1 Einführung

Bei der empirischen Beobachtung gelingender Alltage – etwa im Kontext beruflicher Arbeit, worauf ich mich hier beispielhaft beziehe – ist es schwer, Veränderung von Alltag nachzuvollziehen. Wie verändert sich Alltag? Ist diese Veränderung wahrnehmbar? Und was genau ändert sich unter welchen Bedingungen? Diese Fragen stellen den Kontext für die folgenden Überlegungen zur empirischen Rekonstruktion und Beschreibbarkeit einer sich alltäglich vollziehenden Dynamik.

Mich interessiert, woran sich Veränderungen des Alltags empirisch, situativ erkennen und wie sie sich theoretisch verstehen lassen. Die Untersuchung von der Veränderung alltäglicher Abläufe nehme ich im Kontext praxistheoretischer Überlegungen vor. Das heißt, ich verstehe Alltag zunächst einmal als spezifische Aneinanderreihung wiederkehrender Praktiken. Im Kontext dieser Praktiken machen Menschen Erfahrungen, die strukturell in der „Alltagswelt“ (Berger und Luckmann 2004) verankert sind. Für eine alltagssoziologische Perspektive auf Praktiken hat die von Andreas Reckwitz (2003, S. 297) formulierte Herausforderung, „genauer die Bedingungen [zu] spezifizieren, unter denen eine Reproduktion und jene, unter denen eine Modifikation von Praktiken wahrscheinlich wird“, eine nach wie vor bestehende Gültigkeit und ich nehme sie zum Anlass, Veränderungen im Alltäglichen unter praxistheoretischen Vorzeichen zu diskutieren. Dazu lege ich den Fokus auf die Auseinandersetzung mit den Konzepten von Rationalität in Alltag und Praxis bei Alfred Schütz, Harold Garfinkel und schließlich innerhalb praxistheoretischer Denkansätze. Das Ziel des Beitrags ist, Rationalität als Referenzgröße für die empirische Rekonstruktion von Veränderung in Praktiken herauszustellen. Illustrieren möchte ich die theorie-konzeptionellen Überlegungen anhand ausgewählter Daten meiner ethnografischen Studie zur Architekturerfahrung im Arbeitsalltag (Neubert 2018), die ich mir für diesen Beitrag erneut vorgenommen habe.Footnote 1

Insbesondere bei ethnografischer Forschung in alltäglichen Arbeitskontexten handelt es sich im Großen und Ganzen um ein Beiwohnen im Eingerichteten. Im Forschungsinteresse stehen hier die Praktiken des AlltagsFootnote 2, gerade unter den Bedingungen der Reproduktion, um das alltägliche „Funktionieren“ (Reuter und Lengersdorf 2016, S. 368) in seinen thematischen Bezügen empirisch herauszuarbeiten und die wiederkehrenden Bedingungen dafür benennen zu können. Selbst die „‚kleinen‘ Krisen“ (Antony und Adloff 2016, S. 2) des Alltags, die man als Forschende*r im Feld auslöst, dienen eher dem Aufdecken des Regelhaften und Gewohnten, als dass sie die beforschten Teilnehmer*innen ernsthaft aus ihrem Alltag bringen könnten (Breidenstein et al. 2013, S. 37). Alltag ist die soziologische Forschungsperspektive, die auf die Praxis der Teilnehmenden fokussiert ist (Hörning 2001) und in einzelnen Praktiken eine spezifische Dynamik zwischen viel Wiederholung und nur wenig wahrnehmbarer Veränderung herausstellt.

Alltägliche Dynamik – so argumentiere ich – soll der Heuristik solcher, kaum auffälligen Anpassungen und Veränderungen des Alltags dienen. Die damit formulierte Vermutung ist, dass Alltag grundsätzlich dynamisch, beweglich und anpassungsfreudig ist und man dies mit der Scharfstellung auf Verschiebung bzw. Infragestellung von Rationalitäten sozialer Praktiken in den Blick nehmen kann. Anders gesagt: Empirisch lassen sich Veränderungen von und im Alltag anhand von Rationalisierungsprozessen in sozialen Praktiken gut beobachten. Um dies zu argumentieren, diskutiere ich klassisch alltagssoziologische Konzepte von Rationalität und setze sie in Bezug zu praxistheoretischen Grundannahmen, um deutlicher auf das Wie der empirischen Erhebung alltäglicher Veränderung zu sprechen zu kommen. Damit knüpft dieser Beitrag auch an Perspektiven auf Forschungspraxis und die Reflexion von (insbesondere ethnografischer) Datenproduktion an, die zuletzt dezidiert unter einer praxistheoretischen Perspektive diskutiert wurden (Ploder und Hamann 2021; Meier zu Verl 2018).

Der Aufbau des Textes ergibt sich folgendermaßen: Zunächst (1) sondiere ich theorieintern bei Alfred Schütz und Harold Garfinkel nach begrifflichen Entwürfen von Veränderung in Alltag und Praxis. Die Eigenheiten der Rationalität von subjektiven Handlungen bei Schütz und intersubjektiver Rationalisierungsleistung bei Garfinkel geben Anhaltspunkte, davon auszugehen, dass Veränderung von Beginn an in die Beschreibung von Alltag eingeschlossen ist. (2) Diese Einschließungen dann praxistheoretisch abzuleiten und anzuwenden ist das Ziel der Theorieexegese. Dabei geht es mir im Anschluss an Hilmar SchäferFootnote 3 darum, die potenzielle „Verschiebung“ (Schäfer 2016b, S. 142) in jeder Praktik aufgrund ihrer fortwährenden Wiederholung von der Rationalität von Praktiken her zu entwickeln. Dazu setze ich mich genauer mit denjenigen Eigenschaften von Praktiken auseinander, die potenziell für das in-Gang-Setzen von Veränderungsprozessen hilfreich sind. Dies betrifft zum einen die Beobachtung, dass Praktiken grundsätzlich kollektiv funktionieren und geteilt werden (können) (Schmidt und Volbers 2011) und zum anderen, dass mit der Zielorientierung einer Praktik systematisch Affekte bzw. eine spezifische „affektive Struktur“ (Reckwitz 2016, S. 171) verbunden ist. Schließlich (3) plausibilisiere ich die Überlegungen anhand von ethnografischen Daten zur Architekturerfahrung im Arbeitsalltag. Für diesen Beitrag konzentriere ich mich auf eine teilnehmende Beobachtung im Team des Besucherservice eines Kunstmuseums und ziehe anhand des Aufsehens die theorie-konzeptionellen Überlegungen zum Veränderlichen von Alltagspraktiken nach.

