1 Einleitung

Inzwischen rückt die COVID-19-Pandemie in der öffentlichen Aufmerksamkeitsspirale deutlich in den Hintergrund und wird von immer wieder neuen Krisenphänomenen abgelöst, zuletzt dem Überfall der Hamas auf Israel. Mit dieser Überlagerung hat sich auch der unmittelbare Erfahrungsraum der Pandemie hin zu einem Reflexionsraum verschoben, in dem die Folgen der Krise deutlicher erkennbar sind als in den Pandemiejahren bis 2022. In unserem Beitrag greifen wir die Doppelperspektive – unmittelbare Erfahrung und Retrospektion – auf und gehen der Frage nach, wie sich die COVID-19-Pandemie auf Körperpraktiken des Alltags und damit auch auf das Welt- und Selbstverhältnis junger Menschen ausgewirkt hat. Gemeint ist damit die Art und Weise, wie Menschen auf sich selbst und andere Bezug nehmen und wie sie umgekehrt von ihrer Umwelt ‚angesprochen‘ werden. Dabei stehen aber keine explizierbaren Weltanschauungen im Vordergrund, sondern vielmehr implizites, in Alltagshandlungen eingespeistes Körperwissen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Pandemie als Krisenerfahrung zu einem Konflikt im Prozess des habituellen und damit körperlichen Erinnerns und der „taken for granted“-Erfahrung geführt hat. Viele als gegeben vorausgesetzte Praktiken haben dabei ihre Gültigkeit verloren. Die Pandemie hat das non-deklarative Gedächtnis mit Passungsdefiziten konfrontiert und somit zur Explikation und Reflexion des Gewohnten im Erinnerungsprozess geführt. Erinnert wird dabei ein Soll-Zustand – „so war es immer“ – im Abgleich mit dem gegenwärtig-situativen Ist-Zustand, der leiblich-affektiv bzw. atmosphärisch als Bruch oder Entfremdung erfahren wird. Die selbstverständliche, holistisch erlebte Alltagswirklichkeit weicht dabei einer Reihe unverständlicher Einzelsituationen und wird als krisenhaft erlebt. So wird beispielsweise der öffentliche Raum zum Ort der allgegenwärtigen Ansteckung und vormals unproblematische Praktiken wie das Ergreifen eines Apfels im Supermarkt zum Quell- und Ankerpunkt dilemmatischer Reflexionsprozesse. Damit einhergehend erweist sich auch der „leibliche Spürsinn“ (Gugutzer 2002) als gestört: Menschen erfahren eine Verunsicherung des Alltags, vor allem Begegnungen und Interaktionen mit Mitmenschen müssen neu ausgehandelt werden. Dies wiederum führt zuerst einmal zu inneren Konflikten: Wie vermeide ich beim Begrüßen physische Nähe und Kontakt und trete meinem Gegenüber dennoch respektvoll und höflich gegenüber? Darüber hinaus ergeben sich aber auch zwischenmenschliche Konflikte. So entsteht bspw. eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens, wenn Körper in Praktiken des Ausweichens und Vermeidens eingeübt werden, bspw. beim Abstandhalten auf dem Gehweg. Die leiblichen Körper müssen sich vor dem Hintergrund der Gefahr und im Modus der Dauerachtsamkeit neu orientieren, was die Erfahrung von Normalität erschwert oder verunmöglicht: „Normalität“ ist plötzlich kein gegenwärtiger Zustand, sondern nur noch ein erinnerter Orientierungshorizont und eine Vergleichsfolie. Die Welt erscheint den Betroffenen zunehmend „irreal“.

Als zentralen Fokus des Beitrags setzen wir den Konflikt zwischen dem Erinnern eines vergangenen Normalzustandes und der Notwendigkeit der praktischen Anpassung des Erinnerten an die gegenwärtigen Zustände. Zentral sind dabei sowohl der individuelle, erinnernde Leib als auch die kollektiv-praktische „Verstrickung von Körpern“. Mit theoretischen Bezügen zur exzentrischen Positionalität (Plessner 1982), zur Resonanztheorie (Rosa 2016) und zur neuen Phänomenologie (Schmitz 1965) gehen wir anhand unseres empirischen Materials aus zwei explorativen Studien (Frankfurt am Main, Hildesheim) darauf ein, inwiefern das, was vormals als kollektiv geteilte Norm und Normalität galt, auch körperlich-performativ hinterfragt und im Prozess des Erinnerns neu ausgehandelt werden muss. Narrative wie „die Stunde Null“ verkörpern diese semantische Auseinandersetzung mit der konflikt- und problemhaft gewordenen Alltagsrealität, in der Körperlichkeit eine kollektive Irritation erfährt – nicht nur im „Denken wie üblich“, sondern auch im „Sein wie üblich“ (Schütz 1971). Anschließend zeigen wir die leiblichen und atmosphärischen Veränderungen und Konflikte auf, die im Zuge der COVID-19-Pandemie für unterschiedliche Gruppen junger Erwachsener entstanden sind. Dabei konzentrieren wir uns überwiegend auf Auswirkungen der Pandemie auf atmosphärisches Erleben (I) und Körper und Leib in der digitalen Kommunikation (II). Wir werden schließlich darlegen und argumentieren, dass insbesondere das affektive Erinnern für das Erleben der Pandemie eine zentrale Rolle spielt, da es einen impliziten ‚Normalitätshorizont‘ aufspannt, vor dem das aktuelle Geschehen bewertet wird. Zugleich werden wir zeigen, dass die unterschiedlichen Erlebnisstrukturen – der Grad der Resonanz- und Entfremdungserfahrungen – nicht nur von äußeren Rahmenbedingungen abhängen, sondern auch von der jeweiligen Kontraststärke zwischen erinnerter Normalität und pandemischer Realität sowie vom Ausbleiben adäquater Handlungsroutinen und Selbstvergessenheit.

