1 Problemstellung

Seit den 1980er-Jahren haben Deregulierungsprozesse am Arbeitsmarkt zu einer umfassenden Restrukturierung von Beschäftigungsverhältnissen in europäischen Gesellschaften geführt (Barbieri 2009). Auch in Österreich werden Risiken der ökonomischen und sozialen Absicherung verstärkt auf Arbeitnehmer*innen und die Ebene der Haushalte verlagert. So nimmt die Zahl jener Personen zu, die von unterschiedlichen Formen atypischer Beschäftigung (Projektarbeit, befristete Verträge, Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Niedriglohn) betroffen sind (Verwiebe et al. 2014). Zusätzlich sind Chancen für Aufstiegsmobilität und Vermögensaufbau gesunken (Förster und Königs 2019; Hadler und Klebel 2019) und Immobilienpreise in den Städten und auch am Land massiv gestiegen (Arbeiterkammer 2022). Gleichzeitig werden mittlere Arbeitseinkommen hoch besteuert, während vermögensbezogene Steuern in Österreich so gering ausfallen, wie in kaum einem anderen Industriestaat (OECD 2018), was von einem wachsenden Teil der Bevölkerung als ungerecht bewertet wird (Zandonella und Ehs 2020; Eder und Höllinger 2022) und das Vertrauen in die Demokratie aushöhlt (Zandonella et al. 2020).

Die ökonomischen Belastungslagen haben sich in jüngster Vergangenheit noch einmal verstärkt. Eine Studie von Jestl und List (2020) zeigt, dass durchschnittliche Realeinkommen in Österreich zwischen 2004 und 2016 stagnierten und vor allem Geringqualifizierte sowie unter 30jährige Einkommensverluste hinnehmen mussten. Anfang 2020 haben die Auswirkungen der COVID19-Pandemie bestehende soziale Ungleichheiten noch weiter vergrößert: Armutsgefährdung und Arbeitslosigkeit nahmen in Österreich zu (Statistik Austria 38,39,a, b) und für einen Großteil der Bevölkerung sind die verfügbaren Einkommen gesunken, während das Durchschnittsgehalt von ATX-Manager*innen um 4 % anstieg und damit das 57-fache eines mittleren Gehalts ausmacht (Haager und Wieser 2021). Hinzu kommt, dass sich der Anteil an Familien, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befinden, erheblich vergrößert hat, insbesondere unter jenen mit vielen Kindern und bei Alleinerziehenden (Steiber et al. 2021), und sich Abstiegsängste in der Mittelschicht ausbreiten (Verwiebe und Wiesböck 2021).

Insgesamt ist ersichtlich, dass die Frage nach der Einkommensverteilung durch gegenwärtige multiple Krisensituationen – Gesundheits‑, Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise – wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt ist. Doch während sich zahlreiche Analysen mit Einkommensungleichheit (BMSGPK 2020; Jestl und List 2021; Hadler und Klebel 2019) oder der Einkommensverteilung vor und nach sozialstaatlichen Transfers (Christl et al. 2020) befassen, wird die Frage, wie Menschen in Österreich die wachsende Einkommensungleichheit bewerten, bisher noch relativ wenig diskutiert. Aktuell vorliegende Studien zeigen, dass Österreicher*innen staatliche Einkommensumverteilungen bereits vor der Pandemie stark befürwortet haben (Ochsner et al. 2018), eine aktive Rolle des Staates in sozialpolitischen Fragen seit den 1980er-Jahren deutlich unterstützen (Haller 1996; Verwiebe und Bacher 2019) und die Zustimmung zum Sozialstaat wie auch zu einem bedingungslosen Grundeinkommens im Verlauf der Corona-Pandemie stärker geworden ist (Liedl und Steiber 2021; Eder und Höllinger 2022).Footnote 1 Aus unserer Sicht wäre es allerdings wichtig, sozialstaatliche Präferenzen von Österreicher*innen in einer größeren Differenzierung zu erfassen als das meist üblich ist. Das betrifft insbesondere die Einordnung in einen zeitlichen und ländervergleichenden Kontext und wie auch die Berücksichtigung der „deservingness“ von gesellschaftlichen Gruppen, die durch staatliche Gelder unterstützt werden, wie Pensionist*innen oder Arbeitslose (van Oorschot 2006; Delhey und Dragolov 2014; Roex et al. 2019).

