1 Einleitung

Die Soziologie blickt seit einigen Jahren fasziniert auf den Vormarsch der Quantifizierung. Es findet sich kaum ein gesellschaftlicher Bereich, in dem Zahlen nicht ihre ganz eigenen Spuren hinterlassen hätten. Von der Hoffnung auf objektive Entscheidungskriterien getrieben, durch gesellschaftliche Transparenz- und Legitimitätsansprüche unter Druck gesetzt oder durch das Vorliegen massenweiser Daten verführt – die Gründe für die Nutzung von Quantifizierungspraktiken vervielfältigen sich, während ihre strukturierenden Effekte komplexer werden (Espeland und Stevens 2008; Porter 1995; Power 1997). Die Entwicklung der deutschsprachigen soziologischen Quantifizierungsforschung spiegelt diese AusdifferenzierungFootnote 1. Wesentliche Vorarbeit hat die angelsächsische „Accountingforschung“ geleistet (Becker 1999; Vollmer 2004; Vormbusch 2004). Quantifizierung soll, so der Ausgangspunkt der bereits in den 1970er-Jahren einsetzenden Debatte, nicht nur als ein Indikator für bestimmte gesellschaftliche Trends betrachtet werden, sondern vorrangig auf organisatorischer Ebene in seine praxisverändernden Elemente zerlegt und erforscht werden (Burchell et al. 1980; Hopwood 1974; Roberts und Scapens 1985).

Der vorliegende Beitrag schließt an die aktuelle Diskussion an und fokussiert auf Quantifizierungspraktiken in Kommunalverwaltungen. Der Einsatz und die Veränderung der Accountingstrategien werden vorrangig in der Verwaltungswissenschaft vor dem Hintergrund der Frage nach der Modernisierung von Verwaltung durch die New Public Management Reformen diskutiert (Kuhlmann et al. 2004). Ein wissenssoziologischer Blick auf die Produktion steuerungsrelevanter Zahlen einer bürokratischen Organisation steht indes noch aus. Kommunalverwaltungen sind besonders gut für die wissenssoziologische Erforschung von Accountingpraktiken geeignet, weil sie per se durch eine quantifizierende Struktur geprägt sind. Die neuen Rechenanforderungen basieren auf einem Reframing der zum Zweck bürokratischer Kontrolltätigkeit gesammelten Datenmassen. Um die Rechenpraktiken im Sinne einer „Soziologie des Rechnens“ (Vollmer 2003) nachzuvollziehen, wird auf Basis von Interviews, Dokumentenanalysen und Beobachtungen die Einbettung von Accountingpraktiken in die organisationale Struktur als kognitive und soziale Wissens- sowie als technische Praxis betrachtet.

In einem kurzen historischen Abriss wird der Wandel im Umgang mit Daten skizziert. Nach einem Überblick über die Implementierung neuer Accountingtechniken im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells werden Analyseheuristik, Datenerhebung und -auswertungsstrategie vorgestellt. Die Darstellung der empirischen Ergebnisse orientiert sich an den Erfahrungen der Hauptproduzent:innen der neuen Rechenpraktiken: Verwaltungscontroller:innen.

2 Der Wandel der Kommunalverwaltungen vom Datendienstleister zum Datennutzer

Kommunalverwaltungen haben von jeher eine ausgeprägte Zahlenaffinität. Sie erbringen ihren Professionalitätsnachweis hauptsächlich über ihr bürokratisches Vorgehen, das im Wesentlichen durch Quantifizierungen etwa von Prüf- und Sollwerten strukturiert wird. Durchsetzungskraft als staatliche Organisation erhält die Verwaltung zusätzlich durch rechtliche Stabilisierung der Entscheidungsgewalt sowie die Nachprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen über das Prinzip der Aktenförmigkeit (Mayntz 1968; Weber 1980). Die Aktenförmigkeit der Verwaltungsarbeit ist zugleich die Basis der andauernden Datensammlung. Die Systematisierung wichtiger Grunddaten erfolgt in den Ämtern für Statistik. Dabei werden vorrangig Register z. B. mit Einwohnermelde‑, Gewerbe- und Sozialhilfedaten erstellt. Die Landes- und Bundesämter tragen aus diesen Basisinformationen der Kommunalstatistik Führungsinformationen zusammen und beeinflussen damit sehr direkt die Politik des Staates (Weismann 1980, S. 380).

