1 Einleitung

„Ja, ist halt Baustelle.“Footnote 1 – Teilnehmer*innen verstehen in der Regel ohne weiteren Hinweis, worauf diese Aussage abzielt. Man tauscht sie auf der Straße aus, zum Beispiel entschuldigend für ein Zuspätkommen oder die ungewohnte Ausführung einer Tätigkeit, für eine inadäquate Re-Präsentation einer Praktik (wie ein provisorischer Zugang zu einem Bekleidungsgeschäft im oberen Preissegment). Stellvertretend wird mit dem Satz ‚ja, ist halt Baustelle‘ auf etwas verwiesen, das die gewohnten Bedingungen von Alltag irritiert, verändert oder gar verhindert.

Ich lege im Folgenden das Potenzial einer praxeologischen Baustellenforschung dar, die die Vermitteltheit von Baustelle mit ihrer Umgebung ins Zentrum stellt.Footnote 2 Ich verstehe dazu ‚Baustelle‘ im urbanen, öffentlichen Raum heuristisch als geteilte Praxis und frage, wie sie sich vollzieht. Damit adressiere ich Baustelle in ihrer umfassenden sozialen Dimension, über ihre Funktion als Arbeitsstelle hinausFootnote 3 und rekonstruiere, wie sie als geteilte Praxis hergestellt wird und wie sie sich im Gefüge alltäglicher Praktiken des öffentlichen Raums arrangiert. Wie konstituiert sich ein Alltag (mit) Baustelle? Basierend auf der ethnografischen Begleitung einer Straßenbaustelle in Hamburg von Februar bis Dezember 2022Footnote 4 entwickle ich drei analytische Themen, die Baustelle als vielschichtiges soziales Phänomen und als urbanen Lebensraum mit vielfältigen, krisenhaften Belastungen, aber auch Chancen beschreiben.

Ein erstes Thema (3.1.1) bezieht sich auf die Relationalität von Störungen durch Baustelle und die damit einhergehende Situierung von alltäglichen Praktiken. Baustellen richten sich, stärker als es bei Bahn- oder Flugverkehr der Fall ist, an ein disperses Publikum. Demzufolge sind auch ihre begleitenden Störungen äußerst unterschiedlich. Je nach Praktik und Akteursgruppen (unterschiedlich mobile Passant*innen, Gewerbe usw.) kommen diverse Grade von Betroffenheit und entsprechend diverse Umgangsweisen mit Baustelle als Störquelle von Alltag zum Tragen, die sich im Umfeld der Baustelle materialisieren. Ein zweites Thema (3.1.2) geht auf die sozio-materiellen Kopplungen zwischen BaufeldFootnote 5 und Umfeld näher ein, die z. B. in sich wechselseitig bedingenden Platz- und Raumansprüchen sowie daraus folgenden Verdrängungs- und Behauptungsprozessen ausdrücken. Durch die Intervention Baustelle fallen bestehende Verkettungen einzelner sozialer Praktiken zu Praktikenbündeln offensiv auf. Insbesondere Baustellen im öffentlichen Raum evozieren so auch Aushandlungsprozesse, die mittels alltäglicher Praktiken vollzogen werden. Schließlich (3.1.3) offenbaren Baustellen vielfältige urbane Lebensräume für menschliche und nicht-menschliche Akteure. Die durch Baustellen sichtbar und erfahrbar werdenden Räume und alltäglichen Praktiken anderer Lebewesen sind ein wesentlicher Fokus praxeologischer Baustellenforschung. Im Zuge der Durchdringung (gar Verwundung) des städtischen Raums, in der sich vollziehenden Entschichtung seiner technischen und gebauten infrastrukturellen Bedeutsamkeiten bis hin zum Boden und zum Erdreich zeigen sich Tier- und Pflanzenwelten sowie deren „raumbildende Kraft“ (Schroer 2022, S. 135). Der gewohnte urbane Straßenraum fächert sich zu einem verdichteten und ungleich weiteren Raum miteinander verflochtener und voneinander abhängiger Praktiken auf.

Um ‚Baustelle‘ erfolgreich durchzuführen, braucht es u. a. eine Vermittlung zwischen diesen unterschiedlichen menschlichen und nicht-menschlichen Beteiligten und ihren alltäglichen Lebensräumen. Die gelingende Vermittlung und ein kontinuierliches Weiterbauen können als Ziele von Baustellen-Praxis verstanden werden. In der Grafik (Abb. 1), die ich im nachstehenden Text argumentiere, sind die drei analytischen Themen miteinander in Beziehung gesetzt: Während sich in der rechten invertierten Pyramide die Baustelle im Vollzug auf dem Weg zu einer gelingenden Baustellen-Praxis darstellt – oberflächliche Reaktionen und Umgangsweisen in der Breite, intensivere Kommunikation und Begegnung mit Einzelnen – zieht die linke Pyramide die analytischen Hinsichten dieses praktischen Vollzugs heraus. Dabei entsprechen sich die relationalen Teile der Pyramide: Eher an der Oberfläche, gleichsam die Spitze des Eisbergs, werden größere oder kleine Störungen alltäglicher Abläufe thematisiert, während es im Kern und in der Tiefe der Auseinandersetzung mit Baustelle als Praxis um die kontinuierliche Aushandlung miteinander verbundener, alltäglicher Räume von Mensch, Tier und Pflanze geht. Die Begegnung zwischen Baufeld und Umfeld vollzieht sich auf der Ebene sozialer Praktiken. Sie sind das Mittel der Aushandlung in Richtung einer gelingenden Baustellen-Praxis.

Abb. 1
figure 1

Analytische Themen von Baustelle als Praxis

In diesem Beitrag geht es mir auch darum, die Breite möglicher Themen und damit das Potenzial einer praxeologischen Baustellenforschung aufzuzeigen. In empirischer und methodologischer Hinsicht skizziere ich ein noch weitaus unerforschtes Feld. Damit greife ich den von Hartmut Böhme (2010, S. 11) geäußerten Verdacht auf: „doch ahnen wir, wie spannend sie sein könnte: eine interdisziplinäre Baustellen-Wissenschaft.“ In der Tat besteht ein bislang noch nicht geborgenes Wissen, u. a. über die Kulturtechnik des Bauens in sozialräumlich kontrastiven Umgebungen, über den Status und den Umgang mit dem Unfertigen, und über das Zusammenwirken verschiedener Praktiken angesichts auftretender Verhinderungen von Alltag, dem ich hier vorrangig in einer ethnografischen Forschungshaltung folge. Im Anschluss an den kurzen Überblick bisheriger Forschungsansätze (2) sowie an die darauffolgende empirische Argumentation und Vertiefung der praxeologischen Baustellenforschung (3) gehe ich auf die Idee einer „integrierenden Forschung zu Baustellen“ (ebd., S. 7) ein (4), die sich meinem Vorschlag nach in einer vergleichenden, empirisch-qualitativen Soziologie der Baustelle einen ersten Weg bahnt.

