1 Einleitung

Mutterschaft war und ist eng mit der normativen Zuschreibung von unbezahlter Sorgearbeit verbunden: die gute Mutter ist eine für ihre Familie sorgende Mutter (Diabaté 2015; Dugan und Barnes-Farrell 2020; Schmidt et al. 2023; Thiessen 2019). Mütter stehen zunehmend vor der Herausforderung, die Normen guter Mutterschaft mit Normen und Anforderungen der Erwerbssphäre zu verbinden und zu vereinbaren (Berghammer und Riederer 2018; Jurczyk und Szymenderski 2012; Rodriguez Castro et al. 2020). Arbeits- und Sorgearrangements, die auf Ungleichheiten aufbauten, werden hierdurch prekär, und Sorgelücken entstehen. Diese verdichten sich angesichts krisenhafter Entwicklungen, wie beispielsweise der Corona-Pandemie, zu tiefgreifenden Sorgekrisen (Aulenbacher 2020; Aulenbacher et al. 2015; Auth et al. 2015; Doucet 2023; Dowling 2021; Kupfer und Stutz 2022; Tronto 2017). Sorgelücken und -krisen werden in neoliberal geprägten Gegenwartsgesellschaften als ein individuell zu lösendes Problem konstruiert und subjektiviert; hierdurch schreibt sich die „strukturelle Sorglosigkeit“ (Aulenbacher und Dammayr 2014) als Prekarität auch in Familien fort, weil Sorge nach wie vor als „Kernelement“ von Familien gilt (Jurczyk und Thiessen 2020).

Mit der Etablierung des Neoliberalismus als globales System wurde die Selbstsorge für Subjekte als zusätzliche Aufgabe etabliert, unterstützt durch sozial- und arbeitsmarktpolitische Reformen – allerdings ohne adäquate Rahmenbedingungen für deren Umsetzung zu schaffen (Jurczyk 2014; Jurczyk und Szymenderski 2012; Jürgens 2008; Lange 2022; Klinger 2014; Newman et al. 2008; Rau 2020). Frauen werden dabei widersprüchlich adressiert, wodurch vor allem Mütter in einem spezifischen Spannungsverhältnis stehen: Fürsorge wird als deren naturalisierte Verantwortung konstruiert, gleichzeitig bestehen (neue) Anforderungen der Erwerbssphäre, und zudem sollen sie Aufgaben der Selbstsorge, auch im Sinne von Selbstoptimierung, erfüllen (Jurczyk und Thiessen 2020; Jürgens 2008; Rau 2020; Schmidt et al. 2023).

Trotz dieses komplexen Geflechts an (normativen) Anforderungen gibt es bislang kaum empirische Forschungsarbeiten zu den Erwartungen an Mütter in Bezug auf Selbstsorge. Daher fragen wir, welche Bedeutung Selbstsorge für Mütter in kollektiven Diskursen über gute Mutterschaft hat und welche Formen der Selbstsorge konstruiert werden. Zur Bearbeitung dieser Forschungsfragen analysierten wir Daten aus 24 Gruppendiskussionen mit 173 Personen in vier österreichischen Bundesländern mittels rekonstruktiver Auswertungsmethoden (Bohnsack 2014).

Die Ausgestaltung von familiären Arbeits- und Sorgearrangements ist wohlfahrtsstaatlich und kulturell eingebettet und somit national spezifisch (Pfau-Effinger 1998; Riegraf 2007). Österreich gilt als konservativ, korporatistisch und familialistisch geprägtes Land (Leitner 2013; Österle und Heitzmann 2020) mit einem ambivalenten Trend zur Modernisierung (Appelt und Fleischer 2014): Im österreichischen Kontext zeigt sich eine starke Persistenz traditioneller geschlechtlicher Arbeitsteilung und ein hoher Stellenwert der Familie in Bezug auf Sorgebelange, wenngleich sich Partnerschaften und familiale Lebensformen wandeln (Beham-Rabanser et al. 2019). In diesem Umfeld erscheint eine Analyse des Spannungsverhältnisses, in dem sich Mütter im Bereich der Sorge finden, unabdingbar.

2 Fürsorge und Selbstsorge in Familien: Forschungsstand und theoretische Verortung

Die Organisation von Gesellschaften und von Familienleben war im vergangenen Jahrhundert weitgehend von einer geschlechtlichen Arbeitsteilung und einer Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre geprägt. Das manifestierte sich im Ideal der bürgerlichen Kernfamilie mit einem verheirateten heterosexuellen Elternpaar, wenngleich dies nur für eine kurze Zeitspanne auch vom Großteil der Bevölkerung gelebt wurde (Ehmer 2021). Ehefrauen und Mütter waren – sofern die Familie es sich leisten konnte – im Nachkriegsfordismus auf die private Sphäre, familiale und unbezahlte Sorgearbeit verwiesen, während Männer und Väter im Male-Breadwinner-Modell als verantwortlich für das Familieneinkommen konstruiert wurden (Binner und Décieux 2023; Schulz und Steinbach 2023).

Auf die Krise der fordistischen Formation und damit auch des Male-Breadwinner-Modells antworteten neoliberale Tendenzen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in einer neuen Regulationsweise manifestieren (u. a. Décieux und Sennewald 2023). Damit wurden Fragen der Erwerbsbeteiligung von Frauen – und somit Forderungen der neuen Frauenbewegung –ebenso wie die Entgrenzungen in Arbeits- und Sorgearrangements zum Gegenstand gesellschaftlicher und familialer Aushandlungsprozesse (Aulenbacher 2020; Jurczyk 2014; Jürgens 2008; Lange und Gärtner 2021; Thiessen 2019). Heute sind Mütter gemäß des in unterschiedlichem Ausmaß etablierten Adult-Worker-Modells (Lewis 2001) nicht mehr auf die Sorgeverantwortlichkeit innerhalb der Familie beschränkt, sondern beteiligen sich zunehmend am Bildungs- und Arbeitsmarkt (Arendell 2000; Berghammer und Riederer 2018; Bianchi und Milkie 2010). Gleichzeitig hält sich in gesellschaftlichen Normen und Praktiken rund um Mutterschaft hartnäckig die Ansicht, dass Frauen für die Fürsorge der Kinder und anderer Familienmitglieder hauptverantwortlich seien (Damaske 2013; Grunow und Evertsson 2019; Saraceno 2015; Sardadvar et al. 2017; Schmidt et al. 2019, 2023).