Diesem Thema gehen wir in der vorliegenden Forschungsnotiz nach und stellen dabei drei Fragen in den Mittelpunkt:

  1. 1.

    Wie werden Einkommensungleichheiten und die Verantwortlichkeit des Staates, diese zu reduzieren, aktuell im europäischen Vergleich wahrgenommen und bewertet?

  2. 2.

    Wie entwickeln sich Einstellungen zur Verantwortung des Staates im Bereich gesundheitliche Versorgung, soziale Sicherung von Pensionist*innen und Arbeitslosen und dem Abbau von Einkommensunterschieden von 1986 bis 2021?

  3. 3.

    Welche Differenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen lassen sich bezüglich der Wahrnehmung von Einkommensungleichheit in Österreich ausmachen?

Der Beitrag gliedert sich im Folgenden in drei weitere Abschnitte. Kap. 2 beschreibt die verwendeten Befragungsdaten und das methodische Design der Forschungsnotiz. Abschn. 3 gibt einen kurzen Überblick über die Studienergebnisse. Im vierten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst und im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen reflektiert.

2 Daten und Methoden

Empirisch stützen wir uns auf die aktuellsten ISSP-Daten (2019/20) sowie auf die SSÖ-Befragungen zwischen 1986 und 2021, die wir für den vorliegenden Beitrag mittels deskriptiver und regressionsanalytischer Verfahren ausgewertet haben. Im ersten Schritt wird die Zustimmung zu den Aussagen „Die Einkommensunterschiede sind zu groß“ und „Die Verantwortlichkeit des Staates ist es, Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich abzubauen“ mithilfe der ISSP-Daten in elf ausgewählten europäischen Ländern untersucht. Um die Bewertungen der Einkommensunterschiede weiter zu kontextualisieren, ziehen wir zusätzlich die „objektive“ Ungleichheit der Einkommen hinzu. Die Grundlage dafür bilden GINI-Koeffizienten der verfügbaren Haushaltsäquivalenzeinkommen nach Sozialtransfers (Basis: Eurostat-Daten). Darauf aufbauend werden Einstellungen zu Fragen staatlicher Verantwortung im Zeitverlauf (1986 bis 2021) untersucht. Dazu werden aus den SSÖ-Daten folgende Variablen herangezogen: „gesundheitliche Versorgung für Kranke sicherstellen“, „den Rentnern und Pensionären einen angemessenen Lebensstandard sichern“, „den Arbeitslosen einen angemessenen Lebensstandard sichern“, sowie „die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich abbauen“.Footnote 2 Schließlich wird mittels hierarchischer Regressionen analysiert, inwieweit sich die Zustimmung zur Aussage „Die Einkommensunterschiede in Österreich sind zu groß“ zwischen verschiedenen sozialen Gruppen unterscheidet. Im ersten Modell werden soziodemographische Indikatoren berücksichtigt: Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund (beide Eltern im Ausland geboren) und Anzahl der Haushaltsmitglieder. Im zweiten Modell werden zusätzlich Variablen zum höchsten Bildungsabschluss, zur aktuellen beruflichen Stellung und zum Haushaltseinkommen aufgenommen. Im dritten Modell ergänzen wir Variablen zur politischen Selbsteinstufung (Links-Rechts-Schema) und Gewerkschaftsmitgliedschaft sowie einen Indikator für Religiosität (Besuch von Gottesdiensten). Im vierten Modell nehmen wir sozialpolitische Einstellungen und Gerechtigkeitsbewertungen in die Analysen auf. Dazu nutzen wir zwei Variablen aus der aktuellen ISSP-Befragung („Es ist Aufgabe des Staates, die Einkommensunterschiede zwischen den Leuten mit hohem Einkommen und solchen mit niedrigem Einkommen zu verringern“; „Wie würden Sie im Großen und Ganzen die Steuern in Österreich für Leute mit hohem Einkommen heute bewerten?“) und einen Indikator für das Ausmaß der wahrgenommenen gesellschaftlichen Einkommensungerechtigkeit nach Jasso und Wegener (1997) (siehe Anhang).Footnote 3