Das Aufgabenvolumen der Verwaltung stieg im Laufe der Jahre stetig an. Seit den 1980er-Jahren wuchs zudem die Kritik am bürokratischen Zentralismus der Verwaltung. Sinkende Haushaltskassen ließen Fragen nach der Effizienz der Leistungsorganisation lauter werden. In den 1990er-Jahren begann daraufhin jene Reformwelle, die in Deutschland als Neues Steuerungsmodell bekannt wurde (KGSt 1993). Konkret ging es dabei um die „Stimulierung neuer Wirkungsmechanismen im öffentlichen Sektor mit dem Ziel der Verbesserung der Qualität, der Effizienz und der Effektivität der Dienstleistungsproduktion“ (Bogumil und Jann 2009, S. 239). Damit verbunden war die Institutionalisierung neuer Rechenpraktiken, wie die Einführung einer veränderten Kostenrechnung sowie Leistungsvermessungen inklusive Leistungskennzahlen (Kuhlmann et al. 2004). Hinzu kamen Techniken der strategischen Steuerung mittels Leitbildentwicklung und kennzahlgestützter Ziel- und Qualitätskontrolle sowie die Institutionalisierung von Vergleichsringen, in denen ebenfalls kennzahlgestützt gearbeitet wurde (Bogumil et al. 2007; Bogumil und Holtkamp 2016; Gray und Jenkins 2006; Schedler und Proeller 2011).

Die Kennzahlen, die für die diversen Leistungsmessungen und -vergleiche benötigt wurden, konnten die Statistikämter nur in geringem Umfang zur Verfügung stellen (Pokorny 2004, S. 85). Die Sammlung und Verarbeitung von darin zum Ausdruck kommenden Führungsinformationen wurden in die Verantwortung von Verwaltungscontrollern gelegt, die im Zuge der letzten Jahre vermehrt eingestellt wurden (Richter 2001). Die wichtigsten Instrumente des Verwaltungscontrollings sind die strategische Planung mittels Umweltprognosen, die Kostenplanung auf Basis von Leistungskennzahlen sowie die Indikatorenrechnung (Schedler 2011, S. 239 ff.).

Als Hauptproblem wurde oft die Übernahme von spezifischen Accountingpraktiken aus dem Unternehmensmanagement herausgestellt, weil sie ohne vorherige Prüfung der Besonderheiten im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Steuerungsfähigkeit von Verwaltungen organisiert wurde (Almquist et al. 2013). Dies führte zu pragmatischen Anpassungen der Steuerungskonzepte in den einzelnen Kommunalverwaltungen. Insgesamt entstand der Eindruck, dass die Vielzahl der in der Verwaltung vorhandenen Daten in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Möglichkeiten der Steuerung stehen. Zu stark sei das Handeln von rechtlichen und bürokratischen Zwängen begrenzt (Bogumil und Holtkamp 2012; König 1977; Kuhlmann et al. 2004; Reichard und Wollmann 1996). Ein Zahlenoverload war damit vorprogrammiert. Die sich hier andeutenden Probleme bilden die Grundlage für den empirischen Blick in die Praxis der Kennzahlarbeit in Kommunalverwaltungen.

3 Die Etablierung von kennzahlgestütztem Steuerungswissen als Organisationsproblem – Analyseheuristik, Daten und Methode

Mit der Einführung der kennzahlenbasierten Berichtspflicht sind Lernprozesse in Gang gesetzt worden, die der Erarbeitung von Steuerungsmöglichkeiten entlang einer Vielzahl von bestehenden und neu zu erhebenden Daten dienten. Aus quantifizierungstheoretischer Perspektive befindet sich die Kommunalverwaltung in einer Situation des Wechsels von „first order measurements“ zu „second order measurements“ (Power 2004). Damit verbunden ist die Übersetzung von quantitativen Daten in handlungsleitendes Wissen, was aus wissenssoziologischer Perspektive einen äußerst komplexen Prozess darstellt (Heintz 2007; Kalthoff 2004; Messner et al. 2007; Robson 1992). Er lässt sich in kognitive, soziale und technische Aspekte zerlegen.Footnote 2

