1 Einleitung

Die Gespräche zwischen Sokrates und seinen Schülern zeigen auf beeindruckende Weise das Potenzial von Paradoxien. Aus Paradoxien lässt sich viel lernen, sie zu entdecken oder aufzudecken, kann helfen, trügerischen Wahrheiten, Verallgemeinerungen, falschen Voraussetzungen u. Ä. auf die Schliche zu kommen. Irritierendes, Überraschendes, unsere Erwartungen Enttäuschendes ist nicht selten der Beginn von Lernen. Für Entwicklungs- und Lernprozesse offenbart sich der Reiz von Paradoxien darin, dass durch sie Problematisches und Widersprüchliches offen betrachtet, bewertet, angenommen oder verworfen werden kann. Bei Antinomien handelt es sich um widersprüchliche Positionen oder Pole, bei denen es für jede Seite (anscheinend) gute Argumente gibt, und zwischen denen sich Spannungsfelder eröffnen. Antinomien sind immer auch Paradoxa, nicht jedes Paradoxon jedoch ist eine Antinomie (Vollmer 1989). Grundsätzlich sind jegliche Prozesse in Organisationen von Antinomien und Paradoxien gekennzeichnet. Spannungsfelder können z. B. zwischen Visionen, die hohe Erwartungen wecken, und Umsetzungen, die sich in der Langsamkeit und Mühseligkeit der alltäglichen Routinen zu verlieren drohen, entstehen, oder zwischen dem Bestreben, alles neu, anders und besser machen zu wollen und der Notwendigkeit, das Gute am Bisherigen zu bewahren.

Damit in Bildungsinstitutionen nicht nur gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Differenzverhältnisse reproduziert, sondern auch Bildungsprozesse im Sinn der Fähigkeit, sich seiner/ihrer Freiheit zu bedienen (Kant), auf den Weg gebracht werden, sind externe Unterstützung und fachkundige Beratung hilfreich, vielleicht sogar unabdingbar. Diese kann dabei unterstützen, paradoxe Sinnbilder von Determinismus und Freiheit, von Ordnung und Chaos, von Realismus und Idealismus, von Planbarkeit und Unvorhergesehenem als Differenz und Gleichheit des gegensätzlich Erscheinenden in der Prozessberatung aufrechtzuerhalten und für die Entwicklung nutzbar zu machen (Warzecha 2005). Die Frage, ob Beratung Bildungsorganisationen verpflichtend verordnet werden soll, wird in Bildungspolitik und Bildungswissenschaft kontrovers diskutiert. Mit dem Spannungsfeld zwischen zentralen Vorgaben der Bildungspolitik und der Autonomie der Einzelschule ist bereits eine Antinomie angesprochen, die den Entwicklungs- und Beratungsprozess an den im Beitrag vorgestellten Schulen in besonderer Weise kennzeichnet.

2 Theoretische Grundlegung

2.1 Paradoxien in der Organisation Schulen

Schulen als „loosely coupled systems“ (Weick 1976) sind aufgrund der ihnen inhärenten, teilweise ambivalenten Lern‑, Erziehungs- und Bildungsprozesse nur begrenzt technologisierbar und in ihrer Entwicklung steuerbar. Rolff (2012) spricht von einer „Duplexstruktur schulpädagogischen Handelns“ und versteht darunter eine doppelbödige Handlungsorientierung, die aufgrund der vielfältigen, teilweise ambivalenten Ansprüche, Anforderungen und Strukturen sich ergänzende, aber auch sich widersprechende, konkurrierende oder blockierende Entwicklungsdynamiken im System Schule hervorruft. Als Beispiel hinsichtlich der (Aus‑)Wirkung von pädagogischen Bemühungen kann das Spannungsfeld zwischen der Ausbildung ökonomisch nützlicher Qualifikationen und einem humanistischen Bildungsideal genannt werden. Dieses lässt sich auch als Antinomie zwischen Bildung als Selbsttätigkeit des Subjekts und Erziehung als Form gesellschaftlich erwünschter Stimulation, allgemein zwischen Freiheit und Zwang des mündigen Menschen fassen (Binder et al. 2021).

Die Struktur- und Binnenlogik von staatlichen Schulen ist in einem bildungspolitischen und ökonomischen Kontext verortet, der diese inhärenten Dynamiken wesentlich beeinflusst und (mit-)bestimmt, was innerhalb einer Organisation (un-)möglich ist. So sehr Ansätze der Educational Governance (u. a. Altrichter et al. 2007) versuchen, das Spannungsfeld zwischen zentraler Steuerung und dezentraler Schule neu zu gestalten, so stark ist die geforderte Autonomie und eingeräumte Entwicklungsfreiheit der jeweiligen Bildungsorganisation gekoppelt an zentrale, gesetzlich verankerte Kontrollmechanismen und -instrumente (Erlacher 2022). Schulen und deren interne und externe Akteur/‑innen sind daher mehr denn je gefordert, mit verschiedenartigen Spannungsfeldern kritisch und selbstbewusst umzugehen, um entscheidungs-, handlungs- und entwicklungsfähig zu bleiben.