Gesellschaftliche Arbeits- und Sorgearrangements unterscheiden sich je nach Funktions- und Arbeitsteilung zwischen Staat, Markt, Drittem Sektor und Familie (Aulenbacher et al. 2018). Die jeweilige Ausgestaltung hängt von sozialen Normen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen ab, doch sind generell Familien in Sorgearrangements nach wie vor von zentraler Bedeutung (Nagl-Cupal et al. 2023). Den Großteil der unbezahlten Sorgearbeit tragen in Österreich Mütter, und sie übernehmen auch die Verantwortung, den Überblick über diese Sorgebedarfe zu bewahren (Mairhuber 2011; Wernhart et al. 2018). Mütter nehmen somit in familialen Sorgearrangements weiterhin die zentrale Rolle ein.

Dieser Beitrag konzipiert Sorge als eine der zentralen Praktiken von Familien und schließt an die care-philosophische Debatte an (Brückner 2010; Kohlen und Kumbruck 2008). Sorge stellt demnach in erster Linie eine „Gattungstätigkeit [dar], die alles umfasst, was wir tun, um unsere >Welt< zu erhalten, fortdauern zu lassen und wiederherzustellen, daß [sic.] wir so gut wie möglich in ihr leben können“ (Tronto 2000, S. 26). Sorge umfasst vielfältige fürsorgliche, primär reproduktive und (re-)generative Praktiken und Prozesse. Der Anspruch an gelingende Sorge bemisst sich daran, ob und inwiefern die Herstellung, Aufrechterhaltung und Bearbeitung der „Kontingenz des Lebens“ nicht etwa als Mittel, sondern als „Zweck, als Selbstzweck“ (Klinger 2013, S. 103) betrachtet wird und durch einen „Ethos fürsorglicher Praxis“ (Kohlen und Kumbruck 2008; Senghaas-Knobloch 2008) gekennzeichnet ist – ungeachtet dessen, ob Sorge als bezahlte oder unbezahlte, formelle oder informelle Arbeit, im Öffentlichen oder Privaten, individuell oder kollektiv verrichtet wird.

Wir interpretieren Sorge als eine ganzheitliche und relationale Praxis (Doucet 2023). Selbstsorge wird – neben der Sorge für andere (Fürsorge) – als Teil von Sorge (Brückner 2012) und damit ebenso als relationaler und nicht individualisierter Prozess verstanden. Wenngleich hierbei das Subjekt selbst im Zentrum steht, handelt es sich um eine Aufgabe, die nicht nur relational zu gesellschaftlichen Voraussetzungen und sozialen Normen zu begreifen ist, sondern die auch in Relation zu anderen Individuen im sozialen Gefüge praktiziert wird. Sorge für das Selbst umfasst ein breites Spektrum an Praktiken wie ausreichend Schlaf, Sport oder gesunde Ernährung, aber auch die materielle Existenzsicherung. Einerseits kann Selbstsorge emanzipative Formen annehmen, wenn der sorgende Selbstzweck im Zentrum der Praktiken steht, andererseits können regressive oder gar sorglose Formen entstehen, wenn Selbstsorge anderen Zwecken dient und untergeordnet wird, beispielsweise den Maßgaben des Marktes (Klinger 2014; Rau 2020).

Mit der Etablierung einer neoliberalen Regulationsweise, die das Humankapital ins Zentrum stellt und ein autonomes, selbstbestimmtes, eigenverantwortliches, leistungs- und nicht zuletzt sorgefähiges Individuum als Ausgangspunkt hat, wird die Akkumulationsweise – also die spezifische Produktions- und Arbeitsorganisation ebenso wie Konsumnormen als polit-ökonomisches Arrangement im Neoliberalismus – temporär stabilisiert (Décieux und Sennewald 2023). Selbstsorge wird dabei jedoch mit einer sehr spezifischen Bedeutung versehen: Begleitet von einer Tendenz zur Individualisierung und Subjektivierung sowie basierend auf einer spezifischen Subjektkonstruktion in Zusammenhang mit der Etablierung eines neosozialen Paradigmas wird Selbstsorge als individuelle und eigenverantwortliche Aufgabe konstruiert, damit das Individuum der Gemeinschaft nicht zur Last fällt (Lessenich 2013; Rau 2020). Die Individuen werden dementsprechend als sorgefähige, aber auch als sorgefreie Subjekte konstruiert, wodurch Sorgebedarfe und -verpflichtungen abgewertet und unsichtbar werden. Diese androzentrische Subjektkonstruktion im Sinne eines Homo oeconomicus (Lynch 2021; Tronto 2017; Klinger 2014) bildet die Basis dafür, dass unter kapitalistischen Vorzeichen von Sorgeerfordernissen abstrahiert wird (Becker-Schmidt 2011). Auch auf dem Arbeitsmarkt gewinnt die individualisierte Verantwortung für Selbstsorge an Bedeutung (Flick 2012; Haubl und Voß 2011; Haubl 2012; Jansen et al. 2012; Jürgens 2008). Die Abstraktion von Selbstsorge hat zur Folge, dass sie ungleich und teilweise nur prekär realisierbar ist, je nach Klassenzugehörigkeit, Geschlecht oder Ethnie, und dementsprechend auch zu Versorgungsnotständen, Entgrenzungserfahrungen und subjektiven Gesundheitsfolgen führt (Wichterich 2022).

Die Anforderungen an Mütter stiegen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich. Mütter werden als Hauptzuständige im Bereich der Sorge adressiert, und gleichzeitig wird die Sorgearbeit individualisiert und subjektiviert (Aulenbacher 2020; Kortendiek 2010; Schmidt et al. 2023). Diese Entwicklungen führen zur Prekarisierung der Sorge auf familialer Ebene und, in Zusammenhang mit der Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familie sowie mit knappen (Zeit‑)Ressourcen, zu Erschöpfung, die wiederum Selbstsorge als Voraussetzung für gelingende Fürsorge erforderlich macht (Jurczyk et al. 2009; Jurczyk und Szymenderski 2012). Selbstsorge etablierte sich so als (weitere) Anforderung an Mütter (Diabaté 2015), während Fürsorgetätigkeiten weiterhin priorisiert werden (Jurczyk und Szymenderski 2012). Mütter befinden sich heute in einem spezifischen Spannungsverhältnis zwischen Für- und Selbstsorge, was sich in Zeiten von Corona weiter verschärft hat (Beham-Rabanser et al. 2022; Berghammer 2020; Derndorfer et al. 2021).