Mit Blick auf den kognitiven Aspekt vollzieht sich eine Konzeptualisierung von Zahlen, bei der definiert wird, was die Zahl aussagen soll (Robson 1992, S. 688). Kommunalverwaltungen griffen zunächst auf bestehendes Datenmaterial zurück und reframten es, indem den Zahlen ein steuerungsrelevanter Aussagewert zugeordnet wird. Diese Konzeptualisierungen sind offen für Auseinandersetzungen und werden so zu einem sozialen Geschehen, das wiederum organisationssoziologisch reflektiert werden muss (Hopwood 1974; Burchell et al. 1980). Dazu bietet es sich an, die Verwaltung als informationsverarbeitendes System zu betrachten (Luhmann 1971a; Tacke und Borchers 1993; Weick 1969). Relevant wird der kommunikative Umgang mit quantitativen Informationen im Kontext organisationaler Entscheidungen (Muster und Büchner 2018, S. 263).Footnote 3 Mit dem Ziel, ein „kollektives Situationsverständnis“ (Tacke und Borchers 1993, S. 133) zu entwickeln, müssen die Akteure sowohl die Datenbasis als gültig anerkennen als auch die Datenlage als ausreichende Informationsbasis bewerten. Dabei besteht immer das Risiko einer Fiktionalisierung von Informationslagen (Wehrsing und Tacke 1992, S. 225). Um potenzielle Entscheidungsunsicherheiten zu minimieren, braucht es oftmals Hintergrundinformationen, die die Datenbasis kontextualisieren. Die Notwendigkeit dieser Kontextualisierung macht wiederum die Kontingenz quantitativen Wissens deutlich. Hinzu kommt, dass die Nutzenerwartungen und Sinnkonstruktionen in Bezug auf die quantitativen Daten von „lokalen Rationalitäten“ (Cyert und March 1963) gesteuert werden. Mit Blick auf die Verwaltung lassen sich drei Rationalitäten unterscheiden: Die Controllingabteilungen arbeiten vorzugsweise mit einer die ganze Verwaltung umfassenden Managementrationalität. Die Dezernate und Fachdienste sind vor allem von kleinteiligeren Planungsrationalitäten geleitet. Die Politiker:innen handeln auf Grundlage einer politischen Rationalität. Gesucht und gefordert ist eine gemeinsame Steuerungsrationalität.

Neben diesen kognitiven und sozialen Aspekten der Wissensgenerierung auf Basis quantitativer Daten ist der technische Aspekt relevant. Dieser hat zwei Komponenten: zum einen die Techniken der Berechnung, mittels derer quantitative Informationen erzeugt werden, zum anderen die technische Repräsentanz der Daten (Knorr-Cetina 1999). Mit dem Einsatz kalkulativer Rechentechnik wie der Kennzahlberechnung soll die neue entscheidungsstrukturierende Steuerungsrationalität praktisch hergestellt werden. Dieser Einsatz ist mit einem bestimmten Rationalitätsnachweis verbunden (Vormbusch 2012b, S. 313 f.). Die Möglichkeiten des erfolgreichen Einsatzes dieser Methoden sind nicht nur von den kognitiven Leistungen der Akteure und ihrer sozialen Bewertung abhängig, sondern zusätzlich von der technischen Infrastruktur. Der Digitalisierungsprozess verläuft in Organisationen uneinheitlich und sorgt in spezifischer Weise für Reorganisationsprozesse mit einer Vervielfältigung von Datenpflegearbeiten und Softwareanpassungen (Mormann 2013; Büchner 2018, S. 335 f.). Dies ist in Kommunalverwaltungen mit ihren hohen bürokratischen Hürden ein besonderes Problem.

Mit dieser Perspektive soll die Analyse der Quantifizierungsprozesse in Kommunalverwaltungen im Folgenden strukturiert werden. Datenbasis sind insgesamt elf InterviewsFootnote 4 (acht Interviews mit Fachdienstleiterinnen und drei Interviews mit Controller:innen) aus drei Verwaltungen, wobei der Hauptteil der Befragung in einer Verwaltung mit längerer Erfahrung mit den Kennzahlpraktiken stattfand. Des Weiteren flossen in die Analyse, von der hier nur ein Teilaspekt präsentiert wird, ca. 40 Berichte, Strategiepapiere und Leitbilddarstellungen einer Verwaltung ein. Zudem werden Teilaspekte aus Beobachtungen von zehn Stadtratssitzungen und zwei Ausschusssitzungen in einer Kommune zwischen Mai 2019 und Juni 2020 in der Ergebnisdarstellung berücksichtigt.Footnote 5

