FormalPara Einleitung

„Würdelos auftreten“, „sich als unwürdig erweisen“, „seine Würde auf’s Spiel setzen“, jemanden „entwürdigend“ behandeln, etwas tun, „was unter jemandes Würde ist“ – unsere Alltagssprache ist voll von Ausdrücken, in denen Würde als etwas begriffen wird, das, sei es durch eigenes oder durch fremdes Zutun, verloren werden kann. Recht unbeeindruckt von der in diesen Wendungen zum Ausdruck kommenden Möglichkeiten eines Würdeverlustes zeigen sich jedoch die von Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften dominierten akademischen Auseinandersetzungen, in denen gegenüber der angesprochenen alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs zumeist daran festgehalten wird, dass Würde der Gattung Mensch inhärent und dieselbe daher unverlierbar sei. In Frage steht dann lediglich, welche Kriterien genauer hin diese Zuschreibung einer inhärenten Würde motivieren können und wie damit umzugehen ist, dass die meisten dieser Kriterien zugleich zu ethisch problematischen Ausgrenzungen derjenigen führen, die diesen Kriterien nicht, noch nicht oder nicht mehr genügen.

Die heutige Soziologie hat sich mit dieser Aufspaltung in einen ‚profanen‘ Bereich des jederzeit möglichen Würdeverlustes und den ‚sakralen‘ Bereich der unverlierbaren bzw. unantastbaren Menschenwürde insofern arrangiert, als sie, wo sie Würde und Würdebewahrung nicht recht unspezifisch in die verschiedenen Techniken von interaktiver facework einreiht, das Thema der Menschenwürde bereitwillig den genannten Disziplinen überlässt. Indem sie dies tut, liegt sie durchaus auf der Linie rezenter philosophischer Sortiervorschläge, die – wo der Ausdruck aufgrund seiner Mehrdeutigkeit nicht gleich als überstrapazierte Leerformel aufgegeben oder zumindest einer „tyrannischen“ Extension (Neumann 1998) geziehen wird – eine „kontingente“ Würde von einer „inhärenten“ Würde unterscheiden (vgl. Wildfeuer 2002) und die Zuständigkeit für erstere implizit an die Soziologie, die Kompetenz für letztere an die Philosophie und ggf. die Theologie delegieren.Footnote 1 Dabei allerdings bleibt bereits im Ansatz die Frage ausgespart, ob der ‚profane‘ und der ‚sakrale‘ Verwendungskontext des Begriffs vielleicht doch mehr gemeinsam haben könnten, als es diese säuberliche Trennung insinuiert. Dass diese Frage einer genaueren Überprüfung lohnt, zeigt sich vor allem bei der Betrachtung emblematisch gewordener Würdeverletzungen (vgl. hierzu eindrücklich Leist 2005). Von den „Arbeit macht Frei“-Aufschriften in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern über jede Art von Folter und ihrer Androhung bis hin zu den Geschehnissen in Abu Ghraib – bei den ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Fällen hilft, will man diese Vergehen auf den Begriff bringen, die Rede von der inhärenten Menschenwürde kaum weiter. Vielmehr rücken recht schnell wieder eben jene expressiven, sozialen und interaktionsbezogenen Aspekte von Würde in den Vordergrund, die auf die kontingente Bedeutungsschicht des Begriffs zurückverweisen. Sie entsprechen einer ‚Interaktionsordnung‘, die eigentlich keine mehr ist, weil die individuellen Ausdrucksmittel zum beliebig manipulierbaren Material einer zynischen Fremdsteuerung werden. Bereits mit Blick auf dieses ‚dramaturgische‘ Vokabular stellt sich die Frage, ob die Soziologie zu einer näheren Aufschlüsselung dessen, was mit (Menschen‑)Würde und v. a. mit deren Verletzbarkeit gemeint ist, nicht doch mehr beitragen kann, als es die oben angesprochene Kompetenzverteilung nahelegt. Die hier vorgelegten Überlegungen machen es sich daher zur Aufgabe, die Möglichkeiten eines genuin soziologischen Würdekonzeptes auszuloten, das die womöglich vorschnelle Unterscheidung in kontingente und inhärente Dimensionen dieses Wertkomplexes bewusst unterläuft und dadurch in der bisherigen Diskussion m. E. unterbelichtete Querverbindungen zwischen der alltäglichen interaktiven ‚Würdearbeit‘ und dem grund- und menschenrechtlich abgesicherten Schutz der Würde des Menschen offenlegt.

FormalPara Vorbemerkungen zu Methode und Aufbau

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Menschenrechte im Allgemeinen und dem des Würdeanspruchs im Besonderen wird bis heute von der politischen Philosophie, den Rechtswissenschaften und – dies aber auch erst in jüngerer Zeit – den Geschichtswissenschaften (vgl. Moyn 2012) dominiert. Die Soziologie hat sich hier bisher stark zurückgehalten. Diese Zurückhaltung hat nach Turner (2002) vor allem darin ihre Ursache, dass sich die normative Aufladung des in Frage stehenden Themas mit den historistischen Wurzeln dieser Disziplin eher schlecht verträgt. Noch befremdlicher dürfte es wirken, wenn man das Thema der (Menschen‑)Würde aus der Perspektive einer funktionalistischen Theorietradition in den Blick nimmt. Eine ‚funktionalistische‘ Betrachtung der menschlichen Würde kann schnell den Eindruck erwecken, dass deren proklamierte Unverfügbarkeit bereits durch die Wahl der Methode aufgelöst wird – dies umso mehr, als der allgemeine Sprachgebrauch die Rede von Funktionen oftmals mit instrumenteller Rationalität gleichsetzt. Da aber die hier vorgelegten Koordinaten eines soziologischen Würde-Konzeptes trotz dieser prima facie zu diagnostizierenden Unverträglichkeit von einer erklärtermaßen funktionalen Fragestellung inspiriert sind,Footnote 2 sollen zunächst einige methodologische Präliminarien vorausgeschickt werden, die zugleich zum genaueren Aufbau dieses Beitrags hinführen.

Um naheliegende Missverständnisse auszuschließen, ist es zunächst ratsam, sich in einer thematisch noch unspezifischen Weise das Funktionsverständnis der ‚funktionalistischen‘ Theorietradition in Erinnerung zu rufen. Funktionen sind dort keineswegs Mittel für vorgefasste Zwecke im Modus einer individuellen Handlungsrationalität. Bereits die klassische Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Funktionen, wie Merton sie eingeführt hat (Merton 1995), sollte diesem Missverständnis entgegenwirken, und in der Nachfolge von Merton kristallisierte sich immer stärker die Gewissheit heraus, dass manifeste Funktionen, die auf das Zweck-Mittel-Denken eines konkreten Akteurs noch am ehesten beziehbar sind, gerade nicht den eigentlichen Gegenstand einer soziologischen Funktionsanalyse abgeben (vgl. Davis 1959). Als ein solcher rückten vielmehr die latenten Funktionen in den Blick, Funktionen also, die gesellschaftliche Ordnungsleistungen erbringen oder Strukturwirkungen entfalten, ohne von einem konkreten Handlungsprogramm oder Planungswillen als Lösung intendiert zu sein (vgl. Schneider 2009, S. 54 ff.). Die soziologische Suche nach latenten Funktionen ist daher in einem ersten Schritt als eine heuristische Verfremdungstechnik, als „eine Technik der Entdeckung schon gelöster Probleme“ (Luhmann 1983, S. 6) zu fassen, mit der ein beliebiger sozialer Sachverhalt danach abgetastet werden kann, zur Lösung welcher gesellschaftlichen Probleme er beitragen könnte, ohne als ein solcher ‚Problemlöser‘ in einem konkreten Handlungsbewusstsein oder einer Zweck-Mittel-Kalkulation jemals aufgetaucht zu sein.

Funktionale Analyse ermöglicht es dann in einem zweiten Schritt, „entweder die Strukturbedingungen der Problematik oder die Problemlösungen zu variieren“ (ebd., S. 6; ähnlich Schneider 2009, S. 55 f.) und sich damit analytische Freiheitsgrade zu schaffen, die im Konzept funktionaler Äquivalenz zusammenlaufen. Durch entsprechende Variationen kann der Blick entweder bei stabil gehaltenem Problemkontext auf alternative Lösungen oder bei stabil gehaltenen Lösungen auf alternative Problemkontexte gelenkt werden, so dass mit der (Neu‑)Zuordnung von Problem und Lösung die möglichen Gegenstände funktionaler Analyse immer komplexer und mehrschichtiger werden: Was bei einem engeren Problemkontext als Lösung erscheint – z. B. familiäre Sozialisation –, kann bei einem veränderten Problemkontext schon wieder als Problem erscheinen (vgl. Dreeben 1980), und was aus der einen Perspektive als Problem erscheint – z. B. Korruption –, kann bei einer Variation des Problemkontextes schon wieder Züge einer Lösung annehmen (vgl. Merton 1995, S. 69–78).

Was nun ist mit diesen methodologischen Vorbemerkungen für unser Thema gewonnen? Zunächst veranlassen sie dazu, die „Strukturbedingungen der Problematik“, oder einfacher: den gesellschaftlichen Problemkontext zu spezifizieren, für den Würde bzw. Würdeschutz eine „schon gefundene“ Antwort bzw. Lösung darstellen (könnten). Die Identifikation dieses Problemkontextes allerdings stellt – wie bereits anklang – insofern selbst ein Problem dar, als der Würdebegriff semantisch hochgradig überdeterminiert ist. Daher wird die gesellschaftstheoretische Spezifizierung des Problemkontextes besonders im ersten Kapitel (1) angewiesen sein auf eine dichte und hochauflösende Beschreibung würdesensibler Interaktionen, die auch starke hermeneutische und phänomenologische Anteile hat. Unter Rückgriff auf Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft, Erving Goffmans InteraktionssoziologieFootnote 3 und Niklas Luhmanns frühe Soziologie der Grundrechte werden in einem ersten Schritt paradigmatische Situationen identifiziert, in denen würdespezifische Verhaltensweisen in einem soziologisch distinkten Sinne akut werden. Auf diesem Wege geraten zugleich die strukturellen Randbedingungen – Öffentlichkeit, Unverbundenheit, Rollenvielfalt – in den Blick, vor deren Hintergrund sich ein gesellschaftlicher ‚Würdebedarf‘ als zu lösendes bzw. im Falle eines funktionierenden Würdeempfindens oder Würdeschutzes bereits gelöstes Problem abzeichnet.

