1 Einleitung

Das Interesse an Paradoxien, d. h. voneinander abhängigen Widersprüchen, die nicht aufgelöst werden können, ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Das trifft sowohl auf die Organisationsforschung (Lewis und Smith 2022) als auch auf die Praxis zu (Smith et al. 2023).

Dies mag zum einen daran liegen, dass die Erfahrung von Paradoxien in turbulenten und unsicheren Umwelten zunimmt. Zum anderen wächst die Einsicht, dass Inkonsistenzen, Widersprüche und Paradoxien keine Ausnahmen, sondern integrale Bestandteile unserer sozialen Wirklichkeit sind. Denn soziale Wirklichkeit ist prinzipiell mehrdeutig, was bedeutet, dass alle Versuche, sie konsistent zu erfassen, zwangsläufig unvollständig bleiben (Poole und Van de Ven 1989, S. 562).

In Organisationen gibt es Widersprüche, die irgendwann wahrgenommen werden. Widersprüche werden von den handelnden Akteur:innen vor allem affektiv durch die Wahrnehmung von Spannungen erlebt (Lewis 2000, S. 761). Die Auslöser für diese Spannungen können vielfältig sein, wie z. B. Frustration, Unsicherheit und das Gefühl der Handlungsunfähigkeit angesichts von Widersprüchen (Putnam et al. 2016, S. 71). Diese Spannungen manifestieren sich dann in affektiven Zuständen wie beispielsweise Stress, Besorgnis und Unbehagen.

Auffallend ist, dass heute von Paradoxien gesprochen wird, wo früher nur Widersprüche gesehen wurden. Managern wird geraten, sich nicht für das eine oder das andere zu entscheiden, sondern nach Lösungen zu suchen, die beides ermöglichen (Lüscher und Lewis 2008; Smith et al. 2016, 2023; Deloitte 2020).

In diesem Beitrag argumentiere ich, dass nicht jeder Widerspruch automatisch eine Paradoxie ist und dass deshalb „Sowohl-als-auch“-Lösungen nicht immer eine angemessene Antwort auf Widersprüche sind. Ich möchte erläutern, wie man in der Praxis einen Widerspruch von einer Paradoxie unterscheiden kann und welche Empfehlungen sich daraus für den Umgang damit ergeben.

Zunächst werden die Begriffe Widerspruch und Paradoxie theoretisch erläutert und diskutiert, inwieweit diese Phänomene in Organisationen angelegt oder sozial konstruiert sind. Anschließend werden mögliche Reaktionen auf Widersprüche in der Praxis diskutiert und ein systematisches Vorgehen zur Unterscheidung von Widersprüchen und Paradoxien entwickelt. Dies wird anhand von Beispielen illustriert. Neben einem differenzierteren Verständnis des Paradoxiebegriffs soll damit ManagerInnen und BeraterInnen ein praktisches Werkzeug an die Hand gegeben werden, um auf Widersprüche angemessen reagieren zu können.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Von Widersprüchen zu Paradoxien

Unter einem Widerspruch werden Gegensätze, die voneinander abhängig sind, sich aber gegenseitig ausschließen, verstanden (Fairhurst und Putnam 2019, S. 9). Widersprüchliche Elemente bzw. Pole bilden die Grundlagen für Paradoxien und sind dadurch gekennzeichnet, dass die beiden Pole zusammen als widersprüchlich und konflikthaft wahrgenommen werden und Akteur:innen zumeist darauf abzielen, diesen Widerspruch zu lösen.

Beispiele für Widersprüche sind die Entscheidung zwischen der Annahme eines Stellenangebots oder der Beibehaltung des derzeitigen Arbeitsplatzes oder eine strategische „Make-or-buy“-Entscheidung. In solchen Situationen müssen Akteur:innen die Vor- und Nachteile der Optionen abwägen. Anstatt sich nur für einen Pol zu entscheiden, kann auch ein Kompromiss zwischen den beiden Polen gesucht werden – ein „Trade-off“ (Da Silveira und Slack 2001). Dabei wird eine Balance gesucht, bei dem ein Mehr des einen Pols automatisch ein Weniger des anderen Pols impliziert (Gaim et al. 2018, S. 5).