Die Analyse erfolgte in Anlehnung an die Methode der qualitativen Organisationsanalyse von Froschauer und Lueger (2020). Mit dieser Perspektive lässt sich die Wissenspraxis, die in Interviews im Umgang mit den kalkulativen Praktiken beschrieben wurde und sich in den Dokumenten materialisiert und in Stadtrats- und Ausschusssitzungen praktisch manifestiert, mit unterschiedlichen analytischen Schwerpunkten interpretieren. Die Themenanalyse arbeitet z. B. die manifesten Inhalte heraus. Damit konnten die zur Anwendung gebrachten Zahlenpraktiken in einem deskriptiven Verfahren herausgearbeitet werden. Weitere Analyseschritte zielten auf die verstehende Rekonstruktion des kognitiven Produktions- sowie des sozialen Bewertungsprozesses der Kennzahlherstellung. Dies diente dem Nachvollzug der Erarbeitung eines „kollektiven Situationsverständnisses“, was wiederum mit organisationsinternen Spannungen verbunden sein kann (ebd., S. 111 ff.).

Die dafür notwendigen kommunikativen Fähigkeiten durch das Controlling werden ebenfalls mit einer praxistheoretischen Perspektive in den Blick genommen. Die Inszenierung von Professionalität durch Kennzahlengebrauch in Stadtrats- und Ausschusssitzungen wird aus dem Blickwinkel der KompetenzdarstellungskompetenzFootnote 6 analysiert (Pfadenhauer und Dieringer 2019).

4 Controller:innen und die Suche nach Steuerungsrelevanz

Die befragten Controller:innen beziehen sich in den Interviews auf die Nutzung von Kennzahlen mit dem Anspruch, die Verwaltung als Ganzes zu steuern.

Mit Blick auf die Frage, wie die Controller:innen die Verwaltung als steuerungsfähig konzipieren, ist die Auseinandersetzung mit quantitativen Daten im Rahmen der Leistungskennzahlentwicklung besonders aussagekräftig. Leistungskennzahlen bilden die Grundlage für den pflichtmäßigen Aufbau eines Berichtswesen, in dem die unterschiedlichen Verwaltungsabteilungen ihre Arbeit transparent machen sollen. Dieser Prozess wird von den befragten Controller:innen als Lernprozess beschrieben, bei dem vor allem etwas über die Unmöglichkeiten der Leistungsteuerung gelernt werden konnte.

Zu Beginn stand die Strategie, so viele Zahlen wie möglich zusammenzutragen, um Leistungstransparenz zu erreichen. Dabei war das Controlling auf die Zuarbeit der Fachbereichsleiter:innen angewiesen, die sich dieser Aufgabe mit unterschiedlichen Argumenten teilweise entzogen. Gleichzeitig ist ihr Kontextwissen über die sich in der Kennzahl spiegelnden Dienstleistungen der Verwaltung für das Reframing der Zahlen notwendig. Mit dem Ziel der Herstellung eines „kollektiven Situationsverständnisses“ (Tacke und Borchers 1993, S. 133) mussten Controller:innen und Fachdienstleiter:innen sich also zunächst darauf verständigen, welchen Aussagewert eine in den Berichten veröffentlichte Kennzahl hat. Dabei zeigten sich zwei Schwierigkeiten: Zum einen wird kritisiert, dass viele Kennzahlen lediglich zur Beobachtung der Dienstleistungsarbeit taugen, zum anderen, dass bestimmte Kennzahlen, die als Steuerungsinstrument genutzt wurden, nicht aussagekräftig sind. Vor allem Fachdienstleiter:innen mit überwiegenden Kontrollaufgaben im Bau- oder im Gesundheitsamt, aber auch im Rechtsamt, mit Blick auf die dort vorrangig durchgeführten Beratungen, verstehen die meisten Kennzahlen ihrer Abteilung nicht als Steuerungsinstrument, weil ihre Arbeiten den Zufälligkeiten des Bedarfs ausgesetzt seien. Die Kritik bezieht sich auf die Einbettung dieser Zahlen in die Quartalsberichte, deren Funktion darin gesehen wird, dass sie der Optimierung von Effizienz dienen und nicht einfach abbilden, was geleistet wurde.Footnote 7