Im Lichte dieser Entwicklungen ist Zeit in familialen Arbeits- und Sorgearrangements vergeschlechtlicht (Craig und van Tienoven 2021; Maume et al. 2010). Zeit wird als wichtige, wenn auch schwer fassbare, Voraussetzung für jedwede (gute) Sorge diskutiert, und deren Knappheit trifft Mütter in besonderem Maße (Doucet 2023; Jurczyk und Thiessen 2020; Völkle 2022; Haug 2008). Internationale Zeitverwendungsstudien zeigen beispielsweise, dass Vollzeit erwerbtätige Mütter pro Woche fast sieben Stunden weniger Freizeit haben als alle anderen befragten Gruppen (Milkie et al. 2009) und dass Väter deutlich mehr Freizeit haben als Mütter (Craig und van Tienoven 2021). Ähnliche Tendenzen zeigen auch Zeitverwendungsdaten für Österreich (Berghammer 2013; Statistik Austria 2009; Wernhart et al. 2018). Geschlechterspezifische Sorgearrangements spiegeln sich auch in der Schlafdauer und in Schlafunterbrechungen wider: So wurde gezeigt, dass Mütter, unabhängig davon, ob sie tagsüber oder nachts einer Erwerbsarbeit nachgehen, weniger und mit mehr Unterbrechungen schlafen als Väter (Maume et al. 2010).

Konkrete Selbstsorgepraktiken von Müttern wurden bislang mit Fokus auf selbstorganisierte Mütterzentren (Brückner 2012), intersektionale Ungleichheiten (Nichols et al. 2015) oder gesundheitliche Beeinträchtigung (Haron et al. 2023; Shambley-Ebron und Boyle 2006) untersucht, teilweise auch in Bezug auf Schwangerschaft, die postpartale oder frühe Kindheitsphase (Barkin und Wisner 2013; Ergün 2022; Lambermon et al. 2020). Zumeist wurde in letzteren Studien aus einer gesundheitswissenschaftlichen oder psychologischen Perspektive geforscht und die Selbstsorge von Müttern im medizinischen Sinn als Gesundheitshandeln erfasst. So wurden positive Implikationen durch Selbstsorge für das Wohlbefinden von Müttern nachgewiesen und gezeigt, dass berufstätige Mütter weniger Ressourcen für Selbstsorge haben (Dugan und Barnes-Farrell 2020).

Abseits von diesen Forschungen ist die Selbstsorge für Mütter im spezifischen Spannungsverhältnis neoliberaler Strukturen (Rau 2020) ein nach wie vor empirisch wenig erforschtes Feld; wenngleich Fürsorge in Zusammenhang mit Sorgelücken und -krisen bereits intensiv erforscht wurde (Apitzsch und Schmidbaur 2010; Aulenbacher et al. 2014; Kupfer und Stutz 2022; Dowling 2021; Hochschild 2000). Eine sozialwissenschaftliche Perspektive mit einem breiten Selbstsorgeverständnis wurde bislang kaum verfolgt und kollektive Zuschreibungen und Verhaltenserwartungen an Selbstsorge von Müttern nicht erfasst.

3 Daten und Methoden

Die vorliegende Analyse basiert auf Daten aus Gruppendiskussionen (Bloor et al. 2002), die durch die Interaktionen und die Dynamiken unter den Teilnehmenden breite Diskurse zu bestimmten Fragestellungen evozieren und Einblicke in kollektive Orientierungen ermöglichen, die in Interviews nicht zugänglich sind (Morgan 2012). Insgesamt wurden 24 Gruppendiskussionen mit insgesamt 173 Teilnehmenden geführt, die 2021 in vier österreichischen Bundesländern stattfanden. Die Gruppenzusammensetzung erfolgte systematisch anhand der Kriterien Geschlecht, Bildung und Region (siehe Tab. 1); die Befragten differierten auch hinsichtlich Alter und Familienstand bzw. Elternschaftsstatus.

Tab. 1 Gruppenzusammensetzung

Um freie und offene Diskussionen zu fördern, wurde sichergestellt, dass sich die Teilnehmenden untereinander nicht kannten. Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurden alle Gruppendiskussionen online durchgeführt. Mit dem Einverständnis der Teilnehmenden wurde jede Diskussion aufgezeichnet. Die Teilnehmenden wurden eingeladen, ihre Ansichten zu und Erfahrungen mit Mutterschaft zu diskutieren, moderiert von einer der Forscherinnen und begleitet von mindestens einer weiteren Forscherin. Jede Diskussion orientierte sich an einem Gesprächsleitfaden, der beispielsweise Fragen nach den Kennzeichen einer guten Mutter oder nach Erwartungen an Mütter beinhaltete. Die Teilnehmenden wurden ermutigt, spontan Themen einzubringen und die Meinungen, Argumente und Begründungen der anderen zu diskutieren.

Die Forscherinnen erstellten nach jeder Diskussion ausführliche Memos. Die Gruppendiskussionen, die zwischen 100 und 150 min dauerten, wurden wörtlich transkribiert, wobei die Sprechenden einzeln identifiziert wurden. Allen Teilnehmenden wurde eine alphabetisch anonymisierte Identifikation mit dem von ihnen angegebenen Geschlecht und der jeweiligen Gruppendiskussion zugeteilt (z. B. bezieht sich Bf:GD14 auf die weibliche Teilnehmerin B in Gruppendiskussion Nr. 14).

Mithilfe rekonstruktiver Techniken (Bohnsack 2008) wurden die Bedeutungs- und Orientierungsmuster rund um Selbstsorge für Mütter identifiziert, die den Gruppendiskussionen zugrunde lagen. Die Analyse stützte sich auf Transkripte und Memos und wurde schrittweise durchgeführt. Unter Verwendung der Software MaxQDA wurden die manifesten Inhalte thematisch kodiert. Daran anschließend wurde der thematische Verlauf der Diskussion in jeder Gruppendiskussion zusammengefasst und paraphrasiert. Im Fokus stand in dieser Phase die Frage, was diskutiert wurde.