Die genauere Gestalt dieser Problemlösung wird im zweiten Kapitel (2) dann entlang einer Unterscheidung weiter ausbuchstabiert, die sich in insbesondere philosophischen und ideengeschichtlichen Arbeiten zu diesem Thema so gut wie nie findet,Footnote 4 und zwar der Unterscheidung zwischen ‚Würde‘ und ‚Ehre‘.Footnote 5 Mit dieser Unterscheidung, die von Peter L. Berger in einer allerdings noch näher zu problematisierenden Zuspitzung eingeführt wurde, schafft sich der Argumentationsgang zugleich jene Freiheitsgrade, die eine Prüfung funktionaler Äquivalenz ermöglichen: Wenn man als Problemkontext die allgemeine Frage stabil hält, wie leib- und ausdrucksnahe Distanz- und Integritätszonen mit gesellschaftlichen Reproduktionsmodi (etwa soziale Schließung, ebenso aber Mobilitätsoffenheit) verknüpft werden können, so lassen sich ‚Ehre‘ und ‚Würde‘ in der Tat als funktionale Äquivalente begreifen. Wenn man den Problemkontext aber mit Blick auf die zuvor erarbeiteten Randbedingungen der Würde spezifiziert, werden zugleich die gesellschaftsstrukturellen Grenzen dieser funktionalen Äquivalenz deutlich. Die soziologische Pointe der Würde nämlich – so die These, die wir unter Rückgriff auf Georg Simmel, Émile Durkheim und erneut Niklas Luhmann entwickeln werden – liegt darin, dass deren normativer Anspruch im Gegensatz zu Ehrvorstellungen partikulare Gruppenbindungen nicht stabilisiert, sondern immer wieder lockert und die ‚Würdeträger‘ zum Eingehen neuer und heterogener Bindungen ausdrücklich ermutigt, ohne dass sie das damit verbundene Interaktionsrisiko gänzlich selbst tragen müssten. Und genau darin verweist die Würdegarantie auf eine mobilitätsoffen(er)e Sozialordnung, für die ein als individuell zurechenbares Ausdruckshandeln eine generalisierteFootnote 6 gesellschaftliche Funktion bekommt, die durch ehr- oder standesgeprägte Modi sozialer Schätzung nicht oder nur sehr eingeschränkt erfüllt werden kann.

Das letzte und umfangreichste Kapitel (3) hält den systematischen Ertrag der vorangegangenen Überlegungen fest und widmet sich abschließend der zweifelsohne brisanten Frage, in welchem Verhältnis dieser Ertrag zu dem normativ emphatischen Verständnis von (Menschen)-Würde steht, wie es dem in politischer Philosophie, Theologie und Verfassungsrecht nach wie vor dominanten Unantastbarkeits- bzw. Unverlierbarkeitspostulat zugrunde liegt. Dabei werden insbesondere Anschlussmöglichkeiten des hier entwickelten soziologischen Würdekonzeptes an ethische und rechtsdogmatische Frage- und Problemstellungen geprüft.

Um dem in diesem Zusammenhang naheliegenden Vorwurf, dass unter dem Deckmantel einer funktionalen Analyse normative politische Philosophie oder gar Rechtsdogmatik getrieben wird,Footnote 7 zu begegnen, seien bereits an dieser Stelle einige wichtige Einschränkungen vorausgeschickt: Selbstredend kann die gerade umrissene funktionale Analyse nicht bruchlos in epistemisch anders gelagerte Disziplinen oder Erkenntnisinteressen hineinverlängert werden. Soll aus dieser Unmöglichkeit aber nicht einfach ein Kommunikationsabbruch mit den benachbarten Disziplinen folgen, müssen die Übersetzungsregeln und -schwierigkeiten klar markiert werden. So stehen und fallen etwa die Anregungen, die der vorliegende Beitrag ggf. für eine rechtsdogmatisch anschlussfähige Einhegung des Würdekonzeptes bereithält, erklärtermaßen mit der Voraussetzung, dass es sich beim Achtungs- und Schutzanspruch der Würde tatsächlich um ein positives und einklagbares Grundrecht handelt – als ein solches wird es vom Bundesverfassungsgericht auch verhandelt. Ob diese Voraussetzung aber aus einem rechtstheoretischen oder -dogmatischen Blickwinkel überhaupt einleuchtet (vgl. kritisch und bedenkenswert v. a. Enders 1997 und meine kurze Diskussion seiner Einwände unter Punkt 3), darüber kann und darf hier nicht entschieden werden.

Ähnliche Vorsicht gilt es beim Transfer der hier erhaltenen Ergebnisse in ethische Problemkontexte walten zu lassen: Selbstredend ist mit dem soziologischen Nachweis einer gesellschaftsspezifischen Funktion der Würde nicht eine Relativierung ihres normativen Anspruchs verbunden. Was für genealogische Analysen gilt (Joas 2011, S. 14), dürfte für funktionale vielmehr ebenso gelten: Auch vom Wissen um gesellschaftliche Funktionen führt kein direkter Weg zur Wünschbarkeit oder Nicht-Wünschbarkeit von Werten, und genauso wenig muss ein solches Wissen deren affektive Bindungskraft schwächen – dies schon deswegen nicht, weil die Soziologie einer wertgebundenen Handlungsorientierung wohl kaum ‚verbieten‘ kann, sich von ihren gesellschaftlichen Funktionen zu emanzipieren, sich in unvorhergesehene Richtungen zu generalisieren oder auch in neue Funktionen einzutreten. Gerade die jüngere Historiographie der Menschenrechte ist voll von Beispielen einer derartigen Entwicklung (Moyn 2012), und auch die (Rechts‑)Philosophie verfügt – z. B. im Konzept des „normativen Geltungsüberhangs“ (Axel Honneth) – über ein darauf zielendes Vokabular. Wohl aber kann eine funktionale Analyse, gerade wenn sie sich dem Problemkontext auf hermeneutisch-phänomenologischen Wege annähert, dazu beitragen, gleichsam zwischen Genese und Geltung die gesellschaftlichen Kontextbedingungen und Querverbindungen eines Wertkomplexes zu erhellen, begriffliche Präzisierungsangebote zu erarbeiten und dadurch ein genaueres und reicheres Bild der in Frage stehenden normativen Handlungsorientierung zu zeichnen.

1 Öffentlichkeit, Unverbundenheit, Rollenvielfalt

Will man mit Helmuth Plessner menschliche Würde denken, so liegt es zunächst nahe, sich auf dessen Philosophische Anthropologie und das darin enthaltene Menschenbild eines homo absconditus zu beziehen, dessen ‚exzentrisches‘ Wesen darin besteht, in seinen kulturellen Entäußerungen niemals ganz aufzugehen und daher konstitutiv unergründlich zu bleiben (vgl. Plessner 1981). Der Mensch – so ließe sich diese Sichtweise zusammenfassen – versucht sich selbst immer wieder, und seine Würde bestünde in eben diesem Freiraum für stets neu ansetzende Selbstobjektivationen. So attraktiv eine solche Betrachtung für philosophische, ontologische oder anthropologische Belange sein mag und so sehr die Potentialität, sich immer wieder neu erzählen zu können, auch in neueren Entwürfen als Grund der menschlichen Würde ausgemacht wird (vgl. nur Margalit 2012) – da es hier um die genauere Ortung der gesellschaftlichen Randbedingungen gehen soll, unter denen würdebezogene Verhaltensweisen in einem soziologisch distinkten Sinne akut werden, ist ein Blick in Plessners Frühschrift Grenzen der Gemeinschaft aus dem Jahre 1925 vielversprechender als ein anthropologischer Rekurs auf die „exzentrische Positionalität“ des Menschen, wie sie seiner Philosophischer Anthropologie zugrunde liegt. Denn in besagter Frühschrift findet sich – so sehr die späteren anthropologischen Kategorien Plessners bereits durchscheinen mögenFootnote 8 – ein erstes gesellschaftlich-infrastrukturelles Spezifikum, das für die hier vorgeschlagene soziologische Konturierung und Eingrenzung des Würdeverständnisses wesentlich ist: Öffentlichkeit.

„Öffentlichkeit“ ist seit jeher eher ein Thema der politischen Theorie als ein Gegenstand der Soziologie. Von John Dewey (1927), der sein experimentelles, am Wechselspiel von Versuch und Irrtum orientiertes Politikverständnis auf öffentliche Aushandlungsprozesse zulaufen lässt, über Jürgen Habermas und dessen Ideal einer kritisch-deliberativen Öffentlichkeit (Habermas 1962) bis hin zu Nancy Frasers Einwand, dass eine Eloge auf die bürgerliche (Salon‑)Öffentlichkeit deren faktische Exklusivität aus dem Blick verliert (Fraser 1990), haben sich die Debatten um Formen und Funktionen der Öffentlichkeit(en) in der politischen Theorie bereits im vergangenen Jahrhundert immer weiter verästelt. Und selbst der wohl bekannteste soziologische Beitrag zu diesem Thema, Richard Sennetts Tyrannei der Intimität (Sennett 1986), ist zumindest in dem Sinne politiktheoretisch imprägniert, als er den vermeintlichen „Verfall des öffentlichen Lebens“ ebenfalls an der Messlatte einer diskursiv-kritisch verfassten Öffentlichkeit abträgt, die zwischen privaten und politischen Belangen unterscheiden kann.

Warum nun sollte man angesichts dieser breit ausdifferenzierten Debattenlage und mit Blick auf unser Thema ein soziologisches Öffentlichkeitsverständnis starkmachen, und warum sollte man dafür zunächst auf Plessners Grenzen der Gemeinschaft zurückgreifen? Um dies plausibel zu machen, ist präsent zu halten, dass besagte Schrift sich gegen die bekannte, damals geläufige Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie Ferdinand Tönnies (1912) zuvor einflussreich etablierte, wandte. Dabei verdankt sich Plessners Verständnis von Öffentlichkeit allerdings zugleich dieser Unterscheidung. Für ihn ist Öffentlichkeit das „offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“ (Plessner 2002, S. 95), eine Kennzeichnung, die sich nahezu gleichlautend bei Tönnies findet. Plessners Kritik setzt nun an der Stelle an, an der Tönnies seine Unterscheidung mit kaum ausgewiesenen normativen Beiklängen versieht, so vor allem einem Eigentlichkeitspathos, das die Öffentlichkeit weitgehend als eine Sphäre normfreier Sozialität begreift, in der alles auf soziale Kälte, Täuschung und Manipulation angelegt ist. Plessner dagegen erblickt in der auch für ihn unbestreitbaren Unverbundenheit der öffentlich agierenden Menschen eine Emergenz von Verhaltensweisen, die gegenüber gemeinschaftlichen Einbindungen eine – im Wortsinne – eigene Dignität entfalten.