Eine Paradoxie besteht aus einem anhaltenden Widerspruch zwischen voneinander abhängigen Polen (Schad et al. 2016, S. 6). Das bedeutet, dass eine Paradoxie immer einen Widerspruch beinhaltet, aber über einen „einfachen“ Widerspruch hinausgeht. Entscheidend bei Paradoxien ist das Verhältnis der Pole zueinander. Diese Pole sind „contradictory yet interrelated“ (Smith und Lewis 2011, S. 382), was bedeutet, dass sie zwar gegensätzlich aber gleichzeitig auch voneinander abhängig sind und im Laufe der Zeit bestehen bleiben. Wichtig ist, die Pole schließen sich gerade nicht gegenseitig aus, sondern ermöglichen und definieren sich gegenseitig. Eine Paradoxie besteht damit aus drei Kernbestandteilen: Widerspruch, Interdependenz und Persistenz (Gaim, Clegg, Cunha, et al. 2022, S. 8). Ein klassisches Beispiel ist der Zusammenhang von Wandel und Stabilität, da es keinen Wandel ohne Stabilität und keine Stabilität ohne Wandel geben kann (Putnam et al. 2016, S. 6–13). Denn woran könnte man den Wandel erkennen, wenn es nichts mehr gäbe, was stabil bliebe und als Bezugspunkt dienen könnte? Und wie könnte man umgekehrt Stabilität feststellen, wenn sich nichts ändern würde?

Ein aktuelles Beispiel einer Paradoxie aus dem Management ist die Einführung einer „Speak up!“-Kultur. Wie Cunha et al. (2019) zeigen, werden dabei Mitarbeitende von ihren Führungskräften aufgefordert, Missstände in der Organisation oder auch im Management anzusprechen. Hätten die Mitarbeitenden den Eindruck gehabt, dass dies ohne Sanktionen möglich sei, hätten sie es wahrscheinlich schon vorher freiwillig und ohne Aufforderung getan. Es überrascht nicht, dass die Mitarbeitenden, die den Anweisungen folgten und sich trauten, Kritik zu äußern, auch von der Führungsebene scharf kritisiert wurden, sobald die Kritik vom Verständnis der Führungsebene abwich. Umgekehrt wurden diejenigen, die keine Kritik übten, auch dafür kritisiert, dass sie keine Kritik übten.

2.2 Existieren Paradoxien unabhängig von uns?

In der Paradoxieforschung hat sich weitgehend durchgesetzt, dass Widersprüche in Organisationen sowohl inhärent als auch sozial konstruiert sind (Lewis und Smith 2022). Durch Beobachtungen werden wahrscheinliche, latente Widersprüche situativ durch Kommunikation und Handlungen „verwirklicht“ (Tuckermann 2019; Hahn und Knight 2021). Bestimmte Widersprüche sind in Organisationen aufgrund ähnlicher Organisationsstrukturen wahrscheinlicher. Beispielsweise erhöht das Wachstum von Organisationen die Wahrscheinlichkeit, dass Spannungen zwischen „Zentralisierung“ und „Dezentralisierung“ auftreten. Solche inhärenten Spannungen in Organisationen bleiben jedoch so lange latent, bis sie in die Aufmerksamkeit von Akteur:innen gelangen, d. h. an Salienz gewinnen, in die Erfahrung drängen und damit folgenreich bzw. wirksam werden (Smith und Lewis 2011, S. 388). Gängige organisationale Widersprüche sind beispielhaft in Tab. 1 abgebildet.

Tab. 1 Beispielhafte organisationale Widersprüche (Smith und Lewis 2011, S. 383)

Lempiälä et al. (2023) haben empirisch gezeigt, wie z. B. latente Leistungs- und Zugehörigkeitsparadoxien erst in Interaktionen wirksam werden, d. h. ausgelöst, abgeschwächt und verstärkt werden. Beispielsweise führte die Ausprägung einer Leistungsparadoxie in einem Team zu einer Verstärkung der wahrgenommenen Zugehörigkeitsspannungen. Dies verdeutlicht, dass Paradoxien weder einfach immer „da“ sind noch willkürlich aus dem Nichts entstehen, sondern durch Interaktionen beeinflusst werden (vgl. z. B. Westenholz 1993). Das bedeutet, dass sich wahrgenommene Paradoxien nicht nur in ihrer Latenz und Salienz, sondern auch in ihrer Intensität oder Stärke unterscheiden (Gaim, Clegg, Cunha, et al. 2022, S. 30–32).

Es stellt sich dann also die Frage, wann latente Paradoxien salienter, d. h. sichtbar und damit explizit, werden. Paradoxien werden in Situationen sichtbarer, in denen eine Vielfalt von Perspektiven, Veränderungen und begrenzte Ressourcen Widersprüche zutage treten lassen (Smith und Lewis 2011, S. 390; Schad et al. 2016, S. 8 f.). Diese drei Umweltfaktoren überschneiden sich typischerweise, so dass eine Trennung eher analytischer Natur ist. Im Detail:

  1. 1.

