Zusammenfassung
Der Beitrag setzt sich damit auseinander, wie SozialforscherInnen damit umgehen, dass sie bei der Bearbeitung ,migrationsspezifischer‘ Themenstellungen immer wieder soziale Differenzkategorien reproduzieren. Vor dem Hintergrund der hohen Relevanz, die ,ethnisch-kulturelle‘ Kategorien somit erhalten, wird ein reflexiv-distanzierter Blick auf erste Ergebnisse zweier qualitativ-rekonstruktiver Forschungsprojekte gerichtet, um an der konkreten Analyse- und Interpretationspraxis aufzuzeigen, wie ein differenzierter Blick auf das Datenmaterial entsteht, wenn die Kategorie ,Ethnizität‘ durch andere Perspektiven erweitert wird. Der Beitrag schließt mit der Bedeutung wissenschaftlicher Reflexivität für sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse im Kontext ,migrationsspezifischer‘ Themenstellungen und erläutert an einem von Bourdieu (1993) vorgelegten Entwurf wissenschaftlicher Reflexion und Mecherils (1999) weiterführenden Gedanken wie mit der eingangs beschriebenen Herausforderung umgegangen werden kann.
Abstract
When investigating questions of migration, social scientists must deal with the challenge that they inevitably reproduce categories of social difference like ‘ethnicity’ or ‘culture’ that can be the basis for social exclusion. The practical consequences of this challenge are illuminated by looking at examples of the interpretative work of two ongoing qualitative-reconstructive research projects. These examples demonstrate how the scope of the analysis can be broadened when the perspective on the social situations visible in the data is not reduced to ‘ethnic’ and ‘cultural’ categories. Systematic reflection on the research process is a core factor in activating this multi-perspective approach. The article ends with a discussion of Bourdieu’s (1993) and Mecherils (1999) approaches to scientific reflection.
Notes
Ein Beispiel wäre hier etwa die Diskreditierung der Verwendung bestimmter Begriffe („Ausländer“) und deren Ersetzung durch neue Begriffe („Menschen mit Migrationshintergrund“), die aber erneut ähnliche Etikettierungen darstellen und im Kontext des historischen Verlaufs der Paradigmen-Konstruktionen im migrationswissenschaftlichen Diskurs gesehen werden müssen. Eine gute Übersicht hierzu liefert Mecheril (2004).
Im Hinblick auf Prozesse institutioneller Diskriminierung im Schulsystem auf der Grundlage ethnischer Zuschreibungen liefert hier etwa die Studie von Gomolla und Radtke (2009) deutliche Ergebnisse.
Wir beziehen uns dabei auf erste Ergebnisse aus zwei laufenden qualitativ-rekonstruktiven Promotionsstudien. Sevgi Söyler untersucht Bildungsbiographien ,bildungserfolgreicher‘ türkeistämmiger MigrantInnen in Deutschland und geht dabei der Fragestellung nach, welche Ressourcen im Feld informeller und formeller Bildung zum ,Bildungserfolg‘ beitragen. Johannes Kloha untersucht das professionelle Handeln von SchulsozialarbeiterInnen mit einem besonderen Fokus auf Aspekte von Migration.
Diese Grundannahme blieb nicht unbestritten. Ohne an dieser Stelle im Detail auf die Kritik daran (z. B. Bude 1985) eingehen zu können, soll hier nur dem Eindruck entgegengewirkt werden, dass die Erzählung die einzige sprachliche Darstellungsform ist, in der etwas vom Erleben des/der ErzählerIn zum Ausdruck kommt. Allerdings stellt der in erzählförmigen Passagen aufgespannte „Ereignis- und Erfahrungsrahmen“ (Schütze 1983, S. 286) eine wichtige Voraussetzung dafür da, das in argumentativen und beschreibenden Passagen des Interviews zum Ausdruck kommende eigentheoretische Wissen des/der ErzählerIn hinsichtlich seiner Bedeutung (z. B. für den Lebenslauf oder für einen professionellen Interaktionsprozess) einordnen zu können.
Zur Differenzierung dieser Textsorten und ihrer Bedeutung im Rahmen von Stegreiferzählungen siehe u. a. Kallmeyer und Schütze 1977.
Alle Eigen- und Ortsnamen in den beiden Interviewausschnitten sind geändert.
Fritz Schütze beschreibt diese Ausgangssituation als eine allgemeine Paradoxie professionellen Handelns („geduldiges Zuwarten vs. sofortige Intervention“, Schütze 1992, S. 150).
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Kloha, J., Söyler, S. Zwischen Perspektivenerweiterung und -reproduktion. Österreich Z Soziol 40, 299–312 (2015). https://doi.org/10.1007/s11614-015-0174-6
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DOI: https://doi.org/10.1007/s11614-015-0174-6
Schlüsselwörter
- Migration
- Ethnizität
- Soziale Differenzkategorien
- Rekonstruktive Sozialforschung
- Wissenschaftliche Reflexivität