2 Normalität und Erinnerungen – theoretische Einbettung

Im Regelfall erscheinen uns der Alltag und die Abläufe darin als selbstverständlich. Wir wissen, wie die Dinge ‚sind‘ bzw. wie sie sein sollten. Aber woher wissen wir eigentlich, was und wie sie sein sollten? Handelt es sich hier um kodifiziertes, sprachliches oder anderweitig symbolisches Wissen, auf das Menschen mit ihrem semantischen Gedächtnis zurückgreifen können? Handelt es sich um narrativ strukturierte, biographisch sedimentierte Erinnerungen vergangenen Erlebens – also um Inhalte des episodisch-biographischen Gedächtnisses? Oder haben wir es vielmehr mit Körperpraktiken, mit habituellem, inkarniertem, vorreflexivem bzw. implizitem Wissen im Sinne eines praktischen Könnens zu tun, das dem non-deklarativen Gedächtnis entspringt? Bevor wir diese Fragen beantworten können, muss zunächst geklärt werden, was unter Wissen und in Abgrenzung oder Ergänzung dazu unter Gedächtnis und Erinnern zu verstehen ist. Wissen lässt sich als „im Zeitverlauf gewordene und sozial fundierte Orientierungsfähigkeit“ (Dimbath 2023, S. 641) begreifen. Ausgangspunkt bilde stets ein singuläres Ereignis, das zum Erlebnis wird, sobald ein menschlicher Organismus davon betroffen ist. Kommt es zu einer kognitiven Wahrnehmung und Erfassung eines solchen Erlebnisses, sprechen wir von Erfahrung. Auf diese Erfahrung in Form einer „Bewusstseinsspur“ (ebd., S. 642) kann das Gedächtnis dann mit Hilfe der Erinnerung zurückgreifen. Durch den Prozess der Sedimentierung gerinnen vergangene Erlebnisse zur routinierten und impliziten „Verrichtung des Alltagslebens“ (Dimbath und Heinlein 2015, S. 6) Dies wiederum führt dazu, dass sich das Individuum nicht mehr selbst erinnern muss, sondern dieser Prozess der Erinnerung automatisch abläuft (vgl. ebd.). Genau dieser Automatismus liegt habituellen Praktiken zugrunde: Sie laufen ab, ohne dass wir uns das dahinterliegende Wissen jedes Mal vergegenwärtigen müssen, wenn wir es anwenden wollen. Bei habituellen, dem Körper eingeschriebenen Wissensformen geht es immer um „vorbewusste Gedächtnisleistungen“ (Dimbath und Heinlein 2015), die dem Vergessen näherstehen als dem Prozess der Erinnerung oder, um mit Peter Wehling zu sprechen, Teil einer „vergessene(n) Geschichte“ (Wehling 2011, S. 174) geworden sind. Vergessen wurden sie insofern, als dass sie uns in ‚Fleisch und Blut‘ übergegangen sind und somit keiner reflexiven Bewusstwerdung mehr bedürfen – diese uns teilweise sogar verwehrt bleibt, mindestens aber im jeweiligen Handlungsvollzug hinderlich wäre. Habituelle Praktiken äußern sich performativ als „eine Art zu sprechen, sich zu bewegen, Gegenstände wahrzunehmen sowie in Emotionen und Vorlieben“ (ebd., S. 170). Als Beispiel können wir hier die Abläufe beim Führen eines Kraftfahrzeugs heranziehen. Wenn wir jedes Mal darüber nachdenken, uns also bewusst daran erinnern müssten, welches Pedal die Bremse, welches die Kupplung oder das Gas betätigt, würde uns dies im Prozess des Fahrens als Handlung behindern. Dahinter steckt in erster Linie ein Erlernen bestimmter Abläufe, das wiederum nur durch wiederholte Normalität entstehen kann. Entscheidend ist, dass im Gedächtnis keine Speicherung von Wissen stattfindet, sondern dieses vielmehr aufgrund seiner Funktionalität für die Gegenwart immer wieder aktualisiert bzw. rekonstruiert wird. Das soziale Gedächtnis lässt sich dann als Fähigkeit begreifen, unterschiedliche Formen von Wissen zu klassifizieren und auf diese Weise zur Sinnbildung in der Zeit beizutragen (Leonhard 2014, S. 206).

Wir gehen davon aus – so unsere These –, dass es sich bei dem Wissen über einen Ursprungszustand, im Sinne des So-soll-es-Sein, um verkörpertes, habituelles Wissen handelt. Dieses Wissen rücken wir in diesem Beitrag in den Fokus, da es durch die pandemische Situation einer Neuausrichtung bzw. Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen bedurfte, worauf wir im folgenden Abschnitt näher eingehen.

3 Irritation habitueller Normalität des Atmosphärischen im Zuge der Pandemie

Durch das Aufheben selbstverständlicher Praktiken und Normalitäten im Zuge der pandemischen Maßnahmen sind die Sinnbildung in der Zeit und damit die Selbstverständlichkeit habituellen Wissens gewissermaßen auch gedächtnismäßig durcheinandergeraten. Infolgedessen muss das habituelle und reflexiv an sich nicht zugängliche Wissen aufgrund der erlebten Brüche und Inkongruenzen nun reflexiv und sprachlich ausgehandelt werden. Das, was zuvor als selbstverständlich und habituell galt, bedarf einer reflexiven Zugänglichkeit, um einen Abgleich zwischen dem alten und dem neuen Normalitätszustand sicherzustellen. Dieser Abgleich passiert auf Grundlage von Irritationen, welche die Veränderungen der Alltagspraxis hervorrufen. Was als brüchig und krisenhaft wahrgenommen wird, ist etwas an sich Ungreifbares, die Atmosphäre bzw. leiblich-affektive Ebene Betreffendes, was ein körperliches Umlernen erforderlich macht. Erst in dieser Aushandlung werden dabei die Brüche zum impliziten Wissen sichtbar, das nun nicht mehr angewandt werden kann.

Besonders deutlich tritt dieser Umstand hervor, wenn wir uns der Thematik aus Sicht der Leibphänomenologie (Schmitz 1965) nähern. Leib verweist auf das, was ein Mensch subjektiv und ganzheitlich spürt. Er ist Medium eines „In-der-Welt-Seins“ (Heidegger 2006). Dass der Mensch dazu in der Lage ist, verdankt er dem Umstand, nicht nur zu leben und zu erleben, sondern sein eigenes Erleben zu erleben (Plessner 1975), zu sich selbst somit in Beobachtung zu stehen.

In der Corona-Pandemie tritt eine Ebene leiblicher Erfahrung besonders prägnant hervor und hebt sich zugleich von einem vorherigen Normalzustand ab: Das Räumliche. Schmitz unterscheidet zwischen dem, was den Leib spürbar zusammenhält (Enge) und dem Hintergrund, von dem sich die Enge abhebt (Weite). Weitung und Engung können dabei zusammenspielen (bspw. im Tanz), aber auch in Konflikt geraten (bspw. in Situationen der Angst), wobei der Konflikt zwischen Enge und Weite sowohl Folge als auch Ursache eines konflikthaften Verhältnisses zur Umwelt sein kann (Schmitz 2015, S. 20 ff.). Fokussieren wollen wir uns auf Schmitz’ Ausführungen zur leiblichen Kommunikation, verstanden als leiblich spürbare Betroffenheit bei der Begegnung mit Menschen, Tieren oder Gegenständen, die uns zur Auseinandersetzung zwingen (Schmitz 1978, S. 31 f.). Die für Georg Simmel (1989) grundlegendste Form menschlicher Interaktion durch den wechselseitigen Blick bildet auch bei Schmitz einen wichtigen Bezugspunkt. „Der Blick des anderen trifft mich engend, ich werfe weitend den meinen zurück, der den anderen engt, und so spielt sich, namentlich bei Wiederholung, die Verschränkung von Engung und Weitung ein“ (Schmitz 2011, S. 31). Schmitz bezeichnet dies als vitalen Antrieb. Im Zuge der Pandemie wird eben diese Wechselseitigkeit eingeschränkt bzw. konflikthaft – sei es durch die Verhängung von Lockdowns und die digital vermittelte Kommunikation oder die ‚Kontaminierung‘ interaktiver Situationen durch die omnipräsente Gefahr einer Ansteckung bzw. die politisch verhängten Abstandsregelungen, die es dem oder der Einzelnen verunmöglichen, in körperlichen Kontakt mit den Mitmenschen zu treten.