Genau an dieser Stelle wird eine oft übersehene Unterscheidung Plessners zentral, mit der auch die Distanz zu den gerade erwähnten Debatten der politischen Theorie verständlicher wird. Plessner geht davon aus, dass im Falle der modernen Öffentlichkeit, wie er sie konturieren will, weder Bluts- noch Sachbindung, „weder Liebe noch Einsicht“ (Plessner 2002, S. 96), eine vorgängige Verständigungsgrundlage bereitstellen. Von dieser Voraussetzung aus erhellt, was Plessners Ansatz von den Öffentlichkeitskonzepten der politischen Theorie unterscheidet: Letztere machen – in Plessners Diktion – eine Sachbindung zum Definiens der Öffentlichkeit, nämlich eine wie auch immer justierte politische Deliberation über generalisierungsfähige Inhalte, die alle angehen. Genau dies aber versteht sich für Plessner – und, wie sich zeigen wird, auch nicht für weitere unserer soziologischen Bezugsautoren – keineswegs von selbst. Für ihn beginnt der Raum der Öffentlichkeit nicht im Debattierclub, im Kaffeehaus oder auf einer politischen Demonstration, sondern bereits dann, wenn man ein öffentliches Verkehrsmittel besteigt, einen Kauf abwickelt, einer Einladung von Bekannten (nicht Freunden!) folgt, auf einer Parkbank Platz nimmt, einen Bankschalter betritt oder dicht gedrängt mit anderen im Aufzug steht. In derartigen Situationen fehlt einerseits eine „Sachbindung“, die die gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein politisches Ziel lenkt und die Menschen im Zuge dieser Zielverfolgung zugleich vergemeinschaftet – oder verfeindet. Andererseits finden sich auch die von Fraser zweifellos zurecht problematisierten „as-if“-Unterstellungen (Fraser 1990, S. 62), die dem Ideal einer deliberativen Öffentlichkeit à la Habermas stets beigemengt sind, hier zumindest insoweit nicht, als eine Teilnahme an dieser Art von Öffentlichkeit deutlich weniger restriktiv ist.

Für Plessner begegnen sich die in der öffentlichen Sphäre miteinander (inter-)agierenden Menschen daher weitgehend ohne das Fangnetz emotionaler (Liebe) oder politischer (Einsicht) Bindungskräfte, die entweder über gemeinsame Herkunft oder gemeinsame Ziele die Interaktion rahmen und deren Komplexität reduzieren. Die Situation ist von „Wertferne“ (Plessner 2002, S. 97) gekennzeichnet, sie beruht auf „keinem natürlichen Wertmesser“, ihr fehlt eine vorbestimmte „mittlere Linie“ (ebd., S. 100).

Daher sind – so Plessners Schlussfolgerung – die Subjekte auf künstliche Übereinkünfte angewiesen, in denen trotz und wegen der persistierenden Unverbundenheit die Schonung des Anderen eine qualitativ neue Stufe erreicht. An diesem Punkt nun bringt Plessner, ohne die Verwendung dieses Begriffs näher zu explizieren, mehrfach ‚Würde‘ ins Spiel, und die folgenden Überlegungen sind darauf gerichtet, an zwei paradigmatischen Fällen – dem diplomatisch zu gestaltenden Geschäft und der taktvoll zu vollziehenden Geselligkeit – das möglicherweise interdependente Verhältnis von Würde, Öffentlichkeit und Unverbundenheit genauer zu identifizieren.

Die Gemeinsamkeit der für Plessner einschlägig öffentlichen Veranstaltungen des Geschäfts und der Geselligkeit liegt darin, dass in beiden Fällen die konstitutive Unverbundenheit nicht in „Bluts“- oder Sachbindung aufgelöst, sondern perpetuiert wird. Dabei bleibt es den beteiligten Interaktionspartnern überlassen, jener Unverbundenheit dennoch eine sozialverträgliche und ggf. gar lustvoll gespielte Form abzuringen. Die Konsequenzen für ein soziologisches Würdeverständnis scheinen mir nun darin zu liegen, dass erst auf der Basis dieser perpetuierten Unverbundenheit das Problem der menschlichen Würde und – gleichursprünglich – des Würdeschutzes in einem soziologisch distinkten Sinne überhaupt akut wird. Unverbundenheit impliziert zu weiten Teilen eben auch Unbekanntheit, und gerade die Anstrengung, dem Verhalten des Anderen orientierungsfähige Regelmäßigkeiten zu entnehmen, zeugt von der normativen Ungesichertheit der Situation, die sich bei einer klaren Positions‑, Status- oder Rollenverteilung mit Protokoll nicht stellen würde. Würdevolles und würdebewahrendes Verhalten besteht für Plessner an dieser Stelle darin, die Rätselhaftigkeit des Anderen unangetastet zu lassen, indem ihm im buchstäblichen Sinne nicht zu nahe getreten wird.

So setzt man bei einer Geschäftsanbahnung zwar voraus, dass der andere etwas will – nämlich seinen größtmöglichen Vorteil –, aber weder weiß man, wieviel er für das Gewollte zu geben bereit ist, noch ist man sich im Klaren darüber, warum er etwas will oder was er mit diesem Etwas vorhat. In Plessners Worten: „Öffentlichkeit […] besteht aus lauter gleichen Wesen, nicht weil sie einander, sondern für einander gleich sind“ (ebd., S. 102),Footnote 9 und abseits der wechselseitigen Unterstellung eines inhaltlich unbestimmt bleibenden Eigeninteresses bleibt der jeweils andere ein Rätsel, das – dies ist die Pointe – sozial und kommunikativ gerade nicht gelöst, sondern bewahrt werden will. Nicht nur im Falle von Geschäft oder Tausch, sondern in allen Konstellationen mit kompetitivem Gepräge würde dies vor allem durch Diplomatie geleistet, mit der man „die Unterlegenheit des Gegners aus seiner freien Entschließung hervorzaubert oder die belastende Siegerrolle objektiven Gewalten zuschiebt“ (ebd., S. 99), anstatt etwa aus der Unterlegenheit Schlussfolgerungen für seine ‚ganze‘ Person oder auch nur für das daraus resultierende Machtverhältnis zu ziehen. Ähnliche Herausforderungen erblickt Plessner im nicht-kompetitiven Arrangement der Geselligkeit, dem ebenfalls eine sozial durchaus unwahrscheinliche Ausgangskonstellation zugrunde liegt, nämlich die Erwartung, „in einer Atmosphäre ohne Vertrautheit“, also untereinander weitgehend unbekannten Menschen, dennoch „entspannen“ (ebd., S. 106) zu können. Auch hier stellt sich den Beteiligten die Aufgabe, die „mittlere Linie“ des Verhaltens auf normativ ungesichertem Terrain und bei fehlender Kenntnis des oder der Anderen selbst zu ziehen.

In diesen spezifischen Konstellationen der Unverbundenheit liegt auch der Grund dafür, dass für Plessner weder Diplomatie noch Takt als Verhaltensregeln technisierbar sind – so sehr Benimmbücher uns dies suggerieren wollen –, sondern auf diplomatischem Geschick und Taktgefühl basieren. Denn es geht ja gerade darum, im beiderseitigen Wissen um die eigentliche Unverbundenheit und ggf. um manifeste Interessengegensätze den jeweils anderen dennoch als unergründlich – eben als Rätsel – zu behandeln, und dies kann nur durch eine Situations- und Kontextsensitivität gelingen, die auf verallgemeinerbare Verhaltensnormen niemals abziehbar ist. Daher unterscheidet Plessner auch ein wohlverstandenes Taktgefühl von der bloßen „Etikette des Salons“ (ebd.), dem „öde[n] Salonlöwentum“ (ebd., S. 107), das die tentativ-tastende Interaktionsarbeit qua Takt durch vorgefertigte, übersituativ anwendbare Verhaltensrezepte abzukürzen sucht.

Diplomatie und Takt sind nach Plessner also darauf gerichtet, unter Bedingungen von Unverbundenheit und (weitgehender) Unbekanntheit dem Anderen „nie zu nah noch auch zu ferne [zu] kommen“ (ebd.) – und zwar ohne zuvor wissen zu können, was für den anderen jeweils zu nah und zu fern ist. Der Würdebezug dieser nicht-technischen Techniken liegt bei Plessner genauer besehen darin, dass sie die „Idee einer Harmonie […] zwischen Seele und Ausdruck, Seele und Körper“ (ebd., S. 78) – eben dies ist für ihn Würde – sozial und kommunikativ enaktieren, auch wenn oder gerade weil diese Harmonie durch die Drastik manifester Interessengegensätze oder die Künstlichkeit geselliger Interaktion zusehends unwahrscheinlich wird. Erst dann ist es nach Plessner angezeigt, im „ewig wache[n] Respekt vor der anderen Seele“ (ebd., S. 106) das je individuelle Distanz- und Nähebedürfnis aus der Interaktion selbst zu erschließen und sich in dieser Fähigkeit gewissermaßen selbst würdig zeigen.Footnote 10

Wie anspruchsvoll diese Aufgabe wirklich ausfällt, lässt sich mit Erving Goffman noch präziser fassen, denn Goffman macht uns darauf aufmerksam, dass gerade auf der Ausdrucksseite unserer Handlungen von zwei weiteren Komplikationen ausgegangen werden muss, die das Enactment dieser Idee erschweren. Zum einen findet sich in Interaktionen, die auf dem normativ ungesicherten Terrain einer so verstandenen Öffentlichkeit operieren, verstärkt der wechselseitige Versuch, aus dem vergleichsweise weniger leicht manipulierbaren Teil des AusdrucksgeschehensFootnote 11 Informationen über die/den Andere/n zu gewinnen. Weniger leicht manipulierbar aber sind gerade die leibnahen Ausdrucksmedien der Mimik, der Gestik, der Tonlage, des Ganges – und ein Verhalten, bei dem man sich unbeobachtet wähnt. Indem sich die Aufmerksamkeit auf diese Grenzbereiche des Kontrollierbaren richtet, verstärkt sich die Exponiertheit der Beteiligten weiter, weil gerade die Signale, die nicht als Signale kommuniziert werden, Signalwert bekommen. Damit wird es noch ungleich schwieriger, die „Idee einer Harmonie […] zwischen Seele und Ausdruck, Seele und Körper“ ihrerseits zum Ausdruck zu bringen, denn die wechselseitige Aufmerksamkeit ist ja gerade darauf gerichtet, aus der Disharmonie zwischen beherrschtem und unbeherrschtem Ausdruck auf die Eigenschaften der weitgehend unbekannten Anderen zu schließen. Ein zweites Problem, das mit Goffman auf der Ausdrucksseite der Interaktion identifiziert werden kann, ist die markante Differenz zwischen Tätigkeits- und Ausdruckswert, die in Gesellschaften mit hohem arbeitsteiligen Spezialisierungsgrad besonders markant ausfällt. In einer solchen Gesellschaft nämlich kommt die eigentliche Tätigkeit, die jemand verrichtet, kaum noch mit ihrem Ausdruckswert zur Deckung. Sie verrät zumeist nicht von selbst, für was sie eigentlich gebraucht wird, so dass für die Darstellung selbst ein gehöriger Aufwand an „dramatischer Gestaltung“ (Goffman 1969, S. 31–34) betrieben werden muss, der gar zu Lasten der Kerntätigkeit gehen kann.