3 Ergebnisse

3.1 Einstellungen zur Einkommensungleichheit – Österreich im europäischen Vergleich

Empirisch zeigt sich, dass 9 aus 10 Personen in Österreich der Aussage zustimmen, dass die bestehenden Einkommensunterschiede zu groß sind (siehe Abb. 1). Auch in anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten, wie Deutschland (91,5 %) und Italien (93,8 %), werden in ähnlicher und teilweise noch stärkerer Weise die bestehenden Einkommensunterschiede kritisiert (vgl. Mau et al. 2020). Das sind Länder, die im europäischen Vergleich eine mittlere Ungleichheit der Haushaltseinkommen nach Sozialtransfers aufweisen (Hadler und Klebel 2019), wenn man die GINI-Koeffizienten betrachtet, die wir in die Abb. 1 integriert haben. In den sozialdemokratischen Wohlfahrtstaaten Dänemark und Finnland werden die Einkommensunterschiede weniger häufig als zu hoch bewertet (59,3 und 68,6 %). Hierbei handelt es sich ebenso um Gesellschaften mit einer relativ geringen Ungleichheit der Haushaltseinkommen (Steele 2015). Gegenbeispiele dazu wären Litauen und Bulgarien, in denen zwischen 89,7 und 96,7 % der Bevölkerung die Einkommensunterschiede als zu groß bewerten. In diesen post-kommunistischen Wohlfahrtsstaaten (Fenger 2007) ist die Ungleichheit der Haushaltseinkommen nach Sozialtransfers auch faktisch viel stärker ausgeprägt als in anderen europäischen Gesellschaften. Tschechien und Slowenien weisen die niedrigste Ungleichheit der Haushaltseinkommen auf (GINI-Werte von 0,24 und 0,23). In beiden Ländern spielt das Steuer- und Sozialleistungssystem eine effektive Rolle bei der Verringerung von Einkommensungleichheit, u. a. durch die schrittweise Anhebung des Mindestlohns (OECD 2016; Grossmann 2021). Die ähnlich niedrige Einkommensungleichheit der beiden Staaten wird jedoch unterschiedlich bewertet: Während „nur“ drei Viertel der tschechischen Befragten diese als zu hoch einstuft (74,6 %), sind es in Slowenien 90,4 %. Schweiz und Großbritannien nehmen eine mittlere Position ein. Hier sagen um die 80 % der Bevölkerung, dass die Einkommensunterschiede zu groß sind. Die Ungleichheit der Haushaltseinkommen nach Sozialtransfers ist in diesen liberal ausgerichteten Wohlfahrtsstaaten höher als in den skandinavischen Ländern aber auch höher als in Österreich, Tschechien und Slowenien.

Abb. 1
figure 1

Die Einkommensunterschiede sind zu groß (2019/21). Quelle: ISSP 2019, SSÖ/ISSP 2021, Eurostat, eigene Berechnungen, gewichtet, Antwortkategorien „stimme voll und ganz zu“ und „stimme zu“ aufaddiert. Gini-Koeffizienten 2020 auf Basis des verfügbaren Haushaltsäquivalenzeinkommens nach Sozialtransfers

Ähnliche Muster beobachten wir mit Blick darauf, wie Menschen in Österreich und in anderen europäischen Ländern die Frage beantworten, ob es in der Verantwortung des Staates liege, die bestehenden Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich abzubauen (siehe Abb. 2). Hier zeigt sich eine im europäischen Vergleich überdurchschnittlich starke Präferenz der Österreicher*innen für den Abbau von Einkommensunterschieden (82,5 %). Auch in Italien, Litauern, Slowenien und vor allem in Bulgarien äußern sich zwischen 85 und 90 % der Befragten in dieser Weise. In Dänemark, einem Land mit einer geringen Ungleichheit der Haushaltseinkommen und einem stark umverteilenden Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1990; Hammer et al. 2021), findet sich die geringste Zustimmung für eine besondere Verantwortung des Staates bei der Reduzierung von Ungleichheit (53,9 %). Hier wurde innerhalb der untersuchten Ländergruppe auch am seltensten gesagt, dass die Einkommensunterschiede zu hoch sind (vgl. Abb. 1). Dies lässt sich mit der Sättigungshypothese nach Dallinger (2008) erklären, die besagt, dass Menschen in skandinavischen Ländern von einem hohen Niveau der Umverteilung ausgehen und dementsprechend nicht noch mehr Umverteilung befürworten. Mittlere Präferenzen für eine besondere Rolle des Staates bei der Reduzierung der Ungleichheit beobachten wir in Deutschland (71,5 %) und Finnland (72,0 %), zwei Staaten, die sich bzgl. der subjektiven Bewertung und der faktischen Ungleichheit der Einkommen relativ deutlich voneinander unterscheiden. In der Schweiz und Großbritannien, die über ein liberales Wohlfahrtsstaatsverständnis verfügen (Esping-Andersen 1990), präferieren etwa zwei Drittel der Befragten eine Verantwortung des Staates beim Abbau von Einkommensungleichheit.