2 Rationalisierungsprozesse im Alltag

2.1 Subjektive Rationalisierungen bei Alfred Schütz

Die phänomenologische Perspektive setzt das erfahrende Subjekt als zentralen Bezugspunkt von Alltag und Alltagswirklichkeit voraus. Damit stellt sich gleich eine wesentliche Unterscheidung zu den Prämissen der Praxistheorien ein, die explizit nicht das Subjekt als Motor des Sozialen betonen, sondern Praktiken.Footnote 4 Dennoch ist es zielführend, sich den Modus der zwar subjektiv hergestellten, aber intersubjektiv wirkenden Rationalitäten einer Lebenswelt des Alltags vor Augen zu führen. Denn obwohl Schütz’ Subjekt grundsätzlich „nicht praktisch, sondern kontemplativ“ ist (Welz 1996, S. 132), kommen unter dem Tätigkeitsdruck des Alltags Rationalitäten zum Einsatz, deren Sinn sich dem Subjekt erst nachgängig erschließen.

In Schütz’ Sozialphänomenologie befinden sich Handelnde noch vor jedem Handlungsentwurf sowie vor jedem Handlungsvollzug in der Lebenswelt des Alltags, in einem Modus also, der Welt auf eine ganz bestimmte Art und Weise für das Subjekt erfahrbar macht. Die „Vorzugsrealität“ des Alltags ist gekennzeichnet durch räumliche, zeitliche sowie leibliche Reichweite (Schütz und Luckmann 2003). Das Handeln des Subjekts ist hier hochgradig (selbst)wirksam, die Welt im „Bereich meiner leiblichen Handlungen […] bietet Widerstand, und es erfordert Anstrengung, diesen zu überwinden“ (Schütz und Luckmann 2003, S. 69). Die Vormachtstellung dieser „Wirklichkeit par excellence“ (Berger und Luckmann 2004, S. 24) wird zudem kontinuierlich durch „unsere praktischen Erfahrungen“ (Schütz und Luckmann 2003, S. 69) bestätigt, solange diese sich immer wieder in einen Bereich des intersubjektiv verfügbaren Wissens einordnen lassen, das wiederum auf den praktischen Erfahrungen unserer Vorgänger*innen aufbaut. Um von der „alltäglichen Welt“ zu sprechen, ist das „praktische Interesse“ (Schütz 1971, S. 239) an dieser Welt ausschlaggebend. Die Frage des Sinns ist dabei dem Handlungs- und Tätigkeitsdruck nachgestellt. Denn „[w]ir müssen die Welt des Alltags beherrschen und wir müssen sie verändern, um in ihr und inmitten unserer Mitmenschen unsere einmal gesteckten Ziele zu verwirklichen“ (ebd., S. 239, eig. Hervorhebung). Dabei wird auf die mögliche Reflexion subjektiver Ziele, die stets in Abstimmung zu einem gültigen „intersubjektiven Motivationszusammenhang der umweltlichen Wirkensbeziehung“ (Srubar 1988, S. 129) zu entwerfen sind, hingewiesen. Subjektiver Sinn muss in intersubjektiven Sinnzusammenhängen verankert sein, von diesen mitgetragen oder gestützt werden. Das bedeutet, auch scheinbar subjektive Veränderungen von alltäglichen Abläufen sind letztlich Teil intersubjektiver Typisierungen (wie zum Beispiel Sprache), und können nur so sozial wirksam – als Veränderung anerkannt – werden.

Schütz begreift Rationalisierung als Form von Typisierung sozialer Wirklichkeit. Unter Rationalität, die im Alltag wirkt, versteht Schütz im Anschluss an Max Weber „die Umformung einer unkontrollierbaren und unverständlichen Welt in eine organisierte Gestalt, die wir verstehen und deshalb beherrschen können“ (Schütz 1971, S. 211).Footnote 5 Dabei berücksichtigt diese alltagsweltliche Beherrschbarkeit einen gewissen Grad an Ungenauigkeit und Vagheit. Man agiert im Modus einer „gewöhnlichen Wahrscheinlichkeit“ (ebd., S. 212). Es gibt Regeln und Gewohnheiten, die im Prinzip die Grundlage alltäglichen Handelns bilden, aber es gibt weder eine Instanz der Überprüfung, ob und wie diese Regeln von allen angewendet werden, noch eine intersubjektiv gültige Vorstellung des einzig richtigen Handelns bzw. der einzig richtigen Ausführung dieser Regeln. Im Gegenteil, das vorherrschende praktische Interesse in der alltäglichen Welt bedingt eine Spannbreite und Toleranz unterschiedlicher typischer Ausführungen, die freilich alle gemein haben, dass sie grundsätzlich zum Erfolg führen. Ein Beispiel bei Schütz: Es existiert alltagsweltlich die gewöhnliche Wahrscheinlichkeit, dass der Apfelkuchen ein Apfelkuchen wird (vgl. ebd., S. 213), und nicht ein Pflaumenkuchen oder gar ein Brot, und zwar sowohl, wenn ich selbst, als auch, wenn meine Mitmenschen backen. Diese Wahrscheinlichkeit also, dass das ein Kuchen wird, stellt ein Subjekt bei Schütz durch unterschiedliche Rationalisierungshandlungen im Alltag her. Schütz fasst und beobachtet darunter Kompetenzen des Vergleichens, des Überlegens und Abwägens der Anwendbarkeit eines „Rezepts“ in einer alltäglichen Situation sowie die Einschätzung, wie und mit welchen Mitteln – in Bezug auf eine Tätigkeit – das Ziel einer typischen Ausführung bestmöglich erreicht werden kann (ebd., S. 214ff.).