    Perspektivenvielfalt: Paradoxien werden insbesondere dann sichtbar, wenn verschiedene Stakeholder unterschiedliche Sichtweisen und Ansprüche vertreten. Beispielsweise untersuchten Raffaelli et al. (2022) bei einem Schweizer Uhrenhersteller, wie unterschiedliche Perspektiven im Top Management die Paradoxie „Tradition vs. Modernisierung“ bei anstehendem Wandel und begrenzten Ressourcen explizit machte.

  2. 2.

    Wandel: Paradoxien werden explizit, wenn Wandel stattfindet. Denn Wandel kann durch Konflikte zwischen bestehenden und zukünftigen Praktiken Paradoxien sichtbar machen. So wurden in einer Arbeitsgruppe der schwedischen Polizei latente Widersprüche erst durch eine Reorganisation, in der Akteur:innen mit unterschiedlichen Perspektiven um knappe Ressourcen konkurrierten, sichtbar (Lindberg et al. 2017).

  3. 3.

    Ressourcenknappheit: Wenn Ressourcen begrenzt sind und unterschiedliche Ansprüche an diese Ressourcen gestellt werden, treten Spannungen zwischen widersprüchlichen Anforderungen deutlicher hervor. Dies geschieht typischerweise, wenn unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen und sich die Ressourcenverteilung ändert.

3 Praktischer Umgang mit Widersprüchen

3.1 Reaktionen auf Widersprüche

Der Umgang mit Widersprüchen in der Praxis lässt sich vereinfacht auf vier Ansätze aufteilen: Entweder-oder, Sowohl-als-auch, Mehr-als und Weder-noch (Putnam et al. 2016, S. 58 ff.; Li 2021). In Tab. 2 werden diese Ansätze in Übersicht dargestellt. Ähnliche Ansätze finden sich in Methoden aus der Praxis wie z. B. dem Tetralemma (Kibéd und Sparrer 2023) oder dem Werte- und Entwicklungsquadrat (Schulz von Thun 2022) wieder.

Tab. 2 Ansätze, um mit Widersprüchen umzugehen (eigene Darstellung)

Entweder-oder

Die einfachste Reaktion auf einen Widerspruch besteht darin, sich für einen der beiden Pole zu entscheiden. Ein häufiges Verhalten ist jedoch ebenso die Abwehr von Widersprüchen durch Verleugnen oder nachträgliche Auf- und Abwertung von Alternativen. Dies kann psychologisch mit Hilfe der Theorie der kognitiven Dissonanz erklärt werden, nach der Menschen versuchen, Widersprüche zu vermeiden, um kognitive Konsistenz aufrechtzuerhalten (Festinger 1957). Ein „Entweder-oder“-Ansatz bietet sich für Widersprüche unter zeitlichen oder kontextuellen Beschränkungen an.

Für Paradoxien ist ein „Entweder-oder“-Ansatz häufig problematisch und in der Praxis nicht zu empfehlen. Denn es konnte vielfach gezeigt werden, dass der Versuch, Paradoxien „endgültig“ aufzulösen, oft weniger hilfreich ist, als sie zu akzeptieren und mit ihnen zu arbeiten, da Paradoxien prinzipiell nicht auflösbar sind, d. h. bestehen bleiben, egal wie mit ihnen umgegangen wird (Sharma und Bansal 2017). Dies konnte z. B. in feministisch organisierten Gruppen beobachtet werden, als versucht wurde, den Widerspruch „Empowerment vs. Führung“ eindeutig zu lösen (Bartunek et al. 2000). Die Folgen können erhöhter Stress der Akteur:innen und verringerte organisatorische Synergien sein, da der nicht gewählte Pol unweigerlich wieder auftaucht.

Sowohl-als-auch

Ein „Sowohl-als-auch“-Ansatz fördert das Bewusstsein für Paradoxien, indem er betont, dass auf beide Pole gleichzeitig reagiert werden muss und dass die Entscheidung für nur einen Pol keine langfristige Option darstellt.