Abb. 2
figure 2

Die Verantwortlichkeit des Staates ist es, Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich abzubauen (2019/21). Quelle: ISSP 2019, SSÖ/ISSP 2021, eigene Berechnungen, gewichtet, Antwortkategorien „stimme voll und ganz zu“ und „stimme zu“ aufaddiert

3.2 Einstellungen zur sozialpolitischen Verantwortung des Staates – Entwicklungen der letzten drei Dekaden in Österreich

Wie entwickeln sich nun Einstellungen zur sozialpolitischen Verantwortung in Österreich im Zeitverlauf? Der Blick auf die Tab. 1 zeigt eine sehr große Zustimmung und hohe Stabilität im Hinblick auf die dem Staat zugeschriebene Verantwortlichkeit in den Bereichen gesundheitliche Versorgung und Absicherung des Lebensstandards für Personen in Pension (Grausgruber 2019). Diese sozialpolitischen Leitideen unterstützen, je nach Befragungszeitpunkt, zwischen 95 und 99 % der Befragten. Die Zustimmung zu den anderen beiden Items ist keineswegs gering, fällt jedoch niedriger aus. Dass der Staat für einen angemessenen Lebensstandard von Menschen in Arbeitslosigkeit verantwortlich ist, befürworten über den Zeitraum zwischen 1986 und 2016 etwas mehr als zwei Drittel der Personen in Österreich. Im Jahr 2021 scheint dieser Wert zu sinken. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Menschen in Österreich in der Corona-Pandemie zu, die grundsätzlich für eine Bekämpfung von Arbeitslosigkeit eintreten (Kalleitner 2021). Deutlich mehr Befragte präferieren, dass der Staat für die Reduzierung von Einkommensunterschieden Verantwortung trägt. Mitte der 1980er-Jahre stimmten dieser Aussagen bereits 77,6 % und im Jahr 2016 sogar 87,6 % der Menschen in Österreich zu. 2021 waren es 82,5 % der Befragten. Gleichwohl gilt es bei beiden Items zu bedenken, dass die Messwerte aufgrund der Umstellung von einer 4stufigen auf eine 5stufige Variable nur mit Einschränkungen vergleichbar sind (und sich eine Zustimmungsreduktion u. U. allein dadurch ergeben hat, dass 2021 eine „neutrale“, mittlere Kategorie verfügbar ist).

Tab. 1 Es ist die Verantwortlichkeit des Staates … (1986–2021)