2 Wege in die Baustelle – disziplinäre Zugänge und Topoi

Baustellen werden bisher in den Perspektiven der Kultur‑, Ingenieur- und Sozialwissenschaften je unterschiedlich fokussiert. Auf einige Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Leerstellen, die zugleich den Bedarf einer praxeologischen Baustellenforschung anzeigen, gehe ich im Folgenden ein.

2.1 Kulturwissenschaftliche Perspektive: Faszination Baustelle

Die Kulturwissenschaften interessieren sich schon länger für Baustellen, insbesondere für ihren symbolischen und ästhetischen Wert. Vor allem die GroßbaustelleFootnote 6 wird als gesellschaftlich bedeutungsvoller Ort des Fortschritts und des Werdens hervorgehoben (Pröfener 1998), der für jedermann beim Spaziergang beobachtbar wird (z. B. Potsdamer Platz als Sinnbild einer städtebaulichen und damit auch stadtgesellschaftlichen Neuausrichtung in den 1990ern im wiedervereinten Berlin, Fischer und Makropoulos 2004). Die Baustelle fasziniert als ästhetisches Wahrnehmungs-Erlebnis, weshalb oft und nicht nur Kleinkinder an Bauzäunen verweilen. Einige Autor*innen attestieren den Kulturwissenschaften insgesamt ein interessiert-distanziertes Verhältnis zu Baustellen (Böhme 2010; auch Glaser 2008): Man schaut von außen, betritt aber nicht das Baufeld. Kräne am Horizont, Baugruben, Gerüstskelette – solche artifiziellen Erzeugnisse bieten außerdem eine Projektionsfläche für popkulturelle und kommerzielle Anwendungen, etwa als Postkarten oder PosterFootnote 7 (Pröfener 1998, S. 10). Aber auch (architektur-)fotografische AuseinandersetzungenFootnote 8 mit Baustellen zeugen von ihrem andauernden ästhetischen Wert, der vermehrt selbst von Architekt*innen als solcher vermarktet wird.Footnote 9 Nicht nur der saubere Entwurf am Computerbildschirm, auch die dreckige Arbeit vor Ort können ein Bauprojekt der Öffentlichkeit vorstellen.

Die kulturwissenschaftliche Perspektive weckt das Interesse für die Baustelle als kulturelle Objektivation einer zeitgemäßen Faszination für Prozesse und Unfertiges (ebd.), die sich auch und gerade in der alltäglichen Begegnung in der Stadt zeigt: „Each time, we spot a new change, some progress in the developement of the building shell“ (Glaser 2008, S. 16; auch Böhme 2010, S. 7 und 10). Unterschiedliche Auswirkungen von Baustellen auf Stadtbewohner*innen und deren Alltag deutet Glaser an, wenn sie Straßenbau und Hochbau vergleicht. Dabei sieht sie im ersten Typus den größeren disruptiven Faktor in der alltagsweltlichen Wahrnehmung. Zumeist über längere Zeit seien diese Baustellen „part of our everyday lives, the construction site as annoyance means noise, dirt, dust“ (Glaser 2008, S. 11). Hingegen beziehe sich die Faszination und Neugier in Bezug auf Baustellen oft auf den beobachtbaren Fortschritt des Anwachsens der Gebäudehülle, insbesondere dann, wenn es sich um herausragende signature buildings handelt. Straßenbaustellen scheinen dies nicht in gleichem Maße auszulösen, aber auch sie machen gesellschaftliche Veränderungen im Kleinen wie im Großen sichtbar. Für die vorgeschlagene praxeologische Baustellenforschung werden diese Veränderungen auf der Ebene alltäglicher Praktiken beobachtet.

2.2 Ingenieurswissenschaftliche Perspektive: Effiziente Planung

Vergleichsweise nüchtern stellt die Baustelle im Kontext von Baubetriebsführung oder Bauwirtschaft ein funktionales Mittel zum Zweck dar, die – fachgerecht geplant – die Errichtung von Bauwerken (Berner et al. 2015) ermöglicht. Nicht Faszination, sondern Planung steht im Mittelpunkt. Folglich ist auch die Planung der Baustelleneinrichtung ein zentraler Punkt der Arbeitsvorbereitung. Baustellen seien Orte, an denen sich aus Sicht der Bauwirtschaft für die Baudurchführung notwendige, diverse Mittel wie Arbeitskräfte, Material, Geräte, Maschinen, Lagerkapazitäten usw. versammeln (Schach und Otto 2017, S. 2). Dabei gestaltet sich die Planung von Baustellen je nach Größe und Art des Projekts unterschiedlich extensiv:

„So wird eine kleine Straßenbaustelle, bei der ein neuer Straßenbelag auf eine städtische Straße aufgebracht wird, wegen einfacher planerisch-technischer Vorgaben eine relativ einfache Organisation mit wenigen Beteiligten aufweisen. […] Im Gegensatz dazu sind bei einem […] Bau eines Einkaufszentrums zahlreiche Personen und mehrere Institutionen mit sehr unterschiedlichen Funktionen eingebunden“ (Berner et al. 2015, S. 6).

Die Bedeutung der Baustelle als kultureller oder sozialer Ort rückt in den Hintergrund. In erster Linie ist sie der Geburtshelfer für das zu Bauende und vorübergehend der zentrale Arbeitsort für Bauleitung und Bauarbeiter*innen. Damit ist sie ein primär wirtschaftlicher Ort. Ihre Größe und Art der Einrichtung, die Reichweite der Einschnitte in die städtische Umgebung, ihre Dauer und Ausstattung – all dies unterliegt letztlich Kriterien der Wirtschaftlichkeit.

