1 Einleitung

Die pragmatistische Sozialtheorie George Herbert Meads eröffnet eine klassische und nach wie vor innovative Perspektive auf die Entwicklung und die Mechanismen menschlicher Normativität. Die Originalität von Meads Theorie ergibt sich zum einen daraus, dass sie das Auftreten einer reflexiven und normativen Kontrolle des Handelns auf die Entstehung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zurückführt und diese Fähigkeit dann aus den spezifischen Herausforderungen menschlicher Verhaltensabstimmung herleitet. Auf diese Weise werden handlungs- und normativitätstheoretische Fragen unauflöslich mit sozialtheoretischen und anthropologischen Problemstellungen verschränkt. Meads Originalität resultiert zum anderen daraus, dass die Analyse dieser Verschränkung von Handlungskontrolle, Perspektivenübernahme und Sozialkoordination auf drei unterschiedlichen Zeitachsen erfolgt.

1) Auf der phylogenetischen Zeitachse reflektiert Mead anhand von artvergleichenden Überlegungen, wie sich die aus seiner Sicht humanspezifische Kompetenz zur Perspektivenübernahme aus den Grundcharakteristika menschlicher Sozialität erklären lässt (dazu Nungesser 2016, 2020, 2021, Kap. 8). Das Resultat ist eine recht dichotome Kontrastierung starrer, präreflexiver und instinktgeleiteter Interaktion von Tieren und flexibler, reflexiver und lernbasierter Interaktion von Menschen.Footnote 1 Da die menschliche Handlungsflexibilität soziale Kontingenz mit sich bringt, stellt sich die Frage, wie im Laufe der Anthropogenese instinktive Verhaltenssicherheit durch normativ strukturierte Erwartungssicherheit ersetzt wurde. Mit seinen Konzepten der Perspektivenübernahme und des sozialen Selbst erfasst Mead zwar Grundbedingungen dieser Transformation eines biologisch verankerten ‚Müssens‘ in ein sozial vermitteltes ‚Sollen‘.Footnote 2 Dennoch spielen Normativität und Moral in seinen grundlegenden Überlegungen zur Tier-Mensch-Differenz keine wesentliche Rolle.Footnote 3

2) Ganz anders verhält sich dies in Meads später entwickelten Überlegungen zur ontogenetischen Zeitachse. Seine Analyse der Entwicklung der Perspektivenübernahmefähigkeiten im Laufe der menschlichen Sozialisation zielt wesentlich darauf, die stufenweise Aneignung von sozialen Erwartungen, Regeln und Rollen nachzuvollziehen. Diesem Ziel dienen seine weithin bekannten Betrachtungen kindlicher Rollen- und Regelspiele und der in ihnen wirksamen normativen Koordinationsmechanismen.

3) Die Einsichten zum Verhältnis von Perspektivenübernahme und Normativität sind auch zentral für Meads wenig bekannte Überlegungen zur gesellschaftsgeschichtlichen Zeitachse. Mead hat immer wieder Studien zu makrosozialen Gegenständen vorgelegt – etwa zur Strafjustiz, zu den internationalen Beziehungen oder zu sozialen Konflikten und Reformbewegungen in den USA. In diesen Arbeiten verbindet er sozialpsychologische Argumente mit den Kooperations- und Konfliktdynamiken moderner Gesellschaften. Normativitätstheoretisch ist hierbei zentral, dass er die gegenläufigen Dynamiken von generalisierten Perspektiven betont. Die Fähigkeit, personenunabhängige und objektive normative Perspektiven einzunehmen, kann demnach den gesellschaftlichen Dialog und die Einbeziehung unterschiedlicher Gesichtspunkte befördern, aber auch den Ausschluss und die aggressive Abgrenzung von anderen Personen und Gruppen antreiben.

Der vorliegende Beitrag widmet sich Meads ontogenetischen und gesellschaftsgeschichtlichen Überlegungen – also den beiden Zeitachsen, auf denen Normativität und Moral explizit und systematisch von Mead thematisiert werden. Auf beiden Zeitachsen wird eine doppelte Zielsetzung verfolgt. Der Aufsatz zielt einerseits auf die Rekonstruktion der jeweils zentralen Argumente, die dadurch in ihrer Systematik klarer erkennbar werden sollen, als dies bei Mead selbst der Fall ist.Footnote 4 Notwendig ist das vor allem im Hinblick auf die gesellschaftstheoretischen Ideen, die aus verstreuten Texten zusammengeführt werden müssen. Gerade durch eine genaue Rekonstruktion werden auch argumentative Probleme und Spannungen erkennbar. Von der Problembestimmung ausgehend zielt der Aufsatz andererseits auf eine kritische Aktualisierung von Meads Grundargumenten unter Einbeziehung von einschlägiger neuerer Forschungsliteratur.

Dieser Zielsetzung entsprechend wird im Folgenden zunächst die ontogenetische Zeitachse in den Blick genommen. Im Zentrum steht Meads Analyse des kindlichen Spiels, die mit aktuellen entwicklungspsychologischen Studien kontrastiert wird. Hierbei wird argumentiert, dass Meads Theorie an Plausibilität gewinnt, wenn man Rollen- („play“) und Regelspiele („game“) nicht als Phasen, sondern als Grundformen des Sozialverhaltens versteht, die parallel zueinander im Laufe der Zeit eine größere normative Bindungskraft und Abstraktheit erhalten (Abschn. 2).

Hieran anschließend erfolgt der Wechsel auf die gesellschaftsgeschichtliche Zeitachse. Rekonstruiert werden Meads wenig beachtete Überlegungen zur Ausweitung und Konflikthaftigkeit moralischer Gruppenperspektiven.Footnote 5 Daraufhin wird Meads Position mit Luc Boltanskis und Laurent Thévenots Theorie der Rechtfertigungsordnungen konfrontiert. Der Vergleich lässt erkennen, dass Mead auf gesellschaftshistorischer Ebene einerseits die Pluralität normativer Muster ausblendet und dadurch die moralischen Universalisierungspotentiale überschätzt. Andererseits wird gezeigt, dass Mead innergesellschaftliche und internationale Konflikte keineswegs ausblendet, sondern systematisch mit seiner Sozialpsychologie verknüpft. Allerdings verfällt er hierbei im Hinblick auf spezifische, insbesondere gewaltsame Konfliktformen in ein problematisches Pathologisierungsnarrativ. Bedingt wird dieses Problem dadurch, dass Meads konzeptuelle Erfassung der Dynamiken normativer Konflikte durch seine eigene normative Ablehnung bestimmter Konflikte durchdrungen ist. Die Analyse der Normativität als soziologischem Gegenstand wird hier also durch die spezifische Normativität der Betrachtungsweise nachteilhaft beeinflusst (Abschn. 3).

Im Ausblick werden zum einen die wichtigsten Ergebnisse der Analyse zusammengefasst; zum anderen werden Leerstellen und Potenziale umrissen, die insbesondere dadurch erkennbar werden, dass man die Verknüpfungen der Zeitachsen der Perspektivenübernahme in den Blick nimmt (Abschn. 4). Insgesamt zielt der Beitrag darauf, die ungebrochene Relevanz von Meads Theorie der Normativität zu demonstrieren, indem gezeigt wird, dass den argumentativen Spannungen und dem unbezweifelbaren Aktualisierungsbedarf ein beachtliches Innovations- und Aktualisierungspotential gegenübersteht.

2 Das Spiel als Perspektivierungstraining. Die ontogenetische Entwicklung von Normativität

Am systematischsten hat Mead Fragen der Normativität und Moral auf der ontogenetischen Zeitachse untersucht. Die Analysen der menschlichen Sozialisation, insbesondere zur Entwicklung des kindlichen Spieleverhaltens, sind zweifellos sein bekanntester normativitätstheoretischer Beitrag. Dieser Beitrag wird im Folgenden kurz rekonstruiert (2.1). Im Anschluss dienen die Spannungen und Probleme von Meads Position als Ausgangspunkt einer aktualisierenden Betrachtung (2.2).

2.1 Rekonstruktion: Meads Analyse des kindlichen Spiels

Meads Analyse des kindlichen Verhaltens konzentriert sich bekanntlich auf zwei wesentliche Formen des Spiels, anhand derer ihm zufolge zwei Phasen innerhalb der Entwicklung der Handlungsfähigkeit, der Perspektivenübernahme und des Normativitätsverständnisses erkennbar werden.Footnote 6 Bei der ersten Phase – dem „play“ – handelt es sich um eine einfache Form des Rollenspiels. Dieser Spieltypus ist für eine Entwicklungsphase charakteristisch, in der das Kind seine Perspektivenübernahmefähigkeiten nur auf konkrete andere Personen beziehen kann.Footnote 7 Gerade seine starke Abhängigkeit von Anderen führt laut Mead dazu, dass das Kind eine große „Sensibilität“ für das Verhalten und die Perspektiven der unmittelbaren Mitmenschen entwickelt (Mead 1980i [1925], S. 319). Typisch ist daher die Übernahme von Rollen, die für das Nahumfeld des Kindes zentral sind. Charakteristisch sind darüber hinaus Rollen, die eine besondere Anziehungskraft auf die kindliche Imagination ausüben. Entsprechend betätigt sich das spielende Kind in dieser Phase „als Vater oder Mutter, als Lehrer, Prediger, Krämer, Polizist, Pirat oder Indianer“ (Mead 1980i [1925], S. 319).

Mead (z. B. 2015 [1934], S. 150 f.) betrachtet weniger die realen Spielhandlungen des Kindes mit anderen Gruppenmitgliedern, sondern vor allem die imaginären Spielinteraktionen, in denen das Kind die verschiedenen Rollen wechselseitig selbst übernimmt. Dabei geht es ihm insbesondere darum, dass das Kind in der „play“-Phase lernt, komplementäre Rollen zu übernehmen und spezifische soziale Beziehungen und Erwartungen zu verstehen (Joas 2000b [1980], S. 117 f.). Der imaginäre Spielcharakter scheint hierbei zentral zu sein, da es wesentlich um die Einübung und Verinnerlichung dieser Sozialbeziehungen geht. Durch die abwechselnde imaginierte Übernahme einander ergänzender Rollen (‚Kind-Elternteil‘; ‚Polizist-Einbrecher‘ etc.) erlangt das Kind die Möglichkeit, die Reaktion der anderen Rolle innerlich vorwegzunehmen. Im Rahmen dieser einfachen Spielform antizipiert das Kind also die Perspektive spezifischer sozialer Anderer auf sein Handeln und vollzieht ihre Reaktionen und die darauf folgende eigene Handlungsanpassung wiederholt nach. Anhand der vorgestellten Reaktionen kann dann die eigene Handlung noch vor ihrer Ausführung gehemmt, angepasst oder geändert werden.