Bei Schütz verbleiben diese im Tun umgesetzten Rationalisierungen im Individuum verankert. Ebenso wie Handlungsziele in ihrer Gänze aus dem Subjekt heraus entstehen und nur für dieses voll zugänglich bleiben, so ist dann auch die Effizienz der subjektiven Rationalisierung davon abhängig, wie gut und genau das Subjekt die Mittel und Zwecke zur Zielerreichung ursprünglich definiert hat (ebd., S. 214). An Schütz’ Beispiel des zum Zug eilenden Geschäftsmannes wird dies deutlich: Dessen Suche nach Mitteln (rennen), den Zug doch noch rechtzeitig zu erreichen, sowie die imaginäre Analyse, was passieren würde, wenn er es nicht schafft und sich zu einem wichtigen Termin verspätet, sind Teile seiner subjektiven Rationalisierungsleistung, die sich auf das einstmals gesetzte Ziel ‚pünktlich (zur Arbeit) erscheinen‘ beziehen. Inwiefern diese im Verspätungsfall von Erfolg gekrönt sind, darüber kann letztlich nur der Geschäftsmann selbst befinden, „weil er allein die Spanne seiner Pläne und Projekte kennt“ (ebd., S. 215).

Wichtig für eine praxistheoretische Nutzung dieser Schütz’schen Beobachtung in Bezug auf Dynamik im Alltag wird der Umstand, dass diese Rationalisierungen in Schütz’ Phänomenologie zwar intra-subjektiv hergestellt, sie aber intersubjektiv angewendet und wirksam werden. Basierend auf diesen Prinzipien der Typisierung wird die Lebenswelt des Alltags durch Zeitgenoss*innen, die sich trotz vagen und ungenauen Anschlüssen aneinander orientieren, beständig am Laufen gehalten. Wie dies empirisch funktioniert, hat insbesondere die Ethnomethodologie herausgearbeitet, auf deren Rationalisierungsbegriff ich im Folgenden eingehe.

2.2 Intersubjektiv hergestellte Rationalisierungen bei Harold Garfinkel

Wie Schütz immer wieder betont, stellt vollständig rationales Handeln – also ein Handeln, das über all seine Bedingungen und Ziele restlos aufgeklärt ist – ein Ideal dar, das als solches ein Produkt der Theorie und nicht der Praxis ist. Die Ethnomethodologie (EM) entgegen verortet Theorie von vornherein in der Praxis selbst und entdeckt Rationalität als gemeinsam hergestellte Leistung mehrerer Teilnehmenden, um Alltag zu ermöglichen. „The rationalities“ (Garfinkel 1967, S. 263) kommen in jeder Faser von Alltagspraktiken zum Einsatz und sichern letztlich die Aufeinanderbezogenheit und Nachvollziehbarkeit von practical actions: „Accountability heißt auch rational machen“ (Knorr-Cetina, Krämer und Salomon 2019). Damit ist ein zentrales, fortlaufendes Verfahren des Alltagslebens – nämlich accountable machen als wechselseitiges, öffentliches Anzeigen und Zuschreiben von Sinn und Bedeutung, und damit von Kompetenz als Alltagsakteur*in – angesprochen. Garfinkel verortet diese Rationalisierung als reflexive Leistung (anders als Schütz) in einem kollektiven, sozialen Setting. Rationalität, die beobachtbar und beschreibbar wird, also in irgendeiner Form reflexiv ist (z. B. verkörpert), hat ihren Sitz von vornherein in den alltäglichen Praktiken, im situierten doing. Damit geht Garfinkel grundsätzlich von einer Unwahrscheinlichkeit reibungsloser Alltagsinteraktion aus und sichert Ungenauigkeiten in der Ausführung mit den accounting practices ab. Garfinkel führt auf Basis von Schütz’ Aufsatz Das Problem der Rationalität in der Sozialwelt (1943) die darin angesprochenen unterschiedlichen subjektiven Rationalisierungshandlungen als intersubjektive, praktische Verfahren vor. In Bezug auf das Beispiel des zum Zug eilenden Geschäftsmannes heißt das, dass aus Sicht eines Garfinkel’schen „Beobachters“, der sieht, „wie dieser Mann zum Zug eilt“ (Schütz 2010, S. 215) eine andere Schlussfolgerung gezogen werden würde. Dieser (Garfinkels) Beobachtende würde nicht denken, dass es sich um eine gewöhnliche Situation handelt, während der Eilende seine Routineabweichung in unterschiedlicher Hinsicht (Mittel, Fehlertoleranz) individuell rational bearbeitet, sondern der Beobachtende würde eben diese Abweichung dem kollektiven Regel-Ziel „Pünktlichkeit bei Arbeitswegen“ zurechnen: Diese Rationalisierung würde Garfinkel also deutlich als soziale Leistung konzipieren, indem von anderen und durch andere zugerechnet wird, dass es im Hinblick auf ein vergleichbares, allgemeines Verhalten eine eher ungewöhnliche Situation zu sein scheint. Was in den Köpfen sowohl des Geschäftsmannes als auch des Beobachters vorgeht, interessiert aus Sicht der EM nicht. Denn mit dieser Beobachtbarkeit ist die normative Orientierung des täglichen Arbeitsweges per Zug, die sich grundsätzlich jedenfalls nicht in alltäglichen Spontansprints niederschlägt, mitbeschrieben. Garfinkels breaching experiments führen schließlich vor, wie die Leistungen des rational Machens in unterschiedlichen Stufen greifen. Durch die Krisenexperimente werden Standardisierungswerkzeuge des Alltags (im Rekurs auf Schütz) wie das Vergleichen und Einordnen, die „Suche nach Mitteln“ (Garfinkel 2020, S. 357, 1967, S. 264) und die Übertragung von Bedeutung auf neue Situationen, das Anstellen strategischer Überlegungen oder die Toleranz gewisser Abweichungen (des Erwarteten) als alltägliche Rationalitäten vorgeführt (vgl. Garfinkel 1967, S. 263ff.).

2.3 Zwischenfazit: Rationalität als Referenz für Veränderung und „Krise“ in der Forschungspraxis

Rationalität und Rationalisierung im Alltag haben das Ziel, das Ungewollte oder Unbekannte zu bearbeiten. Beiden klassischen Ansätzen ist gemeinsam, dass es eine soziale Leistung (im Individuum oder im Tun verankert) ist, die Veränderungen im Gewohnten relevant und schließlich analysierbar macht.