Die Umgebung von Baustellen wird als Drittes und Anderes bedacht. Sie gehört nicht im Engeren zur Baustelle und deren Durchführung, ist aber eine wichtige Rahmenbedingung, die ihre Einrichtung mitbestimmt.Footnote 10 In Bautagebüchern werden diese baulichen, sozialräumlichen oder klimatischen Rahmenbedingungen notiert, da sie eine Rolle spielen, um den Bauablauf nachträglich rekonstruieren zu können. Neben dem Vermerk zum Wetter, täglich erbrachten Leistungen, der Anzahl der Arbeitenden und die Art der eingesetzten Geräte werden in Bautagebüchern auch „Unterbrechungen und Verzögerungen“ sowie „besondere Vorkommnisse wie Besuche, Besprechungen, Behinderungen, Abnahmen, Unfälle“ (ebd., S. 33) schriftlich festgehalten. Ob und welche Störungen den Baufortschritt behindern oder gar den Stillstand der Baustelle bedingt haben, interessiert dann aus wirtschaftlicher Sicht. In soziologischer Hinsicht deutet sich u. a. anhand baustellenspezifischer Einflussgrößen wie „Vorgaben zum Umweltschutz“ (Schach und Otto 2017) die Relevanz von Flora und Fauna für die Baustelle als Praxis an.

2.3 Sozialwissenschaftliche Perspektive: Baustelle als Arbeitsort und Infrastruktur

Baustellen sind bisher vor allem als (komplexe) Orte der Arbeit und Technik untersucht worden. Etwa befasst sich Bär (2000) mit dem Potsdamer Platz als Großbaustelle. Als ethnografische Forschung dringt diese Studie über teilnehmende Beobachtungen und Interviews in das Geschehen vor Ort, in die „Baugrube ‚Potsdamer Platz‘“ ein, sie interessiert sich aber vordringlich für die Ebene der internen Organisation. Das weitere Umfeld der Baustelle bleibt außerhalb des Fokus. Ähnlich verhält es sich bei einer Work Place Study zur Kommunikation auf Baustellen (Mock 2000). Mock untersucht sowohl interne wie auch „nach außen gerichtete Kommunikationsprozesse“ (ebd., S. 60) und setzt den Einsatz unterschiedlich formalisierter Wege der Kommunikation (verbal, nonverbal, technisch gestützt) in Abhängigkeit zu Machtpositionen auf der Baustelle. Dies ist insofern zentral, da Störungen im Bauablauf häufig mit nicht eindeutiger, unzureichender oder der ‚falschen‘Footnote 11 Kommunikation zu tun haben können.

Im englischsprachigen Raum findet sich sowohl eine qualitative Baustellenforschung als auch ein kritischer Review über Ethnografien im Bauwesen (Oswald und Dainty 2020). Hier treten zwei Strömungen deutlich hervor: Forschung über und Forschung auf Baustellen (Kobi 2019, S. 49). Bei der Forschung über Baustellen werden diese als soziale Knotenpunkte verstanden, die auf die (zumeist urbane) Umgebung zurückwirken. Kobi argumentiert anhand ethnografischer Erhebungen zum Bauboom in Nordwest China, dass Baustellen insofern von großer gesellschaftlicher Bedeutung seien, da hier „social and ethnic senses of locality“ verhandelt werden. Sie setzt bei der Perspektive eines produzierten und relationalen Raums an, in dem Baustellen als Orte der Dekonstruktion für (staatlich bestimmte) Stadtentwicklung und -gestaltung notwendig sind und fragt, welche (über-)individuellen Wahrnehmungen und Perspektiven auf Baustellen und den damit verbundenen baulichen Wandel der Stadt vorhanden sind. Durch die Linse von Baustellen wird die Herstellung von zukünftig lokal bedeutsamen, urbanen Orten untersucht. Ethnografien auf Baustellen gehen Fragen der Arbeitskultur und insbesondere Fragen der Sicherheit und Gesundheit nach. Gherardi et al. (1998, S. 202) untersuchen baustellenspezifische Sicherheitskulturen („safety culture“). Die in Leitfäden genannten Schutzziele sowie bestimmte Arbeitsschutzmaßnahmen werden als kontingent und auslegungsbedürftig verstanden und in ihrer Entfaltung vor Ort beforscht. Eine Erkenntnis hierbei ist, dass Sicherheitspraktiken im Rahmen der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im interkulturellen Miteinander auf Baustellen situativ festgelegt werden. Daran knüpfen Lingard und Oswald (2020) an, indem sie herausstellen, dass Sicherheit als komplexes, soziales Konzept durch Machtpositionen verhandelt wird und daher eher „an emergent property of a complex ecosystem of social relationships and interactions“ (ebd.) darstellt, und eben nicht (nur) eine rechtliche Schnittstelle zwischen Vertragspartner*innen. Insgesamt geht es bei Forschung auf Baustellen darum, die Prinzipien und Praktiken der alltäglichen Arbeit zu verstehen, häufig mit dem Effekt, die Komplexität von Baustellen als soziales Gefüge zu offenbaren und dies neben die rechtlich-wirtschaftlichen Auslegungen zu stellen. Im Zuge einer Ethnographic Research in the Construction Industry (Pink et al. 2013; auch Pink et al. 2010) kommt außerdem praxistheoretisches Theorie-Werkzeug zum Einsatz, um jene Aushandlungsprozesse um Macht oder Sicherheit besser beschreiben zu können.

Weiterhin geraten Baustellen im Kontext von Science and Technology Studies (Potthast 2007; Wortmeier und Kropp 2021) zumeist indirekt als technisierte Alltagsorte und in den Maintenance and Repair Studies (Strebel et al. 2019; Denis et al. 2015) zudem als Arbeitsplätze, die wiederum Störungen an Arbeitsplätzen beheben, in den Blick. Dabei steht bei letzteren das Reparieren als diskursive und materielle Praxis im Zentrum (Henke 2000) und es wird weniger die Frage gestellt, inwiefern Reparieren mit den umgebenden alltäglichen Abläufen korrespondiert. Aus Perspektive der Mobility and Infrastructure Studies (Star 1999; Korn et al. 2019; Coletta et al. 2020) symbolisieren Baustellen vor allem die Arbeit an Infrastrukturen einer Gesellschaft. Sie könnten auch stärker als Teil von Infrastruktur berücksichtigt werden, dies ist aber nach dem dominierenden Infrastruktur-Verständnis als nicht sichtbarer Hinter- oder Untergrund für alltäglichen Betrieb, das dem Globalen Norden zugerechnet wird, weitestgehend nicht der Fall (Marquardt 2017, S. 92). Wenn Infrastrukturen trotz ihrer gewöhnlichen Unsichtbarkeit doch zum Objekt und gar zur Barriere werden (Star 1999, S. 380), bezieht sich das meist auf die Relationalität von Infrastruktur im Kontext einer gewohnten Nutzung, nicht auf einen Umstand (Baustelle), der bisherige Relationalitäten außer Kraft setzt und die Karten gewissermaßen neu mischt. Baustellen als Teil und Bezugsgegenstand alltäglicher Praktiken bleiben auch hier ein blinder Fleck.