Eine der häufigsten Strategien ist die strukturelle oder zeitliche Aufteilung. Dies bedeutet, dass die Entscheidungsträger versuchen, die beiden Pole getrennt oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu berücksichtigen. Eine strukturelle Aufteilung geschieht typischerweise in Form unterschiedlicher Organisationseinheiten, z. B. wird der Pol „Standardisierung“ der Produktion zugewiesen, während der Pol „Flexibilisierung“ eher der Forschung & Entwicklung zugestanden wird. Ähnlich teilen etliche Fluggesellschaften „Qualität vs. Kosten“ auf verschiedene Marken wie z. B. Lufthansa und Eurowings auf. Eine zeitliche Aufteilung hieße z. B. im nächsten Geschäftsjahr „Qualität“ zu priorisieren, während dieses Geschäftsjahr „Kosten“ Vorrang hat. Zeitliche Teilung kann sich in einem kontextabhängigen Oszillieren zwischen den beiden Polen ausdrücken. Dies bedeutet, dass Entscheidungsträger je nach aktuellen Anforderungen und Bedingungen unterschiedliche Pole betonen oder vernachlässigen. Eine andere kognitive Reaktion besteht darin, die Existenz von Widersprüchen zu akzeptieren, anstatt zu versuchen, sie aufzulösen. Schließlich besteht eine Reaktion darin, nach einer Möglichkeit zu suchen, die beiden Pole in eine Art Gleichgewichtszustand zu integrieren. Bei einfachen Widersprüchen ist ein solches Gleichgewicht bzw. ein solcher Trade-off die geeignetste Reaktion.

Bei Paradoxien kann ein „Sowohl-als-auch“-Ansatz kurzfristig wirksam sein. Dies bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass diese Lösungen langfristig wirksam sind (King und Pucker 2021). Die langfristige Wirksamkeit hängt oft von der kontinuierlichen Anpassung und dem Umgang mit sich ändernden Anforderungen und Bedingungen ab. Denn alle Versuche, Paradoxien zu lösen bleiben immer temporär und sind mit Risiken behaftet. Der Abgasskandal bei Volkswagen, bei dem manipulierte Abschalteinrichtungen eingesetzt wurden, um die Paradoxie des „sauberen Diesels“ zu managen, sollte als Warnung dienen (Gaim et al. 2021).

Mehr-als

Der „Mehr-als“-Ansatz zielt darauf ab, Widersprüche zu verbinden, aus ihnen herauszutreten oder sie in eine neue Beziehung zu setzen (Putnam et al. 2016, S. 64).

Dies kann geschehen, indem Akteur:innen Widersprüche reframen, d. h. in einen anderen Rahmen stellen, so dass diese nicht mehr als Widersprüche erscheinen. Reframing oder Rekontextualisierung ist eine Mehr-als-Reaktion, da die Situation, in der ein Widerspruch auftritt, nicht wie bei einer Weder-noch-Reaktion als solche verlassen wird, sondern innerhalb dieser Situation der Widerspruch so umgedeutet wird, dass er nicht mehr als Widerspruch erscheint. Ein weiterer Ansatz ist die Förderung von Vernetzung und Dialog. Dies bedeutet, dass die Akteur:innen mit Stakeholdern nach Wegen suchen, die verschiedenen Pole der Paradoxie kreativ miteinander in Beziehung zu setzen. Dies kann beispielsweise durch paradoxe Interventionen, d. h. Symptomverschreibungen, geschehen (Palazzoli et al. 2011 [1985]; Hand 2022). So kann z. B. in Organisationen, in denen Kooperation problematisch erscheint, die Frage gestellt werden, was getan werden kann, um möglichst viel Konkurrenz untereinander zu erzeugen. Schließlich besteht eine weitere Reaktion darin, Widersprüche zu reflektieren und mit Humor oder Ironie zu betrachten (Jarzabkowski und Lê 2017; Gylfe et al. 2019). Dies ermöglicht den Akteur:innen, die Paradoxien auf spielerische und kreative Weise zu erforschen und neue Perspektiven zu gewinnen (Beech et al. 2004).

Ein „Mehr als“-Ansatz eignet sich am besten für Paradoxien, da er am ehesten dazu beiträgt, die Abhängigkeit zwischen Widersprüchen aufrechtzuerhalten, anstatt sie aufzulösen. Dies kann dazu beitragen, die Energie von Paradoxien zu nutzen, um einen innovativen Umgang zu finden und Paradoxien immer wieder auf kreative Weise anzugehen (z. B. Gaim et al. 2022).

Weder-noch

Eine sehr einfache Reaktion auf wahrgenommene Widersprüche kann auch darin bestehen, die Erwartungen an die Auflösung eines Widerspruchs einfach zu reduzieren oder aufzugeben indem man die Situation verlässt und sich für keinen der Pole entscheidet. Beispielsweise hatte Google 2009 einerseits mit Forderungen der chinesischen Regierung nach stärkerer Zensur zu kämpfen und andererseits mit westlichen Forderungen die Meinungsfreiheit in China zu schützen. Im Jahr darauf entschied sich Google jedoch, den chinesischen Markt schlicht zu verlassen und musste sich somit weder für oder gegen die chinesische Regierung noch für oder gegen westliche Forderungen entscheiden (Li 2021).