Für die empirische Forschungspraxis bedeutet es, dass immer wenn z. B. in der ethnografischen Forschungssituation Rationalisierungsprozesse bei der forschenden Person ablaufen und/oder der Praxis der Teilnehmenden beobachtend zugerechnet werden (auch transsituativ), gerade dann dynamische Phasen des interessierenden Feldes zu beschreiben sind. Die aufeinander Bezogenheit unterschiedlich verankerter Rationalisierungsmechanismen durch Erfahrungen der „Selbstkrise“ und „Fremdkrise“ (Krämer 2016, S. 50–52) in der Forschungspraxis trägt dazu bei, alltägliche Dynamiken nicht nur zu bemerken, sondern sie auch selbst zu erfahren, und wiederum für das tiefere Verstehen des beforschten Feldes einzusetzen. Aus Sicht sozialer Praktiken gelingt es, diese Erfahrung nicht in intra-subjektiven Vorgängen anzusiedeln, sie aber dennoch in ihrer Diffusität und Vorläufigkeit adressieren zu können. Denn während aus ethnomethodologischer Sicht erfahrene oder beobachtete Disruptionen in Praktiken primär als „Krisen“ zu verstehen sind (Krämer 2016, S. 38) und sie sich fortan auf die Bearbeitung von praktischen Vollzugsproblemen konzentrieren, können aus praxistheoretischer Perspektive (Gherardi 2019; Pink 2013) erfahrene oder beobachtete Irritationen im praktischen Vollzug als Teil von Praktiken registriert werden, an denen Akteure gerade teilnehmen. Für die Analyse von alltäglicher Veränderung mit praxistheoretischer Perspektive besteht der Vorteil, dass die praktische Relevanz, die Irritationen anzeigen, nicht nur durch ihre Bearbeitung hergestellt wird, sondern auch der Umstand ihres situierten Aufkommens für Theoretisierungsprozesse über alltägliche (kleine) Veränderungen fruchtbar gemacht werden kann, etwa indem sich Affekte zeigen und als individuelle Erregungszustände registriert und kontextualisiert werden können (und müssen) (Neubert und Trischler 2021; Swedberg 2016).Footnote 6 Auf diese Einfallstore der empirischen Beobachtbarkeit von Veränderung im Alltag aus einer praxistheoretischen Perspektive gehe ich im Folgenden näher ein.

3 Zur veränderbaren Rationalität von Praktiken

Grundsätzlich bestehen mindestens ambivalente Haltungen dazu, ob sich eine praxistheoretische Forschungsperspektive besser oder weniger gut eignet, Veränderungsprozesse im Kleinen wie im Großen zu analysieren. Das „praxistheoretische Vokabular“ (Reckwitz 2003, S. 296) betont zunächst die „Materialisierung, Informalisierung und Routinisierung des Sozialen“ (ebd.). Daher treten soziale Praktiken zunächst eher nicht aufgrund ihrer dynamischen Eigenschaften auf den Plan der Theorie des Sozialen (Reckwitz 2000; Moebius 2008; Schmidt 2012). Vielmehr stehen sie für die Diagnose, dass sich verteilte und organisierte Verbindungen von Aktivitäten, die sich über Zeit und Raum entfalten (Schatzki 2001) und in verschiedenen Arten von implizitem Wissen in Körpern und in Artefakten einlagern und tradiert werden, eine entscheidende Daseinsform des Sozialen beschreiben. Kurzum: dass sich Soziales zu einem überwiegenden Teil materialisierend, informell und routiniert ereignet und damit fortdauernd auch im Verborgenen wirkt.

Es besteht aber auch die Anstrengung, Praxistheorien etwa in Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) konsequent anders zu lesen und ihre genannten Merkmale mit der Brille der kontinuierlichen Veränderung und Dynamik in den Blick zu nehmen. Dann sei „Praxistheorie [ist] eine Analyse von Bewegungen und Übergängen. Ihre Forschungshaltung, die gleichzeitig Verbindung und Veränderung fokussieren kann, lässt sich als transitive Methodologie charakterisieren“ (Schäfer 2016b, S. 148; auch Shove, Pantzar, Watson 2012, S. 126: „practices are […] changing all the time“). Das bedeutet auch: Veränderungen, die durch Praxistheorien in den Blick kommen, sind nicht historisch einmaligen Ereignissen zuzuschreiben, sondern stetigen Wiederholungen des Gleichen unter kontingenten Bedingungen. Somit ist auch das gesellschaftlich imaginierte Neue und Andere – dessen Thematisierung obgleich nicht im Zentrum praxistheoretischer Denkansätze steht, Erklärungsansätze hierfür aber legitimer Weise immer wieder gesucht werden (Alkemeyer und Buschmann 2019) – konsequent in der Verkettung sozialer Praktiken zu suchen, die über Zeiträume hinweg auch größere soziale Veränderungen beschreiben können (Lamers, Spaargaren und Weenink 2016, S. 229f.). Konzepte wie das der Praktikenbündel (Schatzki 2016, S. 6) sowie die Relation zwischen „dispersed“ und „connecting practices“ (Lamers und Van der Duim 2016; Schatzki 1996) sind dazu nachweislich hilfreich.Footnote 7

Weniger als die größeren gesellschaftlichen Veränderungen interessieren mich jedoch die kleineren, alltäglichen Verschiebungen, deren Konsequenz auf höherer Ebene zunächst einmal nachrangig ist. Aus forschungspraktischer Sicht befrage ich Praxistheorien darauf, an welchen konzeptionellen Punkten Einfallstore bestehen, die Veränderung praktischer Rationalität zu rekonstruieren. Dazu hebe ich die Merkmale der Kollektivität, affektiven Struktur und Zielorientierung von sozialen Praktiken hervor.