Eine rollen- und differenzierungstheoretisch ausgearbeitete Zuspitzung dieses Zusammenhangs von Gesellschaftsstruktur und „dramatischer Gestaltung“ findet sich beim frühen Niklas Luhmann in einem in der Soziologie vergleichsweise wenig rezipierten Buch aus dem Jahre 1965, Grundrechte als Institution, in dem er – verstanden als ein Beitrag zur politischen Soziologie – eine gesellschaftstheoretische Einordnung der Funktion von Grundrechten zu leisten beabsichtigt. In enger Anlehnung an Goffman macht Luhmann dort darauf aufmerksam, „daß man mit jeder einsehbaren Lebensäußerung absichtlich oder unabsichtlich eine Aussage über sich selbst verbindet“ (Luhmann 1965, S. 60). ‚Würde‘ bestehe unter diesen Bedingungen nun vor allem darin, der Permanenz, in der man „Aussage[n] über sich selbst“ macht, eine Gestalt abzuringen, in der man als derselbe dennoch erkennbar bleibt und signalisiert, auch zukünftig als derselbe angesprochen werden zu können – und diese Herausforderung ist ersichtlicher Weise umso schwieriger zu meistern, je vielfältiger und heterogener die Rollenkontexte ausfallen, in denen man (inter-)agiert.

In den Blick rückt hier also die Aufgabe einer hochkomplexen individuellen Würderegie, an der man dann scheitern kann, wenn man zu der Tatsache, dass man mit jeder einsehbaren Lebensäußerung zugleich Aussagen über sich selbst macht, kein reflexiv-kontrolliertes Verhältnis gewinnt, das in ein als konsistent interpretierbares Verhalten übersetzt wird. Ein solches Verhältnis kann das Individuum aber wiederum nur dann gewinnen, wenn ihm die dramaturgischen Mittel dafür offenstehen, sich in all seinen heterogenen und ggf. widersprüchlichen Handlungskontexten dennoch als gleichbleibendes präsentieren zu können. Dies geschieht nach Luhmann bereits in dem unscheinbaren Fall, dass ein Individuum die eine Rolle leidenschaftlich, die andere distanziert, eine dritte internalisiert und eine vierte ironisch ausfüllt und insbesondere widersprüchliche Rollenanforderungen darstellerisch dadurch ausgleicht, dass es einmal den verpflichtenden und in diesem Sinne unpersönlichen Sachzusammenhang, ein andermal persönliches Engagement in den Vordergrund stellt. ‚Würde‘ impliziert in dieser Herleitung also zugleich eine reflexive, auf spezifischen gesellschaftlichen Freiheitsgraden aufruhende Rollendistanz, durch die es allererst gelingen kann, den vielfachen Rollenkontexten einen Verhaltensstil ‚abzuringen‘, der als individueller überhaupt erkennbar ist.

Ein soziologisches Würdeverständnis, das seine Konturen durch die interaktiven Herausforderungen, die wir gerade im Durchgang durch Plessner, Goffman und Luhmann nachzeichneten, gewinnt, kann mit der gängigen Rede vom ‚intrinsischen‘ oder ‚inhärenten‘ Wert der Würde zumindest in der Hinsicht wenig anfangen, als die Bewahrung von Würde selbst als interaktive Aufgabe begriffen werden muss, die stets auch scheitern kann, und daher mit der Verletzung oder gar dem Verlust von Würde jederzeit und alltäglich zu rechnen ist. So kann es bereits entwürdigend sein, die Informationen, die man aus der Beobachtung der weniger leicht manipulierbaren Anteile des Ausdrucksverhaltens erhalten hat, in die (öffentliche) Kommunikation einzuspeisen; es kann entwürdigend sein, den Abstand zwischen gewolltem Ausdruck und erwecktem Eindruck – z. B. durch Nachäffen – zum Thema zu machen; es kann entwürdigend sein, jemanden der Elemente seiner dramatischen Gestaltung zu berauben – z. B. durch den Entzug von Arbeitsmitteln, die stets mehr sind als bloße, materiell zweckgebundene Instrumente. ‚Würde‘ in diesem Sinne bezeichnet also ein soziales Syndrom, das erst unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen – Öffentlichkeit, Unverbundenheit, Rollenvielfalt – akut wird und dessen eigentliche Herausforderung in der Permanenz besteht, in der man durch (inter-)aktive Anstrengung die Würde sowohl seiner selbst wie die anderer bewahren und gefährden kann.

2 Ehre oder Würde? Ein funktionsanalytischer Vergleich

Von Peter L. Berger stammt in der Soziologie der entschiedenste Versuch, ‚Würde‘ von einem anderen Konzept sozialer Schätzung abzugrenzen: dem der ‚Ehre‘. Aus dessen Perspektive stellt sich die begriffliche Polarität von ‚Ehre‘ und ‚Würde‘ als nichts weniger denn als ein modernisierungstheoretisch einzufangender Ablösungsprozess dar. Während „[d]er Begriff der Ehre impliziert, daß die Identität intrinsisch oder zumindest in bedeutsamer Weise mit institutionellen Rollen verknüpft ist [,] […] impliziert der moderne Begriff der Würde, daß die Identität von institutionellen Rollen unabhängig ist“ (Berger 1975, S. 80; kursiv i. O.). Daher ist für Berger der Niedergang der rollenspezifischen Ehre gleichbedeutend mit dem Siegeszug der Würde, die nur mehr an den „von seinen gesellschaftlich aufgezwungenen Rollen emanzipiert[en]“ (ebd., S. 81) Menschen als solchen geknüpft sei.

Auf den ersten Blick scheint diese Bestimmung durchaus auf der Linie unserer bisherigen Argumentation zu liegen. Schließlich war in all den Problemkontexten, die im zurückliegenden Kapitel im Vordergrund standen, die Option eines Rückgriffs auf ständische oder zumindest – mit Weber gesprochen – ständisch geprägte Ehrvorstellungen nicht mehr gegeben. Die Exponiertheit, die ‚Nacktheit‘ der Individuen, um die es ging, kommt ja gerade dadurch zustande, dass partikulare Verhaltenskodizes, die die Interaktion gerade auch in hierarchischer Hinsicht vorgängig ordnen oder – weniger euphemistisch – vermachten, als soziale Steuerungsmedien wegfallen.

Bei genauerem Hinsehen jedoch ist die These einer bruchlosen Ablösung von Ehr- durch Würdekonzepte besonders aus zwei Gründen nicht haltbar: Zum einen ist höchst fraglich, ob ständisch geprägte Merkmale in der Moderne als Steuerungsgrößen wirklich ausgedient haben. Weitaus wahrscheinlicher ist es, dass diese Merkmale lediglich subtiler wirken als in einer nach klaren Strata differenzierten Gesellschaft, etwa, wie Bourdieu gezeigt hat, über klassenspezifische Geschmacksdispositionen, die ‚naturalisiert‘ werden. Zum anderen verwundert in Bergers Ansatz die Tatsache, dass er ‚Würde‘ dem Rollenverhalten strikt entgegengesetzt, und dies unter der zusätzlich fragwürdigen Voraussetzung, dass Gesellschaften, die über Ehrvorstellungen organisiert sind, (noch) stark an institutionelle Rollen gebunden wären. Das Rollenkonzept der Soziologie jedoch ist gerade mit Blick auf moderne Gesellschaften entwickelt worden, und weitgehender Konsens dürfte ebenso darüber herrschen, dass stabile Ehrkodizes keineswegs rollenförmig ausgearbeitet sind. ‚Ehre‘ normiert ganzheitliche Ansprüche an die Lebensführung, während Rollen gebündelte Verhaltenserwartungen in einem mehr oder minder genau umgrenzten Lebensausschnitt sind (vgl. statt vieler anderer Popitz 2006, S. 117–157).

Eine funktionale Betrachtung der Würde, wie sie in diesem Kapitel umrissen werden soll, muss sich beide Einwände präsent halten, wenn sie weiterhin an der Polarität von ‚Würde‘ und ‚Ehre‘ ansetzen will: Erstens kann diese Polarität nicht als linearer historischer Ablösungsprozess begriffen werden – Ehrvorstellungen sind vor allem in Professionsethiken nach wie vor präsent, sie durchziehen bis heute Geschlechterstereotypen (die ‚Ehre des Mannes‘, die ‚Ehre der Frau‘ etc.) oder wirken als habituelle Dispositionen an der Reproduktion sozialer Ungleichheit mit. Und zweitens muss unsere funktionale Betrachtung den Zusammenhang von ‚Würde‘ und Rollenhandeln in einer soziologisch plausibleren und sozialtheoretisch besser abgesicherten Weise fassen, als es bei Berger geschieht.

In den methodischen Vorbemerkungen wurde bereits erläutert, dass der erste Schritt einer funktionalen Analyse eine sorgsame Spezifizierung des Problemkontextes und seiner Randbedingungen notwendig macht, vor deren Hintergrund dann nach einer ggf. bereits existierenden Lösung oder funktionalen Äquivalenten gesucht wird. Wird der Problemkontext weit gefasst, lässt sich auf der Grundlage des letzten Kapitels durchaus davon ausgehen, dass ‚Würde‘ und ‚Ehre‘ äquivalente Funktionen erfüllen, weil beide leib- und ausdrucksnahe Distanz- und Integritätszonen mit gesellschaftlichen Reproduktionsmodi verknüpfen. Setzt man den Problemkontext derart abstrakt an, wäre es in allen ‚würdesensiblen‘ Situationen, die wir soeben rekonstruierten, grundsätzlich ebenso vorstellbar, die daraus resultierenden Handlungs- und Statusunsicherheiten über spezifische Ehrkonzepte abzufangen; womöglich würden in diesem Falle besagte Unsicherheiten auch gar nicht erst entstehen, weil über statusangemessene Verhaltensweisen, ‚satisfaktionsfähige‘ Interaktionsteilnehmer und nicht zuletzt über die Frage, wer wen überhaupt beleidigen, demütigen, bloßstellen, entehren kann, zu weiten Teilen bereits vorentschieden ist.

Die aus funktionaler Sicht interessierende Frage lässt sich von dieser (hypothetischen) funktionalen Äquivalenz aus klar umreißen: Wann und warum könnte eine Gesellschaft sich veranlasst sehen, nicht mehr ein derart gängiges und zuverlässiges Steuerungs- und Reproduktionsmedium wie das der ‚Ehre‘ ins Zentrum ihrer Selbstauffassung zu stellen, sondern vielmehr eine ‚Würde‘, die unterschiedslos jeder und jedem zukommt und deren interaktive Darstellung mit eben jenen enormen Anstrengungen und Risiken verbunden ist, die wir gerade nachzeichneten? Mit anderen Worten: Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen stellt ‚Ehre‘ kein funktionales Äquivalent der ‚Würde‘ mehr dar? Der Beantwortung dieser Frage widmen sich die nächsten Seiten.