3 Praxeologische Baustellenforschung: Baustelle als Praxis

Eine praxeologische Baustellenforschung interessiert sich für die Wechselbeziehungen zwischen Praktiken der Baustelle und Praktiken der städtischen Umgebung. Nicht zuletzt aufgrund der Allgegenwärtigkeit und Alltäglichkeit von Baustellen (insbesondere in Städten) drängen sich Fragen nach der Art dieser Wechselbeziehungen auf, nach ihrer Gestaltbarkeit und ihrem Potenzial für soziale Begegnung, die auch für Fragen der Ordnung im öffentlichen Raum (Schubert 2000) relevant sind. Mit einer praxeologischen Baustellenforschung ziele ich auf die gewohnten, alltagsweltlich unproblematischen Beziehungen zwischen ausgewiesenen Stellen des Bauens („Arbeitsstelle“) und ihrer Umgebung, die ich in sozialen Praktiken vermittelt sehe. Dabei geht es vor allem um die Körperlichkeit, die Materialität und Kontextualität (Schäfer 2016) jener Beziehungen. Als Forscherin bleibe ich nicht am Bauzaun stehen – weder auf der einen, noch auf der anderen Seite – sondern ich bewege mich immerzu entlang der unausgesprochenen und nonverbalen Grenzziehungen zwischen Baufeld und Umfeld. Die somit unterstellte, geteilte Praxis ‚Baustelle‘ halte ich heuristisch offen, um Aktivitäten, Diskurse und Akteure, die nicht unmittelbar im Umkreis der ausgewiesenen Baumaßnahme angegliedert sind, in den Blick nehmen zu können. Nicht nur die „Stelle“ (Bollnow 2000) des Arbeitens resp. Bauens bildet das Forschungsfeld, sondern das gesamte Gefüge von Praktiken, die darin verwickelt sind.

Soziale Praktiken verstehe ich mit Schatzki (2001, S. 56) als sich über Zeit und Raum erstreckende organisierte Verbindungen von Aktivitäten, die eine eigene Zielorientierung, eine „teleoaffective structure“ (ebd.) haben. Sie lassen sich hinsichtlich ihrer normativen Struktur (Wagenknecht 2020) – dass ein Ziel unter gewissen Bedingungen als potenziell erreichbar entworfen wird – sinnhaft voneinander abgrenzen. Eine praxeologische Baustellenforschung untersucht die Verschränkung und wechselseitige Bedingtheit von Praktiken der Baustelle und Praktiken der Umgebung mit dem Ziel einer geteilten, gelingenden Baustellen-Praxis. Mit dieser These, dass gleichsam die städtische Umgebung und ihre alltäglichen Praktiken wie auch die Angehörigen und Praktiken des Baufelds an dem Gelingen der Baustelle als Praxis beteiligt sind, stellen sich weitere, grundsätzliche Fragen: nach der Aushandlung von Räumen im Alltag, nach der Bedeutung von öffentlichem Raum als Schnittstelle von Lebensräumen sowie danach, wie soziale Ordnung unter der Bedingung von Baustelle immer wieder hergestellt wird.

Wenn ich von der Aushandlung von Räumen im Alltag spreche, bezieht sich das auf jenen Raum, den eine soziale Praktik beansprucht oder den eine Praktik bedarf, um ausgeführt werden zu können.Footnote 12 Man stelle sich vor, ein Bild an der Staffelei zu bearbeiten. Um dies erfolgreich tun zu können, braucht es neben einigen „materiellen Arrangements“ (Schatzki 2016b, S. 69) auch einen gewissen Abstand zwischen Staffelei und der malenden Person. Weiterhin würden die zu erlaufenden Wege zu Waschbecken, Lichtzufuhr etc. dazugehören, um den alltäglichen Raum der Arbeit an der Staffelei zu beschreiben. In Bezug auf die Architekturerfahrung in Arbeitsumgebungen habe ich diese alltäglichen Räume sozialer Praktiken als gewohnte Verortung verteilter Tätigkeit bezeichnet (Neubert 2018, S. 117 f.). Damit kann also jener Teil der Arbeitstätigkeit beschrieben werden, der gewohnt und routiniert unter Einsatz von Arbeitsmitteln, auch mit anderen Kolleg*innen und deren Arbeitsplätzen stattfindet. Mit dem so verstandenen alltäglichen Raum von Arbeit sind auch entsprechende Emotionen und Affekte verbunden, meist ist es eben „das Normale“ (ebd., S. 108). Entscheidend ist aber, dass diese alltäglichen Räume an bestimmte soziale Praktiken geknüpft sind, die verortet ausgeführt werden und intersubjektiv geteilt werden können. Darum ist es möglich, Alltagsräume der Baustelle und ihrer Umgebung über einen längeren Zeitraum und verschiedene „Partizipanden“ (Hirschauer 2004) hinweg zueinander in Beziehung zu setzen und deren Aushandlung mittels Praktiken empirisch zu beschreiben.

Ein praxistheoretisch fundierter Zugriff ermöglicht folglich eine Weitung des Blicks auf Baustellen von zweckrationalen, handlungszentrierten Eingriffen in die gebaute Umgebung hin zu der situierten und performativen Verstrickung von Aktivitäten und Akteuren im Alltag, die allesamt ‚Baustelle‘ konstituieren. Im Folgenden stelle ich die analytisch getrennten Themen relationale Störung und situierter Alltag, sozio-materielle Kopplung von Baustelle und Umgebung sowie die Aushandlung interdependenter Lebensräume von Menschen, Flora und Fauna anhand empirischer Daten zur Diskussion.

3.1 Analytische Themen

3.1.1 Relationale Störung und situierter Alltag

Bis zu einem gewissen Maß gehören Baustellen zum Hintergrundrauschen von städtischem Alltag, die vermeintliche „Banalität der Baustelle“ (Ernst-Heidenreich 2019, S. 218) ist adressiert. Die feinen Unterschiede hinsichtlich der Betroffenheit durch Baustellen innerhalb dieser alltagsweltlichen Banalität lassen sich nur empirisch bestimmen. Dabei wird die Relationalität und Kontextualität alltäglicher Praktiken thematisiert (Schäfer 2016). Die Art und der Umfang der Störung ist abhängig 1) von der Praktik bzw. dem Praktikzusammenhang, der betroffen ist, 2) von der zeitlichen Dauer und Orientierung der verursachenden Aktivität der BaustelleFootnote 13 sowie 3) von dem Zuschnitt des sich materialisierenden Eingriffs in den alltäglichen Raum. Es liegt nahe, dass eine Passantin, die einen Teil der Straße für einen Alltagsweg verwendet oder die Postzustellung, die zwar täglich, aber nicht dauerhaft den Bauarbeiten ausgesetzt ist, in einer anderen Relation zu den potenziellen Verhinderungen der Baustelle stehen als die anliegenden Gewerbeeinheiten und Anwohnende. Die raum-zeitliche Ausdehnung der Bauarbeiten wie auch der angrenzenden Tätigkeiten treffen je verschieden aufeinander und bestimmen die Art der Störung im Alltag mit.