„Das Controlling an sich, sage ich mal, hat jetzt, ich denke mal auch hier für die anderen Abteilungen, ist das jetzt nicht so die wesentliche Orientierung … Es gibt da so definierte Bereiche, ab wann ist es so-, also erstmal grundsätzlich angestiegen, rückläufig, gleichbleibend? Aber für, für viele Bereiche könnten wir das gar nicht argumentieren, was, wo da jetzt unser Anknüpfungspunkt wäre.“ (Teamleitung A: 61)

Der Umgang mit dem Kennzahlsystem hat auf Grundlage solcher Auseinandersetzungen eine reflexive Schleife durchlaufen. „Die möglichst genaue Abbildung des Leistungsprozesses ist kein überzeugender Wert mehr.“ (Nullmeier 2004, S. 48). Da die Fachdienstleiter:innen den bürokratischen Aufwand der Kennzahlbestimmung pro Quartal als zu hoch einstuften, wird selbstkritischer geprüft, in welchen der vielen erhobenen und bereits standardmäßig veröffentlichten Zahlen wirklich steuerungsrelevante Informationen stecken.

„So, da wurde erstmal was aus dem Boden gestampft und Hauptsache, wir haben jetzt erstmal Produktziele und -kennzahlen, weil es erforderlich ist. Und letztes Jahr hatte ich da die Intention, dass wir da schon ein bisschen das auf ein qualitativ besseres Niveau hieven. Also ich habe jetzt keine Zahlen im Kopf, aber das waren vorher im Gesamthaushalt vielleicht 350 Kennzahlen, die wir da im Haushalt hatten. Und da war mein Anspruch, zu sagen: ‚In der Kürze liegt die Würze. Dann aber lieber aussagekräftig und steuerungsrelevant‘.“ (Controller A: 147 ff.)

Neben der Einsicht in die geringen Steuerungsmöglichkeiten von Verwaltungsdienstleistungen durch die entwickelten Leistungskennzahlen richteten sich die Hoffnungen vor allem auf die Kostensteuerung.Footnote 8 Kostensenkungen werden in allen Kommunen vorrangig im Bereich der sozialen Hilfe anvisiert, weil dies die teuersten Dienstleistungen der Verwaltung darstellen. Die Ermittlung von Einsparmöglichkeiten wird oft erst aus dem Vergleich der Kennzahlen mit anderen Kommunen praktisch möglich. Die Zahlen müssen dafür zunächst vergleichbar gemacht und dann mit Kontextwissen angemessen interpretiert werden. Dieser Aufwand ist jedoch sehr hoch, da die Kommunen die Kosten der Dienstleistungen nicht einheitlich in Kennzahlen abbilden.

„Vielleicht sehe ich es in fünf Jahren anders. Aber erstmal will man ja auch wissen: Was kostet denn wirklich die Leistung, die ich erbringe? Und wäre natürlich schön, wenn man das wirklich mit anderen Städten auch vergleichen kann, um dann zu gucken: Können wir noch was tun? Woran liegt es denn vielleicht? Das sind ja dann die Konsequenzen. Aber da muss man dann wirklich sehr tief einsteigen. Und da weiß man nicht, ob das nicht zu viel Aufwand dann auch ist.“ (Controller C: 905 ff.)

In der dritten Phase der Suche nach Steuerungsmöglichkeiten verlagert sich die Rechenpraxis der Controller:innen auf die Möglichkeiten der mittel- und langfristigen Haushaltssicherung. Auch hier liegt ein Lernprozess hinter der Controllingabteilung, der ebenfalls von den Auseinandersetzungen mit den Fachdienstleiter:innen geprägt ist. Hierbei wird nach Indikatoren gesucht, die eine bestimmte Signalfunktion für die Verwaltung besitzen.

„… damit wir dieses Niveau an Investitionen, was wir derzeit haben dergleichen, dass wir das auch in Zukunft noch haben können, müssen wir wachsen. Sowohl an Einwohnern, an Wirtschaftskraft und dergleichen. Und wir erheben jetzt gerade in meinem Bereich bestimmte Indikatoren, die so eine Art Signal dafür sind, sind wir da auf dem richtigen Weg.“ (Controller A: 79 ff.)