3.3 Subjektive Einkommensungleichheit in Österreich – Gruppenunterschiede

Abschließend diskutieren wir mithilfe von Regressionsanalysen die Frage, welche Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen bezüglich der wahrgenommenen Einkommensungleichheit in Österreich bestehen. Modell 1 in Tab. 2 zeigt dazu, dass Frauen eher als Männer die Einkommensungleichheit in Österreich zu hoch finden. Noch stärker sind die Altersunterschiede, nachdem mit zunehmendem Lebensalter die Kritik an der bestehenden Einkommensungleichheit zunimmt (ähnliche Geschlechts- und Altersunterschiede berichtet Grausgruber 2019, S. 468). Auch die Anzahl der Haushaltsmitglieder ist relevant. Je größer der Haushalt, desto stärker die Zustimmung, dass die Einkommensungleichheit in Österreich zu hoch ist. Dahingegen zeigt sich im Modell kein statistisch signifikanter Unterschied nach dem Migrationshintergrund der Befragten. Im Modell 2 werden zusätzlich Bildung, die berufliche Stellung und das Haushaltseinkommen als Einflussgrößen berücksichtigt: Das Bildungsniveau der Befragten hat nur eine relativ geringe Bedeutung; lediglich Befragte mit Lehrabschluss äußern eine signifikant stärkere Zustimmung zu der Aussage das die Einkommensungleichheit in Österreich zu hoch sei (Eder und Höllinger 2022). Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch für Berufstätige und Arbeitslose beobachten. Mit wachsendem Haushaltseinkommen wird hingegen die bestehende Ungleichheit in Österreich weniger kritisch gesehen (dies berichten Roex et al. 2019 auch für weitere europäische Länder). Modell 3 prüft zusätzlich den Einfluss von politischen und religiösen Verortungen (Höllinger und Aschauer 2022; Bodi-Fernandez et al. 2022). Hier lässt sich feststellen, dass die politische Selbsteinstufung als links oder rechts keinen, jedoch die Gewerkschaftsmitgliedschaft und die regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten einen schwach negativen Einfluss auf die wahrgenommene Einkommensungleichheit haben (allerdings nur auf dem 10 %-Niveau signifikant). Im Modell 4 zeigt sich schließlich, dass sozialpolitische Einstellungen und Gerechtigkeitsüberzeugungen zu weiteren Unterschieden in der subjektiven Bewertung der Einkommensungleichheit in Österreich führen (Melchior und Schürz 2015). Am stärksten tritt dies bei denjenigen auf, die es als Aufgabe des Staates sehen, die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich zu verringern. Aber auch die Einstellungen zur Steuergerechtigkeit und zur wahrgenommenen gesellschaftlichen Einkommensungerechtigkeit (Jasso und Wegener 1997; Eder und Höllinger 2022) stehen in einem signifikanten Zusammenhang mit dem untersuchten Thema. Durch die Aufnahme dieser Variablen reduzieren sich in Teilen die Effektstärken anderer Einflussgrößen (z. B. von Haushaltseinkommen) und einige Variablen sind nicht mehr signifikant (z. B. Gewerkschaftsmitgliedschaft, Gottesdienstbesuch).Footnote 4

Tab. 2 Regressionsanalyse für „Die Einkommensunterschiede in Österreich sind zu groß“ (2021)

4 Fazit und Ausblick

Im Zentrum dieses Beitrags standen drei Fragen. Zunächst haben wir im europäischen Vergleich diskutiert, wie Einkommensungleichheit in Österreich von der Bevölkerung bewertet wird und inwieweit sie den Staat in der Verantwortung sieht, diese zu reduzieren. Im Hinblick auf diese erste Forschungsfrage lässt sich zusammenfassend sagen, dass Österreicher*innen Einkommensungleichheit mit überwiegender Mehrheit als zu hoch wahrnehmen und dem Staat eine klare Verantwortung für den Abbau dieser Ungleichheit zuschreiben (Jestl und List 2021; Zandonella und Ehs 2020; Grausgruber 2019). Diese Einstellungen werden von Menschen in Österreich viel dezidierter vertreten als in den meisten anderen europäischen Gesellschaften, trotz einer im EU-Kontext moderaten „objektiven“ Ungleichheit der Haushaltseinkommen. Dieses Ergebnis ist aus unserer Sicht von gesellschaftspolitischerer Relevanz und lässt sich in den Zusammenhang aktueller internationaler Studien einordnen (OECD 2021; Albacete et al. 2021), nach denen ökonomische Unsicherheiten und finanzielle Sorgen zuletzt wieder zugenommen haben (Bodi-Fernandez et al. 2022). So kann die Einschätzung von Einkommensungleichheit als zu hoch nicht nur die aktuelle Wirtschaftslage widerspiegeln, sondern auch als Ausdruck von Befürchtungen um deren zukünftige Implikationen gedeutet werden.