Ein erster Hinweis zu einer adäquateren Fassung der Polarität von ‚Ehre‘ und ‚Würde‘ findet sich bei Georg Simmel, der das soziologisch durchaus geschickte und kunstvolle Manöver der Ehre darin erblickt, „dem Individuum die Bewahrung seiner Ehre als sein innerlichstes, tiefstes, allerpersönlichstes Eigeninteresse zu infundieren“ (Simmel 1992, S. 602), dabei aber die „Erhaltung der Gruppenexistenz“ (ebd., S. 603) umso zuverlässiger zu garantieren. Das Individuum steht mit seinem Ehrgefühl also, womöglich ohne es zu wissen, im Dienste der Gruppe, es reproduziert, so es sich in seiner Ehre angegriffen fühlt oder gar gegen einen Angriff vorgeht, immer auch die Gruppenidentität, die Gruppengrenzen und v. a. seine eigene Zugehörigkeit zu ihr. Für Simmel stellt dieser Mechanismus allerdings nicht nur – daher greift Berger zu kurz – ein Phänomen vergangener Ständegesellschaften dar, sondern lässt sich in abgewandelter Form auch in der modernen Gesellschaft beobachten: Gerade weil das Individuum sich hier zusehends in verschiedenen sozialen Kreisen bewegt und seine Individualität aus der oft konflikthaften Kreuzung dieser Kreise reicher und bestimmter zurückerhält, tendieren bestimmte Gruppen dazu, neuartige Ehrkodizes auszubilden, um das Individuum wieder stärker an die Gruppe zu binden und so die attraktive Symbiose von Selbst- und Gruppenerhaltung zu stärken (vgl. zu Simmels Ehrbegriff auch Vogt 1997, S. 153–186).

These der jetzt folgenden Überlegungen ist, dass der Angriffspunkt der Würde diesem Konnex von Ehrgefühl und Gruppenerhalt entgegengesetzt ist. Deren Anspruch nämlich richtet sich gerade gegen eine Absorption des Individuums durch partikular-ehrintegrierte Gruppenbindungen, und Émile Durkheims Physik der Sitten lassen sich erste Anregungen dazu entnehmen, diese genuin soziologische Dimension des Würdeanspruchs in funktionaler Perspektive aufzuschlüsseln.

Durkheim identifiziert näher betrachtet gleich zwei Problemkontexte, für die (der Schutz der) ‚Würde‘ eine Lösung bereithält. Zum einen könne die hochgetriebene Arbeitsteilung in der Moderne sich kaum mehr auf andere kohäsive Kräfte beziehen als auf den Glauben an das jeweilige Menschsein, so dass die Idee der menschlichen Person zusehends sakrale Züge annehme (vgl. Durkheim 1992, S. 225 f.; dazu näher Joas 2011) – diese These steht bei Durkheim wohl im Kontext seiner Suche nach einer organischen Solidarität, deren genaue Ermöglichungsbedingungen er in seinem Buch über soziale Arbeitsteilung noch nicht zureichend geklärt hatte (vgl. Müller 1991). Zum anderen ist nach Durkheim der Wertkomplex der Würde aber auch darauf gerichtet, das Individuum vor einer restlosen Absorption durch die Ansprüche partikularer Verbände – sei es der Familie, der Kirche oder der Profession – zu bewahren (vgl. Durkheim 1991, S. 82–95; dazu näher Lindemann 2015). Er sieht sogar die vornehmliche Aufgabe des Staates darin, „innerhalb dieser Gesellschaft keine Sekundärgruppen entstehen [zu lassen; P. W.], die soviel Autonomie erlangen, daß jede von ihnen gleichsam zu einer kleinen Gesellschaft im Schoße der großen wird“ (Durkheim 1991, S. 91) – und dies trotz der von ihm zugleich geforderten Stärkung korporativer Berufsmoralen (vgl. ebd., S. 9–63), die ihrerseits einen kompletten Zugriff des Staates auf das Individuum verhindern sollen.Footnote 12

Folgt man Durkheim hier, ist es nicht die Funktion des Würdeempfindens und des Würdeanspruchs, partikulare Gruppenbindungen des Individuums aufzulösen; dies wäre der von Berger beschriebene, „von seinen gesellschaftlich aufgezwungenen Rollen emanzipiert[e]“ (ebd., S. 81) Mensch. Wohl aber liegt sie darin, diese partikularen Gruppenbindungen zu lockern, indem sie eine Grundlage der Selbstachtung und -darstellung bereithält, die nicht mehr in der Loyalität zu einer Gruppe aufgeht – und darin zugleich die Gesellschaft selbst mit neuartigen sozialen Assoziations- und Kombinationschancen und einem klareren Sinn für die „Gestaltbarkeit“ (ebd., S. 126) ihrer selbst ausstattet. Kurz: Für Durkheim ist es die in einer arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesellschaft unverzichtbare Mobilität, die durch vollinklusive Einschlüsse des Individuums empfindlich gehemmt und durch die Institutionalisierung einer individualistischen Moral (ebd., S. 88) freigesetzt werden müsse – und genau hier findet die funktionale Äquivalenz von Ehre und Würde ihre Grenze.

Lässt sich diese funktionale Entsprechung nun auch konkreter im Verhältnis von Würdeanspruch und Rollenhandeln entdecken? In der oben bereits behandelten frühen Schrift von Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, findet sich darauf eine Antwort, die der gerade problematisierten Annahme Bergers in einer wichtigen Hinsicht entgegengesetzt ist. Für Luhmann ist es dort ausgemacht, dass Würde keinesfalls außerhalb von gesellschaftlich „aufgezwungenen“ Rollenanforderungen zu situieren ist, sondern in ihnen geradezu ein entscheidendes Darstellungsmaterial findet: Die ‚Würderegie‘, wie wir sie oben mit Luhmann rekonstruiert hatten, bestand ja nicht darin, sich von allen Rollen gleichförmig zu „emanzipieren“, sondern sie so unterschiedlich zu akzentuieren und zu modulieren, dass trotz widersprüchlicher Anforderungen ein persönlicher Verhaltensstil erkennbar wird und erkennbar bleibt, der Konsistenzansprüchen genügt: „Selbstdarstellung läßt sich […] nicht in Rollenspiel auflösen, obwohl sie immer im Rollenspiel erfolgt. Sie projiziert eine Persönlichkeit dadurch, daß sie eine rollenverbindende und rollenkonkretisierende, ja unter Umständen auch Rollenpflichten verletzende Identität darstellt.“ (Luhmann 1965, S. 63)

Die Pointe dieser Bestimmung bei Luhmann liegt nun darin, dass er funktional differenzierten Gesellschaften, anders als es kulturkritische Einlassungen insinuieren, einen durchaus hohen Bedarf an ‚Persönlichkeiten‘ und damit an einheitlichen und gelingenden Selbstdarstellungen attestiert. Zum einen lassen sich nach Luhmann auch unpersönliche Verhaltensanforderungen überhaupt nur dann verstehen, wenn die Unterscheidung von ‚unpersönlich‘ und ‚persönlich‘ im Rollenhandeln selbst Chancen ihrer Darstellung findet. Gerade die Fähigkeit zu einer unpersönlichen „Orientierung an allgemeinen sachlichen Kriterien und spezifischen Relevanzen“ (ebd., S. 50) beruht auf der aktiven Handhabung dieses Unterschieds und wird anhand von Darstellungserfahrungen verfeinert, die diesen Unterschied selbst noch einmal in je unterschiedlicher Gewichtung ausbalancieren, etwa indem man themen- oder publikumsbezogen zwischen den Registern persönlicher Betroffenheit oder leidenschaftlichem Interesse und demonstrativ ‚bloßer‘ Pflichterfüllung wechselt.

Zudem zeichne es funktional differenzierte Gesellschaften aus, dass sie die Koordination der Teilaufgaben nicht mehr zentral – etwa durch politische oder religiöse Vorgaben – gewährleisten und darüber hinaus auch feste Rollenkombinationen nicht mehr institutionalisieren. Daher sind derartige Gesellschaften nach Luhmann umso mehr darauf angewiesen, über Persönlichkeiten einen Knotenpunkt zu etablieren, der „in die Sachstrukturen Querverbindungen hineinzulegen“ (Luhmann 1965, S. 71) vermag. Auch dies aber habe zur Voraussetzung, dass die Selbstdarstellung in verschiedenen Sachstrukturen und Rollenkontexten hinreichende Bestätigungsmöglichkeiten vorfinde, ohne in eine unzusammenhängende Ansammlung von je situativ bedingten Verhaltensweisen zu zerfallen.

Und zuletzt geht Luhmann gar davon aus, dass die Orientierung an einer persönlich-konsistenten Selbstdarstellung den verlorengegangenen „Außenhalt an genau definierten sozialen Erwartungen, Rollen und Institutionen“ (ebd., S. 50) insofern kompensieren könne, als sie zu einem angstreduzierten Verhalten auch und gerade „in sozial nicht eindeutig determinierten Situationen“ (ebd.) führe. Es gibt also nicht nur in phänomenologischer, sondern auch in funktionaler Hinsicht deutliche Anzeichen für die obige Annahme, dass würdebezogene Verhaltensweisen besonders auf normativ unbefestigtem Terrain und – um Plessners zum geflügelten Wort gewordenen Buchtitel wiederaufzunehmen – an den Grenzen der Gemeinschaft akut und relevant werden.

3 Würde zwischen interaktiver Anstrengung und rechtlichem Schutzgut

Die zurückliegenden Überlegungen nahmen ihren Ausgang von dem auffälligen Missverhältnis zwischen der Selbstverständlichkeit, mit der der alltägliche Sprachgebrauch von einem jederzeit möglichen Würdeverlust ausgeht, und dem Duktus der theologischen, menschen- und verfassungsrechtlichen Diskurse, in denen die Würde des Menschen von einer sakralen Aura der Unverletzlichkeit, Unveräußerlichkeit und Unantastbarkeit umflort wird. Bei dem Unternehmen, diese Lücke auf soziologischem Weg zu verkleinern, versuchten wir in einem ersten phänomenzentrierten Zugriff, klassische Ansätze der Soziologie auf würdesensible Situationen und ihre gesellschaftlichen Randbedingungen hin zu befragen. Dabei rückten mit Öffentlichkeit, Arbeitsteilung und Rollenvielfalt zunächst Faktoren in den Blick, die das Phänomen der Würde als soziologisch distinktes auszuweisen erlaubten: Würdefragen stellen sich aufgrund der drastischen Exponiertheit, in der sich der Einzelne bei Geschäft und Geselligkeit vorfindet (Plessner); sie stellen sich als hochgetriebene Kontrollprobleme des individuellen Ausdrucks, die durch „dramatische Gestaltung“ zu lösen sind (Goffman); und sie verweisen auf Konsistenzanforderungen, die ein als persönlich erkennbarer Verhaltensstil im Spannungsfeld von verschiedenen Rollenkontexten an einen stellt (Luhmann).