2.2 Entwicklungsprozesse anders verstehen

Schulentwicklung als Fähigkeit der Organisation, ihr Angebot systematisch weiterzuentwickeln und die Lerngelegenheiten der Schüler/‑innen zu verbessern (Rolff 2010), wird im bildungswissenschaftlichen Diskurs seit längerem aus unterschiedlichen Perspektiven erforscht. Aus einer organisationspädagogischen Perspektive werden in der Trias Personal‑, Unterrichts- und Organisationsentwicklung (Rolff 2010) Faktoren benannt, die die Veränderungskapazität der Schule beeinflussen. In diesem Sinne sollen Schulen „lernende Organisationen“ darstellen, die sich selbststeuernd und selbstorganisiert weiterentwickeln (Dedering 2012). Es gibt vielfältige Studien zu den teilweise normativen Zieldimensionen, was eine gute, gesunde, diversitätssensible und/oder inklusionsorientierte Schule kennzeichnet. Die Frage nach dem Wie, also wie Entwicklungsprozesse analysiert und begleitet werden können, ist (1) weniger untersucht und (2) großteils orientiert an linearen Planungs- und Phasenmodellen von (pädagogischer) Entwicklung, wie z. B. gängige Input-Prozess-Output-Konzepte der Qualitätssicherung und -entwicklung (Ditton und Müller 2011). Verbreitet sind Vorstellungen, die den Verlauf einer (pädagogischen) Entwicklung grob in einen Veränderungsbeginn, bei dem der Entwicklungsimpuls top-down oder bottom-up eingeführt wird, die Implementierung, in der das Neue mit Hilfe von Medien übernommen wird, und eine Institutionalisierung einteilen. Zusätzlich werden Faktoren definiert, die auf die Initialidee positiv fördernd oder negativ hemmend wirken und somit die Veränderungskapazität einer Organisation beeinflussen (u. a. Fullan 2007; Maag Merki 2017; Holtappels 2014).

2.3 Das Übersetzungsmodell als Gegenentwurf zu vertrauten Entwicklungsmodellen

Um ein anderes Verständnis von Schulentwicklung zu erlangen und die ambivalenten Muster und machtvollen Praktiken von Veränderungsprozessen genauer zu verstehen, wird im Folgenden das Übersetzungsmodell (Callon 2006a), basierend auf Grundannahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), vorgestellt. Die ANT hat ihre Wurzeln in den Science-and-Technology Studies der 1980er-Jahre. Als eine „radikal andere Sozialtheorie“ (Kneer 2009), die die moderne Trennung von Objekt/Subjekt, Mensch/Technik, Makro/Mikro, Natur/Gesellschaft usw. zurückweist und als „Soziologie der Assoziationen“ (Latour 2007) in einer flachen Ontologie den Spuren der heterogenen Entitäten folgt, um die Verbindungen und Übersetzungen von Handlungsprogrammen zur Herstellung, Transformation und Auflösung von (sozialer) Ordnung und (organisationaler) Stabilität zu beschreiben, finden sich Vertreter/‑innen in den Bereichen der Kulturwissenschaft, der Organisationstheorie, der Medienwissenschaften als auch der Pädagogik. In Abgrenzung zum Systembegriff verdeutlicht der Begriff Akteur-Netzwerk die vielfältigen menschlichen und materiellen Akteur/‑innen, die in unterschiedlichen Verbindungen und Übersetzungen zur relativen Stabilität von Netzwerken beitragen. Apriori-Zuschreibungen einer machtvollen Makro-Ebene oder eines organisationalen Kontextes lehnt die ANT ab, indem sie betont, dass die Unterschiede zwischen Makro- und Mikro-Akteur/‑innen erst durch die Konstruktion von Netzwerken hergestellt werden, „die sich der Analyse entziehen, wenn wir a priori annehmen, dass Makro-Akteure größer oder überlegener sind als Mikro-Akteure“ (Callon und Latour 2006, S. 77).

Die ANT kritisiert dementsprechend lineare Prozessvorstellungen, in denen sich das Neue als Black Box, unverändert in seiner Identität und Form, durch unterstützende oder hemmende Faktoren begleitet, über Raum und Zeit ausbreitet oder scheitert. „Die Einheit einer Innovation wird nicht durch etwas gewahrt, das im Verlauf der Zeit gleichbleibt, sondern durch (die) sich bewegende(n) Übersetzungen“ (Latour 2006, S. 383). Akrich et al. (2002) plädieren für eine Theorie des Innovierens, die näher bei den beteiligten Akteur/‑innen und deren Entscheidungen ist, denn Innovationen sowie jegliche Art von organisationalen Entwicklungsprozessen sind emergent, sie sind Ergebnis von Aushandlungs- und Übersetzungsprozessen über die zukünftige Rolle und Identität der beteiligten Entitäten. In Tab. 1 werden vereinfacht die Unterschiede zwischen den beiden Verständnissen von Entwicklung dargestellt.