Lindemann (2020) kommt zu dem Ergebnis, dass wir mit den Maßnahmen der Coronakrise lernen, was uns fehlt, was also der gewohnten Normalität im Sinne des praktischen Handlungsvollzugs abhandengekommen ist. Sie argumentiert in diesem Fall mit der Unterscheidung von Körper und LeibFootnote 1 und spricht davon, dass wir „nicht nur natürliche Körper“ (seien), „die aus epidemiologischen Gründen voneinander Abstand halten sollen, sondern eben auch leibliche Berührungswesen“ (Lindemann 2020, S. 58). Gerade dieser Umstand führe dazu, dass wir „permanent aufeinander bezogen“ seien, was einen Rückzug in sich selbst kaum möglich mache. „Wir blicken andere an, werden angeblickt, werden von anderen durch Gesten und Worte berührt.“ (ebd.) Dieser Austausch wird durch die pandemische Situation verunmöglicht, suspekt oder zumindest zum Gegenstand expliziten anstelle impliziten Wissens. Im Grunde wirkte die Pandemie wie eine Art großes soziales breaching experiment (Garfinkel 1991): Sie stellt die Regeln des Alltags ebenso auf den Kopf wie unsere leiblich-affektiven Bezugsstrukturen und macht sie uns dadurch erst reflexiv zugänglich. Aus diesem disharmonischen Passungsverhältnis zwischen Welt und Selbst wie auch zwischen Leib und Kognition ergeben sich Konsequenzen und Konflikte für die Individuen, die wir im Rahmen zweier Verbundprojekte näher untersucht haben und im Folgenden darstellen wollen.

4 Methodischer Rahmen und epistemischer Status des Datenmaterials

Im Rahmen der Frankfurter Projekte „Hochschule in krisenhaften Zeiten. Eine qualitativ-explorative Studie zum Erleben der COVID-19-Pandemie unter Hochschullehrenden und Studierenden“ (Haag und Kubiak 2022; Erhebungszeitraum 2020–2022) und „Long-Covid im Hochschulbereich? Auswirkungen der Corona-Pandemie auf vulnerable Gruppen an deutschen Hochschulen“ (Erhebungszeitraum 2023) (Haag et al. 2024)Footnote 2 sowie des Hildesheimer Projekts „Pandemie und Generation“Footnote 3 wurden zwischen September 2020 und März 2023 24 Gruppendiskussionen (Bohnsack 2000) und etwa 40 qualitative Einzelinterviews (Helfferich 2014) geführt. Der Fokus aller Gruppendiskussionen und Interviews lag schwerpunktmäßig auf dem Erleben der Krise und der zukünftigen Lebensperspektive von Jugendlichen und Adoleszenten zwischen 18 und 30 Jahren während der Pandemie. Gefragt wurde nach pandemiebedingten Veränderungen in speziellen Lebensbereichen wie Arbeit, Studium, Familie, Freunde, Freizeit, Körperaktivitäten und Gesundheit. Weiter interessierte auch die spezifische Sicht der Befragten auf gesellschaftliche Veränderungen durch die politischen Maßnahmen während der Pandemie.

Innerhalb der Frankfurter Projekte wurden Studierende fokussiert, während der Schwerpunkt des Hildesheimer Projekts auf jungen Menschen in Ausbildung und Beruf lagFootnote 4. Wir gehen davon aus, dass es sich jeweils um Gruppen handelt, die von der Pandemie auf je spezifische Weise betroffen sind oder waren, und die folglich einem kollektiven Erfahrungsraum angehören (Mannheim 1964). Ziel war es u. a., diesen Erfahrungsraum zu eruieren und auf pandemiebedingte Veränderungen hinsichtlich der Zukunftsperspektive und des Selbst- und Weltverhältnisses der Jugendlichen und Adoleszenten rückzuschließen. Leitend war dabei die These, dass die Pandemie eine doppelte Unsicherheit angesichts der sowieso schon mit viel Ungewissheit einhergehenden Übergangssituationen wie Berufsstart, Studienbeginn oder Familiengründung bedingt (Kohli 1985). Um einen umfassenderen Einblick in den pandemischen Alltag Jugendlicher zu erhalten und einem berufs- oder bildungsbezogenen Bias entgegenzutreten, wurden die Samples der Projekte zusammengelegt und auf Konvergenzen wie Divergenzen hinsichtlich der pandemischen Erfahrungsweisen und Lebensweltkonstruktionen geprüft. Die identische Erhebungsmethode und das ähnliche Erkenntnisinteresse machen einen Vergleich hier möglich, wobei der unterschiedliche Erhebungsrahmen bei der Analyse kritisch mitreflektiert wurde. Es wurden nur Daten mit einbezogen, deren Vergleichbarkeit vor dem Hintergrund der Projekte gegeben war. Die Daten der Projekte wurden an anderer Stelle auch noch separat und entlang anderer Analyseschwerpunkte untersucht (s. Fußnote 2).

Für die Analyse der Einzelinterviews und Gruppendiskussionen wurden in beiden Projekten induktiv aus dem Material Kategorien gebildet, die sich sowohl auf das persönliche Erleben der Pandemie und Strategien der Alltagsbewältigung als auch auf organisationale Aspekte im Studium, bei der Arbeit oder Ausbildung bezogen. Die Daten wurden dabei sowohl entlang wissenssoziologischer Hermeneutiken (Nohl 2017) als auch der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2007) und der Grounded Theory (Glaser und Straus 2006) ausgewertet. Dieses multi-methodische Vorgehen sollte gewährleisten, dass sowohl thematische Schwerpunktsetzungen, Sinnzuschreibungen und Erfahrungsdimensionen als auch handlungspraktische Alltagskonstruktionen als Datum herausgearbeitet werden. Dies wiederum sollte die „Differenzierung unterschiedlicher Ebenen sozialer Wirklichkeit“ (Hummrich und Kramer 2018, S. 124) ermöglichen, auf denen sich die Erfahrung der Pandemie niederschlägt.

Zum epistemischen Status der erhobenen Erinnerungen sei angemerkt, dass die im Beitrag präsentierten und diskutierten Daten auf einem doppelten Erinnerungsprozess bzw. auf einem Erinnern erster und zweiter Ordnung basieren, wobei nur Letzteres – das Erinnern an das Erinnern – direkt erhoben wird. So wird in den Interviews und Gruppendiskussionen durch ein Erinnern zweiter Ordnung das eher unbewusste Erinnern erster Ordnung (an die vorpandemische ‚Normalität‘) reflexiv-sprachlich überhaupt erst zugänglich gemacht. Hierbei unterliegt das Erinnern natürlich immer einer gewissen Verzerrung durch das künstliche Interviewsetting, in dem die Erinnerungen erst erzeugt bzw. reproduziert werden. Diese Verzerrungen können weder klar benannt noch aufgelöst, sondern lediglich offengelegt werden. Mit Schütze (1984) gehen wir epistemisch aber davon aus, dass die Erzählstrukturen eine Ähnlichkeit mit den Strukturen der Erinnerungssedimente aufweisen und wir durch das eine Zugriff auf das andere haben oder zumindest Rückschlüsse darauf ziehen können. Selbstverständlich gilt auch hier, was Hirschauer (2001) für das ethnographische Schreiben feststellt: „Das soziale Original ist eine soziologische Fiktion, eine der Aufzeichnungstechnologie immanente Idealisierung“ (ebd., S. 435), die ein „‚Original‘ (d. h. einen Referenten) für den Diskurs seiner soziologischen Beobachter“ (ebd., S. 434) schafft. Wenngleich sich also gewisse Unschärfegrade nicht vermeiden lassen, so ist davon auszugehen, dass die im Interview verbalisierten Erinnerungen zwar nie eine völlige Übereinstimmung mit den zugrundeliegenden Gedächtnisinhalten oder dem Erlebnisgehalt aufweisen, aber auch nicht in signifikantem Ausmaß davon abweichen. Wer die Pandemie als belastend beschreibt, wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch so erlebt haben (und nicht als freudiges oder gleichgültiges Ereignis) und wird sie auch künftig so erinnern, selbst wenn die Einschätzung sich durch neue Kontexte und Erfahrungen verändern mag, da Erinnerungen stets ein Blick auf die Vergangenheit aus dem Hier und Jetzt heraus sind (Halbwachs 1967). So kann es also durchaus sein, dass die pandemische Belastung vor dem Hintergrund anderer Krisen rückblickend bspw. als weniger schwerwiegend eingeschätzt wird – es bleibt aber eine Belastung. So gesehen wird hier natürlich kein objektives Datenmaterial aufbereitet, aber auch kein völlig arbiträres. Die Interviewdaten lassen gezielte, methodisch angeleitete Rückschlüsse auf Erinnern und Erleben erster Ordnung zu, indem Erinnerungen zweiter Ordnung evoziert werden.