Anschließend zielte die Analyse darauf ab, für jede Gruppendiskussion implizite „Orientierungsrahmen“ (Bohnsack 2014) zu rekonstruieren. Ausgehend von den ersten beiden Arbeitsschritten wurden Passagen identifiziert, in denen besonders intensiv diskutiert wurde bzw. in denen für das Thema Selbstsorge relevante Aspekte angesprochen wurden, z. B. Passagen mit dem thematischen Code „Erwartungen an Mütter“ oder „Herausforderungen als Mutter“. In diesem Stadium konzentrierte sich die Analyse auf die Frage, wie bestimmte Themen von Teilnehmenden diskutiert und warum sie auf eine bestimmte Weise geäußert wurden. Dafür wurde rekonstruiert, welche Bedingungen und Voraussetzungen (einschließlich des Erhebungssettings und des allgemeineren kulturellen Rahmens) zu einer Aussage oder einem bestimmten Diskussionsablauf führen konnten. Diese „reflektierende Interpretation“ (Bohnsack 2014) ergab eine Reihe von Hypothesen zu den latenten Bedeutungs- und Orientierungsrahmen in Bezug zur Forschungsfrage.

Die vergleichende Analyse fokussierte schließlich auf die Abstraktion der gemeinsamen Orientierungsrahmen sowohl innerhalb jeder Gruppe als auch gruppenübergreifend. Zu diesem Zweck wurden die entwickelten Hypothesen im Zuge der Analyse weiterer Gesprächspassagen und Aussagen ständig angereichert, differenziert, widerlegt, bestätigt, ergänzt oder ersetzt. Dieses Vorgehen ermöglichte es, sich abzeichnende Theorien zu identifizieren, so den „dokumentarischen Sinn“ (Bohnsack 2014) zu erkennen und ein Verständnis für die kollektiven Bedeutungs- und Orientierungsmuster zur Selbstsorge von Müttern zu gewinnen.

4 Konstruktionen von Selbstsorge als Zugeständnis an Mütter

Die Analyse zeigte deutlich, dass sich der „Sinn und Zweck“ (Bm:GD9, Bf:GD11, Ef:GD14, Cm:GD18) des Mutterseins in einer fürsorgenden Kindzentrierung manifestierte. Von Müttern wurde erwartet, dass sie sich nach der Geburt und während der gesamten Kindheit, also kurz- und langfristig, möglichst intensiv und liebevoll um ihr Kind kümmern und ihm Aufmerksamkeit schenken sollten. Als primäre und zentrale Bezugsperson des Kindes wurde die Mutter als die höchste und natürliche Instanz konstruiert, die mit der Fähigkeit ausgestattet sei, eine symbiotische Beziehung zum Kind aufzubauen. Kindzentrierte Mutterschaft wurde primär dann als möglich erachtet, wenn die Mutter physisch zu Hause anwesend und dem Kind sorgend zugewandt war. Phasen der Anwesenheit wurden in den Diskussionen mit „Mutter sein“ gleichgesetzt (Cm:GD5, Df:GD13) und jenen Zeiten gegenübergestellt, die die Mutter anderweitig verbrachte, z. B. im Beruf (Gf:GD14, Am:GD22). Entsprechend dieser normativ geforderten Kindzentrierung wurde auch gefordert, dass Mütter sich zurücknehmen und ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen müssten, dass sie „zurückstecken“ (Gf:GD4; Ff:GD11; Am:GD16; Af:GD17; Ff:GD19; Bf:GD23), eigene Bedürfnisse, Hobbies oder gar „das ganze Leben zurückschrauben“ sollten (Ef:GD1; Em:GD10, Bf:GD8), „verzichten“ (Af:GD2; Bf:GD8; Gm und Cm:GD20) und Opfer bringen (Af:GD 2; Dm:GD3) oder sich (auf)opfern müssten (Dm:GD10; Ff:GD14; Gm:GD21; Gm:GD22).

Diese kindzentrierte Fürsorge, die Sorge der Mütter um und für die Kinder, wurde in Relation zur Sorge für sich selbst klar priorisiert und als nicht hinterfragbar konstruiert. Wurde Selbstsorge diskutiert, so wurde deren Zweck in der Sorge für das Kind und für andere gesehen, also mit der Reproduktion des fürsorgenden Selbst legitimiert. Damit wurde Selbstsorge als ein gesellschaftliches Zugeständnis an Mütter konstruiert, als Grundlage für gute Mutterschaft und Fürsorge, verbunden mit dem Ziel, Kinder gut umsorgen zu können und „funktionierende“ Mutter zu sein (Cf:GD19). Selbstsorge für Mütter als Selbstzweck und dem Ziel der Sorge für sich konnte in den Daten nicht rekonstruiert werden.

Selbstsorge wurde im funktionsnotwendigen Ausmaß für gute, das heißt kindzentrierte und fürsorgliche Mutterschaft anerkannt und zugestanden, weil Mütter für ihre Aufgaben physisch fit und psychisch gesund sein sollten – sowohl gegenwärtig als auch zukunftsgerichtet, wenn die Kinder älter oder bereits erwachsen seien. Selbst wenn zunächst explizit das Befinden und die Bedürfnisse der Mütter in den Vordergrund gestellt wurden, wurde Selbstsorge der Mütter als Grundlage für die Fürsorge für andere konstruiert, wie folgender Diskussionsverlauf in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe (GD17) exemplarisch zeigt:

„Af: Ich glaube auch, dass viel davon abhängt, wie es einem selbst geht als Mutter, also jetzt nicht nur den Standpunkt des Kindes zu sehen, was fürs Kind am besten wäre, sondern auch zu schauen, dass es der Mama gut geht. Weil wenn es der Mama gut geht, kann sie auch zu hundert Prozent für die Kinder da sein. […] Das heißt, in dem Punkt soll sie zuerst einmal ein gewisses Maß an Egoismus mitbringen, dass sie auf sich schaut und auch schaut, dass es ihr gut geht, dass sie auch einfach besser für alle anderen da sein kann. Ich kann nur so gut für alle anderen sorgen, wie es mir selbst geht. Wenn es mir überhaupt nicht gut geht und ich am Rande meiner Kräfte bin, kann ich natürlich dem Kind oder den Kindern nicht so viel bieten, wie ich es eigentlich könnte, wenn es mir gut gehen würde. Deswegen glaube ich, […] die Mama soll das Bewusstsein haben, dass es auch um sie geht, dass sie auf sich schaut. Sei es jetzt gesundheitlich, sei es vom Psychischen her, dass sie da einfach fit ist, weil sie nur dann auch von ihr aus das Beste geben kann.

