Auf die Frage, was Rechtspopulismus „ist“, gibt es keine einfache und eindeutige Antwort. Vielmehr zeigt die Menge an jüngst erschienenen Monografien, Sammelbänden, Buchkapiteln und Zeitschriftenartikeln, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieler Disziplinen nicht einig sind: sowohl darüber, ob es das Phänomen „Rechtspopulismus“ überhaupt gibt, als auch darüber, wie man es definieren sollte, gerade in Abgrenzung zu anderen Ideologien und sozialen Bewegungen, wie Rechtsextremismus, „alt-right“, Populismus, Faschismus und Linkspopulismus. Und darüber hinaus: Ist Rechtspopulismus eine Ideologie (thin bzw. thick; Kriesi und Pappas 2015, S. 5), eine Philosophie (Priester 2007, S. 9), ein spezifisches Medienphänomen (Pajnik und Sauer 2017) oder ein politischer Stil (Moffitt 2017), der sich v. a. performativ und kommunikativ äußert?
Im Vorwort zum neuen Handbook of the Radical Right (2017, S. 1–2) behauptet Jens Rydgren, dass der Begriff „Rechtspopulismus“ obsolet sei; vielmehr handele es sich um „ethno-nationalistische“ Parteien, die allesamt auch ein populistisches Element besitzen:
Radical right parties and movements share an emphasis on ethno-nationalism rooted in myths about the past. Their programs are directed toward strengthening the nation by making it more ethnically homogenous and – for most radical right-wing parties and movements – by returning to traditional values. They also tend to be populists, accusing elites of putting internationalism ahead of the nation and of putting their own narrow self-interest and various special interests ahead of the interests of the people. (Rydgren 2017)
Im Gegensatz zu solchen ethno-nationalistischen Parteien seien rechtsextreme Parteien durch die Ablehnung des demokratischen Systems und dessen Institutionen charakterisiert. Allerdings, so Rydgren, verschwimmen manchmal die Grenzen zwischen ethno-nationalistischen und rechtsextremen Parteien. In eine ähnliche Kerbe schlägt Benjamin van de Cleen (2017, S. 8).
Im krassen Gegensatz zu diesem Ansatz positioniert sich Rogers Brubaker (2017), der Populismus als „a discursive and stylistic repertoire“ begreift. Er fokussiert die diskursiven, rhetorischen und stilistischen Gemeinsamkeiten, die seiner Meinung nach alle populistischen Bewegungen und Parteien charakterisierten. Dies sei Teil eines größeren, umfassenden „discursive and stylistic turn“ (Brubaker 2017, S. 3). Zwischen diesen zwei Extremen begegnen wir anderen Definitionen, auf die ich weiter unten eingehen werde. Als Diskursforscherin ist es mir jedoch – im Gegensatz zu Brubaker – wichtig zu betonen, dass Rechtspopulismus nicht nur als rhetorischer Stil bzw. als ein reines mediales Performanzphänomen zu betrachten ist (wobei natürlich die [mediale] Inszenierung nicht zu unterschätzen ist; Januschek und Reisigl 2014), sondern dass die jeweils kommunizierten ideologischen Inhalte entscheidend sind. In der Tat wäre es, so der Kulturwissenschaftler Dick Pels (2012, S. 32), „falsch zu denken, es gäbe keine Substanz hinter diesem politischen Stil. […] Gerade die dynamische Mischung aus Inhalt und Form hat der populistischen Politik in der heutigen Mediendemokratie eine führende Position bei den Wählern verschafft“.
Verfolgt man die vielen Debatten in der Populismusforschung, so ist man mit heftigen Auseinandersetzungen konfrontiert – Populismus bzw. populistisch als negativer, gar inflationärer und vager alltagssprachlicher Begriff; oder als notwendiges demokratie-stärkendes Element (Laclau 2005), oder als demokratie-bedrohliche und demokratie-schädliche Agenda (Biskamp 2017; Grabbe und Lehner 2017). Weitere Auseinandersetzungen werden über den Appeal solcher Parteien geführt: Wen sprechen die Programme, Poster, Parolen und Slogans, die vielen verschiedenen, über traditionelle Medien wie auch über soziale Medien verbreiteten Textsorten der Kampagnen rechtspopulistischer Parteien an: v. a. Männer oder auch Frauen? Stammen die WählerInnen v. a. aus der Mittelschicht (wie von manchen behauptet wird) oder kommen sie aus allen sozialen Milieus und Altersgruppen (wie von anderen behauptet wird) oder doch eher aus den weniger gebildeten Schichten, also aus dem Arbeitermilieu (SORA 2017Footnote 11)? In diesem Zusammenhang stellt sich offensichtlich die Frage, ob die traditionellen politischen Verortungen wie „links“ bzw. „rechts“ heutzutage überholt sind (Krasteva 2017).