5 Analyse und Diskussion der Befunde

Im folgenden Kapitel gehen wir im Wesentlichen auf zwei Aspekte ein, die bei der Auswertung der Daten mit Blick auf Körperpraktiken und deren Veränderung durch die Pandemie besonders hervorgetreten sind: zum einen Auswirkungen der Pandemie auf atmosphärisches Erleben (I), zum anderen Körper und Leib in der digitalen Kommunikation (II). Auch wenn wir teilweise auf Gruppendiskussionen als Datenmaterial zurückgreifen, stellen wir in den ausgewählten Sequenzen nicht die Genese von Erinnerungen im Diskurs dar (also das Wie der Aushandlung), sondern fokussieren uns auf die Ebene des Was (den Inhalt).

Dieses Vorgehen resultiert aus unserem Anspruch, die beiden unterschiedlichen Projekte mit ihren spezifischen Erhebungsweisen zusammenzuführen, was uns an dieser Stelle auf der semantischen Ebene gelingt. Gruppendynamiken bilden eine davon abzugrenzende Analyseebene, die mit dem Erinnern in Einzelinterviews nur begrenzt vergleichbar sind.

5.1 Atmosphären der Gefahr, Befangenheit und Unwirklichkeit

Es zeigt sich im Datenmaterial, dass Veränderungen auf atmosphärischer Ebene erlebt werden. Atmosphären lassen sich mit Hermann Schmitz (2015) als situativ gebundene, überindividuelle Gefühle im Raum begreifen. Die Interviews legen nahe, dass ‚Normalität‘ im Sinne einer Atmosphäre gefühlt wird. Normalität erweist sich für die Befragten als etwas, das ihnen äußerlich ist bzw. äußerlich gegenübertritt – als ein Gefühl der Stimmigkeit oder Unstimmigkeit. Mit Rosa (2016) könnte man von einem Resonanz- oder Entfremdungsverhältnis sprechen. Dabei beschreiben die Befragten pandemische Alltagssituationen bspw. als repulsiv, aufgrund der erfahrenen Konfrontation mit dem Virus als einer unsichtbaren, nicht greifbaren Gefahr. Dies stellt die vielleicht ‚selbsterklärendste‘ Form der Entfremdung dar. Die Befragten können sie tatsächlich auch erklären – wenngleich sie ihre Erklärung teils für unzuverlässig bzw. unzulässig halten, wie etwa die Befragte, die in folgendem Zitat ihr Verhalten halbernst als ‚paranoid‘ einstuft:

„Ich bin beim Supermarkt zum Beispiel ein bisschen (.) das Wort ist jetzt ein bisschen negativ assoziiert glaube ich, aber ich bin da so ein bisschen paranoid bei so ein paar/also generell: ich komme rein und denke direkt es ist alles, wie heißt es, infiziert also ich werde mich auf jeden Fall bei irgendwas anstecken obwohl ich die Maske auf habe und alles, aber ich denke direkt, wenn ich nur jemandem stehe, was natürlich gar nicht sein kann, aber dass ich da direkt schon (.) ja das Virus kriegen könnte, auch wenn Leute husten, ich meine Leute husten aus so viele Gründen, aber jetzt denke ich natürlich bei jedem husten oh mein Gott jemand ist hinter mir und hustet und ich weiß nicht, ob ich angehustet wurde, ich muss eigentlich meine ganzen Klamotten jetzt verbrennen, weil ich sonst sterbe, also jetzt übertrieben gesagt, (..) auch die Produkte die ich anfasse im Supermarkt, da mag ich auch nicht mehr das vorderste Produkt nehmen, weil ich dann irgendwie das Gefühl habe, das könnten ja schon viele angefasst, aber wieder zurückgelegt haben, deswegen nehme ich immer dann eins aus der Mitte oder weiter hinten auf jeden Fall, nur um nicht das verseuchte Produkte zu nehmen, woran ich dann bestimmt sterben werde gefühlt.“ (Einzelinterview Lehrerin)

Die Befragte beschreibt hier das Gefühl einer lauernden Gefahr, die nicht verkörpert oder punktuell, sondern transsituativ existiert und als Angst quasi-atmosphärisch wird. Die Gefahr geht von den alltäglichsten Dingen aus, weswegen sich das Gefühl der Angst über fast alle Bereiche des Lebens legt – das meint insbesondere öffentliche Orte, an denen die Befragte sich durchgehend verwundbar fühlt, aufgrund der nicht sichtbaren und nicht kontrollierbaren Gefahr, die von den gefühlt omnipräsenten Viren ausgeht. Größtenteils werden durch diese Angst aber körperpraktische Tätigkeiten einschränkt (vgl. Opitz 2020). Dieses deutliche Angstgefühl kontrastiert mit einem ‚alten‘ Wissen, das ihr zwar bis zu einem gewissen Grad reflexiv zugänglich ist, das aber opak und sprachlich schwer zu greifen bleibt. Das implizite Alltagswissen und die affektuelle Neubesetzung des öffentlichen Raums geraten hier in Konflikt zueinander und sorgen dafür, dass das Verhältnis der Befragten zur Welt konflikthaft wird, weil das bislang als „normal“ Geltende nun „unnormal“ wird. So bleiben Produkte im Supermarkt ein profanes, aber begehrtes Gut und werden zugleich zu tabuisierten potenziellen Krankheitsträgern. Auf dieses Dilemma reagiert die Befragte mit einer neuen, angepassten Handlungsstrategie, die aber scheinbar nur einen Kompromiss und keinen routiniert-eingeschliffenen Lösungsansatz indiziert.