Die zweite Stufe der kindlichen Spielentwicklung nennt Mead „game“, was mit „Wettkampfspiel“, „Regelspiel“ oder „Gruppenspiel“ übersetzt wird. Ein typisches Beispiel sind Mannschaftssportarten (z. B. Mead 2015 [1934], S. 154, 211, 303). Um etwa an einem Fußball- oder Baseballspiel teilnehmen zu können, muss man die Situation aus der Sicht verschiedener Perspektiven präsent haben (Mead 2015 [1934], S. 151). So muss eine Fußballspielerin bei gegnerischem Ballbesitz nicht nur die Aktionen ihrer direkten Gegenspielerin beachten, sondern auch das Spielverhalten der Teamkameradinnen und der anderen Kontrahentinnen. Zudem können die Perspektiven nicht mitspielender Personen – etwa die des Schiedsrichters oder der Trainerin – das aktuelle Handeln beeinflussen. Gerade an den Figuren der Trainerin oder des Schiedsrichters lässt sich zudem erkennen, dass es bei dem Gruppenspiel nicht allein um eine Perspektivenvermehrung geht. Nicht die parallele Übernahme verschiedener Rollen ist entscheidend, sondern vor allem die Integration dieser Sichtweisen in einer höherliegenden Perspektive, die eine „gewisse Einheit“ aufweist (Mead 2015 [1934], S. 154). Metaphorisch gesprochen entsteht mit dem „game“ nicht nur eine Art von ‚sozialem Facettenauge‘, sondern auch eine ‚soziale Vogelperspektive‘. Diese höherstufige Form der Rollenübernahme bezeichnet Mead (1980i [1925], S. 320, 2015 [1934], S. 154 ff.) als die Perspektive des „generalisierten Anderen“. Der „generalisierte Andere“ ist keine spezifische Person. Vielmehr handelt es sich um eine qualitativ neue Perspektive, die einen situativen Überblick verschafft, die Relationen zwischen den verschiedenen Rollen erkennen lässt und allgemeine Erwartungen an diese Rollen verständlich macht. Im Fall von Spielen ergeben sich diese allgemeinen Erwartungen vor allem aus den Regeln (Mead 1980i [1925], S. 320).

Erst wenn es zur Übernahme generalisierter Perspektiven fähig ist, kann das beispielhaft betrachtete Kind zu einer Fußballspielerin im Vollsinne werden. Denn erst dadurch kann sie die Regeln nachvollziehen, die für dieses Wettkampfspiel konstitutiv sind. Auch die Vermittlung einer Taktik oder das Einstudieren von Spielzügen wird erst möglich, wenn die Mannschaftsmitglieder über eine generalisierte Perspektivierungsmöglichkeit verfügen, die es ihnen erlaubt, ihre eigene Rolle ins Verhältnis zur Aufgabe der gesamten Gruppe zu setzen (Mead 2015 [1934], S. 154 f.). Schließlich führt die Einführung in das Wettkampfspiel zu einer Identifikation mit der generalisierten Perspektive der eigenen Mannschaft und damit zu einer Abgrenzung von anderen Gruppen und deren Perspektive. Tritt die Fußballspielerin in die Phase des „game“ ein, so erkennt sie, dass es ‚uns‘ darum geht, die ‚Anderen‘ zu schlagen.

Mead (2015 [1934], S. 150) versteht die Spielaktivität als soziales „Training“, das die Aneignung der komplexeren normativen Erwartungsstrukturen einer differenzierten Gesellschaft vorbereitet. So wird das Verständnis gesellschaftlich institutionalisierter Normen wie etwa Eigentumsverhältnisse nur durch die Perspektive eines entsprechenden generalisierten Anderen möglich, der bewirkt, dass für gewöhnlich bei allen Gesellschaftsmitgliedern die gleichen Reaktionserwartungen hervorgerufen werden (Mead 2015 [1934], S. 161 f.). Es ist demnach allen bewusst, dass ein Verstoß gegen dieses generelle Prinzip (im Falle einer Entdeckung) zu gesellschaftlichen Sanktionen wie etwa Gesichtsverlust oder strafrechtlicher Verfolgung führen wird. Analog der Spielregeln lassen sich also auch Rechte und Gesetze als generalisierte Rollenerwartungen konzeptualisieren. Der „generalisierte Andere“ ist in diesem Fall nicht nur die Mannschaft oder der Sport im Allgemeinen. Übernommen wird im Fall einer so allgemeinen Norm vielmehr die Perspektive der „ganzen Gemeinschaft“ (Mead 2015 [1934], S. 154).

Das Verständnis von Wettkampfspielen bereitet zudem die Teilnahme an weiter ausgreifenden „sozialen Projekten“ (Mead 2015 [1934], S. 155) vor. Ein solches „Projekt“ sind laut Mead etwa politische Parteien, deren Mitglieder die synthetisierte Perspektive der Gesamtpartei annehmen können. Versteht es sich als Teil dieser Organisation, so kann ein Individuum gesellschaftliche Prozesse und Probleme aus einer gesamtparteilichen Perspektive beurteilen. Darüber hinaus kann es die unterschiedlichen Zuständigkeiten der verschiedenen Rollen innerhalb der Partei sowie die Nähen und Differenzen zu anderen Parteien verstehen (Mead 2015 [1934], S. 156 f.). Anhand der kindlichen Spielentwicklung erläutert Mead demnach, wie die Erwartungen, Ziele und Regeln gesellschaftlicher Gruppen in Form des „generalisierten Anderen“ Teil der inneren Erfahrung und des individuellen Reflexionsprozesses werden:

It is in the form of the generalized other that the social process influences the behavior of the individuals involved in it and carrying it on, i.e., that the community exercises control over the conduct of its individual members; for it is in this form that the social process or community enters as a determining factor into the individual’s thinking. (Mead 2015 [1934], S. 155)

Erst durch die Verinnerlichung des sozialen Prozesses in Form von spezifischen und generalisierten Anderen erlangt das Individuum demzufolge ein Verständnis von Normativität und eine daran ausgerichtete Kontrolle über sein eigenes Handeln.

Die soziale Konstituierung von Handlungskontrolle führt bei Mead nicht zu der Annahme, dass individuelles Handeln durch die normativen Erwartungen klar vorgezeichnet ist. Dies hat zum einen damit zu tun, dass moralische Handlungsprobleme keiner „mechanischen Notwendigkeit“ (Mead 2015 [1934], S. 178) folgen und oft nicht eindeutig aufzulösen sind. Vielmehr treten im Falle eines solchen Problems „unterschiedliche Tendenzen im reflexiven Denken als verschiedene Stimmen auf, die miteinander einen Konflikt austragen“ (Mead 1980e [1913], S. 247). Mit seiner Entscheidung kann sich das Individuum dann auch selbst überraschen. Auch moralisches Handeln entspricht dem pragmatistischen Grundkonzept kreativen Handelns (Joas 2002 [1992]). Darüber hinaus kann sich ein Individuum laut Mead den normativen Erwartungen seines Umfeldes auch entziehen, indem es sich auf eine höher gelegene Perspektive bezieht – etwa die Sichtweise einer imaginären zukünftigen und vernünftigeren Gemeinschaft (Mead 2015 [1934], S. 167 f.). Meads Konzept der generalisierten Perspektiven mündet demnach nicht in einem Determinismus oder Konformismus. Vielmehr stehen verschiedene normative Perspektiven aus Meads Sicht in einem dynamischen, teils konvergierenden, oft aber auch konfligierenden Verhältnis zueinander. Im dritten Abschnitt wird erläutert, wie sich Mead dieses Zusammenspiel von Perspektiven auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vorstellt. Zuvor gilt es jedoch, Meads entwicklungspsychologische Argumente kritisch zu prüfen.

2.2 Aktualisierung: Spielformen als ontogenetische Pfade zum Normativitätsverständnis

Wie steht es um die Aktualität von Meads Analyse des kindlichen Spiels und seiner Bedeutung für die menschliche Ontogenese? Zur Beantwortung dieser Frage steht ein instruktives Bündel an entwicklungspsychologischer Forschung zur Verfügung. Ich beziehe mich im Folgenden vorwiegend auf Studien, die ursprünglich auf Grundannahmen von Michael Tomasellos Forschungsprogramm zurückgehen und seitdem vor allem von Hannes Rakoczy vorangetrieben wurden. Wie Mead fokussiert diese Forschung seit langem auf das kindliche Spiel, um die ontogenetische Entwicklung der Sozialkognition und Handlungskompetenz zu untersuchen. Und wie bei Mead werden in dieser Forschung häufig zwei Formen des Spiels analysiert: zum einen Rollen- oder Als-ob-Spiele (im Englischen „pretend“ oder „pretence play“), die Meads Typus des „play“ entsprechen; zum anderen Regelspiele („rule games“), die Meads „game“-Typus entsprechen. Im Hinblick auf Meads Spielanalyse sind die Ergebnisse dieser Forschungen vor allem in dreierlei Hinsicht instruktiv:

1) Charakteristisch für Meads Betrachtung des Spiels ist die Verschränkung einer typologischen und einer chronologischen Analyseperspektive. Das Wettkampfspiel wird laut Mead als neue Spielform möglich, wenn das Kind in eine neue Phase seiner Entwicklung eintritt. Diese Verschränkung ist jedoch keineswegs zwingend. Möglich ist auch, sowohl Rollen- als auch Regelspiele über die Zeit hinweg zu betrachten und die zeitliche Veränderung beider Spielformen in verschiedenen Entwicklungsphasen zu untersuchen.

Naheliegend ist dann zum einen die Frage, ob es nicht bereits früher in der kindlichen Entwicklung erste Formen regelgeleiteter Spiele gibt. Mead selbst scheint das teils bereits anzunehmen, beschreibt er doch, dass Kinder schon sehr früh Interesse an Regeln zeigen, diese anfangs jedoch oft inkonsistent und spontan zur Anwendung bringen (Mead 2015 [1934], S. 152). Entwicklungspsychologische Studien bestätigen, dass Kinder sehr früh – im Alter von ungefähr drei Jahren – ein reges Interesse und ein einfaches Verständnis von Regeln haben (vgl. Tomasello 2019, S. 256 ff.). So protestieren in experimentellen Studien bereits dreijährige Kinder, wenn eine Puppe sich in einem Spiel nicht an die zuvor erläuterten Regeln hält. Im Gegensatz zu Zweijährigen protestieren sie hierbei nicht nur öfter, sondern verwenden auch mehrheitlich normative Formulierungen wie „Das Spiel geht so nicht!“ (Rakoczy et al. 2008). Dass Kinder bereits so früh über ein gewisses Regelverstehen verfügen, war auch für die Forschungsgruppe anfangs überraschend. Lange Zeit wurde die Fähigkeit zum Normverstehen später in der Ontogenese vermutet (Rakoczy et al. 2008, S. 875, 2009, S. 445). Ein wesentlicher Grund für diese Veränderung der Chronologie ist methodischer Natur. Rakoczy (und Tomasellos Forschungsgruppe generell) nutzt eine „action-based methodology“, um das Verhältnis von Spielverhalten und Sozialkognition zu untersuchen. Analysiert werden also die tatsächlichen, in Experimenten beobachteten Spielaktivitäten von Kindern. Diese methodische Strategie unterscheidet sich von der Piaget- und Kohlberg-Tradition, die lange Zeit die Aussagen von Kindern über ihr Verhalten untersuchte. Durch die „action-based methodology“ wird die Gefahr umgangen, praktische Handlungskompetenzen zu unterschätzen, da sie sprachlich noch nicht artikulierbar sind (Rakoczy 2007, S. 61, 63; Rakoczy et al. 2008, S. 876, 880; Tomasello 2019, S. 39 f.).Footnote 8 Dieses Vorgehen bringt allerdings auch Einschränkungen mit sich (siehe dazu Abschn. 4).