Dies zeigt sich anschaulich bei dem Versuch, die Anzahl von Bauanträgen als Indikator für Wachstum zu reframen. Die Kontextualisierung dieser Kennzahl durch den zuständigen Fachdienstleiter macht deutlich, dass sich diese Zahl dafür nicht eignet, weil sich darin nicht nur von der Verwaltung kontrollierte Neubauten, sondern oft auch Nutzungsänderungen auf Grundstücken ausdrücken.

Solche Auseinandersetzungen resümierend, kommt ein Controller in Anbetracht der Erfahrungen mit der Kennzahlarbeit insgesamt zu einer kritischen Einschätzung:

„Ich habe eher Angst, dass wir uns verzetteln. (…) Was ist wirklich für uns notwendig? Was hilft uns weiter? Und viele Kennzahlen sind wirklich nur Rechengrößen. Bringt uns das wirklich weiter oder muss man nicht eher so strategische Ziele oder Kennzahlen dann auch haben, um in die richtige Richtung zu steuern?“ (Controller C: 133 ff.)

Aktuell richtet sich die Arbeit der Controller:innen vorrangig auf Verbesserung der Prognosequalität. Relevant sind dabei lediglich zwei Wachstumssignale: die Einwohner- und die Gewerbesteuerentwicklung. Damit verlagert sich der quantifizierende Blick von der Selbst- zur Umweltbeobachtung, die auch mit Neuerhebungen verbunden ist. Für die Anfertigung einer Einwohnerprognose wurde zunächst externe Hilfe durch eine Beraterfirma genutzt, dann rüstete man technisch auf und investierte in eine Software, um diese Prognose vom Statistikamt selbst erstellen zu lassen.

Die Prognosen werden regelmäßig im Stadtrat und Finanzausschuss vorgestellt und nach Handlungsbedarf bewertet. Im Finanzausschuss findet die Bewertung der Güte der Daten statt. Dort wird von den Controller:innen offen thematisiert, dass die Gewerbesteuerprognosen, die die Verwaltung vom Finanzamt erhält, nicht gut genug sind, um damit zu arbeiten. Zu diesem Zweck werden die Prognosen mit Einschätzungen zur Wirtschaftsentwicklung vertrauenswürdiger kommunaler Akteure ergänzt.Footnote 9 Die im Ausschuss offen gelegte Prognoseskepsis wird von den Ausschussmitgliedern auch in den Stadtrat getragen, indem die aus den Prognosen abgeleiteten Wachstumsannahmen dort kritisch bewertet werden. Sie plädieren für vorsichtigere Planungsansätze und verweisen auf Einflüsse unbekannter Variablen. Daran zeigt sich, dass Finanzausschüsse im Zuge der neuen Budgetierungsregeln aufgewertet wurden und mehr Definitionsmacht erhalten haben und damit auch verstärkt Politik machen (Fürst 1987, S. 115 f.).

Angesichts der Unsicherheiten, die das Controlling mit den Prognosen in den Stadtratssitzungen produziert, nutzt es bei wichtigen Grundlagenprognosen wie der allgemeinen Bevölkerungsprognose eine weitere methodische Möglichkeit, um die Vorhersagequalität zu erhöhen. Durch die Arbeit mit externen Beraterfirmen werden die Prognosen hier durch qualitative Zusatzinformationen abgesichert und in Szenarien überführt. Bei Diskussionen über den Aussagewert von Prognosen, die hin und wieder auch im Stadtrat geführt werden, legitimiert sich das Controlling mit der wissenschaftlichen Vorgehensweise bei der Erhöhung von Prognosequalität. So wird betont, dass man sich bei der Prognosearbeit immer weiter „methodisch nach vorne robben muss“. Die sich verteidigenden Controller:innen bedienen sich sozialwissenschaftlicher Methodenbegriffe wie „hypothesengestützt“ oder „nicht-deterministisch“, um das Vorgehen zu erklären. Gleichzeitig wird die bisherige qualitative Verbesserung der Prognosearbeit mittels Quantifizierungen belegt.