Durch die in einem zweiten Schritt erfolgte Abgrenzung gegenüber Ehrkonzepten wurden dann Anhaltspunkte für eine gesellschaftsfunktionale Einordnung des Würdekomplexes erarbeitet. Dabei galt es vor allem, die These Peter L. Bergers, dass im Verlauf der Modernisierung partikulare Ehrkonzepte von universalistischen Würdevorstellungen einfach abgelöst wurden, deutlich abzuschwächen: Würdeempfinden und Würdeanspruch sind nicht einfach an die Stelle von Ehrkonzepten getreten, aber sie lockern, moderieren oder durchkreuzen die immer wieder neu einsetzenden partikularen Gruppenbindungen und deren über das Ehrgefühl prozessierten Bestandsinteressen, indem sie ihnen eine Anerkennungsgrundlage für individuelles, als persönlich lesbares Ausdruckshandeln entgegensetzen. Wie nun aber verhalten sich die auf diesem Wege eingegrenzten Koordinaten eines soziologischen Würdekonzeptes zum klassischen und zeitgenössischen Würdediskurs, der vornehmlich außerhalb der Soziologie stattfindet? Sind insbesondere interdisziplinäre Anschlüsse an ethisch-philosophische oder rechtswissenschaftliche Fragestellungen vorstellbar, die sich bisher kaum mit einer soziologischen Annäherung an dieses Thema befasst haben?

Ein entsprechender Dialog würde sich dann vor unüberwindbare Hürden gestellt sehen, wenn ein interaktionsbasiertes Würdeverständnis, wie es hier entwickelt wurde, mit dem, was unter der Würde des Menschen zu verstehen ist, kaum mehr als den Begriff gemein hätte. Und tatsächlich findet sich in der Literatur der Versuch, die „Konnotationsanfälligkeit dieses strukturell mehrschichtigen Begriffs“ in den Griff zu bekommen, indem man zwischen „kontingenter“ und „inhärenter“ Würde unterscheidet (Wildfeuer 2002, S. 31; apodiktisch Isensee 2011, S. 39) und im Binnenbereich der kontingenten Würde dann Unterunterscheidungen einführt, in denen wiederum „soziale Würde“ und „expressive Würde“ voneinander abgegrenzt werden.

Doch ist vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktionen eine bündige Unterscheidung zwischen „sozialer“ bzw. „expressiver Würde“ und „Würde des Menschen“ wirklich evident? Erste Zweifel an dieser Unterscheidung stellen sich bereits dann ein, wenn man berücksichtigt, dass in all den würdesensiblen Situationen, Interaktionen und Funktionen, die wir nachgezeichnet haben, wenig mehr als ‚der Mensch‘ als Zurechnungsadresse bleibt; und noch skeptischer muss stimmen, dass diesen würdesensiblen Situationen, Interaktionen und Funktionen von vornherein ein expressiver Gehalt innewohnt.Footnote 13 Gemeinsames Signum derselben war ja gerade, dass in ihnen die herkömmlichen Formen sozialer AnerkennungFootnote 14 (Ehre, aber ebenso Prestige, Autorität, Nimbus) nicht mehr den entscheidenden Referenzrahmen darstellen. Jemand, dessen Würde in dem hier rekonstruierten Sinne verletzt wurde, erklärt nicht unter Verweis auf seine beruflichen Erfolge, sein Gehalt oder sein Parteibuch, dass dies zu unterbleiben habe, sondern unter Verweis auf die Depotenzierung, die Manipulation oder die Instrumentalisierung der Ausdrucksmittel, die es ihm gestattet hätten, sich als – menschliche – Person darzustellen. Tut er ersteres, macht er nicht mehr eine Verletzung seiner Würde geltend, sondern rahmt die Situation unter Rückgriff auf Prestige, Verdienst oder Gruppenmitgliedschaft, also auf gesellschaftliche Maßstäbe. ‚Würde‘ in dem hier verstandenen Sinne konvergiert also zumindest darin, dass sie den Menschen als soziale Zurechnungsadresse instituiert, weitgehend mit der ‚Würde des Menschen‘, so dass die Entgegensetzung von sozialer Würde und Menschenwürde und weitere daran anschließende Binnenunterscheidungen kaum mehr einleuchten.

Der eigentliche Unterschied, an dem ein Dialog mit ethisch-philosophischen Disziplinen anzusetzen hätte, scheint mir daher nicht so sehr im Hinblick auf die ‚Adresse‘, sondern eher auf die materiale Erscheinungsform der Würde vorzuliegen. Die besonders im ersten, phänomenologisch orientierten Teil dieses Beitrags angestellten Überlegungen begreifen Würde schließlich als etwas, das in täglicher Interaktion her- bzw. dargestellt wird und in seiner Darstellung auch scheitern kann. Wie könnte nun dieser Akzent auf der Performanz von Würde mit der klassischen Annahme, dass Würde vernunftbegabten Wesen oder gar der menschlichen Natur ‚inhärent‘ ist, ins Gespräch gebracht werden? Und gibt es in der Philosophie vielleicht selbst schon Ansätze, die eine gewisse Nähe zu dieser performativen Dimension aufweisen?

Um hier zu belastbareren Aussagen zu kommen, sollte man sich noch einmal in systematischerer Weise vor Augen halten, welchen – wenn man so will – modalontologischen Status das hier vorgeschlagene Würdeverständnis eigentlich impliziert. Wenn man die ausdrucks- und interaktionstheoretischen Basisannahmen von Goffman und Luhmann beim Wort nimmt und sie mit Plessners Verständnis von Würde als „Idee einer Harmonie […] zwischen Seele und Ausdruck“ [Hervorh. P. W.] abgleicht, dann ist (menschliche) Würde nichts, was einige aufgrund von Fähigkeiten oder Handlungsvollzügen haben und andere eben nicht, aber eben auch nichts, was ‚dem Menschen‘ inhärent ist, und sie lässt sich daher auch weder als „Leistung“ noch als „Mitgift“ konzipieren.Footnote 15 Vielmehr handelt es sich bei ihr um einen „Wunschbegriff“ (Luhmann 1965, S. 68) mit regulativer Funktion: Würdevorstellungen und -ansprüche steuern Selbstdarstellungen und Interaktionen, ohne jemals selbst in Gänze realisiert werden zu können, weil nicht nur das leibkörperliche Ausdrucksgeschehen als solches, sondern auch das wechselseitige Zusammenspiel mit dessen sozialer Perzeption viel zu unwillkürlich, eruptiv und unkontrollierbar ist, um Seele und Ausdruck wirklich in harmonische Deckung zu bringen.

Vielleicht lässt sich von dieser ‚modalontologischen‘ Bestimmung aus ein Problem, das der Rede von der inhärenten Menschenwürde ihrerseits inhärent ist, wenn nicht lösen, so doch genauer adressieren. Nahezu alle philosophie- und ideengeschichtlichen Quellen eines inhärenten Würdekonzeptes sahen sich genötigt, die Kriterien zu spezifizieren, durch die man allererst in den Genuss dieser Inhärenz kommt. Teils ist es die der menschlichen Natur angeblich innewohnende Perfektibilität (Rousseau), teils deren Gestaltungs- und Schöpfungskraft (Pico della Mirandola; Condorcet), teils die Verantwortlichkeit für eigene Handlungen (John Locke), und teils sind es, so prominent bei Kant, Vernunftbegabung und Gesetzgebungskompetenz (also Autonomie im strengen Sinne)Footnote 16, die hier als Anhaltspunkte dienen. Noch schärfer fallen die Schnitte aus, mit denen gerade jüngere, zumeist aus dem angelsächsischen Raum stammende Ansätze arbeiten. Hier sind es etwa die Fähigkeit, sich etwas zu wünschen, die Tatsache des Lebenwollens (Tooley 1990) oder hinreichende Grade an Selbstbewusstsein (Singer 1994), die als Kriterien für Menschenwürde fungieren sollen.Footnote 17 Sinn von Kriterien ist nun aber Selektivität, und die genannten Eingrenzungsversuche sehen sich daher mit dem Problem konfrontiert, dass sich entscheidende Fragen des Würdeschutzes auch an Konstellationen entfalten, in denen – so etwa beim Thema des Umgangs mit an Demenz erkrankten oder komatösen Personen – von einer Erfüllung der jeweiligen Kriterien nicht mehr ausgegangen werden kann.

Zu was das hier vorgelegte soziologische Würde-Konzept in diesem Zusammenhang anregen könnte, ist gewissermaßen eine Verschiebung des Blickwinkels auf die besagte performative Dimension, nach der Würde eben jenes regulative Prinzip ist, nach dem man den anderen als eine harmonische Erscheinung behandelt, die er nicht ist.Footnote 18 Bei einem solchen Würdeverständnis geht es nicht so sehr darum, wer Würde ‚hat‘, sondern darum, wem gegenüber man eine Haltung einnimmt – oder, normativ gewendet, einnehmen sollte –, durch die das Bild, das der andere von sich anfertigt, wieder einer Harmonie von angezieltem und hervorgerufenem Eindruck angenähert wird. Würde in diesem Sinne ist also kein individueller Besitz, sondern ein soziales GeschehenFootnote 19, in dem grundsätzlich mit Vervollständigungen oder, sozialphänomenologisch gesprochen, mit Idealisierungen sowohl seiner selbst wie anderer gearbeitet wird.