Tab. 1 Gegenüberstellung Diffusions- und Übersetzungsmodell von (pädagogischen) Entwicklungen (Dimai 2012, S. 133)

2.4 Zentrale Momente des Übersetzungsmodells

Um das Wie bzw. den Prozess einer Schulentwicklung ‚ANThologisch‘Footnote 1 zu erfassen, sind vier Elemente zentral, die einerseits zu einem neuen, sich stabilisierenden Netzwerk beitragen und andererseits in jedem Moment einer Flüchtigkeit und Sprunghaftigkeit ausgesetzt sind. Die vier Momente des Übersetzungsmodells (Callon 2006a) – Problematisierung, Interessement, Enrolment und Mobilisierung – können nur analytisch rekonstruktiv getrennt werden und bilden permanente Übersetzungen im Entwicklungsprozess ab, die die Identität und das Handlungspotential der beteiligten Akteur/‑innen aushandeln und begrenzen.

Im Moment der Problematisierung geht es darum, dass eine Initiator/‑innengruppe aus (forschendem, praxisorientiertem) Eigeninteresse oder durch Druck von außen (Bildungspolitik, Konkurrenz) ein Entwicklungsanliegen in den Vordergrund rückt. Das bedeutet gleichzeitig, dass relevante Akteur/‑innen identifiziert und deren Identität und Handlungsprogramm im Sinne der angestrebten Veränderung vordefiniert werden. Die Problematisierung beschreibt einerseits ein „System von Allianzen zwischen Entitäten, die dadurch die Identität und das, was sie wollen, definieren“ (Callon 2006a, S. 150) und andererseits die Einführung eines obligatorischen Passagepunkts (OPP), der das Entwicklungsanliegen als zentralen strategischen Übergang, den die Beteiligten passieren müssen, um eine Zukunft zu haben, definiert. „Übersetzung bedeutet dann, eine Entität dazu zu verpflichten, in einen Umweg einzuwilligen.“ (Callon 2006b, S. 184) Im zweiten Schritt des Interessement geht es darum, die zugeschriebenen Identitäten, Rollen und Aufgaben der assoziierten Akteur/‑innen zu fixieren und sie von anderen Entwürfen oder Neigungen abzugrenzen. Der OPP und die Initiator/‑innengruppe wird zum ‚center of translation‘ (Law 2001), welches den zirkulierenden Fluss von Widerständen, Gegenprogrammen und Paradoxien dirigiert und somit Grenzen zieht zwischen den Verbündeten und anderen, die die Identitäten auf andere Weise definieren wollen. Der Prozess des Enrolments läuft häufig parallel zum Interessement und beschreibt den „Vorgang, in dem ein Set von zueinander in Beziehung stehenden Rollen definiert und den Akteuren zugeteilt wird, die sie akzeptieren“ (Callon 2006a, S. 156) und somit die Festigung und den Erfolg einer Veränderung ermöglichen. Welche Strategien von der Initiator/‑innengruppe zur Einbindung weiterer Akteur/‑innen und deren Rollenübernahme gewählt werden, ist praktisch unbegrenzt: Kosten-Nutzen-Überlegungen, Transaktion, Verführung, rationale Überzeugungen, eine einfache Bitte, Zugeständnisse, machtvolle Anweisungen (Gewalt) oder in seltenen Fällen eine perfekte Passung. Der Prozess des Enrolments fordert unterschiedliche multilaterale Verhandlungen und bleibt somit auch einem Anpassen der Interessen und Ziele gegenüber offen (Callon 2006c). In der Phase der Mobilisierung stellt sich die Frage, ob die konkreten Akteursvertreter/‑innen, mit denen die Verhandlungen geführt wurden, tatsächlich repräsentative Sprecher/‑innen für die Akteursgruppe sind. Die Unsicherheit und der Dissens begleiten den Übersetzungsprozess zu jedem Zeitpunkt: Gilt das Enrolment einer Steuergruppe auch für alle Lehrenden der Schule? Welche Rolle spielen nicht eindeutig repräsentierte Gruppen wie Eltern, Lernende usw.?

Am Beginn des Prozesses werden verhandlungsfähige Hypothesen hinsichtlich der Identität und der Ziele der beteiligten Akteur/‑innen festgelegt, um ein Netzwerk von Beziehungen zu knüpfen. In der Problematisierung und im Zuge des Interessments treten Paradoxien sichtbar zu Tage, der Konsens und die damit zusammenhängenden Allianzen des Enrolements sind jederzeit anfechtbar, „die Übersetzung wird zum Verrat“ (Callon 2006a, S. 164).