Auch in den weiteren Beispielen verdeutlicht sich ein Konfliktverhältnis zwischen einem implizit gewussten ‚Urzustand‘ und dem gegenwärtigen Gefühl der mangelnden Übereinstimmung damit:

„Man hat das Gefühl die Welt ist irgendwie ein bisschen stehen geblieben und das Leben seit Februar ist einfach komplett anders und das fühlt sich auch schon sehr komisch an. Auf der anderen Seite muss ich sagen ist jetzt Oktober und man hat das Gefühl man lebt damit halt auch schon so völlig also dass der Alltag wirklich völlig nach Corona gerichtet. Also sobald man rausgeht hat man eine Maske dabei, hat man das dabei (lacht) und ja es fühlt sich eigentlich mittlerweile schon fast normal an“ (Einzelinterview Polizistin)

Im Zitat der Polizistin stehen Körperpraktiken im Vordergrund, v. a. das Erlernen neuer Routinen, versinnbildlicht durch das Tragen der Maske als körperlichem Wahrzeichen und Mahnmal der Pandemie. Der konflikthafte Weltbezug verkörpert sich hier im Bemerken eines Fremdheits- bzw. Entfremdungserlebnisses: Es fühlt sich nach wie vor „komisch“ an, es fühlt sich einerseits an „wie normal“, gleichzeitig aber auch „nicht so, wie normal“ – etwas „stört“ und „funktioniert nicht“. Diese Beschreibungen erfolgen alle ex negativo: Ein irgendwie gewusster Normalitätshorizont fungiert hier als impliziter Maßstab, vor dem die gegenwärtige Erfahrung bewertet wird und von dem sie abweicht. Erfahren wird, so können wir es in eigenen Worten wenden, eine Atmosphäre der Unwirklichkeit und Irritation.

Der Referenzwert für diese Entfremdungserfahrungen ist dabei gerade nicht in ihrer diametralen Entsprechung – einem starken Resonanzerleben – zu suchen (vgl. Rosa 2016, S. 316 ff.). Betroffen sind vielmehr viele jener Aspekte, die im Alltag zuvor nebenbei verlaufen sind, ohne dass ihnen groß Beachtung geschenkt wurde. Der Einkauf im Supermarkt war früher keine „Resonanzoase“ – er war vergleichsweise neutral besetzt. Damit war er aber ein tragendes Element für das „Existenzgefühl der Getragenheit“, d. h. für eine Welthaltung im (semi-)stabilen Gleichgewicht (vgl. ebd., S. 387 f.). Der ‚unproblematische‘ Einkauf war Teil eines weitestgehend ‚stimmigen‘ Alltags, der den Rahmen für die Erfahrung von Resonanz erst schuf und die nun erschwert scheint. Genauer gesagt liefern die Interviewdaten Argumente für die These von nicht nur punktueller und situationsspezifischer, sondern eben dispositionaler Entfremdung – die Welthaltung der Befragten hat sich grundlegend verändert. Viele fühlen sich nicht mehr grundsätzlich aufgehoben, sondern „von allen Seiten bedroht“. Das existentielle Gleichgewicht scheint labil geworden (vgl. ebd., S. 390).

Im folgenden Zitat einer Studierenden aus einem nichtakademischen Haushalt steht zunächst keine Aushandlung über körperliche Praktiken im Fokus. Vielmehr äußert sie sich vergleichend zum Studium vor und während der Pandemie und nimmt dabei einen semantischen Abgleich zwischen einem vorherigen Normalitätszustand und der Infragestellung dieser Normalität durch die Pandemie vor:

„Also ich kannte das Studium, ich hatte das Glück, erste Semester ohne Corona an dieser FH zu studieren. Also ganz normal zu studieren unter normalen Bedingungen. Kam dort an, habe mich eingeschrieben, da lief alles reibungslos. Und dann irgendwann mitten im zweiten Semester oder ich weiß gar nicht, ob das im zweiten Semester, also ziemlich zum Ende sogar, als die Klausuren angefangen haben, dann kam halt Corona, dann kamen diese Lockdowns, dann kam das und also es wurde immer enger und enger. Ich hatte den Vergleich, ich wusste, wie unter normalen Umständen das Studium sich ereignet, also ganz normal. Und dann halt Gegenentwurf, dann die Corona-Pandemie.“ (Gruppendiskussion Studierende)

Das Normalitätsempfinden wird durch die Erfahrungen der Pandemie, insbesondere der Lockdowns, gestört und führt zu einem Gegenentwurf, der auch als neue Normalität umschrieben werden könnte. Das zu Beginn des Zitats verwendete Präteritum deutet auf eine Erfahrung in der Vergangenheit hin. Die Befragte kannte etwas und zwar in diesem Fall das Studium vor der Pandemie. Sie hat somit eine direkte Vergleichsfolie und schildert im weiteren Verlauf zunächst ihr damaliges Erleben. Obgleich die verwendete Zeitform des Präteritums auch für das Einsetzen der Pandemie verwendet wird, sodass deutlich wird, dass auch dieses Erleben sich auf die Vergangenheit bezieht, drückt sich hier dennoch ein Bruch mit der – gewissermaßen – Vorvergangenheit (präpandemisch) aus, was durch den Verweis darauf verdeutlicht wird, dass sie „wusste, wie unter normalen Umständen das Studium sich ereignet“. Es gibt also etwas Normales und etwas, das davon abweicht und somit auch das Wissen irritiert. Die Befragte greift mit dem Adjektiv „enger“ im weiteren Verlauf des Zitats auf eine körperliche Empfindung zurück, ohne diese weiter auszuführen. An dieser Stelle kann nur gemutmaßt werden, was sie damit meint. Denkbar ist ein Gefühl der Verengung des räumlichen Erlebens bezogen auf die Lockdowns, die ihren Bewegungsradius eingeschränkt haben.

Zwei weitere Befragte spezifizieren das atmosphärische Erleben noch einmal etwas näher:

„Ich vermisse am meisten, ich bin jemand der sehr viel nachdenkt, aber ich würde gerne über andere Sachen nachdenken und vielleicht freier Sachen machen zu können, also mich frei, frei zu bewegen, also richtig frei zu bewegen und nicht darüber nachzudenken ah da kommt mir jetzt gerade an einem schmalen Weg jemand entgegen und ich muss irgendwie Platz machen.“ (Einzelinterview Beraterin)

„Ich versuche die Krise häufig auch als eine Chance irgendwie zu sehen, also so war es insbesondere am Anfang. Gleichzeitig habe ich aber das Gefühl, dass, also fühle ich mich sehr machtlos mit der Situation, weil ich halt zu Hause sitze vor meinem Computer und es allein schon daran scheitert, dass man sich irgendwie mit vielen Menschen treffen kann und über gewisse Dinge austauschen kann oder irgendwelche Aktionen oder sonstiges zu planen. Also sowas wie ein sich Organisieren findet irgendwie nicht mehr statt, und oder wenn auch nur sehr begrenzt, und dadurch habe ich auch das Gefühl, dass ich so, ich habe viele Gedanken und viele Hoffnungen irgendwie, aber sitze damit doch ziemlich alleine zu Hause, und habe das Gefühl, ich kann da doch irgendwie relativ wenig machen, also da finde ich es dann doch irgendwie ein bisschen überwältigend auch, ja.“ (Gruppendiskussion Studierende)

Hier lassen sich weitere ‚atmosphärische Muster‘ identifizieren: Das Gefühl fehlender Freiheit sowie Gefühle der Überwältigung, Ohnmacht und von mangelnder Unbeschwertheit. Routinen werden obsolet, Gewissheiten brüchig, Planbarkeit und Sicherheit gehen verloren. Die Welt erscheint unwirklich – weil anders UND nicht bewältigbar. Mit Alfred Schütz (1971) gesprochen wirken die alltäglichen Dinge nicht mehr natürlich, selbstverständlich und unhinterfragbar gegeben, sondern als ständiger Quell der Irritation und Reibung. Ihre emotionale Besetzung ist uneindeutig ebenso wie die Affordanzen, d. h. die Handlungsangebote (Gibson 1982), die davon ausgehen. Der Alltag ist konfliktbesetzt, und zwar in gleich dreifacher Hinsicht: Die Befragten stehen 1) im Konflikt mit sich selbst: Das Gewissen oder bestimmte Ängste stehen in Konflikt mit alltäglichen Wünschen nach Freiheit, sozialen Begegnungen usw. Gleichzeitig stehen sie 2) in Konflikt mit abstrakten Mächten wie Politik und Virus, denen man sich ausgeliefert fühlt. Und nicht zuletzt sieht man sich 3) im Konflikt mit den Mitmenschen, deren Verhalten den eigenen Interessen oft entgegenzulaufen scheint.