Da diese Idealisierungen nun aber bereits in Interaktionen, in denen die Beteiligten über ein ‚normales‘ Maß an Ausdruckskontrolle verfügen, zu weiten Teilen kontrafaktisch sind – weil sich besagte Harmonie niemals erreichen lässt –, stellen sich auch Interaktionen mit Menschen, bei denen die Fähigkeit zur AusdruckskontrolleFootnote 20 eingeschränkt ist (z. B. Kinder oder Demenzerkrankte), nicht grundsätzlich, sondern allenfalls graduell anders dar. Dieses Gefälle von Ausdruckskontrolle allerdings lässt sich gerade nicht in eine parallele Abstufung der Schutzwirkung übersetzen; vielmehr bedürfen diejenigen, die auf ihr Ausdruckshandeln dramaturgisch einwirken können, gerade weniger Schutz als diejenigen, die hier durch eine höhere Vulnerabilität gekennzeichnet sind (vgl. hierzu aus integritätstheoretischer Perspektive ähnlich Pollmann 2006, S. 233). Und in diesem Sinne schützende Verhaltensweisen finden sich zuhauf, etwa in der Ontogenese, in der der Säugling kontrafaktisch als ‚volle‘ kommunikative Adresse behandelt wird und erst auf diesem Wege zu einer solchen werden kann (vgl. aus systemtheoretischer Perspektive hierzu Fuchs 1997), aber ebenso in dem Konzept der Validation, das im Umgang mit an Demenz erkrankten Personen empfiehlt, deren Selbst- und Weltwahrnehmung nicht an ‚der Realität‘ korrigieren, sondern sie für gültig zu erklären und so einem weiteren Rückzug entgegenzuwirken. An dieser Stelle also ließe sich das hier vorgeschlagene Würdekonzept an ethische Positionen anschließen, die der oftmals irritierenden Selbstsicherheit, mit der biologische, entwicklungspsychologische oder lebenswissenschaftliche Daten zur Bestimmung des ‚Würdestatus‘ herangezogen werden, etwas entgegensetzen wollen – und zwar ohne gleich zu partikularen theologischen oder religiösen Begründungsfiguren (Gottesebenbildlichkeit etc.) zu greifen.Footnote 21

Gibt es ähnliche Anschluss- und Dialogmöglichkeiten nun auch im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Diskussion der Menschenwürde, für die mit der Arbeit von Manfred Baldus (2016) nun eine so umfangreiche wie pointierte Überblicksdarstellung vorliegt? Diese Frage ruht insofern auf besonderen Voraussetzungen auf, als einer der hier diskutierten ‚würdesensiblen‘ Autoren von Seiten der Rechtswissenschaften durchaus schon rezipiert wurde: Als ausgebildeter Jurist war es Niklas Luhmann, der in seinem bereits mehrfach zitierten Buch Grundrechte als Institution sich nur scheinbar mit einer ‚bloß‘ soziologischen Aufarbeitung dieses Themas beschied. Vielmehr ließ er dort an verschiedensten Stellen durchscheinen, dass aus (s)einer soziologisch-funktionalen Analyse der Grundrechte durchaus auch rechtsdogmatische Konsequenzen erwüchsen – und zeigte sich dabei durchaus selbstbewusst und angriffslustig. So erwiderte er die Annahme Hans Carl Nipperdeys, dass Würde das Wesen des Menschen sei und er daher ein Recht auf dieselbe habe, lapidar mit dem Einwand, dass beide Sätze sich wechselseitig ausschlössen: „Man kann Rechte nur haben auf etwas, was man verlieren kann; als Wesen wird aber gerade die unverlierbare Eigenart einer Substanz bezeichnet“ (Luhmann 1965, S. 59, Anm. 17). Und die bis heute viel gerühmte Objektformel Günter Dürigs, wonach der Würdeträger vom Staat nicht als „bloßes Objekt“ behandelt werden dürfe, bezeichnete Luhmann kurzerhand als „Leerformel“, die zu einer dogmatischen Präzisierung ebenfalls ungeeignet sei: „[…] jedes Behandeln setzt Vergegenständlichung voraus“ (ebd., S. 59/60, Anm. 18), so dass die Objektformel den Problembereich lediglich auf die Frage verschiebe, ab wann eine solche Behandlung grundrechtsverletzend sei.

Im Hinblick darauf, dass seit diesen selbstbewussten Stellungnahmen Luhmanns mittlerweile mehr als 50 Jahre vergangen sind, in denen gerade die Verfassungsrechtsprechung zur Würdenorm und die sie begleitenden dogmatischen Einordnungsversuche auf Bibliotheksgröße angewachsen sind, bleiben besonders zwei Dinge hervorzuheben, bevor man sich auf die Suche nach etwaigen Anschlussversuchen macht: Erstens ist die Würdenorm in der verfassungsrechtlichen Diskussion mehr und mehr in die Rolle einer ausstrahlungsintensiven Meta- oder Fundamentierungsnorm (vgl. für eine solche Auslegung Isensee 2011) eingerückt. Diese Entwicklung kulminierte in der teils erbittert geführten Auseinandersetzung, ob Art. 1 Abs. 1 GG überhaupt ein einklagbares Individualgrundrecht beinhaltet oder ob es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt, der durch die nachfolgenden Grundrechte konkretisiert, inkorporiert oder „mediatisiert“ (Isensee 2011, S. 79) wird. Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass Luhmann damals wie selbstverständlich davon ausging, dass es sich bei der Würdenorm (auch) um ein Individualgrundrecht handelte, und die Eingrenzung des von ihr erfassten Schutzbereichs nahm er – wie gleich noch näher demonstriert wird – auf soziologischem Wege vor.

Eng damit zusammenhängend sollte man sich nun zweitens bewusst halten, dass die soziologische Beantwortung rechtsdogmatischer Fragen gerade für eine funktional ansetzende Analyse einige Probleme aufwirft, die Luhmann damals nicht ausreichend reflektiert hatte (vgl. hierzu ausführlich Nichelmann 2020). Wir haben in den methodischen Vorbemerkungen bereits anklingen lassen, dass eine funktionale Analyse, die ihren Problemkontext nicht hinreichend spezifiziert, Gefahr läuft, sich dem Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit auszusetzen. Eine solche Beliebigkeit dürfte sich umso nachteiliger auswirken, je stärker sie dabei in die ‚Zuständigkeit‘ anderer Disziplinen einzugreifen beansprucht. Dies scheint mir bei dem frühen Ansatz Luhmanns zumindest insofern der Fall zu sein, als er die spezifischen ‚Problemkontexte‘ von Gesellschaftstheorie und Rechtsdogmatik nur unzureichend auseinanderhält. So kommt im Falle der Rechtsdogmatik etwa das Problem hinzu, dass die geltenden Rechtsnormen in ein systematisches und vor allem konsistentes Verhältnis zueinander gerückt werden müssen. Dieses Problem lässt sich aber weder mit einer ‚funktionalen Analyse‘ soziologischer Provenienz noch mit einem stärkeren Einbezug der empirischen Sozialwissenschaften lösen, den Luhmann an einigen Stellen ebenfalls eher voraussetzungsarm einfordert (vgl. z. B. Luhmann 1965, S. 65). So hat Christoph Enders den spezifisch rechtsdogmatischen ‚Problemkontext‘ der Würdenorm etwa dadurch umrissen, dass „eine unmittelbar anspruchsförmige Umsetzung des Würdegedankens“ (Enders 2004, S. 54) denselben zugleich einer AbwägungsoffenheitFootnote 22 aussetzt, die durch die in Art. 1 Abs. 1 GG statuierte Unantastbarkeit eigentlich ausgeschlossen werden sollte; zudem würde eine solche Auslegung zu der Paradoxie führen, dass gerade in den Fällen, in denen die Drastik der Würdeverletzungen das Eingeständnis einer Verlustmöglichkeit nahelegt, der „Rechtsgrund der Anerkennung“ (ebd., S. 57) verloren gehe. Und Enders’ eigener Vorschlag, die Würdenorm gänzlich von der „Zumutung unmittelbarer Rechtswirksamkeit zu befreien“ (ebd., S. 58), dürfte auch weitere problematische Tendenzen der verfassungs- bzw. verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ausbremsen: etwa die Tatsache, dass eine objektivrechtliche oder auf ‚die Menschheit‘ als solche bezogene Interpretation dieses Grundrechts in manifesten Konflikt zu den Ansprüchen eines konkreten Würdeträgers gerät,Footnote 23 oder der nicht minder problematische Umstand, dass zwischen Achtungs- und Schutzanspruch der Würdenorm – wie besonders die Diskussion um die sog. Rettungsfolter gezeigt hat – Pflichtenkollisionen denkbar werden.

Für die jetzt folgenden Überlegungen bleibt daher festzuhalten, dass sie unter einer Voraussetzung operieren, deren dogmatische Triftigkeit hier nicht zugleich vorausgesetzt werden kann. Sie fragen danach, wie sich unsere Überlegungen an verfassungsrechtliche Diskurse anschließen lassen, wenn man Würde (auch) als individualrechtlichen Anspruch mit unmittelbarer Rechtswirkung versteht und im Zuge des damit verbundenen Auslegungs- und Konkretisierungsbedarfs auf die Akzente des hier entwickelten Würdeverständnisses zurückgreift.Footnote 24 Dabei weist diese Fragestellung insofern einen gewissen Aktualitätsbezug auf, als das BVerfGE in ständiger Rechtsprechung die Würdenorm nicht nur als einen eben solchen Anspruch behandelt, sondern den Anwendungsbereich dieser Norm auch immer stärker entgrenzt hat (vgl. hierzu kritisch Baldus 2016, bes. S. 246 ff.). Die Vielfalt der Fallkonstellationen, die jene Entgrenzung bezeugen, ist bereits Legende und erstreckt sich von der Peep-Show (BVerwGE 64, 274) über drastische Gewaltdarstellungen im Horrorfilm (BVerfGE 87, 209) bis hin zum „Zwergenweitwurf“ (VerwGE Neustadt, 7 L 1271/92). Und ebenso vielfältig sind die Versuche, die Anwendungsmöglichkeiten der Würdenorm angesichts dieser Entgrenzung wieder zu deflationieren,Footnote 25 weil sie anderenfalls zu einer „Wanderdüne ohne Halt“ (Starck 1981, S. 457) zu werden drohe – der zuletzt angesprochene Ansatz von Christoph Enders ist hier wohl nur der radikalste und konsequenteste Vorschlag einer solchen Strategie (vgl. Baldus 2016, S. 175).

Wie sähen nun die Umrisse eines Deflationierungsversuchs aus, der – unter Berücksichtigung der gerade ausgeführten Kautelen – den Vorschlag Luhmanns weiterverfolgt, den Würdeanspruch auf die Ermöglichung einer konsistenten Selbstdarstellung zu beziehen? Und gibt es bereits Ansätze innerhalb von Rechtsprechung und Rechtsdogmatik, die ihrerseits eine Sensibilität für die hier konturierten symbolisch-expressiven Momente des Würdeanspruchs erkennen lassen?

Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass die rollentheoretische Pointe Luhmanns, die wir oben rekonstruierten, eingelassen ist in eine allgemeinere gesellschaftstheoretische Annahme: Die Grundrechte insgesamt schützen das erreichte Differenzierungsniveau der Gesellschaft vor politischen Landnahmen. Die Gefahr solcher Landnahmen ist nach Luhmann der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung immanent, denn sie führt zu einer Konzentration politischer Macht in der Hand des Staates und durch die Generalisierung dieses Mediums zugleich zu der Möglichkeit, immer weitere Lebensbereiche und -bedingungen unter den Einflussbereich kollektiv bindender Entscheidungen zu bringen. Die latente Funktion der Grundrechte liegt nach Luhmann daher darin, mit den individuellen Abwehrrechten zugleich die Eigengeltung gesellschaftlicher Kommunikationssphären insbesondere vor einer übergreifenden Politisierung zu schützen, also im politischen System eine Selbstbeschränkung desselben zu verankern.