3 Die Untersuchung

3.1 Das Projekt Grundkompetenzen absichern

Die bildungspolitische Maßnahme Grundkompetenzen absichern (Gruko) wurde seitens des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) 2017–2022 implementiert und adressierte rund 500 Schulen in Österreich, an denen bei mehreren Bildungsstandarderhebungen mindestens 20 % der Schüler/‑innen die Grundkompetenzen (Deutsch, Mathematik, Englisch) nicht erreicht hatten. Als zentrale Maßnahme wurden den Schulen multiprofessionelle Teams (MPT), bestehend aus Schulentwicklungsberatung, Fachdidaktiker/‑innen und Vertretung der Schulpsychologie zur Seite gestellt, die die Schulen in einem mehrjährigen Prozess unterstützen sollten (Jesacher-Rößler et al. 2024). Die Teilnahme am Entwicklungsprojekt war für die Schulen verpflichtend. Ziel der Maßnahme war die Erhöhung der Anzahl der Lernenden, welche die Grundkompetenzen erreichen (Hofmann et al. 2022). Altrichter et al. (2021) skizzieren in ihrem Beitrag die Programmlogik des Gruko-Projekts: Neben der obligatorischen Teilnahme der Schulen und der Begleitung durch MPT ist das Projekt u. a. durch eine erweiterte Ursachenanalyse (mit Hilfe der externen Begleitung) gekennzeichnet, die von Bildungsstandarderhebungsergebnissen der Schulstandorte ausgeht. Dadurch wurde auf eine klare Themenführung durch die Beratung abgezielt. Dass die Zusammenstellung der MPT durch die österreichischen Pädagogischen Hochschulen erfolgte und die Schulen Berater/‑innen nicht auswählen konnten, ist ein weiteres Merkmal des Entwicklungsprogramms.

3.2 Forschungsdesign und Fallbeispiele

Die Fallstudien dieses Beitrags stützen sich auf qualitative Ergebnisse einer Evaluationsforschung in einem Bundesland in Österreich. In diesem Bundesland startete das Gruko-Entwicklungsprojekt 2018 mit einer ersten Kohorte von acht Schulen, im Jahr darauf folgten weitere 18 Schulen. Insgesamt nahmen 20 Grundschulen (GS) und sechs Mittelschulen (MS) teil. Sowohl die Beratungsprozesse als auch die Erhebungsphasen waren durch die Covid-19-Pandemie (z. B. Verbot von Schulbesuchen) beeinträchtigt.

Die Auswahl der beiden Schulen basiert auf drei Aspekten: der Repräsentation der zentralen Schularten, dem Gelingen bzw. Scheitern des Beratungsprozesses und der Involviertheit zweier Autorinnen als Beraterinnen. Datenquellen für die beiden Fallstudien (Idel 2022) sind leitfadengestützte Interviews mit den jeweiligen Schulleitungen (SL) als auch Lehrpersonen (LP). Zusätzlich erfolgt eine Dokumentenanalyse der Berichte und Schulsteckbriefe der Berater/innen, von Protokollen als auch relevanten Dokumenten des BMBWF und des jeweiligen Schulstandorts. Als (auto‑)ethnographisches Moment bereichern Feldnotizen der beiden Entwicklungsberaterinnen alias Autorinnen bzw. Protokolle der MPT die Daten (Tab. 2).

Tab. 2 Übersicht der Datenquellen

Die Datenauswertung erfolgt abduktiv und wird in Form eines ANT-Berichts pro Schule präsentiert. Die schriftliche Re- und Dekonstruktion ist zu verstehen als „eine kostbare kleine Institution, um das Soziale für alle seine Beteiligten zu repräsentieren, das heißt, um es ihnen von neuem zu präsentieren, ihm eine Performanz, eine Form zu geben“ (Latour 2007, S. 241 f.). Im Folgenden werden die beiden Fallschulen entlang der Momente der Übersetzung mit Blick auf die emergenten Paradoxien vorgestellt.

3.2.1 MS Nusel

Die MS Nusel befindet sich in der Mitte eines Tals in einer ländlichen Region. Sie ist in Hanglage zentral im Dorf in einem modernisierten Gebäude untergebracht, umgeben von Gemeindezentrum, Kindergarten, Hort und Musikverein. Vom Einzugsgebiet her gibt es im Tal vier weitere MS und ein weiter entferntes Gymnasium, welches um potenzielle Schüler/‑innen wirbt. Es gibt pro Schulstufe maximal zwei Klassen, das Kollegium umfasst knapp zwanzig Lehrkräfte. Die Schulleiterin ist seit acht Jahren in der Leitungsposition, sie war zuvor als Deutschlehr- und Ansprechperson für Sonderpädagogischen Förderbedarf an der Schule tätig. Die Testergebnisse waren in allen drei Grundkompetenzen (Deutsch. Mathematik und Englisch) unter dem Erwartungsbereich.