Nur beschränkte rationale Wahl eines Ansatzes in der Praxis

Die Aufzählung möglicher Umgangsweisen mit Widersprüchen könnte zu der Annahme verleiten, dass Akteur:innen in Organisationen ihre Reaktionen auf Widersprüche rein rational wählen können. Dies ist jedoch nicht der Fall, da solche Reaktionen Handlungsmacht voraussetzen, die je nach Situation, Rolle und organisatorischem Kontext nicht immer gegeben ist (Berti und Simpson 2021). Selbst wenn genügend Handlungsmacht mobilisiert werden kann, kann insbesondere bei Führungskräften die Wahrnehmung einer „paradoxen Führung“ zu großen Schwierigkeiten bei den Mitarbeitern führen, wenn diese die Reaktion auf die Widersprüche nicht teilen (Fürstenberg et al. 2023).

3.2 Prüfverfahren: Widerspruch oder Paradoxie?

Ob ein organisationaler Widerspruch tatsächlich auch eine Paradoxie darstellt, kann derzeit aufgrund fehlender praktischer Anleitungen kaum überprüft werden (Cunha und Putnam 2019). Für Manager:innen und Berater:innen ist diese Unterscheidung aber von hoher Relevanz, da sich das Framing, d. h. die Beschreibung und Erklärung eines wahrgenommenen Widerspruchs, daran orientieren könnte. Die Art und Weise, wie in der Praxis gehandelt wird bzw. welche Art von Interventionen vorgeschlagen werden, wird letztlich durch diese Rahmung bestimmt (Gaim et al. 2018, 2022b, S. 11).

Beispielsweise beschreiben Lüscher und Lewis (2008) folgendes Vorgehen in der Beratung des Unternehmens Lego: Zuerst wird ein Problem definiert, gefolgt von einem Perspektivenwechsel zu einem Widerspruch, das die Vor- und Nachteile beider Pole berücksichtigt. Anschließend wird der Widerspruch als Paradoxie gerahmt, in dem beide Pole akzeptiert werden. Es wird nach Sowohl-als-auch-Lösungen gesucht. Schließlich wird eine konkrete Maßnahme als Experiment umgesetzt, wobei die Lösungen kontinuierlich überprüft und angepasst werden.

Es wird also fatalerweise nicht geprüft, ob es sich tatsächlich um eine Paradoxie handelt, da das Vorgehen immer (!) darauf abzielt, dass der Klient eine Paradoxie „entdeckt“. Da von vornherein festzustehen scheint, dass jeder Widerspruch letztlich eine Paradoxie ist, wird konsequenterweise nur der „Sowohl-als-auch“-Ansatz empfohlen. Dies ist jedoch nicht angemessen, wenn es sich um einen „einfachen“ Widerspruch handelt. In diesem Fall sind „Entweder-oder“-Ansätze sehr gut geeignet und können sogar effizienter sein, da sie z. B. die Ressourcenallokation gezielt auf einen Pol optimieren und nicht, wie es bei „Sowohl-als-auch“-Ansätzen der Fall sein könnte, Ressourcen auf mehrere Optionen verteilen.

3.2.1 Wie kann ein systematisches Prüfverfahren aussehen?

Wie in Abschn. 2.2 erläutert, nimmt die Salienz und damit Wahrnehmung von Widersprüchen im Zusammenhang mit Perspektivenvielfalt, Wandel und Ressourcenknappheit tendenziell zu. Die Sichtbarkeit von Widersprüchen ist somit als Ausgangsbedingung der „Startpunkt“ für das Prüfverfahren in der Praxis. Würden Akteur:innen in einer Situation keine wie auch immer geartete Widersprüchlichkeit wahrnehmen, bestünde kein Bedarf, überhaupt etwas zu prüfen. Die Salienz von Widersprüchen ist also selbst noch kein Prüfschritt, sondern löst eine Prüfung aus.

Ausgangspunkt eines Prüfverfahrens muss die begriffliche Abgrenzung zwischen Widerspruch und Paradoxie sein. Die Prüfung setzt dazu an den drei Kernbestandteilen von Paradoxien (Gaim et al. 2022b, S. 8) wie in Abschn. 2.1 erläutert an: I. Widersprüchlichkeit, II. Interdependenz und III. Persistenz. Die Reihenfolge der drei Prüfschritte ist in Abb. 1 dargestellt.