Außerdem: Gibt es historische und kontext-bedingte Unterschiede, etwa zwischen den rechtspopulistischen Parteien der ehemaligen Ostblockländer und Westeuropas, zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden, zwischen Ländern mit kolonialer und/oder faschistischer Vergangenheit und solchen ohne diese Entwicklungen, zwischen den kleinen Staaten, wie der Schweiz, Dänemark und Österreich, und den großen, wie Deutschland oder Frankreich?Footnote 12 Es gibt natürlich noch weitere relevante Fragen, die ich aus Platzgründen nicht alle anführen kann (Stavrakakis 2017).
Zurück zu einer möglichen Definition von Rechtspopulismus: Es handelt sich, so Cas Mudde und Cristobal Rovira Kaltwasser, um eine (dünne) Ideologie, realisiert in unterschiedlichen diskursiven und materiellen Praxen. Mudde und Kaltwasser (2017, S. 9–12) heben drei Parameter hervor: erstens, die Opposition zwischen einem „Volk“ und den „korrupten Eliten“. Zweitens, eine Fundierung in der volonté générale des Volkes. Drittens, eine dünne Ideologie, weil diese kein kohärentes Glaubensgebäude (Wodak 2017) abgibt, sondern in eklektischer Art widersprüchlichste Ideologeme versammelt. Da Mudde und Kaltwasser ihre Definition nicht auf den Rechtspopulismus beschränken, erfasst der Volks-Begriff sowohl das Volk als Souverän wie auch das gemeine (common) Volk. Außerdem kann das Volk als ethnos gemeint sein. Ebenso wird beim Konzept der Eliten differenziert, wobei die Eliten sowohl aufgrund (kultureller, ökonomischer und sozialer) Macht wie auch aufgrund ethnischer Kriterien erfasst werden können. Und schließlich gilt volonté générale als der allgemeine Wille des Volkes, ganz im Sinne Jean-Jacques Rousseaus.
Auf den Rechtspopulismus bezogen, muss nun diese recht allgemeine Definition in Hinblick auf mehrere Aspekte differenziert und ergänzt werden (Wodak 2015a, S. 20–22, S. 25–33). Vier Dimensionen sind meiner Meinung nach entscheidend:
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Nationalismus/Nativismus/Anti-Pluralismus: Rechtspopulistische Parteien beziehen sich auf ein scheinbar homogenes Ethnos, ein Populum (Gemeinschaft, Volk), das beliebig – häufig nach nativistischen (blutbezogenen) Kriterien – definiert wird; wer also die „wahren“ Österreicher, Deutschen, Ungarn oder Finnen sind, kann immer wieder neu bestimmt werden. Diese Parteien legen Wert auf ein Kernland (oder Heimat), das vor scheinbar gefährlichen Eindringlingen geschützt werden muss. Auf diese Weise werden Bedrohungsszenarien aufgebaut – die Heimat oder das „Wir“ werden von „Anderen“ bedroht: Fremde innerhalb der Gesellschaft und/oder von außerhalb, Migranten, Flüchtlinge, Türken, Juden, Roma, Banker, Moslems usw.
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Anti-Establishment/Anti-Elitismus: Diese Parteien teilen eine anti-elitäre und anti-intellektuelle Haltung (Arroganz der Ignoranz), verbunden mit starker Euro-Skepsis. Außerdem werden plebiszitäre Verfahren bevorzugt, die Suche nach einer „wahren Demokratie“, wobei eine sogenannte „formalistische Demokratie“ als Antonym dargestellt wird. Nach Ansicht dieser Parteien sollte die Demokratie auf das Mehrheitsprinzip des (jeweils willkürlich definierten) „Volkes“ reduziert werden.
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Autoritarismus: Ein Retter, ein charismatischer Führer, wird verehrt, der zwischen den Rollen von Robin Hood (Schutz des Sozialstaats, Unterstützung von „Mann und Frau auf der Straße“) und „strengem Vater“ wechselt (Lakoff 2004). Solche charismatische Führerinnen und Führer benötigen eine hierarchisch organisierte Partei und autoritäre Strukturen, um Recht und Ordnung zu schaffen und für Sicherheit zu sorgen.