2) Mead betont vor allem die Bedeutung des „game“ für die Entwicklung des menschlichen Normativitätsverständnisses. Das „play“ erscheint bei ihm lediglich als Zwischenschritt in dieser Entwicklung. Setzt man allerdings die Spielformen nicht mehr mit Spielphasen gleich, so kann auch der normative Gehalt und die Entwicklung von Rollenspielen besser in den Blick genommen werden. Zwar wird deren normative Struktur meist nicht in Regelform erfasst und ist daher weniger klar und rigide vorgegeben. Dennoch gibt es gewisse „Auflagen“ oder „Beschränkungen“ (Baldwin 1986, S. 98), die der jeweiligen Rolle einen gewissen legitimen Handlungsspielraum geben. Es ist demnach zu fragen, wann und wie Kinder beim „play“ beurteilen, ob eine bestimmte Aktivität im Spiel als eine legitime Anschlusshandlung gelten kann (Rakoczy 2007, S. 59).

Der Entwicklungspfad des Rollen- oder Als-ob-Spiels („pretend play“) führt vom imaginären Teetrinken über das Puppenhaus bis hin zum Theaterspiel der Erwachsenen (Rakoczy 2008, S. 499; Tomasello 2019, S. 109). Aufbauend auf der entwicklungspsychologischen Forschung der letzten Jahrzehnte und ergänzt durch zahlreiche eigene experimentelle Studien wurde die zunehmende Komplexität dieser Spielform in den Arbeiten von Michael Tomasello und seiner Forschungsgruppe in eine chronologische Reihenfolge gebracht, die sich bei Mead nicht finden lässt. Demnach beginnen Kinder mit einfachen Formen des Als-ob-Spiels im Laufe des zweiten Lebensjahres. Sie tun dies sowohl aktiv als auch passiv, das heißt, sie führen selbst spielerische Als-ob-Handlungen durch und verstehen, wenn es Andere tun. In diesem Alter können Kinder Andere bereits als intentionale Akteure verstehen, also ihre Perspektive im Hinblick auf die Wahrnehmung und Handlungsziele übernehmen. Diese Fähigkeit beginnt laut Tomasello zwischen 9 und 12 Monaten. Kurz nach dieser „Neunmonatsrevolution“ beginnen die Kinder auch, an Situationen geteilter Intentionalität teilzuhaben und bedienen sich – eng damit verbunden – ihrer ersten gestischen und kooperativen Kommunikationsmittel, vor allem der Zeigegeste (vgl. Tomasello 2009 [1999], S. 83 ff., 2019, S. 53 ff., 98 ff.). In dieser Zeit fangen die Kinder zudem damit an, einfache instrumentelle Handlungen zu imitieren. Diese Fähigkeit gewinnt im Laufe des zweiten Lebensjahres an Rationalität, das heißt, die Kinder können die Angemessenheit der Zweck-Mittel-Relationen in zunehmendem Maße verstehen. Erkennbar ist das auch am Als-ob-Spiel, in dem die Kinder ebenfalls beginnen, objektorientierte Handlungen zu imitieren (Rakoczy 2008, S. 506 f.). Der imitative Charakter ist in dieser Phase des Als-ob-Spiels dominant. Es ist „little creative and essentially social“ (Rakoczy 2006, S. 117; vgl. auch Tomasello 2019, S. 109).

Wie Mead, Vygotskij oder Tomasello, anders jedoch als modularistische Positionen, geht Rakoczy davon aus, dass die interaktive Spielpraxis ein eigenwirksamer ontogenetischer Entwicklungsantrieb ist. Das kindliche Spiel wird also nicht komplexer, weil im Laufe der Zeit immer mehr der angeborenen kognitiven Module aktiviert werden. Vielmehr ermöglicht die Einbettung in komplexere Interaktionen dem Kind, gewissermaßen über sich selbst hinauszuwachsen und neuartige – gerade nicht angeborene – Kompetenzen auf sozialem Wege zu erwerben. Eine solche Perspektive macht laut Rakoczy (2008, S. 504, 512) auch die schrittweise Komplexitätssteigerung des Spiels sowie die erst langsam auftretende sprachliche Explikation des Spielverständnisses besser verständlich. Gerade zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr wandelt sich das kindliche Spiel noch einmal tiefgreifend und gewinnt zahlreiche neue Facetten hinzu. So sind Kinder gemeinhin erst im vierten Lebensjahr dazu fähig, an Spielen teilzunehmen, die ein Verständnis des Wissens und der Überzeugungen Anderer voraussetzen, und auch die Differenzierung von Als-ob- und Täuschungshandlungen wird erst in dieser Zeit möglich (Rakoczy 2008, S. 502, 505). Erst im vierten und fünften Lebensjahr kommt es dann zur systematischen und expliziten Zuweisung von Rollen innerhalb von komplexeren Als-ob-Spielen (Rakoczy 2006, S. 117 f.).

3) Nimmt man die geschilderten Forschungen zu Regel- und Rollenspielen gemeinsam in den Blick, so resultieren sie im Hinblick auf Meads Theorie zugleich in einer Korrektur als auch in einer Bestätigung. Korrigiert werden muss Meads Ansatz dahingehend, dass Spielformen und Entwicklungsphasen entkoppelt werden. Betrachtet man die Spielformen als parallele ontogenetische Linien, so lassen sich ihre normative Struktur und ihre soziale Bedeutung jeweils besser verstehen. Der Pfad des Rollenspiels lässt sich dann von einfachen Als-ob-Einzelhandlungen bis zu koordinierten Als-ob-Gruppenspielen wie etwa den von Mead beschriebenen ‚Polizist und Bankräuber‘-Spielen verfolgen. Die hier angeeigneten Fähigkeiten ermöglichen später die Teilnahme an komplexeren institutionalisierten Praktiken – Beispiele wären der Karneval, das Theater (Rakoczy 2008) oder auch Rituale (Bellah 2011, S. 91 ff.). Der Pfad des Regelspiels wiederum verläuft von simplen Regelspielen zu komplexeren koordinierten Wettkämpfen wie Mannschaftssportarten. Vorbereitet wird damit die Fähigkeit, die wesentlichen regelgeleiteten Auseinandersetzungsmechanismen der Gesellschaft zu verstehen – etwa politische Wahlen oder ökonomischen Wettbewerb. Deutlich wird in den geschilderten Studien auch, dass sich durch die neuere entwicklungspsychologische Forschung die zeitliche Abfolge der ontogenetischen Entwicklung viel genauer nachzeichnen lässt. Mead war diesbezüglich recht zurückhaltend und skizzierte lediglich eine grobe „Entwicklungslogik“ (Joas 2000b [1980], S. 118).

Blickt man auf die entwicklungspsychologische Chronologie, so ergibt sich jedoch auch eine wesentliche Bestätigung von Meads Argumentation. Denn im nun höher aufgelösten Bild der Ontogenese zeigt sich auf neue Weise das vertraute Verlaufsmuster einer zweiphasigen Generalisierung der kindlichen Perspektive. Mit dieser Generalisierung erhält das Kind die Möglichkeit, an komplexeren (Spiel‑)Interaktionen teilzunehmen. Hierbei zeigen die Experimente, dass sich die Strukturen und Abläufe sowohl von Rollen- als auch von Regelspielen mit der Zeit analog verändern und dass normativen Erwartungen auch in Rollenspielen eine wichtige Funktion zukommt. Konkret ersichtlich werden die gesteigerten Perspektivierungsmöglichkeiten daran, dass die Kinder Rollen zunehmend explizit zuweisen, das jeweilige Verhalten verstärkt diskutieren, Regelverstöße konsistenter kritisieren und Konflikte schneller lösen. Während die Kinder im Konfliktfall anfangs oft „dogmatisch“ (Köymen et al. 2014, S. 1120) an ihrer Sichtweise festhalten, werden im weiteren Verlauf die Perspektiven Anderer stärker berücksichtigt und Probleme flexibler bewältigt. Auffallend ist hierbei auch, dass sich die syntaktischen Strukturen der Aussagen verändern, die die Kinder während des Spiels tätigen. So wird ihre Sprache etwa durch den vermehrten Gebrauch belebter Subjekte und transitiver Konstruktionen ‚perspektivischer‘, da die situativen Rollen und Relationen grammatikalisch widergespiegelt werden (Köymen et al. 2014). Es entsteht eine Syntax, die mit der sozialen Vogelperspektive korrespondiert.

Aktuelle entwicklungspsychologische Studien stimmen zudem mit Mead darin überein, dass sie die maßgeblich durch das Spiel eingeübten Fähigkeiten zur komplexen Perspektivenübernahme, Konfliktbeilegung, sprachlichen Differenzierung und verstärkten Handlungskontrolle als Schlüssel zur Aneignung einer allgemeinen ‚Institutionen-‘ und ‚Kulturfähigkeit‘ betrachten. So halten Tomasello und Rakoczy (2003, S. 139) fest:

In the terms of Mead (1934), the child is going from guiding its actions via an internalized ‚significant other‘ to guiding its actions via an internalized ‚generalized other‘. Importantly, this difference enables a new understanding of human mental activity in terms of not only individual beliefs but also of collectively intentional beliefs – which have the world-making power to create cultural-institutional realities. Thus, 2‑year-olds’ understanding of intentions simply does not enable them to grasp the workings of cultural institutions such as money, marriage, and government – whose reality derives from collective practices and beliefs in their existence – whereas 4‑ and 5‑year olds, with their newly acquired concepts of belief and reality, are in a position to begin learning about these collective realities. Indeed in virtually all cultures in which there is formal education, where children learn about such things as cultural institutions and their workings, 5 to 6 years of age is the canonical starting point.