Dieses Arrangement weist nun deshalb einen spezifizierbaren Würdebezug auf, weil mit dem Monopol des Staates auf kollektiv bindende Entscheidungen eine Vorbedingung konsistenter Selbstdarstellung – also Würde – prekär wird, und zwar die Möglichkeit, das eigene Handeln als nicht rein außenveranlasst darzustellen: „[…] im Akzeptieren verbindlicher Entscheidungen ist man nicht frei, ja sogar als unfrei sichtbar“ (Luhmann 1965, S. 72). Aus diesem Blickwinkel ist der grundrechtlich garantierte Schutz der Würde nun keineswegs nur eine Meta- oder Fundamentierungsnorm, aus dem einklagbare Rechte allererst gewonnen werden müssen. Vielmehr greift – so lässt sich Luhmann verstehen – der Würdeschutz genau an dem Punkt, an dem das generalisierte Machtmedium des politischen Systems so stark in die dramatischen Mittel des Individuums eingreift, dass dessen Möglichkeit zu einer konsistenten Selbstdarstellung und zu einer individuellen ‚Würderegie‘ gar nicht mehr gegeben ist.

Diese Spezifizierung des (sachlichen) Schutzbereichs führt als notwendiges Kriterium einer Grundrechtsverletzung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG folglich ein massives Machtgefälle ein, das den Korridor einer konsistenten Selbstdarstellung so sehr verengt, dass das Ausdrucksverhalten nahezu komplett von außen in Regie genommen oder von einer Rolle monopolisiert wird. Dann nämlich würden dem Individuum in seinem Darstellungsspielraum nur noch die Alternativen bleiben, „entweder inkonsistent zu sein und in ein öffentliches und ein privates Selbst zu zerfallen oder seine Eigenheit ganz zugunsten der geforderten Linie aufzugeben.“ (ebd., S. 73) Dies sei etwa der Fall, wenn ein als freiwillig dargestelltes Handeln erzwungen oder das Individuum angesichts einer hochgradig vermachteten Konstellation in „Korrespondenzrollen“ (ebd., Anm. 54) gedrängt wird, die es mit seiner Selbstdarstellung unmöglich vereinbaren kann. Auch vor diesem Hintergrund stellt sich der Unterschied zwischen einer Würde, die – im oben nachgezeichneten Sinne – in der alltäglichen Interaktion bewahrt, verloren oder riskiert werden kann, und einer Würde, die unter dem absoluten Schutz des Grundgesetzes steht, nicht als ein Unterschied zwischen „kontingenten“ Vollzügen und „inhärenten“ Qualitäten dar. Vielmehr ist es die in einer spezifischen Weise ausgenutzte Machtdifferenz, durch die der rechtliche Schutzbereich eingegrenzt wird.

Blickt man von dieser Bestimmung aus in einige verfassungsgerichtliche Entscheidungen und grundrechtsdogmatische Kontroversen, entdeckt man durchaus überraschende Anschlussstellen, die sich – über Luhmann hinaus – auch auf die expressiv-dramaturgischen Implikationen des Würdeverständnisses erstrecken, wie wir sie im ersten Kapitel entwickelten: 2004 etwa resümierte das Bundesverfassungsgericht seine eigene vergangene Rechtsprechung dahingehend, dass „der Begriff der Menschenwürde häufig vom Verletzungsvorgang her beschrieben“ (BVerfGE 109, 279, [311f.]) worden sei. Darin kommt der Verzicht auf eine positive Definition von Würde zum Ausdruck, deren Sinn sich vor dem Hintergrund unserer Überlegungen noch klarer abzeichnen lässt: Phänomenal gegeben ist ‚Würde‘ nicht an sich, sondern nur ex negativo, als „Wunschbegriff“ lässt sie sich nicht einem konkreten Subjekt attestieren (oder nicht), sondern sie hat die primär regulative Funktion, eine soziale Korrumpierung des als individuell zurechenbaren Darstellungshandelns zu markieren und zu verhindern.

Und auch in anderen Hinsichten berührt sich unsere Analyse mit einer ‚realitätsnäheren‘ Aufschlüsselung der Würdenorm in der Rechtsprechung, so etwa in der implizit soziologisch verfahrenden Relativierung der Objektformel Dürigs im „Abhörurteil“ von 1970: Der Mensch – so gab das BVerfGE dort zu bedenken – sei „nicht selten bloßes Objekt“, ohne dass seine Würde dabei verletzt würde. Für eine Grundrechtsverletzung hinzukommen müsse vielmehr eine Behandlung, die „seine Subjektqualität prinzipiell in Frage“ oder eine „willkürliche Mißachtung der Würde“ (BVerfGE 30, 1, [101]) erkennen lasse. Der Punkt nun, an dem ‚bloße‘ Objektifizierung in „prinzipielle“ und „willkürliche“ Missachtung umschlägt, ließe sich unter Rückgriff auf das hier entwickelte Würdeverständnis durchaus noch weiter präzisieren: Dieser Umschlagspunkt wäre dann erreicht, wenn Macht- und Herrschaftsakte direkt auf die individuellen Ausdrucksmittel zielen, mit denen das Individuum hätte anzeigen und darstellen können, dass es in dieser Objektifizierung nicht aufgeht. Und selbst die rechtsdogmatische Kontroverse um die sog. Rettungsfolter und deren Verhältnis zum sog. finalen Rettungsschuss könnte in die Koordinaten des hier entwickelten Würdeverständnisses eingetragen werden. Der vermeintliche Wertungswiderspruch, dass das Leben als vitale Basis der Menschenwürde zwar genommen werden dürfe, körperlicher oder seelischer Zwang aber gegen sie verstoße (vgl. Brugger 1996), könnte sich hier in einem anderen Licht darstellen: Abgesehen von dem allgemeinen normtheoretischen Einwand, dass ein Recht auf etwas nicht zugleich die Voraussetzungen dieses ‚etwas‘ schützt, wäre hier daran zu erinnern, dass jede Art von Folter resp. ihrer Androhung – und möge sie noch so sehr durch einen ‚höheren Zweck‘ gerechtfertigt scheinen – die symbolischen Implikate des individuellen Ausdruckshandelns komplett zum Gegenstand einer instrumentellen Fremdregie macht. Eben dies aber ist beim sog. finalen Rettungsschuss nicht der Fall, da es dabei um einen instrumentellen Zugriff auf diese symbolischen Implikate überhaupt nicht geht, sondern um eine Gefahrenabwehr, zu deren Verhältnismäßigkeitsprüfung das hier pointierte Würdeverständnis in der Tat kaum etwas beitragen kann.

‚Deflationierend‘ dürfte – wenn man diesen Ansatz weiterdenkt – eine solche Eingrenzung aber auch deswegen wirken, weil mit ihr eine unkontrollierte Dritt- bzw. Ausstrahlungswirkung dieses Grundrechts gebremst werden könnte. Denkt man eine Drittwirkung der Würdenorm konsequent zu Ende, so müsste sie letztlich auch jene Sphäre des alltäglich möglichen Würdeverlusts, wie wir sie im ersten Kapitel rekonstruierten, als verfassungsrechtlich sanktioniert ausweisen – mit der Folge eines Jurisdiktionsstaats, dessen Imperative sich auch auf Regeln und Risiken der alltäglichen Interaktion zwischen Privatleuten erstrecken. Bei Luhmann selbst, der die Würdenorm in weiten Teilen als klassisches, gegen den Staat gerichtetes Abwehrrecht versteht und sich dem justiziablen Tugendfuror, der mit einer derart intensiven Ausstrahlungswirkung verbunden wäre, wohl bewusst war, wird eine mögliche Drittwirkung daher auch nicht ausbuchstabiert. An einer Stelle schreibt er dennoch, dass „die wirklichen Sicherungen“ (Luhmann 1965, S. 74) gegen Würdeverletzungen im Organisationsrecht lägen. Hier scheint in modernisierter Form die oben mit Simmel und Durkheim hergeleitete Annahme wieder auf, dass der Würdeschutz dagegen gerichtet ist, dass „Sekundärgruppen“ oder „soziale Kreise“ das Individuum allumfassend verpflichten. Diese Gefahr ist in besonderer Weise in einer Gesellschaft gegeben, in der besagte Machtdifferenz oft im organisationalen Gewand daherkommt; in dieser Entwicklung aber liegt zugleich die Gefahr begründet, dass die Indifferenzzonen (vgl. Kühl 2011, S. 35), die mit jeder Organisationsmitgliedschaft verbunden sind, so stark ausgeweitet werden, dass sie zusehends auch das individuelle Ausdruckshandeln okkupieren und die Individuen „kein Echo für ihre Selbstdarstellung mehr finden“ (Luhmann 1965, S. 74). Und ähnlich gelagerte Anschlüsse, die als Kriterium einer (mittelbar) drittwirkenden Würdeverletzung ebenfalls die spezifisch (selbst-)darstellungsbezogene Ausnutzung ungleicher Machtchancen nahelegen, ergäben sich wohl auch im Hinblick auf die heutigen Möglichkeiten einer technisch-medial vermittelten Fremdregie, wie sie von einschlägigen TV-Formaten („Frauentausch“, „Die Super-Nanny“) über Cyber-Mobbing bis hin zu automatisierten Vervollständigungen bei Personensuchen reichen.

Ob Absicherungen gegen solcherart Entwicklungen im Organisations- bzw. Medienrecht implementiert werden, als mittelbar drittwirkender Anspruch aus der Würdenorm erwachsen oder anderen (Grund‑)Rechten entnommen werden können, denen ‚im Lichte‘ eines solchen Würdeverständnisses Gehalt zugeführt wird, kann der weiteren Diskussion überlassen werden – und ebenso die Frage, ob derartige Absicherungen auch leistungsrechtliche Ansprüche implizieren müssten. Vorerst lässt sich festhalten, dass all diejenigen Fälle, in denen die Mittel zu einer als persönlich zurechenbaren Selbstdarstellung systematisch und machtförmig manipuliert oder entzogen werden und das individuelle Ausdruckshandeln bis in körperliche Regionen hinein einer heteronomen Kontrolle unterworfen wird, in den Fokus einer Rechtsdogmatik der Würdenorm rücken müssten, die dem hier entwickelten Würdekonzept Anregungen entnehmen kann oder will. So gesehen würde der Zusammenhang zwischen einer Würde, die im alltäglichen Gewoge der Interaktion hergestellt, bewahrt und auch verloren oder verspielt werden kann, und einer Würde, die über den Artikel 1 des Grundgesetzes absoluten Schutz genießt, eine paradoxe Form aufweisen, an denen sich der hier nur angeregte Dialog zwischen Soziologie und Rechtswissenschaften zukünftig noch genauer abzuarbeiten hätte: Das Recht auf Würde bestünde darin, sie in einer offenen, nicht vorentschiedenen Interaktion überhaupt verlieren zu können.