Mit Plessner (1975, 1982) ließe sich ergänzend sagen, dass die Befragten dauerhaft ‚außer sich‘ stehen und sich in Selbstbezüglichkeit verlieren. Sie kommen nicht mehr ‚zu sich‘: Die Leichtigkeit des Seins in Selbstvergessenheit geht auf in reflexiven Dauerschleifen, in einer Verkopftheit oder auch einer ständigen Hab-Acht-Stellung. Die Umwelt tritt beständig als problematisch gegenüber – in Form von Masken, Abstandsregeln, Inzidenzwerten – und wird im Gegenzug ständig selbst problematisiert, indem überlegt, abgewogen, eingeschätzt, beachtet, vermieden usw. wird. Das Geschehen erweist sich dabei als höchst volatil: Es folgt keiner Logik, sondern einer Erratik. So verschließt es sich einer Einhegung durch Routine und wird zum dauerschwelenden Konfliktherd.

Diese Konflikte ließen sich mit Schütz auch als eine „Krisis“ des Bewusstseins und der Praxis verstehen, da vielleicht nicht alle, aber viele der basalen alltäglichen „Relevanzsysteme“ umgestürzt werden (Schütz 2002, S. 79). Anders ausgedrückt: Das Denken-wie-üblich bzw. die relativ natürliche Weltanschauung wird in beinahe allen ihren konstitutiven Elementen angegriffen: Einst verlässliches Wissen bricht weg (‚man kann ins Kino gehen‘, ‚neben anderen Menschen stehen ist ungefährlich‘ etc.), es entstehen völlig neue Typen von Problemen, für deren Lösung kein Rezeptwissen existiert, v. a. kein allgemein anerkanntes und kollektiv geteiltes (‚Soll ich einen großen Bogen um Menschen auf dem Gehweg machen?‘, ‚Sollten Schulen geschlossen werden?‘). Dieses muss erst wieder erarbeitet und ausgehandelt werden (alternative Grußrituale, Schnelltests etc.). Der wichtigste und zentralste Aspekt aber, der nicht zuletzt auch auf die Welthaltung Einfluss hat, ist der, dass der Glaube daran, dass „das soziale Leben weiterhin immer so sein wird, wie es gewesen ist […] und dass deshalb unsere früheren Erfahrungen genügen werden, um zukünftige Situationen zu meistern“ (ebd.) erschüttert wird und mit dieser prospektiven Überzeugung eine grundlegende Sicherheit und damit das Weltvertrauen im Allgemeinen ins Wanken gerät. Aus Sicht der Resonanztheorie (Rosa 2016) sinkt damit die Wahrscheinlichkeit, Resonanzachsen und Antwortbeziehungen aufzubauen. Die Menschen erfahren die Welt im besten Fall als stumm, im schlimmsten Fall als feindlich.

5.2 Deprivierung, Irritation und Entfremdung von Körper und Leib in der Kommunikation

Wie die nachfolgenden Interviewausschnitte verdeutlichen, wird neben einer Veränderung des atmosphärischen Erlebens auch die Selbstverständlichkeit der reziproken Berührung im Blick des jeweils Anderen in Frage gestellt, was bei den Befragten erneut ein Gefühl hervorruft, das sie nicht greifen können. Dies fällt besonders unter der Gruppe der Studierenden auf, die sich bedingt durch die digitale Lehrvermittlung in einer nicht nur mental, sondern vor allem auch körperlich unbekannten Sphäre bewegen:

„Ich hatte letztens, also tatsächlich gestern ein Treffen mit Projektpartnern aus unserem Forschungsprojekt gehabt, mit denen wir schon viel Kontakt über Zoom etc. haben, und das war eine sehr interessante Erfahrung, weil zum einen sieht man die Leute zum ersten Mal, und zum anderen kennt man sie ja eigentlich schon durch Onlinekonferenzen, das war ein sehr interessantes und skurriles Gefühl, was man so hatte, also ich kann es kaum in Worte fassen, aber ja, es war im Prinzip so, man sieht komplett neue Menschen und man sieht auch mal den Unterbau des Körpers, also unterhalb des Halses, und ja, also daran merkt man doch denke ich, dass sich wirklich eins zu eins zu sehen, das ist einfach nochmal viel wichtiger.“ (Gruppendiskussion Studierende)

An dieser Stelle werden die Ausführungen zur leiblichen Wahrnehmung von Schmitz relevant, die der bewussten Wahrnehmung vorausgehen und zum phänomenologischen Ausgangspunkt für das Erspüren des Atmosphärischen werden (Burow 2022). Atmosphären lassen sich dann losgelöst vom Einzelnen als Stimmungen im Raum begreifen, die zwischen Menschen und um sie herum stattfinden und somit die Leiblichkeit im Sinne einer körperlichen Erfahrung des Seins ansprechen. Die Leichtigkeit beim Anblick eines glücklichen Brautpaares oder die bedrückende Stimmung bei Spaziergängen während der Corona-Pandemie wirken unmittelbar leiblich. Lässt sich ein Mensch von der Atmosphäre überwältigen, spricht Schmitz vom „affektiven Betroffensein“ oder der „Ergriffenheit“. In diesem Fall ist es nicht anders möglich, als „dabei sich selbst zu spüren und in diesem Sinne auf sich selbst aufmerksam zu werden, selbst wenn er darüber gar nicht nachdenkt, gar nicht reflektiert, sondern wie ein Tier oder ein Säugling ganz naiv ist“ (Schmitz 2019, S. 13).

Besonders gravierend wird der Konflikt zwischen Leibhaftigkeit und distanzierter Kommunikation vor allem dann, wenn Menschen bedingt durch Beeinträchtigungen auf das Körperliche als eingeübte Praktik der Kommunikation angewiesen sind. So beschreibt ein Studierender, der seit der Geburt vollblind ist, seine Erfahrungen während, aber auch nach der Pandemie mit den folgenden Worten:

„Also, in meiner Blindheit bin ich darauf angewiesen, mit Menschen in Kontakt zu kommen, haptische Berührung zu haben, Menschen anzusprechen. Und das ist in der Pandemie ganz klar schlechter geworden. Die Menschen sind nicht so kommunikativ, sind es nicht gewohnt, mit anderen Menschen zu sprechen. Des Weiteren auch nicht gewohnt, auf andere Menschen zuzugehen und zu fragen ey, brauchst du eigentlich Hilfe? Das ist nicht zu verallgemeinern, gar keine Frage, aber es gibt da so einen ganz, ganz leichten Trend, würde ich sagen zu mehr Anonymität und zu weniger Kontaktfreudigkeit, Interesse und Gesprächsführung.“ (Studierende mit Beeinträchtigung)

Was im obigen Zitat zum Ausdruck kommt, ist eine leiblich wahrgenommene Veränderung im Hinblick auf die Bereitschaft, dem oder der Nächsten körperlich erfahrbar zu begegnen, was insbesondere in diesem Fall wichtig ist, wenn es um Fragen der Alltagsbewältigung geht (z. B. Einstieg in öffentliche Verkehrsmittel). Die gewohnte Praktik des Ansprechens Fremder für die Hilfeleistung bei Alltagsaufgaben wird zunehmend schwieriger, was dazu führt, dass der Befragte sich „lieber fernhält (…) vieles über Nonverbalität (regelt), was nicht so leicht ist“. Während im Alltag das Fehlen körperlicher Kontakte erschwerend wirkt, stellt er im Digitalen hingegen heraus, dass hier das Visuelle in den Hintergrund getreten sei, was für ihn von Vorteil war.