Bm: Das ist wie die Sauerstoffmaske im Flugzeug, wenn ein Notfall ist. Das ist genau das Gleiche. Es nutzt einem Baby auch nichts, wenn es zwar überlebt, du aber dann dafür draufgehst.“

Selbstsorge von Müttern wurde als Zugeständnis konstruiert, wenn gegenwärtiges Muttersein historisch kontrastiert wurde. So wurde kollektiv anerkannt, dass Mütter zunehmend zeitlichem und normativem Druck ausgesetzt seien. Sie müssten daher als „Wunderwuzzis“ und „Übermenschen“ (Bf:GD13) agieren, was in Erschöpfung und Überforderung resultieren könne. Der folgende Diskussionsbeitrag einer Mutter zeigt exemplarisch, wie die internalisierten und individualisierten Fürsorgeanforderungen zu physischer Erschöpfung führen, und dennoch die Fürsorge gegenüber der Selbstsorge von Müttern priorisiert wurde oder die Selbstsorgeerfordernisse fast unsichtbar gemacht werden.

„Also ich glaube auch, dass dieser Perfektionismus ein ganz großes Thema ist und dass wir uns da selber wirklich den Druck am allermeisten machen, […] die Vorstellung jeder erwartet von uns, dass wir das von Anfang an perfekt können und da machen wir uns alle wahnsinnig viel Druck selber und das ist ganz erschreckend und das sehen wir ja auch oft nicht und wollen dann auch vielleicht keine Hilfe annehmen, weil wir wollen es ja alleine schaffen weil es ist ja unter Anführungszeichen nur ein Kind und nur ein Haushalt und nur das Kochen, was wir alles schaffen und an einem Tag unterbringen und die wenigsten sehn wie wenig Schlaf wir haben und wann wir schlafen können und so weiter. […], aber es ist trotzdem noch so ein bisschen ein Tabuthema darüber zu sprechen.“ (Af:GD1)

Die Verwirklichung und Erfüllung der individuellen Bedürfnisse der Mutter als Motiv der Selbstsorge wurde entsprechend kaum diskutiert, eher delegitimiert und als etwaiger Selbstzweck von Selbstsorge in Frage gestellt. Beispielsweise wurde das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung durch Berufstätigkeit zwar erwähnt, jedoch kaum als legitimes Motiv der Selbstsorge einer Mutter konstruiert. Die vielfach erwähnten Beobachtungen, dass Mütter den zum Teil neoliberalen Anforderungen der Selbstoptimierung auch in der Erwerbssphäre entsprechen wollten, standen jedoch sehr deutlich im Widerspruch zu den konstruierten Anforderungen an ideale Mutterschaft mit der kindzentrierten und zu Hause anwesenden Mutter:

„Ich glaube, dass auch die Frauen arbeiten gehen wollen. Nicht nur, weil es die Gesellschaft ist, sondern weil die Frauen selbst sagen, sie wollen wieder in die Arbeit gehen. Daheim fällt mir die Decke auf den Kopf, ich brauche das einfach. Es gibt heutzutage auch schon viele, die einfach sagen: Ich muss wieder arbeiten, ich kann nicht daheim sein.“ (Bm:GD16)

Neben der Reproduktion des fürsorgenden Selbst wurde Müttern dennoch Selbstsorge auch zum Zweck der materiellen Existenzsicherung zugestanden. Dies hatte einerseits einen Gegenwartsbezug und erlaubte Müttern, nicht von Dritten abhängig zu sein, andererseits aber auch einen Zukunftsbezug in Form von Pensionsvorsorge und Vermeidung von Altersarmut. Mütter wurden dabei vorrangig in ihrer Eigenverantwortung adressiert: Sowohl Bemühungen um diese Form der Selbstsorge als auch jegliche Konsequenzen daraus wurden subjektiviert und individualisiert. Selbstsorge für die materielle Existenzsicherung wurde zugestanden, weil Mütter das „eigene Überleben“ sichern (Cm:GD15), auf ihre ökonomische Unabhängigkeit achten und „auf sich selbst schauen“ müssten (Cf:GD1; Bm:GD6; Ef:GD14; Bm:GD16; If:GD18; Bf:GD20; Ef:GD24), um als Frau nicht (irgendwann einmal) „unterzugehen“. Dieser Zweck der Selbstsorge fand jedoch geringere Aufmerksamkeit und Anerkennung als die Reproduktion des fürsorgenden Selbst. Selbstsorge zum Zweck der materiellen Existenzsicherung wurde nur zugestanden, wenn hierdurch die Fürsorge für das Kind nicht leiden würde, ansonsten müssten Mütter „verzichten“ und ihre Ansprüche „runterschrauben“ (Cm:GD23).

Die Konstruktionen von Selbstsorge als Zugeständnis implizieren, dass Müttern kein Recht auf Selbstsorge zuerkannt wurde. Entsprechend der neoliberalen Subjektkonstruktion wurde diese Form der Selbstsorge nahezu als Pflicht der Gemeinschaft gegenüber konstruiert, um dieser auch in Zukunft nicht zur Last zu fallen. Als Zugeständnis blieb diese neoliberal gefärbte Konstruktion der Selbstsorge in ihrem Kern somit sorglos den Müttern gegenüber, weil sie nicht die Bedürfnisse der Mütter ins Zentrum rückte und als Selbstzweck diente. In den kollektiven Diskursen wurde die Konstruktion als Zugeständnis entlang zweier Formen der Selbstsorge verhandelt: (a) Selbstsorge in Form von Zeit und (b) Selbstsorge in Form von Erwerbsarbeit. Diese Formen werden im Folgenden vorgestellt.