Zusammengefasst deutet die Kontrastierung von Meads Konzeptualisierung der Ontogenese mit neueren entwicklungspsychologischen Resultaten demnach darauf hin, dass die Betrachtung von Rollen- und Regelspielen ertragreicher ist, wenn diese nicht als Entwicklungsphasen, sondern als Entwicklungspfade des menschlichen Normativitätsverständnisses verstanden werden. Diese Pfade beginnen in einem ähnlichen Alter und belegen in ihrem parallelen Verlauf die bekannte zweistufige Komplexitätssteigerung der interaktiven und sozialkognitiven Fähigkeiten der Heranwachsenden (dazu detaillierter Nungesser 2021, Kap. 13).

3 Ausweitung und Rivalität generalisierter Perspektiven. Die gesellschaftshistorischen Dynamiken der Normativität

Schon die Analyse der Entstehung des „generalisierten Anderen“ im Rahmen des kindlichen Spielverhaltens (siehe 2.1) ließ erkennen, dass Mead auch an der Aneignung weiter ausgreifender gesellschaftlicher Perspektiven während der Sozialisation interessiert ist, wie sie etwa in Gesetzen oder Parteien ihren institutionalisierten und organisationalen Niederschlag finden. Deutlich stärker werden solche gesellschaftstheoretischen Fragen allerdings in anderen und deutlich weniger bekannten Texten thematisiert, die sich vor allem mit den Themen der Sozialreform, der Strafjustiz sowie der zwischenstaatlichen Gewalt und ihrer Einhegung beschäftigen. Sowohl die Grundideen als auch die argumentativen Spannungen dieser Arbeiten werden im Folgenden dargestellt. Hierbei soll deutlich werden, dass Mead seine sozialpsychologischen Kerngedanken in diesen Texten auf produktive Weise mit gesellschaftstheoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Identität, Konflikt und Normativität verbindet, dabei jedoch die Pluralität normativer Perspektiven zugunsten einer sequentiellen Entwicklungslogik zur Seite schiebt und einer latenten Pathologisierung gewalthafter Konflikte zuneigt (3.1). Mittels einer Kontrastierung mit Luc Boltanskis und Laurent Thévenots Theorie der Rechtfertigungsordnungen sollen dann Aktualisierungsmöglichkeiten von Meads Theorie skizziert werden, durch die ihre innovativen Aspekte konserviert, die Probleme aber weitgehend vermieden würden (3.2).

3.1 Rekonstruktion: Mead über die gegenläufigen Dynamiken generalisierter Perspektiven

Meads Analysen zur Sozialreform, Strafjustiz und internationalen Politik fragen – wenn auch teils mit anderen terminologischen MittelnFootnote 9 – nach der gesamtgesellschaftlichen Wirkmacht der Perspektivenübernahme. Betrachtet man diese Texte im Zusammenhang, so fällt auf, dass sie zwei gegenläufige Dynamiken generalisierter Perspektiven beschreiben, die jeweils sowohl nach außen, also zwischen Nationen, Gesellschaften oder Gruppen, als auch nach innen, also innerhalb der eigenen Nation, Gesellschaft oder Gruppe, wirken.

1) Die Fähigkeit zur Übernahme generalisierter Perspektiven kann laut Mead einerseits zu einer besseren Verständigung zwischen Kollektiven, zu einer zunehmenden Integration ihrer Sichtweisen und zu einer friedfertigen Erlangung eines kollektiven Selbstbewusstseins in einem gemeinsamen diskursiven Rahmen führen.

Auf internationaler Ebene argumentiert Mead (1983c [1915], S. 426) im Anschluss an seine sozialpsychologischen Überlegungen, dass „Nationen […] sich wie Individuen nur insofern selbst zum Objekt werden [können], als sie sich mit den Augen anderer sehen“. Solche kollektiven Prozesse der Perspektivenübernahme werden ihm zufolge zunehmend durch verschiedene inter- und transnationale Verflechtungsprozesse geprägt. Mead (1983c [1915], S. 425 ff., 433, 437 f.) nennt neben Handel und Industrie den globalen wissenschaftlichen Diskurs, länderübergreifende soziale Bewegungen, kulturelle Austauschprozesse etwa in den Künsten oder auch internationale Sportereignisse. Diese Verflechtungen finden ihren Niederschlag in internationalen Organisationen etwa im Bereich der Wissenschaft und des Handels oder in Gestalt des Völkerbunds (Mead 1983c [1915], S. 426, 1983d [1929], S. 462, 2015 [1934], S. 220, 287). Aus diesen Verflechtungen folgt nach Mead (1983c [1915], S. 428) eine zunehmende Ausdehnung der „sozialen Solidarität“ über die eigene Nation hinaus. Diese Tendenz wirkt ihm zufolge selbst im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs. Die Kriegsrhetorik moderner Gesellschaften, so Mead (1983c [1915], S. 426 ff.), sieht sich dazu gezwungen, die bestehenden Verflechtungen herabzuwürdigen, um ablehnende Emotionen zu erzeugen; und sie kann nicht anders als Gewalt innerhalb einer Logik der Pazifizierung und der Selbstverteidigung zu legitimieren. Auch in einer Publikation aus dem Jahr 1918 – geschrieben „inmitten eines Weltkriegs“ – ist Mead (1980f [1918], S. 258) davon überzeugt, „daß sich ein Fortschritt in dem zunehmenden Bewußtsein von einem umfassenderen sozialen Ganzen abzeichnet, innerhalb dessen aggressive Haltungen und Einstellungen in Selbstbehauptungen übergehen, die funktionaler und nicht zerstörerischer Natur sind“.

Eine perspektivische Ausweitung und Integration erfolgt laut Mead auch innergesellschaftlich. Bestimmte Kunstformen wie der Roman ermöglichen es, die sozialen und kommunikativen „Mauern“ (Mead 2015 [1934], S. 257) in einer Gesellschaft zu überwinden, da sie die Einnahme der Perspektive unbekannter Milieus und Klassen ermöglichen (Mead 1980e [1913], S. 246, 2015 [1934], S. 257). Eine ähnliche Wirkweise schreibt Mead der Presse zu: „The vast importance of media of communication such as those involved in journalism is seen at once, since they report situations through which one can enter into the attitude and experience of other persons“ (Mead 2015 [1934], S. 257, s. a. 1983a [1899], S. 365). Für soziale Bewegungen wie das settlement movement ist es nach Mead (1983b [1907/08], S. 392) ebenfalls charakteristisch, dass sie zu einer Identifikation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen beitragen. Literatur, Presse und sozialreformerische Bewegungen können damit laut Mead (1983a [1899], S. 365) zu einer „Ausdehnung der Öffentlichkeit“ und zu einem besseren Verständnis und einer gesteigerten Identifikation zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen beitragen.

Die zunehmende Übernahme unterschiedlicher gesellschaftlicher Perspektiven in modernen demokratischen Gesellschaften macht laut Mead nicht nur ein größeres Verständnis und eine Integration der verschiedenen Sichtweisen möglich, sondern geht auch mit einer wachsenden reflexiven Distanz und rationalen Durchdringung der eigenen normativen Maßstäbe einher. Individuen, die in solch einer Gesellschaft sozialisiert werden, können ihre eigene Identität zeitlich zurückverfolgen, die Standortgebundenheit ihrer Sichtweise nachvollziehen und damit „potenziell ein postkonventionelles Bewusstsein entwickeln […], weil sie realisieren, dass gesellschaftliche Strukturen veränderbar sind“ (Schubert et al. 2010, S. 72 f.). Damit wird jene gesellschaftsverändernde Reflexivität möglich, die Mead in den sozialreformerischen Bewegungen seiner Zeit verwirklicht sieht.

2) Die Annahme, dass sich die gesellschaftliche Reflexivität und das Verständnis der Gesellschaftsmitglieder untereinander im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung durch den Dialog zwischen und die Verbindung von generalisierten Perspektiven steigern, ist ein starkes Motiv sowohl in Meads gesellschaftstheoretischen Studien als auch in seinem normativen Weltbild.Footnote 10 Seine Thesen zur Genese einer „unpersönliche[n] Vernunft“ und zu einem sich ausweitenden „diskursiven Universum“ (Mead 2015 [1934], S. 138, 89) haben auch in der Mead-Rezeption – insbesondere bei Habermas (2009, S. 223 ff.) – eine nachhaltige Wirkung entfaltet. Dadurch ist weitestgehend aus dem Blick geraten, dass mit der Generalisierung von Perspektiven laut Mead auch gegenläufige Dynamiken verbunden sind. Generalisierte Perspektiven sind demnach auch die entscheidende sozialpsychologische Grundlage neuer Formen von Abgrenzung, Homogenisierung, Aggression und Konflikt. Auch diese Dynamik wirkt nach außen und nach innen.Footnote 11

Wie bereits erwähnt, kann eine Gesellschaft laut Mead (1983c [1915], S. 431) nur innerhalb einer internationalen Gesellschaft „zu einem Bewußtsein von sich als Nation gelangen“. Gerade in Anbetracht der nationalistischen Aufladung rund um den Ersten Weltkrieg kann aus seiner Sicht nicht geleugnet werden, dass die Erlangung eines nationalen Selbstbewusstseins und einer kollektiven Identität häufig auf konfliktivem Wege erfolgt – also durch die Selbstbehauptung gegen und die Erhebung über Andere (Mead 1983c [1915], 1983d [1929]). Solche Prozesse der Unterscheidung nach außen gehen mit starken Identifikationsdynamiken nach innen einher. Nichts vereint eine Gruppe nach Mead (1983c [1915], S. 424, 1980h [1923], S. 387, 1983d [1929], S. 468) so stark wie die äußere Bedrohung sowie die Rivalität und der Hass gegenüber anderen Gruppen. Im Zuge einer aggressiven Abgrenzung oder eines Krieges zwischen Staaten kommt auch das einzelne Individuum zu einem „umfassendere[n] Selbstbewußtsein“ und zu prägenden Erfahrungen des „Einsseins“ mit der gesamten Gruppe (Mead 1983c [1915], S. 424, 1983d [1929], S. 461, 468), die durch die kriegerische Rhetorik zudem gezielt befördert werden (Mead 1983c [1915], S. 426). Die kritische Reflexion kann sich dieser Dynamik laut Mead (1983d [1929], S. 470) nur bedingt entziehen. Abgrenzung und Ablehnung bleiben somit ein prägender Mechanismus der Herstellung von Identität und Zusammenhalt (Mead 2015 [1934], S. 306). Diese psychologischen Überlegungen erklären Mead (1983c [1915], S. 433 ff., 1983d [1929], S. 458 ff.) zufolge, warum politische Aggression und Krieg trotz ihrer zunehmenden moralischen Ächtung und trotz der zunehmenden internationalen Verflechtungen ein zentrales soziales Problem bleiben, mit dem gesellschaftlich umgegangen werden muss und vor dem auch pazifistische Bewegungen nicht die Augen verschließen dürfen.Footnote 12

