselt sondern deren Verwobenheit mit Macht reflektiert. So verstanden wäre dann auch der generellen These Rancières zu widersprechen, dass „the distribution of knowledge does not, in itself, include any egalitarian consequences for the social order“ (Rancière 2010b, S. 10). Die Distribution des Grundlosigkeitspostulats und die Problematisierung der je konkreten Gewordenheiten kann durchaus die Grundlage für egalitär gesinnte politische Kämpfe schaffen bzw. derartige Kämpfe überhaupt erst als möglich und sinnvoll wahrnehmbar erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund ist auch die obige Kritik (vgl. Fn. 23) an Wånggren und Sellberg zu relativieren. Wenn man nämlich eingesteht, dass der unwissende Lehrmeister letztlich doch zumindest seinen eigene Unwissenheit zu vermitteln versucht, so liegen sie mit ihrer Feststellung richtig, dass sich damit gewisse Parallelen zur Figur des Sokrates als „Geburtshelferin des Wissens“ auftun (ebd., S. 553) – auch wenn Rancière sich davon (fälschlicherweise) explizit distanziert.
Aus diesem Grund halte ich auch den sehr inspirierenden Ansatz von Friedrichs für unzureichend. Er erkennt die Autoritätsproblematik im Rahmen eines Kontingenzerziehungsprojekts und folgert deshalb, dass radikaldemokratische Bildungsvorgänge „ohne den Vermittler zu denken“ (Friedrichs 2017, S. 318) seien. Aufbauend auf Michel Foucaults Überlegungen zu Heterotopien könnte das nach Friedrichs durch die Bereitstellung von Räumen zur Erfahrbarmachung von Kontingenz geschehen, in denen die herrschende sinnliche Ordnung außer Kraft gesetzt ist. Abgesehen davon aber, dass diese Räume von irgendwem autoritativ eingerichtet und gestaltet werden, handelt es sich dabei, mit der frühen Kritischen Theorie gesprochen, um ein Flaschenpost-Modell. Verweigert man sich der Einnahme einer notwendig autoritativen Vermittlerrolle, kann man auf das Auffinden und Betreten derartiger Räume bloß hoffen, weshalb ein tatsächlicher Bildungsvollzug auch hier letztlich dem Zufall überlassen bleibt.
Wenn auch im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht möglich, so könnte es sich als lohnend erweisen, in Rancières gesamten Werk dem Zusammenhang von politischer Subjektivierung – also der performativen Herstellung politischer Subjekte (vgl. z. B. Rancière 2002, S. 47) – und deren möglicher Voraussetzung in Prozessen pädagogischer Subjektbildung nachzuspüren. Wenngleich Rancière bereits in seiner monumentalen Studie La Nuit des prolétaires. Archives du rêve ouvrier (1981; dt.: 2013) mit den nächtlichen Zusammenkünften Pariser ArbeiterInnen ein eindrückliches Beispiel für einen nichtvormundschaftlichen Bildungsvorgang, sondern vielmehr ein egalitäres, assoziativ-kooperatives AutodidaktInnentum rekonstruiert, das als Vorspiel jener proletarischen Subjektivierung gelten kann, wie sie bspw. in Das Unvernehmen mit Verweis auf den Blanqui-Prozess prominent verhandelt wird (vgl. Rancière 2002, S. 49–50), so ist nicht ausgemacht, dass derartige Subjektivierungsakte stets (klassisch-)pädagogisch voraussetzungslos sind. Ob und wie beides miteinander verbunden ist und (negativ) aufeinander verweist, wäre noch herauszuarbeiten.
Einen weiteren Inspirationsquell für Modellierungen radikaldemokratischer Erziehung stellt natürlich John Dewey dar (v. a. 2011). Freilich einem anderen Strang radikaldemokratischen Denkens entstammend (vgl. Jörke und Selk 2019 bzw. Bernstein 2010), expliziert Dewey an verschiedenen Stellen (z. B. Dewey 1978) einen von Indoktrination unterschiedenen, (radikal-)demokratisch-kooperativen Erziehungsvorgang unter Bedingungen umfassender Ungewissheit, die dynamische Stabilisierung im Sinne eines kontinuierlichen und kontinuierlich einzuübenden Problemlösungshandelns erforderlich machen. Siehe dazu mit besonderem Fokus auf Politik und Erziehung Jörke (2007). Aus dezidiert pädagogischer Perspektive und mit Blick auf die hier folgenden Ausführungen interessant: Knoll (2018).
Ein weiterer Protagonist des radikaldemokratischen Diskurses, der die Zweck-Mittel-Relation problematisiert ist Giorgio Agamben (z. B. Agamben 2001; siehe auch Flügel-Martinsen 2019). Allerdings bleiben die daraus resultierenden Überlegungen zu einer anderen Lebens-Form, einer kommenden Politik bestenfalls schemenhaft und scheinen in radikal-weltabgewandte AussteigerInnenprojekte zu münden (vgl. Agamben und Radisch 2015). Nicht zufällig erkennt Agamben (2012, insb. III) einen Vorschein in mönchischen Ordenspraktiken der Franziskaner.