Die Überschneidung der alltäglichen Räume von Baufeld und Postauslieferung dauert jeweils nur einen kurzen Moment an. Routiniert können danach die unterbrochenen Abläufe wieder zusammengeführt werden, wie in dem folgenden Auszug deutlich wird:

Eine Postzustellerin stellt ihr breites Fahrrad direkt vor die Ausfahrt eines Baufelds, in dem ein Radlader rangiert. Sie geht dann durch das Baufeld, um im Mehrfamilienhaus Post abzuliefern. Sie ist noch im Haus, da muss der Radlader aus dem Baufeld fahren. Ein Bauarbeiter geht voran und setzt das Post-Fahrrad ein großes Stück zur Seite. Als die Postzustellerin zurückkommt, schaut der Bauarbeiter mehrfach in ihre Richtung, scheinbar um zu sehen, wie und ob sie auf die deutliche Umstellung des Rads reagiert. Sie jedoch blickt sich nicht suchend um. (Feldtagebuch 2022-3-28)

Die Orientierung beider Praktiken scheinen hier wechselseitig bekannt, sodass auch der Eingriff in den jeweiligen Raum toleriert wird. Das Postfahrrad kann abgestellt werden, weil es nicht von langer Dauer sein wird, und es kann von Bauarbeitenden in Abwesenheit umgestellt werden, weil es als flexibles Element der Postzustellung die Praktik nicht verhindert. Im Kontext der Postauslieferung ist ein durch Bauarbeiten begründet versetztes Fahrrad ein gewohnter Umstand, den die Zustellerin kaum registriert.

Die anliegenden Gewerbeeinheiten des Straßenzugs sehen sich hingegen der Baustelle dauerhafter ausgesetzt. Obgleich vorab in den Geschäften über die Baumaßnahme informiert wird, bleibt die konkrete Vorgehensweise im Baufeld für sie intransparent und ein Ende der Arbeiten nur schwer vorhersagbar. Daher macht es für zwei Gewerbetreibende Sinn, ad hoc und flexibel mit eigenen Mitteln auf Einschränkungen zu reagieren. Als das Baufeld vor ihren Türen eröffnet wird, richten sie sich explizit an ihre Kundschaft:

Die Boutique hat seit letzter Woche umdekoriert und hat nun orangene Farben im Schaufenster. Der Teeladen hat ein selbst geschriebenes Schild in der Tür „wir haben trotz Baustelle geöffnet“, wobei das Wort Baustelle in orange-roter Farbe geschrieben ist. In dem vierteiligen Schaufenster daneben steht in jedem Fenster eines der aus Din A 4 Papier ausgeschnittenen Buchstaben: O, P, E, N. (Feldtagebuch 2022-4-14)

Die Gewerbeeinheiten widersetzen sich der Präsenz des Provisorischen so gut wie möglich. Über die Schmutzzonen vor ihren Geschäften, die eine unerwünschte Distanz zu Laufkundschaft aufbauen, kommunizieren sie hinweg mit dem Ziel, die Konsumpraktik in ihrer Orientierung des Flanierens, Schauens und Eintretens aufrecht zu erhalten. Der Eingriff in ihren gewohnten Konsum-Vorraum ist durch das sandige Baufeld erheblich, denn den Passant*innen bleibt jetzt nur eine schmale Zuwegung zu den Geschäften, die durch Stege hergestellt wird. Wann diese Einschränkung endet, ist ungewiss. Zusätzlich ist meist der Blick durch das Schaufenster eingeschränkt. So macht es für eine weitere Boutiquebesitzerin einen großen Unterschied, wenn trotz Baufeld noch eine kleine Ecke des Schaufensters für die Kundschaft zugänglich bliebe. In ihrem Laden vollziehen wir den Schaufensterblick umgedreht nach.

Wir stellen uns nah an das Schaufenster von innen und blicken nach außen. Es wird deutlich, dass der Zaun nur etwas geschwenkt werden müsste, sodass man an einer kleinen Stelle an das Fenster herantreten könnte und damit dann auch einen weiteren Blick in den Laden werfen kann. (Feldtagebuch 2022-5-31)

Im Anschluss an meinen Besuch will sie die Bauarbeitenden ansprechen, ob der Zaun geschwenkt werden könnte, sie selbst kann ihn nicht anheben. Eine minimale Korrektur des abgesteckten Baufelds könnte für sie als Geschäftsinhaberin die mangelhafte Vorhersagbarkeit der Bauarbeiten – und damit die Störung – relativieren. Ebenso zeigt sich, dass die durch Baustellen auftretende Störung nicht nur in Relation zu sozialen Praktiken steht, sondern Praktiken insgesamt situiert werden. Wer und was kann auf welche Ressourcen und Kompetenzen zurückgreifen, um Störungen im Alltag zu thematisieren und zu bearbeiten? Dieser Zusammenhang wird in der folgenden Beobachtung anhand weiterer Rationalisierungen der Beeinträchtigung durch die Bauarbeiten angedeutet: An einem Kreuzungsbereich, etwa mittig in dem betreffenden Straßenzug, wurden die neuen Pflastersteine schon verlegt, nun muss Kies verteilt und mittels Wasser eingearbeitet werden. Durch dieses Einschlemmen werden die neu verlegten Pflastersteine untereinander und auf dem Untergrund gefestigt. Ein Arbeiter geht voran und verteilt den Kies, zwei weitere Arbeiter gehen mit Wasserschlauch und Wischer hinterher. Auf dem Gehweg entsteht ein braunes Kies-Wasser-Gemisch.