Im Hinblick auf die Frage, ob und wie sich die destruktive Dynamik der aggressiven Selbstbehauptung auflösen lässt, gibt Mead unterschiedliche Antworten. Ende der 1910er-Jahre schreibt er, dass sich die aggressive Selbstbehauptung „gegenüber dem umfassenderen sozialen Ganzen nicht halten läßt, in dem sich die miteinander in Konflikt liegenden Gruppen selbst befinden“ (Mead 1980f [1918], S. 257). Zudem hält Mead (1980f [1918], S. 258, 264) eine ‚Übersetzung‘ der aggressiven Selbstbestätigung in andere Formen des „gesellschaftlichen Triumphs“ für möglich – etwa im Recht, in der Wirtschaft oder im Sport. Ende der 1920er-Jahre scheint Mead (1983d [1929], S. 474, 477) pessimistischer zu sein. Er bewertet die „negativen“ sozialen Antriebe hier als grundsätzlich stärker als die „positiven“ und erachtet es als „erschütternd“, dass ein „Gefühl der Einheit“ nur „in gemeinsamer Waffenbruderschaft“ empfunden werden kann. Er erörtert nun nicht mehr die Ersetzung einer konfrontativen Dynamik durch eine weniger destruktive, sondern hofft auf die Entwicklung eines „rationalen Selbstbewußtsein[s]“, durch Dialog und die Identifikation „gemeinsamer Werte“, die als „der einzige Ersatz für Krieg“ (Mead 1983d [1929], S. 478) dienen können. Auf Basis dieser geteilten Werte hält er eine geregelte Austragung von Konflikt und Konkurrenz für möglich. Allerdings setze eine solche „internationalistische Gesinnung“ („international-mindedness“) eine stabile „nationale Gesinnung“ („national-mindedness“) voraus (Mead 1983d [1929], S. 480). Denn gerade unsichere Identitäten – so argumentiert er in loser Anlehnung an die Psychoanalyse – würden die eigene Instabilität durch aggressive Konfliktaustragung verdecken.

Die skizzierte konfliktive Dynamik der Identifikation durch Abgrenzung wirkt nach Mead (1980f [1918], S. 267) nicht nur gegenüber dem äußeren „Feind“, sondern auch innergesellschaftlich gegenüber dem sozialen „Außenseiter“. Dieses Argument entwickelt er insbesondere in seinem Aufsatz „Zur Psychologie der Strafjustiz“ (Mead 1980f [1918]). Analog zu seinen Überlegungen zu zwischenstaatlichen Konflikten argumentiert Mead (1980f [1918], S. 257), dass „das Bewußtsein der Identität durch ein Bewußtsein von anderen auch für ein tieferes Gefühl der Aggression verantwortlich [ist]. Dieses Gefühl gilt den Gruppenmitgliedern, die sich der Gruppe widersetzen, oder gar denen, die lediglich außerhalb der Gruppe stehen. Hinter dieser Aggression steht die gesamte innere Organisation einer Gruppe. Sie bietet die günstigste Bedingung für ein Gefühl der Gruppensolidarität, weil der gemeinsame Angriff auf einen gemeinsamen Feind die individuellen Unterschiede verschwinden lässt“. Eine als Normverstoß wahrgenommene Handlung wird dieser Logik gemäß als Angriff auf das Kollektiv bewertet. Die Bestrafung dient der Versicherung der kollektiven Identität. Das Kollektiv wird hierbei durch eine Justiz vertreten, die als „unparteiisch und unpersönlich“ auftritt und deren übergeordneter Status durch die „Feierlichkeit und Majestät“ ihrer Abläufe zum Ausdruck kommt (Mead 1980f [1918], S. 261, s. a. 1980h [1923], S. 386). Sozialpsychologisch betrachtet ist die Justiz damit eine spezifische historische Institutionalisierung der perspektivengestützten Form sozialer Kontrolle (Mead 1980f [1918], S. 265 f.). Gesellschaftstheoretisch bedeutend ist vor allem, dass durch diese Dynamik soziale Kontrolle, Ordnung und Konformität hervorgebracht werden, wodurch abweichendes Verhalten gehemmt, Individualität unterdrückt und gesellschaftliche Veränderung erschwert wird (Mead 1980f [1918], S. 265 ff., 1980h [1923], S. 384 f.).

Nimmt man die skizzierten gesellschaftstheoretischen Überlegungen Meads zusammen, so zeigt sich, dass er keineswegs eine harmonistische und durchgehend universalistische Position vertritt, sondern Konflikten einen systematischen Ort in seiner Sozialpsychologie zuweist (Athens 2012; Feffer 1990). Mehr noch: Das Potenzial seiner Position besteht darin, auf die ambivalenten gesellschaftlichen Dynamiken hinzuweisen, die sich aus den von ihm beschriebenen sozialpsychologischen Mechanismen ergeben können. Perspektivenübernahme kann demnach gesellschaftliche Integration erleichtern oder erschweren, Aggression lindern oder anheizen, den Dialog fördern oder unmöglich machen, produktive oder destruktive Konkurrenz befeuern. Verschiedene gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre ließen sich aus dieser Perspektive betrachten. So tragen die erhöhte Mobilität und der technologische Wandel nicht ausschließlich zu einer Verbindung, sondern vermehrt auch zu einer Segregation sowohl räumlich-sozialer wie medialer Lebenswelten bei. Die von Mead beschriebenen perspektivenüberschreitenden Wirkungen von Mobilität und Medien in der Moderne werden dadurch konterkariert. Stattdessen entstehen vermehrt „Echokammern“, welche die Bestätigung der eigenen und die Abschottung von abweichenden Perspektiven befördern (z. B. Lütjen 2016). Teils damit verbunden basieren populistische Narrative wesentlich auf den von Mead erfassten Identifizierungs- und Homogenisierungsdynamiken, welche auf der Erzeugung neuer oder der Umdeutung alter Grenzziehung zwischen der „eigenen“ Gruppe und den „Anderen“ oder „Fremden“ beruhen (z. B. Dörre et al. 2018).

Trotz dieser auch konflikttheoretisch innovativen Impulse lassen sich problematische Spannungen in Meads Überlegungen identifizieren, die das innovative Potenzial zu verdecken drohen. Hauptursache dieser Spannungen ist, dass Meads Arbeiten zwar eine konflikttheoretische Sensibilität aufweisen, diese aber meist mit einer sequentiellen Logik der Perspektivenintegration verbunden wird. Hans Joas (2006, S. 184) fasst die latente Teleologie in Meads Schriften folgendermaßen zusammen:

Mead versucht, Stufen der Identitätsbildung als Stufen der moralischen Entwicklung und zugleich als Stufen der Entwicklung von Gesellschaft zur Herrschaftsfreiheit zu beschreiben. Der Orientierung an einem konkreten Anderen folgt die Orientierung an organisierten Anderen, an einer Gruppe. Über diese und über Konflikte zwischen verschiedenen generalisierten Anderen hinaus gehe die Orientierung an immer umfassenderen und zugleich vollkommeneren sozialen Einheiten und schließlich an einer universalistischen Perspektive, einem Ideal der umfassenden Entfaltung der Menschengattung.

Diese Annahme einer sequenziellen Logik eines fortlaufenden und verständigungsfördernden Perspektivenkonflikts führt zu zwei schwerwiegenden Problemen: zum einen zu einer Pathologisierung bestimmter Formen von sozialen Konflikten, zum anderen zur Ausblendung der Pluralität von normativen Perspektiven.

1) An manchen Stellen wendet sich Mead explizit gegen eine Pathologisierung des Konflikts. Er betont beispielsweise, dass kooperative und antagonistische Handlungsmotive gleichermaßen „sozial“ seien und Konflikte folglich nicht als „anti-sozial“ charakterisiert werden können (Mead 2015 [1934], S. 304; dazu Athens 2012, S. 435). An anderer Stelle betont er, dass die feindselige Abgrenzung ein „psychologischer Mechanismus“ ist, der „sowohl edlen wie unedlen Zwecken dient“ (Mead 1983d [1929], S. 467). Auffallend ist in diesen Passagen, dass Mead (2015 [1934], S. 304) einerseits dezidiert eine „nicht-ethische“ Perspektive einnimmt, und andererseits Konfliktdynamiken beschreibt, die innerhalb größerer gesellschaftlicher Kooperationsgefüge und gestützt durch kooperative Hintergrundmotive ablaufen. Es handelt sich also um Rivalitäten und Konflikte, die durch Institutionen wie das Recht oder Organisationen wie den Völkerbund „kontrolliert“ werden. Werden sie in dieser Weise gesellschaftlich eingehegt, so können Konkurrenz und Konflikt laut Mead (2015 [1934], S. 305) gesellschaftlich produktiv und sogar dem „Fortschritt“ dienlich sein. Sie tragen dann dazu bei, Konflikte in einem „größeren gesellschaftlichen Ganzen“ aufzulösen (Mead 2015 [1934], S. 308).

Im Gegensatz dazu bedient sich Mead an anderen Stellen eines pathologisierenden Vokabulars – insbesondere dort, wo er hochgradig destruktive Dynamiken beschreibt, die sich der Einhegung und Versöhnung in einem umfassenderen Rahmen entziehen. Innerhalb dieser Pathologisierungsperspektive resultieren Gewaltverbrechen oder Kriege aus einer unzureichenden sozialen Organisation der menschlichen Antriebe (Mead 1983a [1899], S. 364, 1980f [1918], S. 256) oder folgen aus „primitiven Instinkten“ (Mead 1983c [1915], S. 427).Footnote 13 Politiker von Kriegsparteien werden mit „kleinen Jungen“ verglichen, die sich in ihrer „vitale[n] Männlichkeit“ bedroht fühlen (Mead 1983c [1915], S. 430, 436). Krieg erscheint teils als Ergebnis von Irrationalität und Kontrollverlust, teils als „antiquierte, mittelalterliche Methode, jedem Menschen das Gefühl zu vermitteln, mit dem Rest des Gemeinwesens eins zu sein“ (Mead 1983c [1915], S. 435). In diesen Passagen verfällt Mead in eine typisch moderne Logik der Pathologisierung von Gewalt (v. a. Reemtsma 2013, S. 256 ff.). Pathologisierend sind diese Argumente, da Mead bei der Erklärung von bestimmten, insbesondere gewaltsamen Konflikten den konzeptuellen Rahmen wechselt. Statt auch diese Konflikte unter Rückgriff auf die sozialpsychologischen Dynamiken voll handlungsfähiger Menschen und aus den Charakteristika typisch moderner Gesellschaften zu verstehen, erscheinen sie nun als Abweichung von einem rationalen gesellschaftlichen Zustand oder als Rückfall in frühere biographische oder historische Entwicklungsphasen.Footnote 14 Diese sozialtheoretisch-konzeptuelle Pathologisierung scheint aus Meads normativer Abscheu gegenüber diesen Konfliktformen zu folgen. Doch wie die Forschung zu Gewalt und Krieg in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, sollten die normative und die konzeptuelle Dimension getrennt werden, um Gewaltphänomene angemessen zu erfassen (vgl. etwa Joas und Knöbl 2008; Koloma Beck und Schlichte 2014, S. 22 ff., 122 ff.).