4.1 Selbstsorge in Form von Zeit

Die Notwendigkeit von Selbstsorge für Mütter in Form von Zeit wurde in den Diskussionen anerkannt: Mütter bräuchten Zeit für sich, um „abschalten“ (Ff:GD2; Am:GD4) und „auf sich selbst schauen“ (Cf:GD1; Bm:GD6; Ef:GD14; Bm:GD16; If:GD18; Bf:GD20; Ef:GD24) zu können. Zeit wurde gleichzeitig als eine knappe und wertvolle Ressource für Mütter konstruiert, sowohl die Zeit für und mit ihren Kindern als auch jene für ihre persönlichen Bedürfnisse. Mütter selbst betonten die Zeitengpässe, wenn z. B. eine alleinerziehende Mutter über Menschen, die keine Mütter sind, sagte: „Die verstehen nicht, wie viel Arbeit dahintersteckt, wie viel wir opfern müssen, wie wenig Schlaf wir haben, wie wenig Zeit wir für uns selbst haben“ (Ff:GD2).

Die Diskurse verdeutlichen, dass Müttern selbst die Verantwortung für „gutes Zeitmanagement“ (Af:GD6) zugeschrieben wurde. Von ihnen wurde erwartet, dass sie selbst aktiv Zeit für ihre Erholung schaffen müssten, zum Zweck der Reproduktion des fürsorgenden Selbst. Die Basis für diese Form der Selbstsorge bildeten individuell ausgehandelte und eigenverantwortlich angepasste und veränderte Arbeits- und Sorgearrangements, in die Mütter auch aktiv andere Subjekte einbeziehen sollten, um so dafür zu sorgen, mehr Zeit für sich selbst zu haben:

„Wenn man selber nicht mehr kann, dann muss man einfach schauen, dass man einen Weg findet, dass wer anderer sich jetzt entweder um das Kind kümmert oder dass man dem Kind sagt, ich brauch kurz eine Pause, ansonsten schaffe ich das nicht mehr. Ich meine, das ist sicher nicht immer einfach, weil zum Beispiel als Alleinerziehende was machst du, wenn du sonst niemanden um dich herum hast. Aber ich glaub, es ist auch sehr wichtig, eben sich selber seine Zeit zu nehmen und zu verschnaufen und nicht immer nur sich um die Kinder zu kümmern.“ (Df:GD1)

Erholung solle durch Unterstützung und Entlastung durch die Väter ermöglicht werden, so der Grundtenor. Auch ein solcher Einbezug der Väter wurde in der Regel als aktiv durch die Mutter herzustellend diskutiert. Betont und erläutert wurde, dass in den familialen Arbeits- und Sorgearrangements ein Wandel erkennbar sei, dass Väter sich heute stärker einbringen und Müttern dadurch auch Zeit für Selbstsorge ermöglichen würden. Es bestand Einigkeit, dass diese konstatierte Veränderung positiv sei, dennoch zeichnete sich eine klare Orientierung auf geschlechtliche Zuschreibungen und traditionelle Arbeits- und Sorgearrangements ab. Außerdem wurde diese Selbstsorge der Mütter erneut im Sinne der Reproduktion des fürsorgenden Selbst verstanden:

„Das fällt mir richtig auf, wenn wir am Wochenende mit dem Auto fahren oder so, da siehst du total viele Männer am Vormittag schon mit den Kinderwägen herumspazieren, wo du einfach siehst, die gehen halt dann und die Frau ist daheim, kann zusammenräumen, sich erholen und auf sich schauen oder so. Das hat sich einfach brutal geändert heutzutage.“ (Bm:GD16)

Von Müttern aktiv gestaltete Sorgearrangements, die Zeit und Raum für Selbstsorge schaffen und die Reproduktion des fürsorgenden Selbst ermöglichen, gingen in den Diskussionen vielfach über die Kernfamilie hinaus. Neben den Vätern wurden Großeltern (vorwiegend Großmütter), Putzhilfen, Freund:innen oder Au Pairs als potenzielle Akteur:innen thematisiert, aber auch Kindergärten wurden als Option zur Delegation von Sorgetätigkeiten genannt, um Zeit für Selbstsorge zu generieren. Zudem wurde der Staat als Akteur genannt, der Müttern durch Teilzeit- oder Karenzreglungen Zeitressourcen schaffen könnte. Weiters wurden technische Geräte diskutiert, die Mütter entlasten könnte, beispielsweise „Wischroboter“ (Cf:GD2). Teilweise reflektierten die Teilnehmenden zwar die ungleichen finanziellen und sozialen Ressourcen von Müttern und die daher ungleichen Rahmenbedingungen für die Organisation von Zeit. Dennoch bestand Einigkeit, dass Mütter sich bewusst für Kinder entschieden hätten, sich daher der Verantwortung und Herausforderungen bewusst sein müssten, und sich selbst um Zeiten der Erholung bemühen und diese organisieren müssten, wenn sie erschöpft seien.

Was in den für Selbstsorge geschaffenen Zeiten stattfinden sollte, wurde eher abstrakt diskutiert, und es blieb diffus, was Mütter in der „Zeit für sich“ tun dürfen oder sollen. Übereinstimmung bestand jedoch darüber, „dass eine Mutter sich halt auch einmal Zeit gönnen sollte“ (Gf:GD17), und dass diese Zeit für sich eben nicht mit ihrem Kind verbracht wurde, um in Folge wieder Fürsorge leisten zu können. Die Reproduktion des fürsorgenden Selbst als Zweck stand im Fokus und war Konstante. Auch wenn vereinzelt konkrete Vorschläge formuliert wurden oder Mütter selbst eigene Praktiken der Selbstsorge einbrachten, war deutlich, dass es nicht ausschließlich um die Erfüllung momentaner individueller Bedürfnisse ging, sondern auch um die Vermeidung mittel- und längerfristiger negativer Folgen fehlender Selbstsorge:

„Ja sie kann sich entfalten, sie hat Zeit für sich, sie kann Kraft schöpfen, sie kann arbeiten gehen. Keine Ahnung, in die Natur gehen, also die Mutter gibt ja sehr viel oder die Familie, speziell die Mutter. Also sie kann ja nicht nur geben, man sieht ja eh die Generation vor uns oder die noch einmal vor uns, wie ausgelaugt die Frauen dann teilweise waren mit 60 oder schon mit 55.“ (Am:GD4)

Zusammenfassend erwarteten die Diskutierenden von Müttern, selbst für ihre Erholung und die Reproduktion des fürsorgenden Selbst zu sorgen, Zeiten dafür aktiv herzustellen und mit ihrer Fürsorgeverantwortung für Kinder in Einklang zu bringen. Selbstsorge in Form von Zeit wurde als ein aktiver Prozess der (Selbst‑)Organisation betrachtet, um eine Entlastung, Regeneration und auch Reproduktion der als natürlich hauptverantwortlich konstruierten, fürsorgenden, kindzentrierten Mutter zu ermöglichen.