Top-down-Reformansätze rauben Entwicklungsenergie

Der Widerstand gegen das Entwicklungsprojekt fußt auf zwei Ursachen: einerseits den negativen Erfahrungen mit verordneten Entwicklungsprozessen und anderseits der Kritik an den externen, outputorientierten Qualitätskontrollen. Die Schule Nusel ist zusätzlich Pilotschule für Kompetenzraster, ein Bildungsreformvorhaben, das eingeführt und nach kurzer Zeit wieder ausgesetzt wurde (IP_N, Pos. 5). Hierzu äußert sich die Lehrkraft kritisch: „Und genau solche Dinge, die man dann – gelinde gesagt – auf’s Auge gedrückt bekommt, verschwinden in der Versenkung. Und weder man bekommt eine Information, ‚Ja, es tut uns leid, wir haben das revidieren müssen‘, noch sonst irgendetwas. Das verschwindet einfach. Und da werden die Leute, meines Erachtens, einfach mürbe.“ (LP_N, Pos. 334) Die auf Basis der Testergebnisse erzwungene Entwicklungsbegleitung kann in Verbindung mit Erfahrungen anderer Top-down-Reformansätze stehen: „[…] uns hat die Schulleiterin informiert darüber, aber wie das [Auswahl der Schule, Anm. Autorinnen] genau zustande gekommen ist, nicht. […] jeder [hat] gefragt: Warum wir?“ (LP_N, Pos. 50). In einer ersten Sitzung mit der Schulleitung und den Fachkoordinator/‑innen für Deutsch, Englisch und Mathe (Steuergruppe) zur Klärung des konkreten Auftrags für die Entwicklungsbegleitung wurde das MPT mit Ablehnung des OPP (Verbesserung der Schüler/‑innenleistungen) konfrontiert. Das Selbstbild wird wie folgt beschrieben: „Die Leistung an unserer Schule ist nicht sooo schlecht und prinzipiell hoch“ (IP_N, Pos. 5). Es wurde klar, dass nur durch Zwang von außen dem Entwicklungsprozess zugestimmt worden war. Die anschließende SWOT-Analyse erzeugte eine differenzierte Wahrnehmung der Schule, zwei Steuergruppenmitglieder erkannten Entwicklungspotential in ihren Fächern, die Schulleitung enthielt sich einer Positionierung.

Im Rahmen einer Konferenz, in der die Schulentwicklungsberaterin das Projekt und die Zielsetzung dem Kollegium vorstellte, entfachte sich eine Diskussion, in der das Spannungsfeld zwischen internen Qualitätsansprüchen und externen Qualitätsstandards und -kontrollen deutlich wurde: „Wir trainieren das nächste Mal die Schüler/‑innen auf die Testungen hin“ (IP_N, Pos. 11). Dennoch wurde am Ende der Konferenz dem Angebot einer Ist-Stand-Erhebung zum kompetenzorientierten Unterrichten durch das externe Beratungsteam zugestimmt.

Für die MS lassen sich folgende Akteur/‑innen am Beginn der Problematisierung benennen: eine Schulleiterin, die eine passive Führungshaltung und distanziert-kritische Einstellung zum Projekt hat, eine heterogene Steuergruppe, die zwischen dem Ermöglichenden des Entwicklungsprojekts und dem Festhalten am Vertrauten schwankt, ein Schulentwicklungsplan (SEP) und ein Kollegium.

Keine Übersetzung des bestehenden Schulentwicklungsplans

Aus den vorliegenden SEP, in denen zentrale Elemente eines kompetenzorientierten Unterrichts als Ziel und in Maßnahmen festgelegt sind, wird erkennbar, dass der Akteur SEP nicht einmal als „Zwischenglied“ (Latour 2007) genutzt wird, sondern als nicht beachtetes Objekt existiert. Im SEP 2016–2019 werden idealisierend Ziele gelistet, wie z. B. die Entwicklung von authentischen Leistungsaufgaben sowie kriterialen Beurteilungsrastern durch die Lehrpersonen am Schulstandort. Ergänzend finden sich im SEP auch Indikatoren, die eine erfolgreiche Umsetzung dieser Ziele benennen. Der SEP an der MS Nusel wurde hauptverantwortlich von einer Lehrperson geschrieben, die als Qualitätsbeauftragte/-r, Fachkoordinator/‑in, Lerndesigner/‑inFootnote 2 und Steuergruppenmitglied an der Schule unterschiedliche Rollen innehat. Gespräche sowohl mit der Schulleiterin und der Steuergruppe ergaben, dass der Akteur SEP nicht wirksam wird, die Durchsetzung und Vernetzung der geplanten SEP-Ziele weder der Lehrperson in ihren multifunktionalen Rollen noch der Schulleiterin gelang. Die Antinomie zwischen hehren Entwicklungszielen, die im Alleingang festgesetzt wurden und fehlender Akzeptanz aufseiten der Mitarbeiter/‑innen wird hier deutlich.

Bruchlinien im Kollegium und passive Schulleitung

Die passive, abwartende Führungshaltung der Schulleitung wurde im Zuge der telefonischen Anfrage einer Person aus der Steuergruppe deutlich. Sie klagte über die Schulleitung, welche wenig bis gar nicht auf die Beziehungsebene zwischen den Mitarbeiter/‑innen achte (IP_N, Pos. 2). Heikle Situationen im Kollegium wurden im Zuge einer durch das MPT organisierten Fortbildung sichtbar. Der Fachdidaktiker berichtete, dass die anwesenden Lehrpersonen über pädagogische Herausforderungen im Teamteaching und negative Erfahrungen in der Zusammenarbeit speziell mit einer „Problemperson“, deren Unterrichtsweise nicht mit den anderen kompatibel sei, klagten. Es zeigt sich hier das Spannungsfeld zwischen „Ich und meine Klasse“ und der kollegialen Zusammenarbeit im Sinne von „Wir und unsere Schule“ (IP_N, Pos. 25–26), ein Spannungsfeld, das sich durch das passive Verhalten der Schulleitung verschärft.