2) Neben dieser selektiven Pathologisierung führt die Dominanz der sequentiellen Logik in Meads Schriften auch zu einer Ausblendung der Pluralität normativer Perspektiven. Obwohl Mead immer wieder auf Konkurrenz und Konflikte zwischen generalisierten Perspektiven eingeht, werden diese meist in einem diachronen, nicht in einem synchronen Verhältnis betrachtet. So kommt aus Meads Sicht etwa in der settlement-Bewegung eine „neue Art von moralischem Bewußtsein“ zum Ausdruck, das im Gegensatz zu früheren Moralvorstellungen auch „unserem modernen wissenschaftlichen Bewußtsein“ entspreche (Mead 1983b [1907/08], S. 393, s. a. 1983a [1899]). Diese Moralvorstellung stellt Mead der kirchlichen Moral entgegen, die in ihrer Fixierung auf überkommene Probleme und moralische Dogmen verhaftet sei. Die Moral der settlements ist demnach die des „modernen industriellen und sozialen Lebens“ und nur sie ermöglicht „die Bildung neuer moralischer Urteile“ (Mead 1983b [1907/08], S. 395). Statt die Perspektiven in ihrer Gleichzeitigkeit zu betrachten und nach möglichen Konflikten, Konvergenzen und Kompromissen zwischen diesen Perspektiven zu fragen, dominiert bei Mead eine Logik der Ersetzung. Demnach wird in modernen demokratischen Gesellschaften eine irrationale und exkludierende Moral durch eine rationale und inkludierende Moral verdrängt. Ähnliches gilt für die internationale Ebene, wo Mead eine Ersetzung einer aggressiven und antagonistischen militaristischen Moral durch eine intelligente und kooperative friedliche Moral erwartet.Footnote 15

3.2 Aktualisierung: Die Pluralität normativer Perspektiven

Meads Verschränkung von sozialpsychologischen, gesellschaftshistorischen sowie konflikt- und normativitätstheoretischen Überlegungen kann mit unterschiedlichen Theorieentwicklungen ins Gespräch gebracht werden. Im Folgenden soll nur ein solcher Dialog begonnen werden, der direkt an die soeben identifizierten Stärken und Schwächen von Meads Überlegungen anknüpft. Nimmt man sowohl die innovativen Potenziale als auch die identifizierten Probleme von Meads gesellschaftstheoretischen Überlegungen zur Normativität zum Ausgangspunkt, so ergeben sich folgende Anforderungskriterien an eine mögliche aktuelle Vergleichstheorie: 1) Die Theorie sollte unterschiedliche normative Bezugsrahmen kulturhistorisch situieren und sie dabei sowohl diachron als auch synchron betrachten (Vermeidung der Logik der Ersetzung). 2) Sie sollte berücksichtigen, dass die gesellschaftlich vorhandenen normativen Muster Grundlage sowohl von Kompromissen und Dialog als auch von Differenzen und Kämpfen sein können. Zudem sollte sie alle sozialen Konflikte anhand derselben soziologischen Konzepte erfassen (Vermeidung der Logik der Pathologisierung). 3) Schließlich sollte die Vergleichsposition eine gewisse grundlagentheoretische Kompatibilität mit Meads pragmatistischer Sozialtheorie aufweisen. Im Folgenden soll anhand der drei genannten Kriterien gezeigt werden, dass die Theorie der Rechtfertigungsordnungen von Luc Boltanski und Laurent Thévenot diese Kriterien weitgehend erfüllt und daher auf produktive Weise als Aktualisierungsressource für Meads Theorie genutzt werden kann.

1) Eine zentrale Annahme von Boltanski und Thévenot ist, dass sich in gegenwärtigen Gesellschaften unterschiedliche normative Grundperspektiven finden lassen, die sie als „Rechtfertigungsordnungen“ bezeichnen.Footnote 16 Jede Rechtfertigungsordnung ist ihnen zufolge sowohl mit einem bestimmten Konzept von Gemeinwesen als auch mit einer spezifischen sozialen Welt verknüpft. Die Autoren unterscheiden die Welt der Inspiration, des Hauses und der Meinung, die staatsbürgerliche Welt, die Welt des Markts und die der Industrie. Jede Rechtfertigungsordnung wird unter Rückgriff auf einen Schlüsselautor der politischen Philosophie präsentiert – meist steht hierbei ein bedeutendes Werk im Zentrum (Boltanski und Thévenot 2014 [1991], S. Kap. II und IV). Beispielsweise findet das Gemeinwesen der Inspiration seinen Ausdruck in Augustinus’ Schrift Vom Gottesstaat, das staatsbürgerliche Gemeinwesen findet in Rousseaus Der Gesellschaftsvertrag seinen klassischen Niederschlag, während das Gemeinwesen des Marktes von Adam Smiths in Der Wohlstand der Nationen prototypisch beschrieben wird. Wie schon die unterschiedlichen Entstehungszeitpunkte der Schlüsselwerke nahelegen, verstehen die Autoren die Rechtfertigungsordnungen als „historische Gebilde“ (Boltanski und Thévenot 2011 [1999], S. 57). Die verschiedenen normativen Ordnungen sind folglich nicht notwendigerweise, nicht in jeder Kultur und nicht in jeder Zeit vorhanden. Ihre normative Relevanz kann – wie im Fall der Welt des Hauses – im Laufe der Zeit nachlassen. Zugleich können auch neue Rechtfertigungsordnungen entstehen.Footnote 17

Entscheidend ist nun, dass Boltanski und Thévenot eine moral- und wissenssoziologische, keine ideengeschichtliche Zielsetzung verfolgen. Es geht ihnen nicht darum, das Auftauchen und die Entwicklung normativer Argumentationsmuster in der Philosophiegeschichte nachzuzeichnen. Vielmehr setzen sie sich zur Aufgabe, normative Grundmuster zeitgenössischer Gesellschaften zu identifizieren, die in unterschiedlichsten sozialen Kontexten ihre Wirkung entfalten. Die Tradition der politischen Philosophie dient ihnen dabei lediglich als besonders instruktive Datenquelle, da die gesellschaftlich vorhandenen Vorstellungen von Rechtfertigungsmustern und Gemeinwesen hier in systematischer Weise expliziert werden. Dies ist auch der Grund, warum die Autoren ihren philosophischen Quellenfundus in „vollkommen respektlos[er]“ (Boltanski und Thévenot 2011 [1999], S. 57) Weise mit Ratgebern zur Unternehmensführung und mit Analysen alltäglicher Konflikt- und Rechtfertigungssituationen verknüpfen. Da sich in allen drei Datenbündeln dieselben normativen Begründungsmuster und kollektiven Ideale zeigen, so die zentrale Behauptung der Autoren, können diese als die grundlegenden gesellschaftlichen Rechtfertigungsordnungen und Gemeinwesensvorstellungen verstanden werden. Darüber hinaus habe die Theorie den „Vorteil einer variablen Betrachtungshöhe“ (Boltanski und Chiapello 2013 [1999], S. 74) – es können also sowohl kleinräumige direkte Interaktionen also auch politische oder mediale Diskurse im größeren Maßstab auf ihre Rechtfertigungen hin untersucht werden.

Im Vergleich zu Mead fällt auf, dass Boltanski und Thévenot die Koexistenz unterschiedlicher Rechtfertigungsordnungen innerhalb von Gesellschaften, Organisationen oder GruppenFootnote 18 ins Zentrum des Interesses rücken und damit eine Logik der Ersetzung umgehen. Abgesehen von dieser wichtigen Differenz lassen sich Rechtfertigungsordnungen jedoch im Mead’schen Sinne als die normativen Grundperspektiven einer Gesellschaft verstehen.Footnote 19 Jede dieser Ordnungen impliziert einen Anspruch objektiver und personenunabhängiger Gültigkeit. Darüber hinaus lassen diese normativen Leitperspektiven – ganz im Sinne der visuellen Konnotationen des Begriffs – unterschiedliche Entitäten ‚sichtbar‘ werden. Jede Rechtfertigungsordnung korrespondiert mit einer Welt, die sich aus je spezifischen Bedeutungsmaßstäben, Subjekten, Beurteilungskriterien oder Prüfungsmodi zusammensetzt, die in den anderen Welten nicht vorhanden oder nicht gültig sind (Boltanski und Thévenot 2014 [1991], S. 196 ff.). Zudem ließe sich argumentieren, dass Boltanski und Thévenot die Ausweitung von normativen Perspektiven trotz ihrer Betonung der Pluralität erfassen können. So zielt die Rechtfertigungsordnung im Fall des Hauses vor allem auf familiale Kontexte (die jedoch wiederum unterschiedlich weit gefasst werden können). Die staatsbürgerliche Ordnung bricht mit dieser Begrenzung und bezieht sich auf Großkollektive bis hin zur gesamten Menschheit (Boltanski und Thévenot 2014 [1991], S. 254). In der von Thévenot skizzierten ökologischen Ordnung wiederum weitet sich der Einzugsbereich der Rechtfertigungen potenziell sogar auf „zukünftige Generationen“ aus (Thévenot et al. 2000, S. 257). Auf diese Weise lassen sich Pluralität und Ausdehnung von normativen Mustern zusammendenken.