Abb. 1
figure 1

Entscheidungsbaum für Paradoxien (eigene Darstellung)

I. Widersprüchlichkeit:

Nachdem die Analyseebene, z. B. auf Teamebene, auf Organisationsebene oder zwischen der Ebene des Individuums und der Organisationsebene, geklärt ist, kann geprüft werden, ob überhaupt ein Widerspruch zwischen verschiedenen Handlungsalternativen, also Entscheidungen, oder zwischen Handlungsabsicht und -folgen vorliegt. Dies dient dazu, Entscheidungen und Handlungen auszuschließen, die weder ein Widerspruch noch eine Paradoxie darstellen. Liegt ein Widerspruch vor, wird im nächsten Schritt die Art der Abhängigkeit zwischen den widersprüchlichen Polen geklärt, um in einer ersten Einschätzung Widersprüche von Paradoxien zu unterscheiden.

II. Interdependenz:

Danach wird vorgeschlagen, die in der Paradoxieforschung bislang vernachlässigte Art der Abhängigkeit genauer zu differenzieren, um „einfache“ Widersprüche von Paradoxien zu unterscheiden. Dafür wird der in der Organisationsforschung bewährte Vorschlag von Thompson (1967, S. 54 f.) mit der Erweiterung von Raveendran et al. (2020, S. 841) um Abhängigkeit durch gemeinsame Ziele oder Folgen genutzt. In Abb. 2 werden die sich daraus ergebenden Arten von Abhängigkeit visualisiert (Pradies et al. 2023). Nur drei der fünf möglichen Abhängigkeitsarten sprechen dabei für Paradoxien. Nur bei einer Output-Input-Abhängigkeit, einer wechselseitigen Abhängigkeit oder einer Abhängigkeit durch ein gemeinsames Ziel schließen sich die Pole nicht gegenseitig aus, sondern ermöglichen und definieren sich gegenseitig, wie es der in Abschn. 2.1 diskutierten Definition von Paradoxien entspricht. Erst diese feinere, operationelle Unterscheidung nach der genauen Art der Abhängigkeit ermöglicht es, in der Prüfung voranzukommen und in einer zweiten Bewertung die Hypothese des Vorliegens einer Paradoxie zu erhärten.

Abb. 2
figure 2

Arten von Abhängigkeit (eigene Darstellung)

III. Persistenz:

Im letzten Schritt wird schließlich beobachtet, ob der identifizierte Widerspruch in der Zeit fortbesteht. Nur wenn dies bejaht werden kann, kann von einer Paradoxie gesprochen werden.

In Tab. 3 werden im Folgenden die drei Schritte inkl. Prüffragen und Beispiele detaillierter erläutert.

Tab. 3 Schritte im Prüfverfahren (eigene Darstellung)

Um einen größeren Lerneffekt zu erzielen, werden nun drei Prüffälle durchgespielt, bei denen jeder in Gedanken entscheiden kann, ob es sich um einen Widerspruch oder eine Paradoxie handelt und vor allem, wie dies begründet werden kann.

3.2.2 Prüffall 1: Fahre ich heute ins Büro oder arbeite im HomeOffice?

Tab. 4 Prüfverfahren für Büro vs. HomeOffice (eigene Darstellung)

Intervention

Da die Optionen wie in Tab. 4 dargestellt voneinander unabhängig sind (es wäre unpraktisch, eine Mischung aus beiden zu wählen, und weder führt die eine zur anderen noch ist die eine ohne die andere denkbar), handelt es sich um einen Widerspruch und nicht um eine Paradoxie. Eine angemessene Herangehensweise wäre ein „Entweder-oder“-Ansatz, d. h. das Abwägen der Vor- und Nachteile von Büro und HomeOffice in Abhängigkeit von persönlichen Präferenzen, Zeitrahmen etc., um eine angemessene Entscheidung zu treffen.

3.2.3 Prüffall 2: Soll die Dividende für die Aktionäre erhöht oder den Mitarbeitenden ein Bonus-Weihnachtsgeld ausbezahlt werden?

Tab. 5 Prüfverfahren für Dividende vs. Bonus-Weihnachtsgeld (eigene Darstellung)

Intervention

  • Widerspruch: Einerseits kann argumentiert werden, dass hier ein Widerspruch vorliegt. Denn beide Alternativen sind wie in Tab. 5 dargestellt insofern voneinander abhängig, als sie gemeinsam eine endliche Ressource, nämlich Geldmittel, nutzen. Eine angemessene Herangehensweise wäre dann ein „Entweder-oder“-Ansatz, d. h. die Verteilung der begrenzten finanziellen Ressourcen der Organisation auf Anteilseigner und/oder Mitarbeitende.