Aufgrund der Corona-Pandemie beschränkte sich die Prozessbegleitung großteils auf schriftliche und Online-Kommunikation. In einem E‑Mail-Austausch mit der Schulleiterin erwähnte diese nebenbei, dass sie im kommenden Herbst ihre Pension antrete (IP_N, Pos. 2). Angebote für die Begleitung des Übergabemanagements wurden abgelehnt.

Schulleitungswechsel im Spannungsfeld von Verwalten, Schützen und Gestalten

Mit dem zweiten Projektjahr startete eine neue Schulleitung, die an der Schule immer noch „einen riesen Widerstand gegen diese Gruko-Geschichte“ (SL_N, Pos. 17) wahrnahm. In einem ersten Telefongespräch betonte der neue Schulleiter, dass er leider mehr beim Verwalten als beim Gestalten sei, aber auch beobachte, dass die Benotung bei einigen Lehrpersonen noch sehr „altertümlich“ ist. Strategisch sei ihm ein stärkenorientierter Einsatz des Lehrkörpers wichtig, um mehr Wahlfächer – auch im Sinne der Attraktivität des Standortes – anbieten zu können. Er habe in Bezug auf das Projekt ein neues „Kernteam gegründet, mit der Zielsetzung, das Projekt Gruko mit seiner Vision zu verbinden“ (IP_N, Pos. 2). Die Schulentwicklungsberaterin überlegte mit dem neuen Schulleiter, welche Möglichkeiten zur Einbindung des Kollegiums passend wären und entschieden sich für ein kollaboratives Online-Tool zur Bedarfserfassung von potenziellen fachdidaktischen Entwicklungsimpulsen. Diese Partizipationsmöglichkeit wurde kaum genützt und der Schulleiter resümiert im Nachhinein: „(…) ich glaube, dass sie [die Entwicklungsbegleitung] wirklich sehr engagiert war und vieles vorgehabt hätte […]. Aber die ganze Zusatzbelastung durch die Pandemie, da war einfach, es wollte niemand mehr ‚Gruko‘ hören. Es wollte einfach jeder, jeder hat, ‚Nein, bitte nicht‘ hat man immer gesagt.“ (SL_N, Pos. 25) Der Gruko-Begleitprozess an diesem Schulstandort wurde daraufhin abgebrochen.

3.2.2 GS Wirna

Die GS Wirna ist eine Kleinstschule in einer ländlichen und touristisch geprägten Region. Die Schule liegt zentral im Dorf, in der Nähe eines Veranstaltungszentrums, des Gemeindeamts und des Kindergartens. Pro Schulstufe gibt es eine Klasse, das Kollegium umfasst inklusive Schulleiterin sechs Pädagoginnen. Die Schulleiterin ist aufgrund der Größe der Schule nicht freigestellt, hat keine administrative Unterstützung und unterrichtet selbst eine Klasse. Die Überlastung der Schulleitung aufgrund von Ressourcen- und Personalmangel ist virulent. Lesen und Ökologie sind schulische Schwerpunkte, im Bereich Lesen ist die Schule mit einem Gütesiegel ausgezeichnet. Trotzdem erreichten laut Bildungsstandardergebnis aus 2015 mindestens 20 % der Schüler/‑innen in Deutsch die Grundkompetenzen nicht.

Spannungsfeld extern vs. intern wahrgenommene Problemlage

Das Erstgespräch des MPT mit der SL und die Rückmeldemoderation zu den Bildungsstandardtestergebnissen fanden im Herbst 2018 statt. Die SL beklagte im Erstgespräch, dass die Arbeitszufriedenheit der LP eher gering sei, es werde „ständig viel gejammert“, die Atmosphäre im Team sei nicht wirklich gut (IP_W).

In der Auftragsklärung wurden mit der Schulleiterin und im Konsens mit dem Kollegium zwei unterschiedliche Ziele vereinbart: die Verbesserung der Lesekompetenzen der Schüler/‑innen und die Stärkung des Wohlbefindens der LP (IP_W). Unklar blieb zu diesem Zeitpunkt noch, was genau dieses Wohlbefinden stört bzw. was zur Verbesserung beiträgt, da diese Fragestellungen von den beteiligten Akteur/‑innen unterschiedlich beantwortet wurden (IP_W).

Den Vorgaben der Projektziele folgend wurde eine Fortbildung im Bereich Lesen durchgeführt. In der Folge kam es jedoch zu keiner weiteren Bearbeitung dieses Projektziels (IP_W).

Vertiefung des internen Ziels

Im Laufe des Beratungsprozesses kristallisierte sich die Raumsituation an der Schule als zentrales Problem heraus. Eine Lehrperson nannte Platzprobleme, mangelnde Ausstattung und bauliche Mängel als sehr belastend (LP_W, Pos. 5). Die Schulleiterin räumte zwar ein, dass die räumliche Situation für einen „modernen Unterricht“ unzureichend sei, betonte jedoch gleichzeitig, dass dies „auch seinen eigenen Charme“ (SL_W, Pos. 3) habe. Die Unterschiede in der Situations- und Problemanalyse zwischen Schulleitung („es wird nur gejammert“ – IP_W) und den übrigen Lehrerinnen traten im weiteren Verlauf des Projekts noch deutlicher hervor.