Während sie diese zügige Arbeit beginnen, kommen recht viele Passant*innen genau an dieser Stelle entlang. Ein Mann kommt mit zwei Krücken, noch bevor das Wasser verteilt wird, und es knirscht, als er über den Kies geht. Er hat im Vergleich zum vorherigen, unbebauten Wegabschnitt jetzt sichtbar weniger Halt, aber er rutscht nicht aus. Fahrradfahrende steigen ab oder extra auf, um nicht die Schuhe in den Schlamm setzen zu müssen. Viele haben weiße Schuhe an, sie gehen dann eher vorsichtig über den Bereich, sodass es nicht spritzt etc. […] Es sind Blicke zwischen den Arbeitern und den Passant*innen, eine Frau steigt aufs Fahrrad, und sagt das auch. Eine andere Person kommt mit dem Fahrrad die Fußweg-Umleitung entlang und fragt mich, ob man dort lang fahren darf? Denn vor ihr beginnt der Bereich mit nassem, eingeschlemmten Boden. […] Eine Frau mit zwei Kindern auf Rollern kommt ebenfalls die Fußweg-Umleitung entlang. Ein Kind greift mit der Hand nach dem Kies auf dem Boden. Zu dem anderen Kind sagt sie: „Nein, du musst das nicht auch machen.“ Ich rücke eine Stufe auf der Treppe, auf der ich sitze, hoch, als die Bauarbeiter mit dem Wasserschlauch und dem Schlamm vorrücken in meine Richtung. (Feldtagebuch 2022-5-3)

Ad hoc werden einzelne Personen des Fußverkehrs durch die Straßenbaustelle herausgefordert und darin auch situiert: Welche Fortbewegungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung, wie ist die körperliche Verfasstheit, welchen Status haben Kleidung und andere mitgeführte Gegenstände (Fahrrad) und in welcher Lebensphase befinden sich die Passant*innen (Elternschaft, in Rente etc.)? Während dies alltagsweltlich beim Gang von A nach B kaum reflektiert wird, situiert die räumlich abgegrenzte Situation (Goffman 1971, S. 32 f.) der Baustelle die anwesenden Passant*innen augenblicklich und verweist auf ihre je individuellen Bedingungen alltäglicher Praktiken.

3.1.2 Sozio-materielle Kopplung von Baustelle und Umgebung (bzw. Baufeld und Umfeld)

Weder der Alltag der Baustelle noch der Alltag der Umgebung finden jeweils nur innerhalb oder nur außerhalb des Bauzauns statt. Passant*innen müssen das Baufeld queren, die Bauarbeitenden richten sich in ihrem verorteten Arbeitsalltag ein und werden Kund*innen von Lebensmittelgeschäften, Kiosken und zeitweise Teil des Quartiers. Die in der Regel stationierte Baustelleneinrichtung in Form von Baucontainern und Bauwagen unterstreicht dies zusätzlich. Arbeitsprozesse im Baufeld wie auch alltägliche Abläufe des angrenzenden Umfelds unterstelle ich deshalb als potenziell miteinander verbundene und verteilte sozio-materielle Aktivitäten (Gherardi 2017). Mit dem praxistheoretischen Vokabular lässt sich diese Verbindung auch als Kopplung von Baufeld und Umfeld insbesondere hinsichtlich der Körperlichkeit und Materialität ihrer sozialen Praktiken argumentieren.

Gut nachvollziehbar werden gekoppelte Aktivitäten anhand einzelner Dinge, wie z. B. der eben genannte Kies, der in Haufen an Baufeldgrenzen lagert. Für die Arbeiten im Baufeld ist es notwendiges Baumaterial, das bei einer Straßensanierung jederzeit griff- bzw. schippbereit sein sollte. Kieshaufen befinden sich während der gesamten Bauzeit immer in Nähe der aktiven Baufelder. Sie befinden sich somit jedoch auch am Rand der (provisorischen) Gehwege. Menschen mit Kindern oder Hunden kommen kaum an ihnen vorbei, ohne, dass etwas mit ihnen gemacht wird (z. B. reingreifen, ranpinkeln). Der Kies vermittelt das Feld des Bauens in diesen Fällen mit dem Fußverkehr, seine praktische „Zuhandenheit“ (Heidegger 2006) besteht zu beiden Seiten.

Ein weiteres Ding, das Baufeld und Umfeld im öffentlichen Raum vermittelt, ist die Bau-Brücke, die Fußverkehr sicher über aufgegrabene oder sandige Bodenflächen führen soll. Im Verlauf eines Tages kann es vorkommen, dass Überbrückungen und entsprechende Rampen versetzt oder anderweitig verändert werden müssen. Sie sind mobil und flexibel einsetzbar. Anhand dieser Fußgängerbrücken mit einer normierten Breite und einer bestimmten stofflichen Beschaffenheit (in diesem Fall aus Holz) lassen sich sowohl Orientierungen des Arbeitens im Baufeld verfolgen (Ist die Brücke zu schwer oder noch gut händisch zu bewegen, sodass sie sich bei ankommenden Fußverkehr schnell anlegen lässt?) als auch die Art der Annäherung und Durchführung der Alltagswege von Passant*innen nachvollziehen (Kann ich mit dem Kinderwagen oder den Krücken darüber sicher laufen oder nicht?). Ergänzend zu der eben angesprochenen Frage der Situierung von Alltag durch Baustellen wird nun insbesondere die Sozio-Materialität von Praktiken adressiert (Gherardi 2017; auch Schmidt 2019).

Ich beobachte den Fußverkehr durch das Baufeld. Es ist ein Steg eingerichtet. Durch die Schachtarbeiten muss immer wieder eine Brücke des Steges je nach Position der Arbeiten verschoben werden. Wenn sich ein Kinderwagen nähert, dann wird die Brücke sofort angelegt, um die Überquerung des Grabens sicherzustellen, wenn aber nur vereinzelte Passant*innen kommen, dann geschieht dies nicht sofort […] Einige stocken kurz, wenn sie sehen, dass ihr Weg in wenigen Metern unterbrochen ist, sie schauen sich nach alternativen Wegen um. Manchmal weist dann ein Bauarbeiter auf den offenen Bauzaun. (Feldtagebuch 2022-3-22)

Anhand der Fußgängerbrücke lässt sich die Sozio-Materialität der sozialen Praktiken Bauen und Gehen als gekoppelt beschreiben. Beide Aktivitäten beziehen sich in ihrer Orientierung und körperlichen Performanz aufeinander: Einmal gilt die Brücke als mobiles Element im Baufeld, das eine bestimmte Schwere verkörpertFootnote 14, ein anderes Mal als unsicheres Element des Weges, insbesondere in Bezug auf Traglast und Trittfestigkeit. Die Sinnverständlichkeit beider Praktiken (Schmidt 2017) lässt sich an geteilten Dingen des gemeinsamen Alltags Baustelle nachzeichnen und in ihrer differenten teleoaffektiven Struktur pointieren.