„Vorher in der Vorlesung war für mich immer so das Ding, ich habe mich dann gemeldet und dann wusste ich aber nicht, wenn der Professor mich drannimmt, weil er mich nur anguckt und ich das dann nicht merke und dann auch ja, wie sind die Reaktionen der anderen.“ (Studierende mit Beeinträchtigung)

Visualität im Sinne körperlicher Praktik wird bedingt durch die Beeinträchtigung zum wesentlichen Marker des pandemischen Erlebens. Das obige Zitat verdeutlicht sehr anschaulich den Bruch zwischen einem als selbstverständlich geltenden Wissen (Schütz 1971), sich auf andere verlassen und die Hilfe anderer auch antizipieren zu können. Genau dieser leibliche Spürsinn einer blinden Person im Sinne körperlichen Erlebens Anderer bzw. als Wissen um die Reaktionen der anderen und damit um das In-Beziehung-Treten kehren sich mit der pandemischen Erfahrung sozialer Distanzierung in eine Verunsicherung. Durch die digital vermittelte Kommunikation und somit die Abwesenheit von Körpern im Raum erfährt die ursprünglich leibliche Begegnung andererseits eine neue Qualität, indem durch den Wegfall des Visuellen eine Form von Erleichterung gespürt wird. Speziell für die digital vermittelte Kommunikation in Zeiten der Pandemie wird deutlich, dass sie Möglichkeiten bietet, sich der Unmittelbarkeit im Erleben der Körperlichkeit zu entziehen. Darin lässt sich auch eine Form der Selbstbestimmung und Emanzipation erkennen, die wir etwa bei Studierenden in den pandemischen Semestern beobachten konnten: Sie haben selbst entschieden, wann sie sich mit Hilfe ihrer Kamera zeigen oder sich der Sichtbarkeit entziehen. Die Gefahr besteht nun aber darin, dass damit die Möglichkeit der wechselseitigen Berührung einseitig unterbrochen wird. Denn wenn man sich im virtuellen Raum dem Blick des Anderen entzieht, ist leibliche Kommunikation nicht mehr möglich. Dieser Selbstentzug führt zu einer kollektiven Verunsicherung, wie dieses Zitat belegt:

„Ich habe auch das Gefühl, dass diese online-Räume in dem Sinn kein sage ich mal sicherer Raum sind, weil man halt doch nie wirklich weiß, okay, ist da noch jemand im Hintergrund, wer ist im Hintergrund? Und so weiß man halt auch nie, wenn die Bildschirme halt dunkel sind sage ich mal, also kein Bild da ist, keine Videoaufnahme, wer ist eigentlich noch da, ist die Person jetzt überhaupt da und ich weiß nicht, ich finde das halt, diese Vertrautheit, diese, ja, diese, also diese Abgeschottetheit in Anführungsstrichen, die ist halt so online nicht mehr gegeben.“ (Gruppendiskussion Studierende)

Die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit im digitalen Raum scheint uns zum Teil rückführbar auf einen Verlust jenes affektiven Betroffenseins, das Hermann Schmitz als solidarische Einleibung bezeichnet. Gemeint ist eine Form leiblicher Kommunikation, die nicht antagonistischer Art ist. Auf Konzerten oder beim gemeinsamen Singen entsteht ein übergreifender Leib nicht im Austausch, sondern durch den gemeinsamen Fokus auf das gleiche Ereignis oder die gleiche Aktivität. Draus geht ein Zustand der „communitas“, ein sehr spezifisches, situativ-leibliches Zugehörigkeitsgefühl bzw. das Gefühl eines Aufgehens im Gemeinschafts-Körper (Turner 1989) hervor. Die pandemische Situation steht der Entstehung dieses communitas-Gefühls oft entgegen, wie auch das folgende Zitat zeigt:

„Also prinzipiell haben zum Beispiel Kinos inzwischen wieder offen, aber ich fühle mich da einfach unwohl jetzt noch mich wieder mit meinen Kinokumpel zu treffen und zu sagen, jo dann gehen wir einfach mal, weil ich ganz genau weiß, dass selbst wenn wir reingehen sollten und alles auch sicher ist, dass ich dann dreißig Sitze neben ihm sitze und nicht neben ihm, verstehst du? Das heißt ich sitze dann irgendwie entfernt und dann ist es doch ein anderes Gefühl, als wenn man nebeneinandersitzt.“ (Einzelinterview Informatiker)

Die Distanzierung der physischen Körper scheint hier zur Verhinderung leiblichen Einschwingens zu führen. Man macht zwar etwas zusammen, es kommt aber kein Gefühl der Gemeinsamkeit auf. Solidarische Leiblichkeit scheint also nicht nur auf körperliche Kopräsenz angewiesen, sondern auch auf ein bestimmtes Nähe-Distanz-Verhältnis. Den Befragten tritt diese Veränderung insbesondere als atmosphärische Erkenntnis ins Bewusstsein: Man fühlt sich unwohl, das Gefühl ist nicht gut, die Situation wirkt anders als sonst, Menschen werden als entfernt und die Kommunikation als indirekt erlebt.

Wir sehen aber auch hier, dass dieser Erkenntnis eine vergangene Kontrasterfahrung zugrunde liegt, die erinnert wird. Erinnert wird aber nicht kognitiv-reflektierend und auch nicht körperlich-motorisch, sondern: leiblich-affektiv, auf der atmosphärischen Ebene im Sinne „holistische(r) affektive(r) Qualitäten von räumlichen Umgebungen oder interpersonalen Situationen“ (Fuchs 2013, S. 22). Dabei empfinden wir Atmosphären meist „nicht als etwas mit sich Geführtes“ (ebd.), wir begegnen ihnen eher „als einhüllende Auren, die vom umgebenden Raum ausstrahlen. Daher können sie auch in einem Kontrast zur eigenen Stimmung stehen“ (ebd.), so Fuchs. In den vorliegenden Fällen ergibt sich aber kein Kontrast zu einer aktuellen Stimmung, sondern zu einer erinnerten Stimmung. Die Befragten erinnern sich leiblich, wie sich der Kino- oder Konzertbesuch früher ‚angefühlt‘ hat, und erfahren, wie er sich jetzt anfühlt. Im Rahmen dieser Diskrepanz entsteht ein grundlegendes Unwohlsein. Dem schließt sich oft noch ein weiterer leiblicher und schließlich handlungspraktischer Konflikt an, nämlich dann, wenn sich die leibliche Intentionalität spaltet: Die Erinnerung an die positiven Erlebnisse löst dann eine Weitungstendenz – den Wunsch nach Gemeinsamkeit aus –, während Gefühle wie die Angst vor Ansteckung zugleich eine Engungstendenz bedingen. Weitungswunsch und Engungstendenz konfligieren miteinander und sorgen für Irritation bis hin zur Handlungsstarre.