Trotz anfänglicher Skepsis der Schulleitung wurde bei einer Pädagogischen Konferenz im zweiten Jahr schließlich einstimmig entschieden, sich der Raumsituation an der Schule zu widmen (Fotoprotokoll Konferenz). In der Konferenz wurde eine Mängelliste erstellt, es wurden Maßnahmen zur Verbesserung der räumlichen Ausstattung gesammelt und eine Time Line mit Zuständigkeiten skizziert (ebd.). Im internen Protokoll hält das MPT fest:

Die Stimmung im Team und die Resonanz der Lehrerinnen war nach diesem halben Nachmittag aufgeräumt, es war Aufbruchsstimmung zu spüren. Umso enttäuschender war die Nachbesprechung mit der SL einige Tage nach der Päd. Konferenz. Sie äußerte sich hinsichtlich der Resonanz recht abfällig. Ihrer Meinung nach hatte der Nachmittag nahezu keinerlei positive Wirkung, das Hauptproblem sei eine Kollegin und das sei halt leider nicht zu lösen, weil diese sich gegenüber Beratung ablehnend und resistent verhalte. „Eine Kollegin hat Schwierigkeiten und macht Schwierigkeiten (…). Sie ist das eigentliche Problem und das lässt sich nicht lösen.“ Auf den Einwand des MPT hin, dass eine Aufbruchsstimmung wahrgenommen worden sei, meinte die SL: „Meine Lehrerinnen sind wie kleine Kinder: Sie freuen sich und sind begeistert und am nächsten Tag haben sie alles wieder vergessen und es ist alles wie immer.“ Das an sie verschickte Fotoprotokoll wollte die SL nicht an die Kolleginnen weitergeben. (IP_W)

Die Weiterarbeit im Sommersemester 2020 wurde durch Lockdown und Corona-Maßnahmen erschwert. Durch Telefonate und E‑Mails gelang es zwar, mit der Schulleitung im Kontakt zu bleiben, ein weiterführender Kontakt mit dem Kollegium konnte jedoch nicht realisiert werden.

Die Online-Abschlussbesprechung mit dem Kollegium, bei der reflektiert wurde, was umgesetzt werden konnte und was noch offen war, fand erst im Dezember 2020 statt. Die von LP und SL dargestellten Ergebnisse und das Resümee zur Prozessbegleitung waren angesichts der Vorgeschichte überraschend: Eine Sicherheitsbegehung war durchgeführt, die Schule ausgemalt worden, das vereinbarte Gespräch mit dem Bürgermeister, in dem die verbesserte technische Ausstattung zugesagt worden war, hatte stattgefunden, eine digitale Offensive war eingeleitet, die Bibliothek bereits ausgebaut, neue Unterrichtsmaterialien und Bücher waren angeschafft worden.

4 Fazit Transfer

4.1 Diskussion der Ergebnisse

Schulen sind als (bürokratisch-hierarchische) Organisationen sowie in ihrem pädagogischen Handeln Grundwidersprüchlichkeiten und unterschiedlichen Paradoxien ausgesetzt, die in Entwicklungsprozessen verstärkt zu Tage treten. In Bezug auf das Projekt Gruko wird in verschiedenen Facetten das Spannungsfeld zwischen Zwang und Freiheit erkennbar. Das top-down initiierte und durch die nachgeordneten Bildungsinstanzen – in Form der von den Pädagogischen Hochschulen beauftragten MPT – ausgeführte Entwicklungsvorhaben basiert auf einem output-orientierten, durch standardisierte Testungen evaluierbaren Qualitätsverständnis guter Schulen. Die Projektvorgaben lassen den betroffenen Akteur/‑innen vermeintlich wenig Spielraum, um z. B. eine gemeinsame Definition der Ausgangslage zu finden oder gar die Projektteilnahme abzulehnen. Gleichzeitig zeigt gerade das Fallbeispiel 2, dass der verpflichtende Charakter der Entwicklungsberatung eine Strategie des Bildungsmonitorings sein kann, um – trotz anfänglicher Widerstände und gegenläufiger Interessen – einen Übersetzungsprozess auf den Weg zu bringen und Veränderungen zu initiieren, wenngleich die thematische Ausrichtung des Entwicklungsprozesses nur teilweise den vorgegebenen Zielen des Programms entsprach. Fallbeispiel 1 wiederum zeigt eindrücklich, wie ein verordneter Entwicklungsprozess mit einer Zielvorgabe, mit der sich die Schulleitung und große Teile des Kollegiums nicht identifizieren konnten, letztlich scheitert.