2) Nach Boltanski und Thévenot befinden wir uns je nach Situation in einer der genannten Welten und sind entsprechend von korrespondierenden Elementen umgeben. Während diese Einbettung meist präreflexiv bleibt, wird sie in Situationen bewusst, in denen verschiedene Rechtfertigungen und Welten in Konflikt geraten. Solche Auseinandersetzungen können den Autoren zufolge in zwei Grundformen auftreten. Im Fall der Meinungsverschiedenheit geht es um die Frage, ob Elemente aus einer anderen Welt die Beurteilung in einer bestimmten Rechtfertigungsordnung beeinflusst haben. In Meads Begriffen könnte man sagen, es wird überprüft, ob in einer bestimmten Situation ausschließlich gemäß den Vorgaben eines Regelspiels („game“) gehandelt wurde oder ob auch normative Elemente anderer Spiele relevant waren. Ein Beispiel dafür wäre die Frage, ob in einer als wissenschaftlich definierten Situation Elemente relevant werden, die dem eigentlichen Prüfungsmodus widersprechen. Tritt etwa ein reicher Student aus gutem Hause zur Prüfung an, so können Elemente aus der Welt des Marktes (Reichtum) oder aus der Welt des Hauses (gute Manieren) dafür sorgen, dass sich die universitäre Prüfung nicht allein auf die Elemente aus der industriellen Welt (wie etwa Fachkenntnis, Leistungsfähigkeit) bezieht (Boltanski und Thévenot 2014 [1991], S. 294 ff.).Footnote 20 Auf einer größeren „Betrachtungshöhe“ kommen ähnliche Meinungsverschiedenheiten auch bei Mead zur Sprache – so zum Beispiel, wenn es innerhalb der Debatten um die Evolutionstheorie darum geht, ob eine bestimmte Frage tatsächlich nach wissenschaftlichen Maßstäben entschieden wurde (Welt der Industrie), oder ob religiöse Rechtfertigungsmuster herangezogen wurden (Welt der Inspiration oder des Hauses) (z. B. Mead 1936, S. 288 ff.).Footnote 21

Im Fall der Meinungsverschiedenheit wird die Frage debattiert, ob eine Prüfung den Vorgaben einer spezifischen normativen Ordnung entsprach. Die Frage, in welcher Welt und gemäß welcher Rechtfertigungsordnung diese Prüfung zu erfolgen habe, stand aber nicht zur Debatte. Genau das unterscheidet die Meinungsverschiedenheit von der Kritik, durch die sich ein Konflikt auf die Natur der Prüfung an sich ausdehnt (Boltanski und Thévenot 2014 [1991], S. 299 ff.). In Meads Begriffen gesprochen, geht es im Fall der Kritik darum, ob die Spielregeln, die in einer bestimmten Konfliktsituation Anwendung finden, dem vorliegenden Problem angemessen sind, oder darum, ob eine bestimmte normative Ordnung nur dem Schein nach angewendet wird. Daher geht die Kritik laut Boltanski und Thévenot (2014 [1991], S. 301) oft mit enthüllenden Äußerungen einher, denen zufolge ein bestimmter Umstand „eigentlich“ oder „in Wirklichkeit“ etwas anderes ist, als er zu sein vorgibt.

Überträgt man diese Überlegung etwa auf Meads Analysen internationaler Konflikte, so ließe sich argumentieren, dass hier das Aufeinanderprallen von zwei Rechtfertigungsordnungen innerhalb der internationalen Politik beschrieben wird.Footnote 22 Auf der einen Seite steht die normative Ordnung des Militarismus, die wichtige Überschneidungen zur Welt des Hauses hat, wie sie Boltanski und Thévenot (v. a. 2014 [1991], S. 228 ff.) konzipieren. In dieser Welt gilt ein Ethos der Ehre und der Tradition, das auch die dort gültigen Rechtfertigungen anleitet. Diese Rechtfertigungen beziehen sich auf Pflicht, Achtung und Loyalität. Sie fordern Treue, Unterordnung und Aufopferung für ein im weiteren Sinne verwandtschaftlich gedachtes Kollektiv, das von einer Autoritätsfigur – insbesondere dem Vater – verkörpert wird. Auf der anderen Seite würde dann die normative Ordnung des Internationalismus stehen, die wohl am ehesten der staatsbürgerlichen Welt und ihren Rechtfertigungsmustern entspricht (v. a. Boltanski und Thévenot 2014 [1991], S. 254 ff.). Auch innerhalb dieser Welt gilt der Vorrang des Kollektivs. Allerdings werden Kollektive hier nicht antagonistisch, sondern als in andere Gesamtheiten „eingebettet“ verstanden, „deren oberste die Menschheit ist“ (Boltanski und Thévenot 2014 [1991], S. 254). Kollektive und ihre Vertreter orientieren sich in dieser Welt an Satzungen, Rechten und Abkommen, um die in der Öffentlichkeit gerungen wird und die durch Abstimmung festgelegt werden. Der Preis der Solidarität ist dabei der teilweise Verzicht auf Partikularinteressen. Zu einem internationalen Konflikt wie dem Ersten Weltkrieg, so ließe sich weiter argumentieren, kann es demnach kommen, wenn Staaten im Falle eines internationalen Konflikts die Moral des Militarismus als die wesentliche Beurteilungsperspektive erachten. In diesem Fall kann die Anwendung von Gewalt als Selbstverteidigung und Schutz der nationalen Ehre gedeutet werden. Hier würde Gewalt daher als gerechtfertigte Handlung erscheinen. Alternativ ließe sich argumentieren, dass mit dem Waffengang der Rechtfertigungsimperativ aufgehoben wird und die Konfliktsituation statt mit normativer Begründung mit roher Gewalt aufgelöst wird.

Meads Konfliktbeschreibungen lassen sich demnach als Aufeinanderprallen von Rechtfertigungsordnungen reformulieren. Eine solche Reformulierung ermöglicht es, der sequentiellen Logik von Meads Argumentation zu entgehen. Konflikte entspinnen sich demnach nicht primär zwischen veralteten und neuen, sondern zwischen gleichzeitig gültigen, aber inkompatiblen Rechtfertigungsordnungen. Damit wird es prinzipiell auch besser möglich, gewaltsame Konflikte so zu konzeptualisieren, dass die Logik der Pathologisierung vermieden wird. Diese Möglichkeit ergreifen allerdings auch Boltanski und Thévenot nur eingeschränkt. In Über die Rechtfertigung spielt Gewalt (im Sinne physischer Gewalt) kaum eine Rolle.Footnote 23 Boltanski (2012 [1990], S. 41 f., 68 ff.) diskutiert Gewalt jedoch in anderen Studien. Er argumentiert hierbei im Sinne der zweiten oben genannten Option, versteht Gewalt (wie umgekehrt auch die Liebe) also als Beziehungsmodus, welcher den Rechtfertigungszwang aufhebt, wobei das Verhältnis von Herrschaft, Macht und Gewalt in diesen Argumenten oft unklar bleibt. Nicht diskutiert wird hingegen die wichtige Frage, welche Rolle Gewalt innerhalb von Rechtfertigungsordnungen zukommen kann – gerade auch als gerechtfertigtes Handeln. Eventuell verhindert die normative Ablehnung gegenüber Gewaltphänomenen auch bei Boltanski und Thévenot ihre systematische theoretische Einbeziehung.Footnote 24 Die Kontrastierung mit Meads Ansatz eröffnet folglich in diesem Punkt auch den Blick auf Schwachstellen der Theorie der Rechtfertigungsordnungen.

Neben Meinungsverschiedenheit und Kritik gibt es nach Boltanski und Thévenot (2014 [1991], S. 367 ff.) schließlich auch die Möglichkeit von Kompromissen zwischen den Rechtfertigungsordnungen. Die Autoren nennen etwa das Konzept der „Arbeitnehmerrechte“, das als Kompromiss zwischen der staatsbürgerlichen Welt und der Welt der Industrie interpretiert werden kann.Footnote 25 Von dieser Idee ausgehend lassen sich Meads Überlegungen zu den sozialreformerischen Bewegungen in den Vereinigten Staaten reformulieren. Die zunehmenden gesellschaftlichen Kämpfe, wie sie insbesondere in Chicago Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten waren (Pacyga 2011), offenbarten aus dieser Warte einen tiefen Konflikt zwischen verschiedenen Rechtfertigungskompromissen. Auf der einen Seite finden sich Positionen, die Arbeit, Wirtschaft und soziale Teilhabe weiterhin im Sinne eines marktlibertären Sozialdarwinismus oder gemäß der Reformvorstellungen von Großindustriellen organisieren wollten. Diese Positionen verknüpfen die Ordnung der Industrie also mit der des Marktes oder des Hauses.Footnote 26 In Reaktion hierauf formierte sich aus Meads Sicht eine reformerische Verknüpfung von staatsbürgerschaftlicher und industrieller Ordnung. Der Kompromisscharakter dieser Verbindung zeigt sich in zwei Richtungen: Einerseits wird eine Demokratisierung der Wirtschaft, aber auch von Bildung und Wissenschaft, gefordert. Andererseits sollen sich politische und moralische Argumente aus sozialreformerischer Sicht zunehmend an Maßstäben der Wissenschaften orientieren. Auf diesem Wege, so Mead, würden sich Moral und Politik grundlegend verändern. Entscheidend seien dann nicht mehr hierarchische Unterordnung und „blinde Ergebenheit“, sondern die moralische Anpassung an eine moderne demokratische Gesellschaft durch eine gesteigerte soziale „Intelligenz“ (Mead 1983b [1907/08], S. 395, 1983c [1915], S. 436). Würden soziale Konflikte gemäß dieses staatsbürgerlich-industriellen Kompromisses beurteilt, würde der Staat der Sozialreform nicht wie bislang entgegenstehen, sondern diese aufnehmen und zu einer Weiterentwicklung der Gesellschaft beitragen (Mead 1983c [1915], S. 436 ff.).Footnote 27

3) Die vorhergehenden Ausführungen deuten zum einen darauf hin, dass sich die von Mead beschriebenen Konflikte und Kompromisse in der US-amerikanischen Gesellschaft und den internationalen Beziehungen mittels der Theorie der Rechtfertigungsordnungen erfassen lassen. Sie zeigen zum anderen, dass sich die sozialpsychologischen Überlegungen zu den Dynamiken der Perspektivenübernahme, die Meads Analyse zugrunde liegen, mit Boltanskis und Thévenots Ansatz gewinnbringend verknüpfen lassen. Als aktuelle Vergleichstheorie zu Mead bietet sich dieser Ansatz darüber hinaus an, da er einige epistemologische sowie sozial- und handlungstheoretische Konvergenzen mit dem klassischen amerikanischen Pragmatismus aufweist.Footnote 28

Wie der klassische Pragmatismus und auch spätere interaktionistische Ansätze gehen Boltanski und Thévenot davon aus, dass Handeln in grundsätzlich kontingenten, ungewissen und daher koordinationsbedürftigen Situationen vor sich geht (z. B. Thévenot 2010, S. 1 ff.; Bogusz 2013, S. 315 f.; Gadinger 2016, S. 191 f.). Von hier aus fragen sie nach den Kompetenzen, die sich Akteure aneignen müssen, um ihre Aktivität mit Anderen abstimmen zu können. Wie Mead betonen sie, dass die Handlungsorientierung und Koordination meist unbewusst abläuft und reflexives Handeln in „kritischen Momenten“ in Gang kommt, wenn die Beteiligten merken, „dass etwas falsch läuft“ (Boltanski und Thévenot 2011 [1999], S. 43). Während Mead die Eigenheiten kontingenter sozialer Situationen nutzt, um nach den Bedingungen von Perspektivenübernahme, Selbstreflexivität und Identitätsentwicklung zu fragen, nehmen Boltanski und Thévenot vorwiegend die kulturellen Muster in den Blick, derer sich Individuen bedienen, um ihre Handlungen im Falle von Interaktionskrisen zu koordinieren und normativ zu begründen. Hier scheint mir eine instruktive Komplementarität vorzuliegen. Meads Perspektive auf Interaktion kann von Boltanskis und Thévenots Soziologie der kritischen Kompetenzen profitieren, da er selbst nicht systematisch nach den Rechtfertigungsmustern und Weltbezügen fragt, auf welche Individuen in unklaren oder problematischen Situationen Bezug nehmen. Stärker als Mead beschreiben Boltanski und Thévenot (2011 [1999], S. 46) also „gemeinsame Kompetenzen“, die Individuen nutzen, um Unsicherheiten der Interaktion kooperativ aufzulösen und zu neuen Handlungsgewohnheiten zu kommen. Umgekehrt lädt der Vergleich mit Mead dazu ein, die Rechtfertigungsordnungen stärker mit sozialpsychologischen Grundkonzepten wie der Perspektivenübernahme zu verbinden und die Formen von Selbstreflexivität und Identitätsbildung zu untersuchen, die mit diesen normativen Grundperspektiven verbunden sind (etwa Selbstbilder des ‚guten Vaters‘ (Haus), des ‚beliebten Mitschülers‘ (Meinung) oder der ‚leistungsfähigen Managerin‘ (Industrie)).Footnote 29