3.1 Praktiken: kollektiv und geteilt

Durch die Dezentrierung des Subjekts werden Praktiken zunächst einmal resistent gegen kleinste „Krisen“ des Alltags, diese – so könnte man sagen – sind nicht das Kerngeschäft der Praxistheorien. Die verteilte Durchführbarkeit von Praktiken etwa hat zur Folge, dass es bei ihren Ausführungen nicht auf exakte Genauigkeit im Detail ankommt (Bsp. „Grüßen“ bei Schäfer 2013, S. 371f.), sondern auf die geteilte Orientierung im Kontext einer teleoaffective structure (Schatzki 2001). Aufgrund ihrer prinzipiellen Öffentlichkeit und Beobachtbarkeit, können Praktiken zudem als „kollektives Gut“ bezeichnet werden (Schmidt und Volbers 2011, S. 427, eig. Übersetzung). In dem Zusammenhang wird auch immer wieder die soziale Kohäsion betont, die durch eine praxistheoretische Perspektive im Gegensatz zu einer handlungstheoretischen oder gesellschaftstheoretischen Perspektive stark gemacht wird. Barry Barnes veranschaulicht am Beispiel einer reitenden Formation die herausgehobene Bedeutung der Orientierung untereinander, um die sich reitend fortbewegende Mensch-Pferd-Konstellation konstant zu halten (Barnes 2001, S. 32): Im Sinne der funktionierenden Orientierung zwischen einzelnen Reitenden und ihren Pferden wäre sowohl eine gewisse Ungleichheit in der individuellen Reittechnik als auch eine sich unvorhergesehen ändernde kollektive Geschwindigkeit z. B. durch Temposteigerung oder -drosselung nicht hinderlich. Für die Aufrechterhaltung der Formation – die zugleich das unmittelbare Telos dieser Praktik ist – scheint die motivierte Teilnahme am Reiten sowie die gerichtete Aufmerksamkeit untereinander das Hauptkriterium zu sein (Reckwitz 2016, S. 172). Dies genügt in der Regel auch, um abweichende Reitweisen und Ausscherungen auszugleichen. Das bedeutet, kleine und kleinste Veränderungen in der Ausführung werden untereinander stillschweigend bearbeitet, sprich rationalisiert. Inwiefern diese Ausgleichsbewegungen – wie ein schnelleres Reiten an der einen Seite der Formation, ein engeres Zusammenrücken in der Mitte der Herde – sukzessive eine langfristige und größere Änderung der Praktik Formationsreiten herbeiführen können, ist dann auch eine Frage der zeitlichen Perspektive einzelner Praktiken, wie bereits angedeutet. Wichtig ist: Dass Praktiken geteilt werden und dass sich Praktiken verändern, bedingt einander (Shove et al. 2012, S. 126).

3.2 Praktiken: orientiert und affektiv

Gerichtete Aufmerksamkeit und Motivation sind als Begriffe im Kontext von (meist unausgesprochenen) Zielen von PraktikenFootnote 8 bereits gefallen. Für die Perspektive auf alltägliche Veränderung ist gerade die Verbindung von Gerichtetheit/Orientierung und Motivation/Affekte entscheidend.

Ein jeder Praktik inhärentes Ziel oder, niedrigschwelliger formuliert, eine Gerichtetheit wird mit Schatzkis Begriff der teleoaffective structure postuliert. Schatzki rechnet dieser Struktur die Meta-Deutungsebene in Bezug auf einzelne, individuelle Handlungen zu, die stets Teil einer Praktik sind (Schatzki 2001, S. 56). Das Spezielle ist dabei, dass mit dem Terminus teleoaffective die Gerichtetheit von Tätigkeit (jedes Wirken in der Welt, auf etwas hin) von vornherein immer schon mit einer „affektuellen Ordnung“ (Reckwitz 2016, S. 166) zusammen gedacht wird. Ziele und Affekte erfüllen, so könnte man sagen, zwei notwendige Aspekte der erfahrbaren, geteilten Orientierung von Praktiken: „Teleology, as noted, is orientations toward ends, while affectivity is how things matter“ (Schatzki 2001, S. 59). Angewendet auf das vorherige Beispiel Formationsreiten bedeutet das: Wenn ein Reiter/Pferd-Akteur aus dem stimmigen Bild ausschert, dann rechnet der/die Beobachtende zu, dass dieser die nun wahrnehmbare Unstimmigkeit bearbeiten wird, um die Formation aufrechtzuerhalten. Zugleich ist diese Wahrnehmung des Ausscherens als etwas, das das Reiten in einem stimmigen Bild stört, Teil der „affektuellen Ordnung“ dieser Praktik und damit auch ein wesentlicher Hinweis darauf, wie die Orientierung des Reitens – auf welches Ziel hin – als teilnehmender (wie auch forschender) Akteur zu erfassen wäre. Affekte „helfen“ so gesehen dabei, Zielorientierungen von Praktiken zu unterscheiden bzw. zu ordnen und gegeneinander abzugrenzen.

John Dewey, der als ein pragmatistischer Vordenker zeitgenössischer, praxistheoretischer Positionen angesehen werden kann (Nungesser und Whörle 2013; Dietz et al. 2017), versteht Handlungsziele als ebensolche Orientierungen am Horizont: „Aims are ends […] ends-in-view, not ends-in-themselves“ (Dewey 1922, S. 224). Damit erachtet er Ziele des tätigen Handelns als nicht einholbare Entitäten, sondern vielmehr als dynamische Richtungsweisungen, die sich, wie er sagt, im Tun entwickeln und ausschließlich darin wirken (ebd., S. 226). Sobald also Akteure in eine Praktik involviert sind, sind den dann beschreibbaren Vollzugswirklichkeiten Ziele inhärent, die ihnen – bedingt durch Kollektivität und Geteiltheit – nicht vollständig bewusst sein müssen bzw. es auch gar nicht sein können, mit denen sie aber in der Regel bestimmte Affekte und damit zentrale Richtungen einer Praktik verbinden.