  • Paradoxie: Andererseits kann argumentiert werden, dass hier eine Paradoxie vorliegt. Denn beide Alternativen könnten wie in Tab. 5 dargestellt auch im Sinne einer Output-Input Beziehung voneinander abhängig sein. Das heißt, das eine führt zum anderen. Die Entscheidung, den Mitarbeitenden eine Weihnachtsgratifikation zu zahlen, könnte zu Folgen führen, wie z. B. einer höheren Arbeitsleistung und einem höheren Gewinn, der wiederum eine höhere Dividende für die Aktionäre ermöglicht. Eine angemessene Herangehensweise für solch eine Überzeugung wäre dann ein „Sowohl-als-auch“-Ansatz, d. h. sowohl eine Weihnachtsgratifikation als auch eine Dividendenerhöhung zu zahlen.

3.2.4 Prüffall 3: Soll die bestehende funktionale Aufbauorganisation beibehalten oder ein Veränderungsprozess hin zu einer divisionalen Aufbauorganisation eingeleitet werden?

Hinter dieser strategischen Frage des Organisationsdesigns verbirgt sich der klassische Widerspruch zwischen Stabilität (Bewahren des Bestehenden) und Veränderung.

Tab. 6 Prüfverfahren für Stabilität vs. Wandel (eigene Darstellung)

Intervention

  • Widerspruch: Es kann wie in Tab. 6 dargestellt argumentiert werden, dass beide Pole widersprüchlich, aber unabhängig voneinander sind. Ein Trade-off ist (zumindest auf derselben Ebene) nur schwer vorstellbar. Das bedeutet, dass die Vor- und Nachteile von Stabilität vs. Veränderung je nach Geschäftstätigkeit und Strategie sorgfältig abgewogen werden müssen.

  • Paradoxie: Auf der anderen Seite könnte argumentiert werden, dass eine Paradoxie aufgrund einer wechselseitigen Abhängigkeit besteht wie in Tab. 6 dargestellt. Denn Veränderung wird erst vor dem Hintergrund von Stabilität attraktiv. So ist zu erwarten, dass nach einer gewissen Zeit der Stabilisierung eines divisionalen Organisationsdesigns ein Wechsel zu einem anderen Organisationsdesign wieder interessanter wird. Wandel und Stabilität sind prinzipiell nicht voneinander zu trennen, das eine existiert nicht ohne das andere. Damit wäre auch das letzte Prüfkriterium der langfristigen Unauflösbarkeit für Paradoxien erfüllt, denn der Widerspruch bleibt bestehen. Empirisch dürfte ein solches Hin und Her-Pendeln jedem Praktiker mit Konzernerfahrung nur allzu vertraut sein. Ein geeigneter Ansatz könnte ein „Sowohl-als-auch“-Ansatz sein, bei dem z. B. geprüft wird, welche Funktionsbereiche bestehen bleiben sollten, damit andere Bereiche divisional organisiert werden können. Noch geeigneter scheint allerdings ein „Mehr-als“-Ansatz sein, z. B. durch Aufrechterhaltung eines Dialogs über kreative vorübergehende Lösungen oder ein Reframing des Widerspruchs, z. B. als „Erhalt der Zukunftsfähigkeit“, so dass sowohl Stabilität als auch Veränderung eingeschlossen werden.

4 Empfehlungen für die praktische Arbeit mit Widersprüchen

Die eine oder der andere mag enttäuscht sein, dass es trotz des Prüfverfahrens keine eindeutigen Ergebnisse in den exemplarischen Prüffällen gibt. Wer sich jetzt ertappt fühlt, sei an Abschn. 2.2 erinnert, wonach Paradoxien auch sozial mitkonstruiert sind. Diese und weitere einschränkende Hinweise gegen einen allzu rationalen Umgang mit Paradoxien werden im Folgenden zu vier Empfehlungen für die praktische Arbeit mit Widersprüchen verdichtet.

Nutze vorhandene Typologien von Widersprüchen zur Orientierung:

Als Ausgangspunkt bieten sich zunächst Typologien organisationaler Widersprüche an (vgl. beispielhaft Tab. 1). Sie bieten eine hilfreiche Orientierung, sind aber nie abschließend und sollten immer wieder situativ aktualisiert und ergänzt werden, d. h. nicht jeder Widerspruch wird in jeder Organisation in gleicher Stärke sichtbar, stattdessen können sich auch andere überraschende Widersprüche manifestieren.