4 Ergebnisse, Leerstellen und Potenziale. Ausblick

Der vorliegende Aufsatz hat sich eine Rekonstruktion und Aktualisierung zentraler Argumente von Meads Theorie der Normativität zum Ziel gesetzt. Wesentlich für die Rekonstruktion war die systematische Trennung von drei Zeitachsen, die bei Mead zwar angelegt sind, aber immer wieder vermischt werden oder unverbunden bleiben. Mit der ontogenetischen und der gesellschaftshistorischen Zeitachse wurden jene Theoriestränge genauer betrachtet, die Normativität und Moral explizit und systematisch behandeln. In beiden Fällen wurden Meads Überlegungen im Anschluss an die Rekonstruktion mit aktueller Forschungsliteratur kontrastiert. Zum Abschluss werden nun 1) die zentralen Einsichten zusammengefasst sowie 2) theoretische Leerstellen und Potenziale der Analyse umrissen, die sich vor allem dann zeigen, wenn man die Zeitachsen der Perspektivenübernahme gemeinsam betrachtet.

1) Auf der ontogenetischen Zeitachse stellt Mead die Frage nach der Genese, vor allem aber nach der schrittweisen Generalisierung der Perspektivenübernahme während der kindlichen Sozialisation ins Zentrum. Die Konfrontation mit aktueller entwicklungspsychologischer Forschung machte einsichtig, dass es plausibler erscheint, im Gegensatz zu Mead Spielformen und Spielphasen zu entkoppeln und die parallele Entwicklung von Rollen- und Regelspielen zu untersuchen. Eine solche Betrachtung lässt dann erkennen, dass beide Spielformen eine Veränderung durchmachen, die Meads Zwei-Stufen-Schema entspricht. Normativitätstheoretisch ist zentral, dass das Kind in der ersten Spielphase lokale, situative und personengebundene Regeln und Erwartungen zu erkennen lernt, in der zweiten Phase dann verallgemeinerte, transsituative, objektive Normen versteht.

Auf der gesellschaftshistorischen Achse verknüpft Mead seine sozialpsychologischen Überlegungen mit makrosozialen Entwicklungen und identifiziert gegenläufige Dynamiken sozialer Perspektiven. Eine auf generalisierter Perspektivenübernahme basierende Gruppenmoral kann demnach zu Abgrenzung oder Ausschluss von Personen und Gruppen führen, die dieser Moral (vermeintlich) widersprechen. Sie kann jedoch auch zu einem gesteigerten Verständnis, einem Dialog und einer Integration unterschiedlicher normativer Sichtweisen führen. Kontrastiert wurden diese Argumente mit dem Ansatz von Boltanski und Thévenot, der insbesondere die Pluralität von normativen Perspektiven ins Zentrum rückt und die Art und Weise, wie diese in Beziehung treten, untersucht. Mittels dieses Ansatzes lassen sich die von Mead analysierten gesellschaftlichen Dynamiken und Konflikte so erfassen, dass ihre Verknüpfung mit seinen handlungs- und sozialtheoretischen Grundüberlegen erhalten bleibt, die teleologischen Tendenzen aber vermieden werden. Auch Meads latente Pathologisierung von gewaltsamen Konflikten ließe sich im Rückgriff auf die Idee der Rechtfertigungsordnung potenziell vermeiden, wobei der Theorievergleich diesbezüglich auch Schwächen im Ansatz von Boltanski und Thévenot zutage förderte.

2) Leerstellen und Potenziale der hier präsentierten Analyse zeigen sich insbesondere, wenn man die Verschränkungen der drei Zeitachsen der Perspektivenübernahme beleuchtet. Zwei wichtige Aspekte seien abschließend erwähnt. Detailliert untersucht werden müsste, erstens, das genaue Verhältnis der phylo- und der ontogenetischen Zeitachse. Mead (1980g [1922], S. 293) selbst formuliert an einer Stelle die Vermutung, dass sich die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme nicht nur „im Leben des Kleinkindes nach und nach herausbildet“, sondern dass dieser Entwicklungsprozess „vermutlich auch im Leben der Menschheit stufenweise erfolgt ist“. Eine stufenweise Herausbildung von Perspektivenübernahme beschreibt er allerdings nur auf der ontogenetischen, nicht auf der phylogenetischen Zeitachse, wodurch sich eine Inkongruenz der beiden Zeitachsen ergibt (Niedenzu 2012, S. 298 ff.). Konkrete Ausführungen zur evolutionären Genese und schrittweisen Weiterentwicklung sowohl der Perspektivenübernahme als auch der Normativität finden sich derzeit vor allem bei Michael Tomasello (2014, 2016). Im Anschluss an diese Arbeiten kann eine Aktualisierung von Meads Theorie der Normativität auch auf der phylogenetischen Zeitachse vorgenommen werden, durch die sowohl der Tier-Mensch-Übergang als auch die menschliche Entwicklung gradueller und damit plausibler erfasst wird, als dies bei Mead der Fall ist (dazu detailliert Nungesser 2016, 2020, 2021, Kap. 11).

Verknüpft man, zweitens, die ontogenetische und die gesellschaftshistorische Achse, so stellt sich die Frage, wie sich Individuen in modernen Gesellschaften im Laufe ihrer Sozialisation die pluralen normativen Perspektiven bzw. Rechtfertigungsordnungen aneignen und mit ihren Spannungen umzugehen lernen. Die zuvor diskutierten entwicklungspsychologischen Überlegungen helfen im Hinblick auf diese Frage nur bedingt weiter, da sie lediglich den ontogenetischen Weg bis zum grundsätzlichen Verstehen von allgemeinen Regeln nachvollziehen. Ob und in welcher Weise sich die Perspektivenübernahme nach der Etablierung des „game“-Stadiums entwickelt, wird bei Mead, aber auch in den herangezogenen aktuellen Studien nicht diskutiert. Naheliegend wäre an dieser Stelle der Bezug auf das Forschungsprogramm Lawrence Kohlbergs, das – ähnlich wie Mead und Tomasello/Rakoczy – eine stufenweise Entwicklung der Moral im Laufe der Sozialisation behauptet. Dabei greift Kohlberg (v. a. 1996, S. 32 ff., 165) nicht nur vereinzelt auf Argumente Meads zurück, sondern betont auch die Bedeutung, welche die Rollenübernahme in Kleingruppen und Institutionen für die Entwicklung der Moral hat.Footnote 30 Anders als die genannten Ansätze untersuchte Kohlberg (1996, S. 146 ff., 495 ff.) die Antworten von Testpersonen auf fiktive dilemmatische Situationen. Befragt wurden Personen von zehn Jahren bis ins frühe Erwachsenenalter. Im Gegensatz zur „action-based methodology“ von Tomasello und Rakoczy zielt Kohlberg damit nicht darauf, grundlegendes Normverstehen anhand des konkreten Verhaltens im Experiment nachzuweisen. Ihm geht es vielmehr um komplexere Leistungen, nämlich darum, wie sich die Gründe, Begründungen und Motive für Verhalten in Situationen moralischer Konflikte im Laufe der Sozialisation verändern. Spätere, an Kohlberg anknüpfende Arbeiten zeigten, dass dieser manche Entwicklungen zu spät in der Ontogenese ansetzt und das grundlegende Verstehen von Regeln beispielsweise schon im Alter von vier bis fünf Jahren möglich ist (Nunner-Winkler 2007, S. 59 f., 69 f.). Zudem wird in diesen Studien deutlich, dass Kohlberg die Bedeutung von Sanktionen überschätzt und die Empathie und Kooperationsbereitschaft von kleinen Kindern unterschätzt (vgl. etwa Keller 2007, S. 33; Nunner-Winkler 2007, S. 60 f.). Durch diese Fortentwicklungen ergeben sich Konvergenzen zwischen den Theorieprogrammen Kohlbergs und Tomasellos.Footnote 31 Hierauf aufbauend ließe sich fragen, welche gesellschaftlichen und kulturellen Sozialisationsbedingungen gegeben sein müssen, damit Jugendliche und Erwachsene jenes „postkonventionelle Bewusstsein“ entwickeln, das nicht nur bei Kohlberg (z. B. 1996, S. 52 f.) die letzte Stufe der Moralentwicklung bezeichnet, sondern auch Fluchtpunkt von Meads Sozialisationsverständnis ist (Schubert et al. 2010, S. 73). Meads gesellschaftstheoretische Arbeiten versuchen soziokulturelle Bedingungen für das historische Auftreten dieses Bewusstseins zu erfassen. Seine ontogenetische Konzeptualisierung verbleibt aber auf einer Vorstufe. Im Trialog mit Tomasello und dem Kohlberg-Programm könnte diese Lücke geschlossen werden.

Insgesamt lässt sich der Aufsatz als ein Plädoyer dafür betrachten, Meads klassische Theorie im Allgemeinen und seine Einsichten in die menschliche Normativität im Speziellen weder naiv falsifikatorisch noch unkritisch hagiographisch zu beurteilen. Dass Meads stark interdisziplinäre Position ein Jahrhundert später empirisch in zahlreichen Bereichen nicht mehr plausibel erscheint, kann kaum überraschen. Statt sie damit schlicht als widerlegt zu betrachten, scheint es produktiver, ihre theoretischen Kerninnovationen im Austausch mit aktuellen Befunden zu reformulieren (dazu Nungesser 2021). Nur so wird umgekehrt auch eine Abschottung des soziologischen Klassikers Mead verhindert, die dessen interdisziplinären Anspruch und die konstitutive Bedeutung empirischer lebens- und sozialwissenschaftlicher Befunde für seine Theorie ignoriert.