Baustellen praxeologisch zu erforschen legt somit das Verständnis eines geteilten öffentlichen und urbanen Raums nahe sowie es in sozialtheoretischer Hinsicht anregt, der Bündelung und Separation von Praktiken und ihren Bestandteilen zu folgen und empirisch zu konkretisieren. Beispielsweise schaffen Baustellen dort Ordnung, wo der Straßenraum für den baulichen Eingriff vorbereitet werden muss: Fahrräder werden von Bügeln entfernt und gebündelt gelagert, herumliegender Abfall wird aus den Baumscheiben (der Boden um den Baumstamm herum, der nicht gepflastert ist) entfernt, um diese neu zu befüllen, Außenbereiche des Gewerbes (z. B. Sitzplätze, Aufsteller, Pflanzenkübel) werden separiert und abgegrenzt, wenn sich Baustellen einrichten. Auch eine Dixi-Toilette kann dann ihre eigene Bauzaun-Einhausung erhalten. Anhand von wortwörtlich Platz nehmenden Baustellen offenbart sich urbaner Raum in seiner Mehrschichtigkeit. Nicht nur werden soziale Praktiken in ihren konkreten, verkörperten und sich überlagernden Raumansprüchen aufgedeckt, auch ganze „bundles of practices and arrangements“ (Schatzki 2016a, S. 6), „die die qualitative Verkettung einzelner Praktiken beschreiben (bspw. das Rad parken und anschließen und das Eintreten in das Haus als Praktikenbündel des nach-Hause-kommens), werden entkoppelt“ (Neubert 2023) oder mindestens neu arrangiert. Diesen Veränderungen, Verhinderungen und Anpassungen gewohnter Abläufe folgt eine praxeologische Baustellenforschung dezidiert, auch und gerade in Bezug auf die alltäglichen Räume anderer, nicht-menschlicher Akteure.

3.1.3 Aushandlung interdependenter Lebensräume von Menschen, Flora und Fauna

Sind die Pflastersteine abgehoben und der Kiesuntergrund freigelegt, erhält man Einblick in die Praktiken und Räume von Tier- und Pflanzenwelt. Am Sockelbereich der Häuser werden kleine Risse und Löcher tierischer Bewohner sichtbar, unter dem alten Pflaster ducken und wölben sich stärkere Wurzeln der Bäume. Vor allem die Baumpflege hat im Straßenbau einen wachsenden Stellenwert. Die Hamburgische Bauordnung erwähnt unter Baustellen (§ 14) im vierten Absatz, dass Bäume und Bepflanzungen „während der Bauausführung geschützt werden [müssen]“ (HBauO 2005). Vor Ort werden Bäume frühzeitig als wirksame Akteure im Straßenbau thematisiert, die zudem regelmäßig unterschiedliche Fachabteilungen der Baustelle versammeln: Baumpflege, Baufirma, Bauüberwachung, Bauherr*in und andere stimmen an Ort und Stelle über den weiteren Fortgang der Arbeiten oder eventuelle Planungsänderungen etwa aufgrund zu vieler oder zu starker Wurzeln ab. Damit stellen sich Grünanlagen (Bäume und Stauden) im öffentlichen Straßenraum auch als entsprechend unsichere Planungsvariable heraus. Da vor der Eröffnung des Baufeldes ihr unterirdisches Habitat nur erahnt werden kann, ist Baustelle auch hier als Praxis der Aushandlung von alltäglichen Räumen gefordert, und arbeitet dabei – auch ohne soziologisches Interesse daran – mit einem erweiterten Akteurverständnis. Ein weiterer Auszug aus meinem Feldtagebuch hebt jene Abwägungen, die ein Aushandeln zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Bedarfen andeuten, hervor:

Ich frage den Mitarbeiter der Bauüberwachung nach der Wurzel, die auf dem Privatgrund des Baufeldes deutlich herausragt. Er meint, es sähe so aus, als könnte man mit der Wurzel so nicht pflastern bzw. als müsste man etwas davor unternehmen. Er geht mit mir zu der Wurzel ins Baufeld. Wir stehen direkt vor der Wurzel, da deutet er unter dem Sand auf die Steine eines anderen Gemäuers im Privatbereich des Baufelds, weshalb man es vorher auch nicht sehen konnte. Das sei der Mist, wenn man auf Privatgrund baue, meint er. Die Wurzel habe sich an der Mauer entlang gedrückt und sei deshalb nach oben gekommen, weil sie wohl keinen anderen Platz hatte. (Feldtagebuch 2022-3-14)

Der unterirdische private Kellerraum bedingt anscheinend eine bestimmte Ausrichtung des Wurzelballens, die wiederum den öffentlichen oberirdischen Straßenraum verändert. Im Anschluss an Schroer, der den vergessenen Stadt-Alltag der tierischen Umwelt illustriert und ihn mit dem menschlichen ins Verhältnis rückt, wird in der Begegnung mit solchen Stellen im Baufeld „die Stadt als Lebensraum für Pflanzen Tiere und Menschen“ (Schroer 2022, S. 311) spürbar. Nicht nur Menschen entfalten sich hier in ihren alltäglichen Praktiken, sondern auch Tiere und Pflanzen versorgen sich mit Nährstoffen und sichern sich ihren Platz. Baustellen wirken in Gestalt eines negativen „Ruderalbiotops“ (Lachmund 2016) als Katalysator des Wissens um interdependente Lebensräume.

Ein mikrologischer Blick auf und in Baufelder ermöglicht zum einen ein Verständnis für die Teilhabe anderer, nicht-humaner Akteure am Alltag Baustelle und gewährt Einblick in die je spezifischen „raumbildenden Kräfte“ (Schroer 2022, S. 134), zum anderen werden die Konsequenzen davon nachvollziehbar: Bezüglich der Gestaltung der Arbeiten, der Auswahl des Baumaterials und der Art der Ausführung werden wesentliche Entscheidungen getroffen, die die Resonanz des Viertels und seiner Anwohnenden auf die Baumaßnahme beeinflussen. Beispielsweise müssen in der beforschten Straßenbaustelle mehrere Stellen im neu verlegten Pflaster frei gelassen werden, um stärkere Wurzeln nicht zu beschädigen und ihnen entsprechenden Entfaltungsspielraum zu gewähren, so auch bei der oben zitierten Stelle. Diese Flächen werden statt mit Steinen gepflastert mit speziellem Kies aufgefüllt. Dies hat jedoch zur Folge, dass Regen und auch regelmäßige Straßenreinigungsarbeiten den Kies ausspülen, sodass nach einiger Zeit und zur Unzufriedenheit der Anwohnenden und Passant*innen erneut Stolperkanten oder Pfützen entstehen können. Im Protokoll der 18. Baubesprechung (in dem Fall nach einigen Monaten Bauzeit) ist zu lesen: „In den fertiggestellten Nebenflächen auf der Nordseite sind die GlensandaflächenFootnote 15 nachzuarbeiten“ (Baubesprechung Nr. 18_18.8.22). Schließlich entscheidet man sich für das Auffüllen der Flächen mit Kaltasphalt, der (im Gegensatz zu Heißasphalt) als Kompromiss zwischen stolperfreiem Fußverkehr und Wasserdurchlässigkeit in den Boden zur Versorgung der Bäume zu lesen ist.