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Konservativismus/Geschichtsrevisionismus: Rechtspopulistische Parteien vertreten traditionelle, konservative Werte (traditionelle Geschlechterrollen und Familienwerte) und beharren auf dem Status quo bzw. sind rückwärtsgewandt. Der Schutz der Heimat bedingt auch den Glauben an ein gemeinsames Narrativ der Vergangenheit, in der „Wir“ entweder Helden oder Opfer des Bösen waren (einer Verschwörung, von Feinden des Vaterlandes usw.). Damit mutieren vergangenes Leid oder Niederlagen zu Erfolgsgeschichten des Volkes oder zu Geschichten von Betrug und Verrat anderer. Sozialleistungen sollen im Sinne eines Wohlfahrtschauvinismus nur für die echten/wahren Mitglieder des ethnos gelten.
Obwohl nicht alle rechtspopulistischen Parteien alle Inhalte befürworten, können diese in jeweils bestimmter Kombination weitgehend verallgemeinert werden, als typisch für rechtspopulistische Ideologien. Durchgängig werben solche Parteien für Veränderung, weg von einem – so wird unterstellt – höchst gefährlichen Weg, der geradewegs in ein apokalyptisch ausgemaltes Inferno führe.
Angstmache bestimmt dementsprechend als durchgängige politisch-persuasive Strategie und als übergeordnetes Argumentationsmuster die Kampagnen rechtspopulistischer Parteien. Willkürlich werden Verantwortliche für die jeweils in einem ersten Schritt definierte Misere bestimmt – spezifische Sündenböcke. So dienen manchmal Juden, manchmal Muslime, Roma oder andere Minderheiten als Sündenböcke, manchmal Kapitalisten, Sozialisten, Karrierefrauen, Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), die EU, die Vereinten Nationen, die USA oder Kommunisten, die Regierungsparteien, die Eliten, die Medien und so weiter. In einem dritten Schritt taucht nun der Retter aus der Not auf: der oder die jeweilige Parteivorsitzende, bereit, die Probleme auf einfache Weise zu „lösen“, etwa durch ein Schließen von Grenzen, Abschieben sogenannter illegaler Migranten usw. Ein neues, positives Narrativ wird angeboten, das Hoffnung wecken soll, im Gegensatz zur befürchteten Apokalypse. Die neue Vision, meist als unspezifizierte Veränderung beworben, ist jedoch rückwärtsgewandt, fußend auf einer längst überholten, anachronistischen Sehnsucht nach einer ethnisch homogenen, patriarchalen Gemeinschaft.
Ein weiteres Charakteristikum rechtspopulistischer Parteien muss noch betont werden, das die Performance in der Öffentlichkeit und die Medienpolitik bestimmt: Anhand ständiger Provokationen wird Aufmerksamkeit auf die jeweilige Führerpersönlichkeit und die politischen Agenden gelenkt (Wodak 2016, S. 38–40). Einerseits spielen „bad manners“ (Moffitt 2017, S. 61–63; Montgomery 2017, S. 632; Wodak 2017, S. 559–560) eine Rolle, bewusste Unhöflichkeiten, Unwahrheiten, Beleidigungen, destruktive (eristische) Argumentation und intentionale Tabubrüche. Normen politischer Korrektheit werden verletzt, ohne sich dafür zu entschuldigen oder zu schämen (Scheff 2000); damit wird Identifikation mit anti-elitären Verhalten geboten. In diesem Zusammenhang sind auch Sagbarkeits- bzw. Möglichkeitsbedingungen von Interesse, denn diese konstituieren, was in einem bestimmten Diskurs sagbar ist, ohne dass die SprecherInnen dafür zur Rechenschaft gezogen werden bzw. ihr „Gesicht verlieren“ (Bettinger 2007, S. 77; Goffman 1967; Grice 1975).
Andererseits werden rechtsextreme Inhalte, die in den westeuropäischen Öffentlichkeiten seit 1945 verpönt bzw. mancherorts gesetzlich verboten sind (wie beispielsweise in Österreich durch das Verbotsgesetz seit 1947Footnote 13) (Engel und Wodak 2013), als Provokation mehr oder weniger explizit geäußert. Die intentionale Schamlosigkeit, die mit der Normalisierung bisher tabuisierter Inhalte und Verhaltensmuster einhergeht, schafft – so behaupte ich in Anlehnung an Thomas Scheffs Theorie zur Relevanz von Scham als Grundgefühl für Gruppenidentitäten – eine neue Gruppenkohäsion, festigt also die Gruppenidentität der WählerInnen rechtspopulistischer Parteien gegenüber den (oft moralisierenden) Eliten. Denn manche Wählerinnen und Wähler rechtspopulistischer Parteien betonen wiederholt, wie wichtig es ihnen sei, dass solche PolitikerInnen endlich aussprechen, was sie sich selbst schon immer gedacht haben, und sie sich somit ernst genommen fühlen (Wodak 2016, S. 141). Insofern könnte man von einer neuen „Schamlosigkeit“ sprechen.