3.3 Zwischenfazit: affektive Rationalität als Mittel der Beschreibbarkeit von alltäglicher Dynamik

Der im Konzept der Praktiken verankerten Veränderungsdynamik kann zweifelsohne, wie von Alkemeyer und Buschmann (2019) diagnostiziert, ein Gelingensbias unterstellt werden. Anders macht die Rede von Anpassungen, die kollektiv abgestimmt sind, und affektive Orientierungen, die geteilt werden, kaum keinen Sinn. All dies sind konzeptionelle Antworten auf eine „praktikenadäquate Rationalität“ (ebd., S. 121), die Teilnehmenden in sozialen Praktiken begegnet. Doch was Alkemeyer und Buschmann dabei mit dem Vorwurf der mangelnden Kontingenzoffenheit sozialer Praktiken verbinden, ist aus Perspektive des Alltags wiederum gerade wertvoll. Das Moment affektiver Rationalität, das sicherstellt, dass es „weitergeht“, wenn auch anders, steht nun im Fokus, um kaum registrierte Verschiebungen alltäglicher Abläufe vielleicht umfassender als mit dem wissenssoziologischen oder ethnomethodologischen Paradigma (und Rationalitätsbegriff) beschreiben zu können. Die jeweils praktikeigene teleoaffective structure legt zudem eine spezifische Normativität von Praktiken nahe (Wagenknecht 2020), indem eine Spannbreite an akzeptierbaren Ausführungen einer Praktik, die ein bestimmtes Maß an divergierenden Vollzugsweisen, inklusive der beteiligten Affekte einschließen, angenommen wird: „a range of acceptable or correct ends, […] and even acceptable or correct emotions out of which to do so“ (Schatzki 2001, S. 60f.). Schließlich wird damit auch nahelegt, welche Rationalisierungsprozesse bei Irritation greifen, und welche nicht mehr reichen, um die Sinnverständlichkeit der Praktik (ebd., S. 55; Welch und Warde 2017) herzustellen.

Im Folgenden geht es mir darum, die (normative) Gerichtetheit von Alltagspraktiken, wodurch „acceptable or correct […] ends, […] tasks, […] beliefs, […] and emotions“ (ebd.) von Teilnehmenden wie Beobachtenden plausibel beansprucht werden können, in Bezug zu Rationalisierungsprozessen von Praktiken zu setzen und das am empirischen Beispiel nachzuvollziehen.

4 Aufsehen im Museum: Ethnografische Daten einer alltäglichen Dynamik

4.1 Affektive Rationalität im en passant-Aufsehen

In dem Kunstmuseum, das als Arbeitsort Teil meines Forschungssamples zum Thema Architekturerfahrung in Alltag war, beobachtete ich die Praktik des Aufsehens: wie also Museumswärter*innen sicherstellen, dass Kunstwerke und Ausstellungsobjekte keinen Schaden nehmen und die Museumsbesucher*innen sich entsprechend regelkonform verhalten. Ziel meiner Forschung war es insgesamt, über das Verstehen der Arbeitspraktiken deren jeweiligen Bezug zur gebauten Umgebung zu rekonstruieren, um schließlich Arbeitsort-übergreifend Dimensionen alltagsweltlicher Architekturerfahrung zu systematisieren (Neubert 2018). Dieses architektursoziologische Interesse steht hier hinten an. Es geht nun primär darum, die Praktik des Aufsehens in ihrer alltäglichen Dynamik zu beschreiben. Dabei stehen unterschiedliche Ausführungen einer geteilten Zielorientierung des Aufsehens im Fokus, die von den Mitarbeitenden fortwährend rationalisiert werden, um den alltäglichen Spielraum resp. die akzeptierte Bandbreite des Aufsehens abzustecken.

Im Museum gibt es zwei Ausstellungsebenen mit unterschiedlichen Ausstellungsräumen. In der oberen Ebene befindet sich eine Enfilade ähnliche Ausstellungsstruktur mit gehängten Bildern. Bei allen Aufseher*innen, die zum Zeitpunkt meiner Anwesenheit hier arbeiten, beobachte ich die Tätigkeit als Wechsel zwischen schnellem Gehen durch die Räume und längerem Stehen an einem Platz vor dem Eingang zu den Räumen. Das Aufsehen „oben“ hat zur Konsequenz, dass der oder die Mitarbeitende selbst entscheiden muss, wann ausreichend Zeit ist, um schnell durch die Ausstellung zu gehen oder wann es aufgrund von beispielsweise hohem Besucher*innenandrang geboten ist, am Einlass stehend Karten einzureißen. In der unteren Ausstellungsebene herrschen ebenso diese beiden Bewegungsmodi vor: Stehen und Gehen, wobei das Gehen aufgrund der gebauten, kreisförmig angeordneten Ausstellungsräume sowie aufgrund mehrerer anwesender Aufsichtskräfte vorzugsweise zum „Runden dreh’n“ (vgl. Fußnote 9) wird. Dabei gehen die Aufsichten paarweise mehrere Runden nacheinander, währenddessen wird sich meist vertieft unterhalten, wie ich auf einer Runde am zweiten Tag im Feld bemerke:

„Ich unterhalte mich am Eingang mit einer Aufsichtskraft, und diese läuft dann einfach los. Ich laufe mit. Da wir uns unterhalten, gehe ich davon aus, dass ich mitlaufen soll. Wir laufen nebeneinander her, nicht zu schnell, und reden dabei über meine und ihre Arbeit. […] Nachdem wir nach der ersten Runde wieder am Eingang ankommen, laufen wir einfach redend weiter. Wir ignorieren die beiden anderen Aufsichtskräfte, die dort stehen und sich auch unterhalten, und gehen zwischen ihnen hindurch. Das wiederholen wir genauso noch einmal. Insgesamt laufen wir drei Runden.“ (Beobachtungsprotokoll vom 23.03.2015).

Dies sind herkömmliche Strategien in diesem Museum, um möglichst effektiv und zugleich en passant eine Übersicht herzustellen. Wenn der/die Aufseher*in oben schnell von vorn bis hinten durch die Räume läuft und dabei nur sehr selektiv die Besucher und Besucherinnen kontrollieren kann, oder wenn die Zweier-Teams unten plaudernd ihre Runden drehen, dann wirkt das – im Gegensatz zu fest installierten Aufsichtsposten, die potenziell permanent überwachen – auf mich als Forscherin eher diffus und ungewöhnlich zurückhaltend in der Aufsichtspräsenz. Man könnte sich auch fragen, was hier aufsichtsmäßig eigentlich vor sich geht?

Es wird anhand der nachstehenden Feldnotiz deutlich, dass es unter den Aufseher*innen die geteilte Zielorientierung des en passant Aufsehens gibt, die jedoch durch Irritationen praktischer Rationalität neue Explikation verlangt:

„Wir stehen zu viert am hinteren Eingang und jemand der Aufsichtskräfte läuft plötzlich schnell los. Die anderen wissen nicht weshalb und wundern sich. Er kommt kurz darauf aus der gleichen Richtung wieder zurück und erklärt, dass er ein Fotoblitzen gesehen habe. Als Reflexion im verglasten großen Foto an der Wand. Man darf nicht mit Blitz fotografieren. Eine andere Aufsichtsperson fragt: ‚Und deswegen bist du jetzt so schnell losgerannt?‘“ (Beobachtungsprotokoll vom 28.03.2015).