Mir geht es hier um ein Verständnis von Präfiguration in jenem Sinne, wie es begrifflich zunächst von Carl Boggs (1977a, 1977b) präzisiert wurde, der dabei sowohl bestimmte Strategien und Praktiken der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er, wie auch von anarchistischen und rätekommunistischen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor Augen hatte. In diesem Sinne findet sich die Begrifflichkeit sehr vereinzelt auch im zeitgenössischen bildungswissenschaftlichen Diskurs, z. B. bei Michael Fielding (2007), Tristan McCowan (2010), Sarah Amsler (2015) und der Sache nach bei Stephanie Spoto (2014).
In diese Richtung weisen m. E. auch die Überlegungen zu einer „Kontingenzpädagogik“ von Norbert Ricken (1999, insb. S. 407–409 und 413).
Auch deshalb handelt es sich um eine unmögliche – weil unvollendbare – Aufgabe. Damit gehe ich über Tristan McCowans Modell präfigurativer Bildungspraktiken hinaus. Bei ihm heißt es: „Prefigurative forms differ from other approaches giving intrinsic value to democratic structures in that they have an explicit commitment to the creation of a new form of society, rather than solely preparing citizens for effective participation in the current one.“ (Mc Cowan 2010, S. 23) Einer radikaldemokratischen Zugangsweise zufolge kommt eine Gesellschaft jedoch nie endgültig „zu sich selbst“, ist stets ein unmögliches Objekt (vgl. Marchart 2013) und kann daher auch nicht auf die präfigurative Herausbildung eines konkreten, substantiell gestalteten BürgerInnenmodells setzen.
Nahezu identisch formuliert findet sich dieser Gedanke auch bei Ivan Illich (2003). Interessant ist wohlgemerkt auch der daran anschließende Satz Gramscis: „Aber das pädagogische Verhältnis kann nicht auf die spezifisch ‚schulischen‘ Beziehungen eingegrenzt werden.“ (Gramsci 1994, S. 1335) Damit verweist er darauf, dass eine entsprechende Konzeptualisierung sich auch dahingehend zu öffnen hätte, nicht nur über andere Modi, sondern auch über andere Orte des Erziehens nachzudenken. Entsprechende Überlegungen haben aus einem anarchistischen Kontext heraus etwa Colin Ward und Anthony Fyson (1973) angestellt. Für einen radikaldemokratisch inspirierten Versuch wäre auf das von Werner Friedrich und dem KünstlerInnenkollektiv JAJAJA (http://jajaja.in/) verantworte Experiment Atopic_Politics zu verweisen (siehe https://www.youtube.com/watch?v=ysVzG0_Tnm0). Diese Verschiebung heißt gleichwohl nicht, dass nicht auch klassisch-staatliche Schulen Orte einer präfigurativ-experimentellen, radikaldemokratischen Bildung sein könnten. In diese Richtung gehen die Überlegungen von Michael Fielding (2007).
Auch bei Arendt (1994, S. 273) findet sich wohlgemerkt das Motiv dynamischer Stabilisierung, wenn sie betont: „Um die Welt […] im Sein zu halten, muß sie dauernd neu eingerenkt werden.“
Neben der radikalen Ablehnung von Wissensvermittlung betont Rancière zwar wiederholt auch die motivierenden Züge eines unwissenden Lehrmeisters, aber ob diese Wirkung zeigen und worauf überhaupt sich ein dadurch motiviertes Verhalten richten könnte, bleibt fraglich.
Darauf verweist jüngst auch Marchart (2019, S. 167–171).
Auf Rosas resonanztheoretische Überlegungen als anschlussfähiges Konzept für einen positiven, demokratiekompatiblen Autoritätsbegriff verweisen etwa auch Landweer und Newmark (2017, S. 472) in ihrer Einführung zum Schwerpunkt Warum Autorität? in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie.
Literatur
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Agamben, Giorgio. 2001. Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Zürich: Diaphanes.
Agamben, Giorgio. 2012. Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Frankfurt am Main: Fischer.
Agamben, Giorgio, und Iris Radisch. 2015. Europa muss kollabieren. Die Zeit 2015(35):39–40.
Amsler, Sarah. 2015. The education of radical democracy. London/New York: Routledge.
Arendt, Hannah. 1994. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken. München/Zürich: Piper.
Arendt, Hannah. 2006. Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München: Piper.
Balibar, Étienne. 2012. Gleichfreiheit. Berlin: Suhrkamp.
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Sörensen, P. Die unmöglichen Subjekte des Postfundamentalismus. Polit Vierteljahresschr 61, 15–38 (2020). https://doi.org/10.1007/s11615-020-00224-8
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