Mit unserer zweiten Forschungsfrage haben wir untersucht, wie sich Einstellungen zur Verantwortung des Staates im Bereich der gesundheitlichen Versorgung, der sozialen Sicherung von Pensionist*innen und Arbeitslosen sowie dem Abbau von Einkommensunterschieden von 1986 bis 2021 entwickelt haben. Empirisch konnten wir hier zeigen, dass speziell die sozialstaatliche Absicherung im Gesundheitsbereich sowie bei den Pensionen von nahezu allen Befragten befürwortet wird. Dieses Ergebnis stimmt mit Befunden von van Oorschot (2006) überein, der bereits vor mehr als 15 Jahren eine Rangordnung in der europäischen „deservingness culture“ aufzeigte, in der ältere Menschen allen voran liegen, dicht gefolgt von Kranken und Behinderten. Damit wird auch deutlich, dass die teilweisen Rückbauprozesse im Bereich der österreichischen Sozialversicherung seit den 1980er-Jahren (Tálos 2005) kaum zu einer Verschiebung der Wahrnehmung von sozialstaatlicher Verantwortung in diesen Bereichen geführt hat (Grausgruber 2019). Die Zustimmung zum Abbau von Einkommensungleichheit als staatliche Aufgabe liegt im Vergleich auf einem etwas niedrigeren Niveau. Geht es um die Absicherung von Arbeitslosen als staatliche Aufgabe, zeigt sich hingegen ein Absinken der Zustimmung im Jahr 2021. Jener Befund steht jüngeren Daten des Austrian Corona Panel gegenüber, nach denen die staatliche Bekämpfung von Arbeitslosigkeit zuletzt wieder an Popularität gewonnen hat (Kalleitner 2021). Ob die multiple Krise langfristig zu mehr Anerkennung von staatlichen Leistungen führt, oder die Verbreitung der neoliberalen Idee von Selbstverantwortung befördert, in der Arbeitslose mehr und mehr zum „Objekt kollektiver Abwertung“ werden (Wiesböck 2018), bleibt an dieser Stelle offen.

Die dritte Forschungsfrage hat sich mit den Differenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen bezüglich der Wahrnehmung von Einkommensungleichheit beschäftigt. Dabei zeigt sich, dass hierfür vor allem sozio-demographische Faktoren, die berufliche Stellung, das Haushaltseinkommen aber auch persönliche Einstellungen und Gerechtigkeitsüberzeugungen relevant sind. Frauen stimmen bspw. eher als Männer der Aussage zu, dass die Einkommensungleichheit in Österreich zu hoch ist. Zusätzlich zu der sehr hohen Teilzeitquote (Riederer und Berghammer 2019) und einem großen Gender Pay Gap (Fritsch et al. 2019b), durch den Frauen fast ein Fünftel brutto weniger Gehalt pro Stunde verdienen (Statistik Austria 2022c), ist bei ihnen auch die für Hausarbeit und Kinderbetreuung aufgewendete Zeit in den letzten zwei Jahren stark gestiegen (Derndorfer et al. 2021), zum Teil auf Kosten ihrer Lohnarbeitszeiten und ihres Einkommens. Darüber hinaus steigt die Befürwortung der Aussage mit höherem Alter und mehr Personen in einem Haushalt. Auch Berufstätige und Arbeitslose nehmen Einkommensungleichheit eher als zu hoch wahr. Die Zahlen legen zudem offen, dass die Zustimmung mit wachsendem Haushaltseinkommen sinkt (Roex et al. 2019). Zwischen unterschiedlichen Bildungsgruppen beobachten wir hingegen nur geringere Differenzen (in erster Linie zwischen Befragten mit Lehr- bzw. Pflichtschulabschluss). Schließlich zeigen unsere Analysen, dass sozialpolitische Einstellungen und Gerechtigkeitsüberzeugungen einen sehr starken Einfluss auf die subjektive Bewertung der Einkommensungleichheit in Österreich haben (Jasso und Wegener 1997; Eder und Höllinger 2022). Dies kann u. U. als Hinweis gesehen werden, dass die breite gesellschaftliche Erfahrung von staatlicher Unterstützung in der Pandemie Wahrnehmungen über die Relevanz staatlichen Handelns erhöht haben (Tálos und Obinger 2020).