In der Analyse der beiden Fallbeispiele entlang des Übersetzungsmodells werden Unterschiede erkennbar. Im Fallbeispiel 1 (MS Nusel) erfolgte das Annehmen der Problematisierung (Übernahme der externen Vorgaben) durch die Schulleitung und durch Teile der Steuergruppe nur pro forma. Das Kollegium zeigte an mehreren Stellen Widerstand: inhaltlich mit dem Verweis auf die einseitige Fokussierung auf Ergebnisse der standardisierten Testungen, als auch in Form einer Ablehnung permanenter top-down-Reformbestrebungen. Im Fallbeispiel 2 (GS Wirna) wurde die externe Problematisierung nur zum Teil übernommen (mangelnde Lesekompetenzen der Schüler/‑innen) und um eine interne Problematisierung erweitert (Wellbeing der LP). Während die externe Problematisierung im Verlauf des Begleitprozesses nicht weiterverfolgt wurde, wurde an der internen weitergearbeitet. Es wurde zudem deutlich, dass der Aspekt „mangelhafte räumliche Ausstattung der Schule“ mehr vom Kollegium und weniger durch die Schulleiterin zum Ausdruck gebracht wurde.

Daraus ergibt sich auch eine Differenz im Interessement der beiden Schulstandorte. Während die Identifikation und Rollenübernahme in Fallschule 1 durch die beteiligten Akteursgruppen großteils scheiterten – dies wird z. B. sichtbar in der Wirkungslosigkeit des Schulentwicklungsplans – ergaben sich in Fallschule 2 eine Reihe an Aktivitäten, die den OPP ausdifferenzierten, z. B. die Erarbeitung einer Mängelliste und Vorschläge für Maßnahmen, die eine Verbesserung der räumlichen Ausstattung mit sich bringen würden.

Spätestens in der Analyse des Enrolements wird sichtbar, dass es an Fallschule 1 nicht gelungen ist, die Schulleitung und größere Teile des Kollegiums als Akteur/‑innengruppen an Bord zu holen. Das mehrfach genannte Konfliktthema Zusammenarbeit könnte auf eine Externalisierung (Teamkonflikte als Grund für schlechte Leistungen) oder eine alternative Problematisierung (Dringlichkeit einer Teamentwicklung) hinweisen. Aufgrund der Ablehnung der Schulleitung war eine Bearbeitung nicht möglich. In Fallschule 2 hingegen zeigt die Abschlusserhebung, dass Strategien entwickelt wurden, um die Problemlage weiter zu bearbeiten (Termin mit Bürgermeister etc.). Die Phase der Mobilisierung konnte in Fallschule 1 nicht erreicht werden. In Fallschule 2 hingegen hatte die Akteursgruppe, die für die interne Problemlage als Machtsponsor auftrat, offenbar eine solche Mobilisierungskraft, dass sich das Thema auch über hierarchische Strukturen (Schulleitung) hinweg hielt und dessen Bearbeitung im Entwicklungsprozess erfolgreich fortgesetzt wurde.

4.2 Implikationen und Grenzen der Untersuchung

Die beiden Fallbeispiele und ihre Analyse bieten Anlass, über Spannungsfelder im Kontext von Beratung nachzudenken. Das Übersetzungsmodell liefert ein hilfreiches analytisches Reflexions- und Gestaltungsinstrument, um im Entwicklungsprozess (1) systemimmanente und standortspezifische Spannungsfelder und Paradoxien aufgrund der beteiligten, vielfältigen, heterogenen Akteursgruppen wahrzunehmen und (2) diese emergent im Entwicklungsprozess zu übersetzen. Schuldzuweisungen, Externalisierungsstrategien wie auch Widerstände werden entkräftet, indem durch die Momente der Problematisierung, des Interessments und Enrolements der Fokus auf einen offenen, reflexiven, dialogischen Umgang mit Antinomien gelegt wird. Für Führungskräfte wie auch für externe Berater/‑innen bedeutet dies, im Spannungsfeld von plan- und kontrollierbaren Ablaufplänen und Entwicklungsphasen und einer emergenten, sozio-materiellen Prozesssensibilität zu oszillieren, sowie permanent Dialog- und Zeitfenster zu eröffnen, um den unterschiedlichen Paradoxien auf die Schliche zu kommen und handlungswirksam für die jeweilige Schule zu übersetzen. Welche Interventionen und Coachingstrategien Berater/‑innen anwenden, wenn die Schulleitung als zentrale/‑r Akteur/‑in sich einer Problematisierung nicht anschließt, ist ausschlaggebend für den weiteren Entwicklungsverlauf.

Aus der vorangegangenen Analyse lassen sich daher Leitfragen für die Planung und vor allem für die Begleitung von Entwicklungsprozessen ableiten (Tab. 3).

Tab. 3 Leitfragen für die Planung und Begleitung von Entwicklungsprozessen

Der Beitrag konnte aufzeigen, dass das Übersetzungsmodell nach Callon (2006a) als analytisches Instrument und Reflexionsrahmen für Berater/‑innen aber auch für Akteur/‑innen, die sich in einem Entwicklungsprozess befinden, dienen kann.

Offen bleibt, inwieweit eine systematische Herangehensweise nach diesem Modell auch dazu beitragen kann, extern vorgegebene Ziele (mit Hilfe von Berater/‑innen) und inhärente Spannungsfelder und Paradoxien so zu übersetzen, dass ein Commitment zustande kommt und auf welche Weise dies erfolgen könnte. Auch der Umstand, dass sich jederzeit Allianzen ändern und somit auch die entstandenen Netzwerke aufgelöst werden können, stellen im Kontext von (Schul‑)Entwicklungsprozessen Herausforderungen dar.