Verhandelt wird in dieser Situation der Genauigkeitsgrad des Aufsehens sowie der Einsatz der praktischen Mittel, diesen zu erreichen. Während die Schnelligkeit des Gehens und auch das spontane „Losrennen“ im Team des Besucherservice grundsätzlich nicht irritieren, sind die Anlässe bzw. Orientierungen dessen als „acceptable [and] correct ends“ Teil eines praktischen Wissens des en passant Aufsehens. Für mich als Beobachterin scheinen sie beliebig und folgen keiner festen Taktik oder einem Rhythmus. Oft kommt es während meines Beiseins zu der Situation, dass Aufsichten auch aus einem (Zweier‑)Gespräch heraus plötzlich loslaufen.Footnote 9 Jedoch: Der Ausbruch aus einer Unterhaltung zu viert bei mäßigem Betrieb scheint erklärungsbedürftig. Die Frage „Und deswegen bis du jetzt so schnell losgerannt?“ hinterfragt die Anschlussfähigkeit dieses Einsatzes und reflektiert damit auch die normative Gerichtetheit des Aufsehens hier in diesem Museum. Das verbale Infragestellen des Losrennens kann als „documentory method of interpretation“ (Meier zu Verl 2018, S. 47f.) gelesen werden und kommt hier zum Einsatz, um den individuellen Anlass in den Kontext der geteilten Praktik und ihrer affektuellen Ordnung zu setzen und auf Stimmigkeit zu prüfen. Für eine dauerhafte Aufnahme des „schnellen Losrennens bei Fotoblitz“ in die Spannbreite von Ausführungen des en passant-Aufsehens wäre ein Indiz, wenn diese Frage bei Wiederholung nicht mehr gestellt würde. Die Frage der Teilnehmerin infolge der Erklärung des Gerannten, dass er wegen eines Blitzes aus der Runde spontan ausgebrochen sei, dient dazu, die affektive Orientierung des geteilten Tuns explizit rational zu machen und dadurch die (womöglich langfristige) Veränderung der gewohnten Abläufe erst einmal abzuwenden.

4.2 Dynamik praktischer Rationalität und ihre gebaute Bedingung

Es kommt aber auch zu potenziellen Grenzfällen jener Alltagsdynamik,Footnote 10 insbesondere dann, wenn sich die gewohnten Gelingens-Bedingungen der Praktik ändern, etwa durch Eingriffe am Ort ihrer Ausführung (hier aufgrund von Wechselausstellungen). In einer früheren Ausstellung sah es die Ausstellungsarchitektur in der unteren Ebene des Museums vor, dass die Exponate auf Stellwänden angebracht wurden. Der gebaute Ausstellungsraum wurde wortwörtlich zugestellt, sodass zwei der üblichen körperlichen Techniken – die Übersicht herstellen durch schnelles Runden drehen und Blicke durch weite Sichtachsen – nicht mehr ohne Weiteres gewährleistet waren. In der Schilderung einer Mitarbeiterin im Rahmen eines Interviews wird diese geänderte gebaute Bedingung des Aufsehens retrospektiv mit einer notwendigen, kollektiven Rationalisierung verknüpft:

„da warn halt sehr viele Stellwände. in dem einen Ausstellungsraum aufgebaut. Also das heißt wenn du reinschaust, hast du keine Übersicht. Weil das auch alles zugestellt wird du kannst halt nicht den Raum so überschauen. Also wir haben’s dann auch immer so gemacht wir überlegen uns dann irgendwie so Techniken dann sind wir halt so in die Hocke gegangen, weil das ja auf so Stelzen war, und dann hast du geguckt, wo Menschen stehen, und dann bist du dann halt mal dahingegangen und hast da geschaut.“ (Interview vom 27.03.2020).

Die Einführung der neuen „Technik“ des Hinhockens wird mit der übergeordneten Zielorientierung des „Übersicht Habens“ begründet. Diese Orientierung schlägt sich auch sprachlich im generalisierten „du“ nieder: „wenn du (.) reinschaust, hast du keine Übersicht“ (eig. Hervorhebung). Im Anschluss wird dann die kollektiv abgestimmte Anpassung des Aufsehens mit einem „wir“ beschrieben. Die Aufseher*innen arbeiteten erfolgreich daran, für ihre geteilte Orientierung – nämlich Zugriff auf eine Übersicht zu haben – nachvollziehbare Bedingungen herzustellen, z. B. durch eine neue Körpertechnik. Die Technik des Gehens wird zur Technik des „in die Hocke Gehens“. Die vormalige Strategie des viel Sehens durch viele Runden wird temporär geändert in ein Sehen durch Absicherung, dass da auch wirklich eine Person steht.Footnote 11

Anhand der zwei angeführten Beispiele zeigen sich kleine Veränderungen des Aufsehens unterschiedlich stark. Dabei wird zuletzt durch eine geänderte gebaute Umgebung die praktische Rationalität des Aufsehens deutlicher in Bewegung versetzt. Das Aufsehen en passant wird hier in seiner Bandbreite der „acceptable or correct […] tasks and emotions“ durch eine neue Technik erweitert, und dieser Vorgang wird durch die situative Notwendigkeit, die Alltagswelt wieder beherrschbar zu machen, dynamisiert. Ganz konkret und eindeutig trägt die Technik des in-die-Hocke-Gehens dazu bei, dass Aufsehen auch anders aussehen kann. Alltagsweltlich rationalisiert werden kann diese Veränderung in der Ausführung jedoch nur in konkreter raumzeitlicher Abhängigkeit. Die Mitarbeiter*innen in der oberen Ausstellungsebene mit anderen gebauten Bedingungen gehen zur selben Zeit nicht in die Hocke, und würden sie es tun, hätte man Schwierigkeiten, dies zu verstehen. Denkbar wären dann andere Beweggründe wie z. B. Rückenschmerzen oder die Suche nach etwas, das auf den Boden gefallen ist und sehr klein sein muss. Und auch zum Zeitpunkt meiner Teilnahme im Feld hockt sich niemand in der unteren Ausstellungsebene hin, um den Raum zu überblicken. Indem die geteilte Zielorientierung des Aufsehens – eine Übersicht en passant herzustellen – auch unter erschwerten Bedingungen der spezifischen Ausstellungsarchitektur aufrechterhalten werden konnte, kam es nicht dazu, dass das Aufsehen grundsätzlich in Frage gestellt wurde oder in diesem Museum neu gedacht werden musste (z. B. durch feste Aufsichtsposten im Ausstellungsraum). Es bleibt – nicht mehr und nicht weniger – bei der SchilderungFootnote 12 einer erfolgreichen praktischen Rationalisierung, die das Dynamische, Anpassungsfähige und Flexible der verorteten Praktik des en passant-Aufsehens unter Beweis gestellt hat.