4.2 Selbstsorge in Form von Erwerbsarbeit

Neben der Selbstsorge in Form von Zeit wurde auch die Erwerbsarbeit als eine Form der mütterlichen Selbstsorge thematisiert. Erwerbsarbeit wurde als selbstsorgende Tätigkeit konstruiert, weil ihr der Zweck der materiellen Existenzsicherung zugeschrieben wurde. Die drohende „Armutsfalle“ (Df und Ef:GD14) aufgrund der Erwerbsunterbrechungen von Müttern und ihrer anschließenden Teilzeiterwerbstätigkeit spielte in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Dieses Muster wurde in der Eigenverantwortlichkeit der Mütter angesiedelt, und es sei von ihnen „auch nicht grade intelligent und nachher bleibst daheim bei die Kinder und dann kannst du wieder von vorne anfangen mit dein Job“ (Df:GD14).

Vor allem Frauen konstruierten in den Gruppendiskussionen Selbstsorge in Form von Erwerbsarbeit zur materiellen Existenzsicherung als eine individuelle und subjektivierte Aufgabe und sahen die Konsequenzen für eigenverantwortlich getroffene Entscheidungen in der individuellen Verantwortung. In einem gesellschaftlichen Umfeld, das von geschlechterungleich ausgestalteten Arbeits- und Sorgearrangements geprägt ist, wurde im Zusammenhang mit Selbstsorge durch Erwerbsarbeit auch das Risiko angesprochen (Ef:GD1; Ff:GD1; Af:GD2; Ef:GD13), als Mutter nach einer Trennung alleinerziehend und einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt zu sein, weil „viele Beziehungen in der heutigen Zeit ein Ablaufdatum“ (Bf:GD12) hätten. Eine ältere Teilnehmerin richtete aufgrund ihrer eigenen Biografie einen Appell für Selbstsorge durch Erwerbsarbeit an die anderen Teilnehmerinnen [sic!]:

„Bitte schaut auch ein bisschen auf euch, weil es kann auch späte Scheidung sein, ihr steht ohne Geld da. Ich bin gegangen alleine, mit einem 9‑jährign Kind und ich musste schauen, dass ich immer Vollzeit bin, obwohl mir x Teilzeitstellen angeboten worden sind und ich hab das auch geschafft, bitte, sobald es geht, wenn das Kind älter ist, Vollzeit und trotzdem schauen, dass das Kind auch in der Freizeit von mir betreut wird, dass ich da bin und egal, wenn es heute mal ausschaut, das Kind ist das Wichtigste nach meiner Arbeit, bevor ich komplett ohne Arbeit dastehe, die Erfahrung habe ich gemacht. Ich habe jetzt nicht die beste Rente, aber trotzdem, ich komm durch.“ (Hf:GD14)

Wenn Selbstsorgepraktiken – sowohl in Form von Zeit als auch in Form der finanziellen Absicherung – allerdings zu sehr mit der Idealvorstellung der kindzentrierten, sorgenden und anwesenden Mutter, die möglichst lange zuhause beim Kind ist, kollidierten, wurde Selbstsorge der Mütter auch implizit kritisiert:

„Heutzutage ist es, was kann die Mutter nebenbei für sich selber machen, damit sie nicht später bei der Therapeutin auf der Couch landet, sozusagen, und das ist auch gut so, klar man soll eben schauen, was macht man, wie bildet man sich weiter, was findet man für ein Hobby, was kann man mit der Zeit machen, gehe ich wieder arbeiten, […] Früher war das Kind weit oben an erster Stelle sozusagen, wie kann ich dem Kind eine bessere Zukunft ermöglichen und jetzt wird das aber gleichgesetzt mit: Wie kann ich mein Leben besser gestalten? Was auch gut so ist, weil wir wollen ja eine happy Mutter haben, wie wir vorher schon gehört haben, aber das hat sich auf jeden Fall geändert, dass man jetzt nicht nur auf das Kind schaut, sondern eben auch auf sich selbst.“ (Cm:GD5)

Selbstsorge wurde in Kontrast zu vergangenen Zeiten auch in Zusammenhang mit dem zunehmenden ökonomischen und finanziellen Druck, steigenden Lebenshaltungskosten und verändertem Konsumverhalten, dem Mütter ausgesetzt seien, thematisiert. So wurde beispielsweise anerkannt, „dass die Mütter auch immer früher und schneller arbeiten gehen, weil es einfach unmöglich ist, einem Kind alles zu bieten. Früher gab es das einfach nicht“ (Af:GD2). Implizite Kritik zeigte sich aber beispielsweise darin, dass Müttern zwar Selbstsorge durch Erwerbsarbeit mit dem Zweck materieller Existenzsicherung zugestanden wurde, wenn argumentiert werden konnte, dass diese notwendig geworden war; gleichzeitig wurden aber auch mögliche Alternativen wie weitestgehender Verzicht und Reduktion des Lebensstandards proklamiert.