Durch die Baumaßnahmen treten Überschneidungen von Lebensräumen menschlicher und nicht-menschlicher Akteure deutlich zu tage. Baugruben offenbaren pflanzliche „Strategien“Footnote 16 (Edgar Morin in Schroer 2022, S. 163; auch Boyer 2016) an Grenzen, die sich entlang unterschiedlicher Bodenzusammensetzungen, Gebautem oder archäologisch bedeutsamen Artefakten ausbilden. Praxeologische Baustellenforschung kann hier zu mehr Einsehbarkeit verhelfen, indem empirisch nachvollzogen werden kann, wie primär rechtlich und sozial wirksame Raumverständnisse (wie privat/öffentlich) im Boden konterkariert werden, indem sie auf andere raumwirksame Praktiken treffen. Nach Schroer wäre nicht nur dieses Wissen der Pflanze ob der Ausweichung und Sicherung von Lebensräumen ein soziologisch relevantes, sondern auch ihre Orientierung am Lokalen, die sich in der Entfaltung „eines sesshaften Lebens“ (ebd., S. 165) zeige. Mag diese Perspektive auf Flora und Fauna im Kontext einer Multispezies-sensiblen Forschungshaltung (u. a. Hamilton und Taylor 2017; Ameli 2021) und anschlussfähigen Theoretisierungen (u. a. Adloff und Neckel 2020; Horn und Bergthaller 2019; Twellmann 2017; Latour 2016) nicht neu sein, so scheint ‚Baustelle‘ ein originäres Forschungsfeld für diese Fragen, die die bisherigen Perspektiven auf jene Orte der Arbeit und des technischen Fortschritts in Richtung der mehr-als-menschlichen-Welt erweitern. Studien zu „Animal Aided Design“ (Hauck und Weisser 2017) befassen sich darüber hinaus mit der Planung urbaner Kontakträume zwischen Mensch- und Tierwelten bei Neubauten. Igel-Schubladen im Sockelbereich sind dabei nur ein Baustein in der anvisierten ganzjährigen Fassadenbegrünung und „Fassadenbetierung“ (ebd., S. 75). Baustellen vermögen dann in doppeltem Sinn in ihrer notwendig konstruktiven Praxis „die Probleme des Mit-Werdens“ (Hoppe und Lemke 2021, S. 136, eig. Hervorhebung) zur Lösung herauszustellen.

4 Soziologie der Baustelle als integrierende Baustellenforschung

Abschließend komme ich auf den eingangs aufgenommenen Vorschlag einer integrierenden Baustellenforschung durch Böhme zurück. Ich möchte noch einmal hervorheben, dass die drei vorgestellten Themen empirisch wie theoretisch weiter zu vertiefen sind. Nichtsdestotrotz weisen sie bereits auf eine Integration von unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven auf Baustellen hin, die unter dem Dach einer qualitativ-empirischen Soziologie der Baustelle produktiv zum tieferen Verstehen von Baustellen und urbanen Räumen beitragen.

Nach Böhme (2010, S. 9) lagern ein formelles Wissen über Baustellen als Ingenieurschauplätze, ein informelles Erfahrungswissen der Bauarbeitenden sowie ein kulturwissenschaftliches Wissen über einen „von außen“ faszinierenden Ort nebeneinander. Diese im Forschungsstand aufgeführten Perspektiven (s. 2.) müssten „supplementiert werden durch symbolische, ästhetische, semiotische, phänomenologische, kommunikative und kulturhistorische Dimensionen. Erst wenn diese mit den materiell-empirischen Abläufen verbunden […] werden“ (ebd., S. 10), würde man dem Anspruch einer integrierenden Baustellenforschung gerecht werden. Meine Schlussfolgerung daraus habe ich in diesem Beitrag anhand ethnografischer Daten argumentiert: Eine praxeologische Dimension ist nötig, um dieser angezeigten Vielschichtigkeit von Baustelle nachzugehen. Eine praxeologische Baustellenforschung ist in der Lage, diesen Dimensionen, auch und explizit in Bezug auf die Verbindung von menschlichen und nicht-menschlichen alltäglichen Räumen zu folgen.

Die andiskutierten analytischen Themen – Relationalität von Störung und situierter Alltag, die nicht nur in Dingen, sondern auch in Affekten und Zielen gekoppelten Aktivitäten und Räume von Baustelle und Umgebung sowie die Ausweitung geteilter, alltäglicher Räume und Praktiken auf die Tier- und Pflanzenwelt – besetzen einen stadtgesellschaftlich und sozial-politisch brisanten Themenkomplex, den Baustellen wie in einem Brennglas verdichten. Der praxeologische Blick, der sich sowohl für die sozio-materiellen Mikroprozesse (Bodenleben, Aushandlung des „Wie weiter?“ in der Baugrube) als auch für die sich anschließenden, größeren Bündel und Komplexe sozialer Praktiken (Bauen als institutionalisierte Tätigkeit, Nachbarschaft und Öffentlichkeitsarbeit des Quartiers) interessiert, trägt dazu bei, das soziologische Potenzial von Baustellen zu entfalten. Eine empirisch vergleichende Soziologie der Baustelle – vergleichend etwa im Hinblick auf Baustellenarten (Hochbau, Straßenbau, Tiefbau), ihre Dauer und Größe der Baumaßnahme (Tages- vs. Dauerbaustelle), ihre sozialräumlichen Kontexte und geopolitischen Lagen – hat die Aufgabe, diesen Verflechtungen in aller Offenheit nachzugehen. Das vielschichtige Wissen der Baustelle kann soziologisch als Fundus integrierter und praktisch wirksamer Zugriffe auf Störungen des Alltags und deren Bearbeitung dienen und nutzbar gemacht werden. Nicht nur die Krisen des städtischen Lebens, wie sie sich etwa in Wohnungsnot, mangelndem Raum für soziale Begegnung oder Überhitzung ausdrücken, spiegeln und verdichten sich in Baustellen der Stadt, auch Hinweise auf praktische Überlebensstrategien menschlicher wie nicht-menschlicher Akteure offenbaren sich. Den Alltag (mit) Baustelle zentral zu stellen, wie es anhand der ethnografischen Daten hier versucht wurde, ist ein Anfang, dieses Wissen der Baustellen-Praxis soziologisch zu erschließen.