Die Nutzung der Methoden der Unternehmensberatungen und die starke Legitimierung über die Wissenschaftlichkeit beschreibt den in Organisationen oft beobachtbaren Vorgang des „mimetischen Isomorphismus“ (DiMaggio und Powell 1991, S. 67). Aufgrund des geringen Professionalisierungsgrades bei der Steuerung vergleichen die Controller:innen ihre Arbeit auch im Interview mit dem Vorgehen von Unternehmensmanager:innen. Sie übernehmen aber auch die bereits dort aus Legitimationszwängen entstandene Strategie des Arbeitens mit evidenzbasierten quantitativen Daten (Bohler 2002, S. 121). Damit verhindern die Controller:innen eine offene Diskussion über die Güte der quantitativen Prognosen. Dies übernimmt, wie gezeigt, der Finanzausschuss und genießt dadurch auch unter den befragten Fachbereichsleiter:innen ein hohes Ansehen. Dies macht deutlich, dass Professionalitätsnachweise vor allem an den kritischen Umgang mit Zahlen gekoppelt sind. Im Interview gestehen die Controller:innen ein, dass erfolgreiche Verwaltungssteuerung nur eine Kombination aus qualitativem „Gespür“ für Entwicklungen und quantitativen Daten sein kann. In der Auseinandersetzung mit der Politik lassen sie aber die Zahlen sprechen.Footnote 10 So lange dieses Problem nicht gelöst ist, werden die Politiker:innen die Ungenauigkeiten der Prognosen weiter als Ausrede benutzen können, die Zukunft der finanziellen Lage optimistisch zu deuten, um daraufhin riskante Haushaltsentwürfe durchzubringen.

Aktuell konzentriert sich das Controlling deshalb auf die Optimierung der Organisation von Zahlen für eine bessere Digitalisierung. Die Produktion von Zahlen, so lässt sich resümieren, wird zu einem technischen Verwaltungsakt. Die Interpretation der Zahlen zum Aufbau von Steuerungswissen tritt mehr und mehr in den Hintergrund:

„Das geht dann automatisiert hier rein, ne. Was mir das System natürlich noch nicht macht, ist ein Text schreiben. So. Das muss ich hier immer noch alleine machen. Also ich könnte das mittlerweile schon programmieren und sagen, wenn jetzt das Ergebnis positiv ist, dann schreibe mir automatisch: Ergebnis Verbesserung oder sowas. Und wenn es negativ ist: Verschlechterung. Also so etwas könnte man schon machen. Aber irgendwo muss ich dann noch meinen geistigen Saft dazugeben.“ (Controller A: 492 ff.)

Die Optimierung digitaler Datenorganisation wird für die Controller:innen zum neuen Legitimationsnachweis fortschrittlicher Verwaltungsarbeit.

5 Fazit und die Folgen der institutionalisierten Quantifizierung

Der Artikel ging von der Frage aus, wie Steuerungsfähigkeit mittels Kennzahlen in Kommunalverwaltungen produziert wird. Dabei wurde die Suche nach Steuerungsrationalität als Organisationsgeschehen betrachtet und analytisch in kognitive, soziale und technische Aspekte der Kennzahlentwicklung zerlegt. Auf Basis von Interviews mit Reflexionen über den Lernprozess bei der Verarbeitung der Zahlen konnte gezeigt werden, dass die Auseinandersetzung mit vorhandenen statistischen Daten einen Wissensprozess in Gang setzt, der von der Fähigkeit zur Zahlenkritik und der Kontextualisierung von Zahlen abhängig ist. Die vom Controlling erarbeiteten Steuerungskennzahlen sind von der kommunikativen Stabilisierung durch die Fachdienstleiter:innen abhängig. In diesem Sinne tragen die Fachdienstleiter:innen mit ihrem Kontextwissen zur Konstruktion funktionierender Kennzahlen bei. Die Controller:innen sind auf dieses Wissen angewiesen und sollten es auch nutzen, um Grenzen der Verwaltungssteuerung zu erkennen und den bürokratischen Aufwand der Zahlenproduktion für die Fachddienstleiter:innen zu reduzieren.

Auch zeigt sich aufgrund der hier vorgestellten Empirie, dass der „mimetische Isomorphismus“ von Unternehmenscontrollingstrategien die pragmatische Einbettung von Accountingpraktiken verhindert. Der starke Professionalisierungsdruck der Controller:innen erzeugt eine Normalisierung des legitimatorischen Gebrauchs von Zahlen. Versteckt wird damit zum Teil, dass vieles, was das Handeln der Verwaltung beeinflusst, nicht wirklich gesteuert werden kann. Zugleich gestehen die befragten Controller:innen ein, dass vor allem Umweltentwicklungen nicht nur auf Basis der kennzahlgestützten Prognosen ermittelt werden können, sondern auch einen qualitativen Aspekt des Gespürs enthält.