Damit blieben in den Konstruktionen von Selbstsorge vorherrschende, geschlechterungleich verteilte und traditionell ausgestaltete familiale Arbeits- und Sorgearrangements tendenziell unangetastet, wurden selten problematisiert und wenig hinterfragt. Dies zeigte sich beispielsweise in der Thematisierung der Verantwortung des Staates für die Selbstsorge von Müttern (z. B. Em:GD15). Diesem wurde die Aufgabe zugeteilt, Mütter materiell abzusichern und ihre Leistungen anzuerkennen (Am:GD18). Diskutiert wurden Anrechnungsmodelle für die Pension, ein bedingungsloses Grundeinkommen (Ff:GD7), „Taschengeld“ für Mütter (Am:GD16) oder Karenzmodelle mit höherer Remuneration. Teilweise forderten Frauen beispielsweise, dass mütterliche Selbstsorge in Kooperation mit dem Staat erfolgen sollte und „dieses Konzept irgendwie überarbeitet werden muss, dass man sagt, in der Zeit, wo die Mutter Mutter ist und die Eltern, egal, ob sie zusammen sind oder nicht, [sich] dafür entscheiden, dass die Frau zuhause bleibt, muss es irgendwie aufgeteilt werden. Jeder muss vom Kuchen etwas abbekommen und da muss, glaube ich, einfach auch rechtlich und geldtechnisch viel mehr Gerechtigkeit geschaffen werden“ (Bf:GD12). Jedoch waren es vor allem Männer, die die kollektive Verantwortung für Selbstsorge der Mütter betonten. Für deren materielle Existenzsicherung adressierten sie Dritte und vielfach den Staat als zuständige Instanz.

5 Diskussion

Dieser Beitrag basiert auf der rekonstruktiven Analyse von 24 Gruppendiskussionen in vier österreichischen Bundesländern mit insgesamt 173 Personen unterschiedlichen Geschlechts, Alters, Familienstandes und Bildungsgrades. Die Analyse zeigt, dass Selbstsorge vorrangig als Zugeständnis an Mütter konstruiert und nur dann als legitim zugestanden wurde, wenn sie nicht alleine dem individuellen Wohlbefinden der Mutter oder ihrer persönlichen Erholung diente, sondern mit dem Zweck der Fürsorge oder der individualisierten materiellen Existenzsicherung legitimiert wurde: Selbstsorge für Mütter wurde primär in Form von Zeit als Basis für kindzentrierte und fürsorgende Mutterschaft konstruiert und wurde als notwendig für die Reproduktion des fürsorgenden Selbst erachtet. Obwohl Selbstsorge in der Vergesellschaftung unter kapitalistischen Bedingungen von Müttern als Lohnarbeiterinnen immer auch zur Reproduktion der eigenen Arbeits- und Fürsorgekraft dient, verdeutlichen die Konstruktionen in den Diskursen dennoch, dass diese exklusiv diesem Ziel und nicht einem Selbstzweck dient.

Selbstsorge wurde als Basis für neoliberale Anforderungen des autonomen Selbst (Rau 2020) betrachtet. Sie wurde Müttern in Form von Erwerbstätigkeit zugestanden, weil diese ihre materielle Existenz langfristig absichern könne und demnach keine weiteren Kosten für die Gemeinschaft entstehen würden. Mütter wurden in der Konzeption von Selbstsorge mit dem Zweck der materiellen Existenzsicherung als autonome, aktive, leistungs- und (selbst-)sorgefähige Subjekte betrachtet, die nicht das Sozialsystem belasten, sondern zukunftsgerichtet agieren und durch ihre eigenverantwortlichen Handlungen das Risiko von Altersarmut subjektiv verringern sollten. Die Konstruktion der Selbstsorge als Zugeständnis für Mütter folgte darüber hinaus dem Imperativ, gesund und belastbar zu bleiben.

Beide Formen der zugestandenen Selbstsorge – in Form von Zeit und in Form von Erwerbsarbeit – können als neosoziale Forderungen nach Aktivierung und danach, der Gemeinschaft nicht zu Last zu fallen, interpretiert werden (Rau 2020; Lessenich 2013). Selbstsorge von Müttern wurde vordergründig in Zusammenhang mit dem Zweck ihrer guten Fürsorge sowie mit ihrer individuellen Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber (materielle Existenzsicherung) diskutiert. Selbstsorge im Sinne eines Selbstzwecks für die Mutter als Subjekt mit individuellen Bedürfnissen war nicht Bestandteil der Konstruktionen – diese bleiben vielmehr den Müttern gegenüber weitestgehend sorglos. Damit ist Selbstsorge in diesen kollektiven Konzepten für Mütter weder emanzipativ noch sorgend (Klinger 2014; Rau 2020). In den Gruppendiskussionen spielten Narrative oder Visionen, die in diese Richtungen weisen würden, keine Rolle. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wird Selbstsorge damit zu einer aktiven Leistung (Jürgens 2008), die individualisiert und subjektiviert wird. Im Namen der Selbstsorge wird somit „strukturelle Sorglosigkeit“ (Aulenbacher und Dammayr 2014) (re)produziert.

Selbstsorge für Mütter, unter den aktuellen Rahmenbedingungen und in der Form, wie wir sie in den Daten rekonstruieren konnten, lässt damit familiale und gesellschaftliche Arbeits- und Sorgearrangements unangetastet und reproduziert den Fürsorgeimperativ für Mütter. Die verschiedenen Formen und Zwecke der Selbstsorge für Mütter, die diskutiert wurden, stützen traditionelle Arbeits- und Sorgearrangements. Väter wurden kaum in ihrer Verantwortung für Sorgetätigkeiten adressiert, und mütterliche Selbstsorge wurde als eine (weitere) individuell zu erfüllende Anforderung an Mütter konstruiert, die eigenverantwortlich organisiert werden muss. Auch Konstruktionen von Selbstsorge durch Erwerbsarbeit, die in den Diskussionen als staatlich unterstützt und damit als kollektive Fürsorge sichtbar wurden, dienen der Stabilisierung vorherrschender Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Familiale Rahmenbedingungen wurden in den Diskussionen zwar berücksichtigt, aber vielfach dennoch relativiert. Auch wenn in den Konstruktionen deutlich wurde, dass Selbstsorge eher zu realisieren ist, wenn soziale Netzwerke oder finanzielle Ressourcen verfügbar sind, welche die Ausgestaltung eines adäquaten Arbeits- und Sorgearrangements erleichtern: Im Vordergrund stand die Reproduktion des Individuums zum Zweck der optimierten Fürsorge als Mutter oder zum Zweck eines Reüssierens in der Erwerbssphäre im Lichte neoliberaler Tendenzen. Gesellschaftliche Zugeständnisse an Selbstsorge für Mütter werden somit vermehrt zu Verpflichtungen, wodurch die Selbstsorge von Müttern angesichts der bestehenden strukturellen Sorglosigkeit prekär bleibt.