5 Fazit: Veränderungen von Alltag als verortete Verschiebungen affektiver Rationalität

Gerade, um die kleinen Veränderungen innerhalb sich wiederholender Abläufe und einzelner Praktiken empirisch beobachten und rekonstruieren zu können, scheinen Momente situierter affektiver Rationalität im Feld und in der Forschungspraxis wertvoll. Wann immer im praktischen Vollzug die Explikation praktischer Rationalität mit ihrer affektiven Ordnung verknüpft wird, scheinen alltägliche Dynamiken der teleoaffective structure sozialer Praktiken adressiert. Es ist nicht nur die Gerichtetheit der Tätigkeit, die damit offenbart wird, sondern auch die Art und Weise, wie sich diese durch die beteiligten Akteure verkörpert und materialisiert. Für die empirische Beobachtung von alltäglicher Veränderung ist diese forcierte „Rekrutierung“ (Alkemeyer 2019, S. 293; Shove und Pantzar 2016) von Körpern durch soziale Praktiken durchaus wertvoll, um sie als Explikation praktischer Rationalität infolge von „kleinen“ Veränderungen deuten zu können.

Das alltagsweltlich allgemeine „praktische Interesse“ (Schütz) kann durch einen praxistheoretischen Ansatz in Bezug auf seine Ziele, Aufgaben, Überzeugungen und Affekte ausdifferenziert werden. Dabei bleiben Praktiken des Alltags in dem Erfahrungsmodus der Alltagswelt und sind auch in der alltäglichen Rationalisierungsarbeit darauf abgestimmt. Anschließend daran war es die Ausgangsannahme des Beitrags, dass sich alltägliche Dynamik fortlaufend in sich wiederholenden, geteilten Praktiken umsetzt, dabei aber nur schwer empirisch zu greifen ist. Anhand ethnografischer Daten zur Tätigkeit von Museumsaufsichten konnte gezeigt werden, wann ihr Alltag mehr und wann er weniger dynamisch scheint. Mit einem praxistheoretischen Zugriff auf ihre Tätigkeit wurde die geteilte Zielorientierung und Rationalisierungsleistung anhand von zwei unterschiedlichen Verschiebungen des en passant-Aufsehens rekonstruiert. Beide Beispiele demonstrierten die Korrektur der richtigen Mittel, die Explikation der geteilten Orientierung und ihrer Affekte, um Rationalität infolge von Irritationen bzw. geänderten Bedingungen der Praktik sicherzustellen.

Der Rekurs auf die Ansätze von Schütz und Garfinkel macht außerdem deutlich: Rationalitäten integrieren Ungenauigkeiten und Vagheiten des Alltags. Dies praxistheoretisch gewendet, bedeutet: Rationalitäten integrieren die unscharfen Ränder von Praktiken und schärfen zugleich die Umrisse der „acceptable or correct […] ends, […] tasks, […] beliefs, […] and emotions“ (Schatzki 2001, S. 60f.). Denkbar ist hier, dass es mit der heuristischen Brille „alltäglicher Dynamik“ gelingt, soziale Praktiken noch stärker in ihrer Flexibilität und potenziellen Neuerschließung bei kontinuierlicher Wiederholung zu bestimmen. Hier habe ich zum einen auf das Erklärungspotenzial „affektueller Ordnungen“ hingewiesen, deren Einsatz im Feld beobachtet, von denen man aber auch als forschende Person ergriffen werden kann. Diese Affekte im Kontext von Praktiken können durch recht beiläufige Bemerkungen transportiert werden („und deswegen bist du …?“), durch Stimmungen im Feld oder aber durch „erlebte Selbstkrisen“ (Krämer 2016, S. 53) als Forscher*in, die in den Bezug zur untersuchten Praktik gebracht werden. Zum anderen wurde eher indirekt darauf verwiesen, dass die Anpassung der Ausführung sozialer Praktiken und damit auch ihre potenzielle alltägliche Dynamik von dem Ort ihrer Ausführung abhängig ist. Während konkrete Verortungen von Praktiken auch gerade bei dem Fokus auf „larger scale social phenomena“ (Lamers, Spaargaren und Weenink 2016, S. 230) vernachlässigt werden, rückt dies die Perspektive auf alltägliche Verschiebungen im Gewohnten in den Vordergrund. Die Veränderung des en passant-Aufsehens aus dem Stand in die Hocke war von den temporären, gebauten Bedingungen in dem konkreten Museum abhängig. Wie hätte sich das an anderen Orten bzw. mit einer ganz anderen Ausstellungsarchitektur dargestellt?

Um schließlich die Grenze von Alltag zu Situationen der „Nichtalltäglichkeit“ (Ernst-Heidenreich 2019), in denen auch neue Praktiken zum Einsatz kommen bzw. als solche zu denken sind (Alkemeyer und Buschmann 2019), deutlicher ziehen zu können, braucht es weitere, empirische Phänomene und eine weitere Ausreizung der geänderten Bedingungen sozialer Praktiken. Während in dem Museums-Beispiel vornehmlich die gebauten und damit auch räumlichen Bedingungen im Fokus waren, sind ebenso die zeitlichen wie sozialen Bedingungen von Praktiken Ansatzpunkte, um Unterschiede zwischen „alltäglicher Dynamik“ und „neuartiger Praktik“ noch enger zu umzirkeln.