Dass Gefühle und insbesondere Emotionen sinn- und orientierungsstiftend sowie handlungsleitend wirken, ist keine neue Erkenntnis (Fuchs 2014, S. 15 ff.). Auch nicht, dass widerstreitende Gefühle Handlungsdispositionen verunsichern können (Bub 2014). Interessant ist aber eben, dass sich Konflikte in den betrachteten Fällen nicht bzw. nicht nur aus akuten, sondern auch aus erinnerten leiblich-affektiven Qualitäten ergeben, die als konsolidierter Maßstab und als Kontrastfolie fungieren.

6 Fazit – Leiblich-atmosphärisches Erinnern als Konflikt-Seismograph

Wenn wir die Ausführungen zusammenfassen, erkennen wir, dass die körperlich-habituellen Gewissheiten ins Spüren einer Andersartigkeit übergehen. Sie treten nun erstens sehr klar ins Bewusstsein, wenngleich sich die Veränderungen schwer verbalisieren lassen. Zweitens können wir darin eine Umkehr des non-deklarativen Gedächtnisses erkennen: Geronnene Gewissheit, die in ‚Fleisch und Blut‘ übergeht, wird zu irritierter Gewissheit, die reflexiv zugänglich gemacht werden muss, um sie verarbeiten zu können. Der beschriebene Normalitätsabgleich ähnelt eher einem Einfühlen und Abtasten und deutet sogleich das Konflikthafte der Erfahrungen in der Pandemie an. So spüre ich bspw. im Supermarkt, dass die Blicke der Menschen eine andere, ‚komische‘ Qualität haben, beginne vermittelt darüber konkret nachzudenken und merke schließlich, dass ich meine Maske nicht aufgesetzt habe. Im Zentrum stehen atmosphärische Färbungen und Impressionen im Sinne einer somatischen Heuristik. Mit Robert Gugutzer (2002) könnten wir hier auch vom „Spürsinn bzw. von einer spürenden Orientierung zur Welt“ (ebd., S. 117) sprechen. Nur dass die „sinnliche und spürende Wahrnehmung einer Situation“ (ebd.) hier nicht zu Verhalten führt, das „situationsangemessen“ (ebd.) ist, sondern als Sensor für Unangemessenheiten fungiert – als eine Art ‚Konflikt-Seismograph‘. Dies löst dann meist Korrekturbestrebungen in praktischer oder mentaler Hinsicht aus. Die Pandemie konfrontiert das non-deklarative Gedächtnis also ohne Ablass mit Passungsdefiziten, für die es aber keine standardisierte Lösung gibt und die sich als dauerhafte Irritation der natürlichen Einstellung fortsetzen – zumindest so lange, bis neue Praktiken habituell geworden sind.

Im Rahmen der pandemischen Sondersituation hat sich somit eine Erosion und Neujustierung der Sein- und Sollens-Werte vollzogen. Anders als etwa kognitive Dissonanzen werden jene Prozesse vor allem atmosphärisch erfahren und erfasst. Die Akteur:innen erinnern vermittelt über das non-deklarative Gedächtnis, d. h. leiblich-affektiv, einen Soll-Zustand. Im Abgleich mit der gegenwärtig-situativen Atmosphäre entsteht so ein implizites Wissen über den momentanen Ist-Zustand. Unter den pandemischen Bedingungen wird die Polarität zwischen Ist- und Soll-Zustand vor allem als Bruch oder körperlich-leibliche Entfremdung erfahren. Die selbstverständliche, holistisch erlebte Alltagswirklichkeit weicht dabei einer Reihe unverständlicher und konfliktbehafteter Einzelsituationen. Unsicherheit, Ohnmacht, Unfreiheit und Gefühle des Isoliert-Seins dominieren und erschweren oder verunmöglichen die Erfahrung von Normalität, die aber als Erinnerung und Vergleichsfolie fortwirkt. Erst durch Reflexion und gezielte Anstrengungen – die Befragten sprechen oft davon, den Alltag sehr bewusst zu planen und zu strukturieren – gelingt es zumindest partiell, die natürliche Einstellung zurückzugewinnen. Viele soziale Situationen, gerade solche, die auf leiblicher Interaktion beruhen, versperren sich aber Anpassungsleistungen und behalten einen atmosphärischen ‚Beigeschmack‘.

Was bedeutet das theoretisch? Wir wollen unsere Befunde abschließend nochmal in drei Thesen zusammenführen:

Erstens : Resonanz- bzw. Entfremdungserfahrungen sind relativ

Im Zuge der Pandemie haben Menschen in vielen Teilen des Alltags Entfremdungserfahrungen gemacht oder Resonanzverlust erfahren. Der Resonanzverlust, so zeigen unsere Daten, lässt sich meist nur bedingt anhand der Strukturen der aktuellen Situation erklären. Vielmehr sind die Erfahrungen von Entfremdung oder Resonanzverlust stark gebunden an Erwartungen und vorangegangene Erfahrungen, sie sind also relativ. Sie werden vermindert oder verstärkt durch vorhandene leiblich-affektive Erinnerungen, die als Vergleichsmaßstab dienen. Entfremdung und Resonanzverlust wurden vor allem dadurch befördert, dass alltagsweltliche Sicherheit aus dem ‚Gleichgewicht‘ geriet, d. h. das Denken-wie-üblich herausgefordert wurde und alltägliche Relevanzsysteme weggebrochen sind.Footnote 5

Zweitens: Leiblich-affektives Erinnern evoziert Problembewusstsein

Die entstehenden Passungsdefizite zwischen erinnerten und aktuellen Gefühlsqualitäten können zu Irritationen und Konflikten führen. Diese wiederum lösen Reflektionsprozesse aus und führen dazu, dass Probleme kognitiv zugänglich werden und intentional behandelt werden können bzw. behandelt werden ‚wollen‘: Das wahrgenommene Missverhältnis fordert zur Auflösung dessen auf.

Drittens: Gefühle und Erinnerung fungieren gemeinsam als leibliche Bewertungsstrukturen

Bei Sebald (2016, S. 109) heißt es: „Emotionen selbst können in ihrer Qualität auch nicht erinnert werden“. Während mit Sicherheit richtig ist, dass Betroffene durch Erinnerung nicht die exakt gleiche leiblich-affektive Betroffenheit wie in der Vergangenheit erfahren, so legen unsere Daten nahe, dass bestimmte affektive Qualitäten sich doch im Gedächtnis sedimentieren und auf der leiblichen Ebene zumindest partiell abrufbar und erinnerbar sind. Sie unterliegen eben nicht völlig dem Vergessen, sondern strukturieren unser Selbst- und Weltverhältnis im Hintergrund beständig mit (vgl. Fuchs 2014, S. 15).

Dies spricht dafür, dass leibliche Gedächtnispraktiken in ihrer Bedeutung für menschliches Handeln stärker berücksichtigt werden müssen. Wie der Beitrag zeigen konnte, liegt hierin ein großes Potenzial für das Verständnis der Entstehung, aber auch der Reflektion und Behandlung von Konflikten auf individueller und interindividueller Ebene.