Generiere Hypothesen mithilfe des Prüfverfahrens:

Mit Hilfe des hier vorgestellten Prüfverfahrens (vgl. Abb. 1 und Tab. 3) können Hypothesen darüber formuliert werden, inwieweit Widersprüche als Paradoxien verstanden werden können. Die Ergebnisse des Prüfverfahrens sind als Hypothesen zu verstehen, da Paradoxien immer sozial mitproduziert sind. Dies betrifft insbesondere den Prüfschritt II (Interdependenz) zur Art der Abhängigkeit. Abhängigkeiten sind in Organisationen weder „natürlich“ noch stabil, sondern verstärken, verändern oder verringern sich im alltäglichen Handeln (Sailer et al. 2023). Das bedeutet, dass die tatsächliche Art und Stärke der Abhängigkeit situativ geprüft werden muss. Was in einer Organisation eindeutig in einer Trade-off-Beziehung steht, kann in einer anderen Organisation in einer wechselseitigen Abhängigkeit stehen.

Reagiere auf Widersprüche mit Experimenten:

Auf der Grundlage dieser Hypothesen können dann entsprechende Reaktionen auf Widersprüche (siehe Tab. 2) als Experimente durchgeführt werden. In der Praxis wird man sich bereits bei der Beurteilung der Art der Abhängigkeit Gedanken über den Umgang mit dem Widerspruch machen müssen. Die abschließende Prüfung, ob der Widerspruch noch fortbesteht, kann oft erst nach einiger Zeit beantwortet werden und erfordert bereits eine Reaktion auf den Widerspruch, da sonst nicht geprüft werden kann, ob der Widerspruch danach noch fortbesteht. Dies bedeutet, dass in der Praxis bereits nach Prüffrage II eine unsichere, vorläufige Einschätzung getroffen wird, ob ein einfacher Widerspruch oder eine Paradoxie vorliegt, und erst im Laufe der Zeit durch Prüffrage III (Beständigkeit/Persistenz) mit größerer Sicherheit beantwortet werden kann.

Nutze die Experimente zur Überprüfung der Hypothesen:

Eine Reaktion auf einen Widerspruch ist daher als Experiment zu verstehen, da erst anhand der beobachteten Auswirkungen bei der Realisierung die zuvor aufgestellten Hypothesen überprüft und ggf. angepasst werden können. So kann z. B. die Frage gestellt werden, ob die Hypothese eines Widerspruchs, bei dem man sich in einem Entweder-oder-Ansatz für einen Pol entscheidet, das Problem löst, oder ob der nicht gewählte Pol nach einiger Zeit wieder auftaucht, was eine Revision der Hypothese zu einer Paradoxie nahelegen würde. Andererseits könnte ebenso die Hypothese einer Paradoxie zunächst einen „Sowohl-als-auch“-Ansatz nahelegen. Im Laufe der Zeit könnte sich jedoch zeigen, dass der Widerspruch kaum noch wahrgenommen wird, was für eine Revision der Paradoxie-Hypothese zu einem „einfachen“ Widerspruch sprechen würde.

Zum Abschluss dieses Artikels können die wichtigsten Aussagen wie folgt zusammengefasst werden: Die vorgestellten Forschungsergebnisse unterstreichen, dass Paradoxien eine immer präsentere Erfahrung in komplexen und unsicheren Organisationsumwelten darstellen. Diese Entwicklung stellt den traditionellen Umgang mit Widersprüchen in Frage und eröffnet Raum für ein neues Verständnis und neue Ansätze im Umgang mit diesen komplexen, aber grundlegenden Phänomenen.

Darüber hinaus macht die Diskussion deutlich, wie wichtig es ist, differenzierte Ansätze zu entwickeln, die zwischen Paradoxien und lösbaren Widersprüchen unterscheiden können und nicht vorschnell auf „Sowohl-als-auch“-Lösungen zurückgreifen. Denn trotz einer sich abzeichnenden Management- und Beratermode zu Paradoxien ist nicht jeder Widerspruch eine Paradoxie.

Die methodische Herangehensweise zur Unterscheidung von Widersprüchen und Paradoxien zielt darauf ab, eine konkrete Orientierungshilfe für PraktikerInnen zu bieten. Es ist zu hoffen, dass dieser Beitrag dazu anregt, die Wahrnehmung und den Umgang mit Widersprüchen in Organisationen zu verfeinern und letztlich zu einer reflektierteren und angemesseneren Praxis beizutragen. Denn obwohl im logischen Sinn unmöglich, bleibt das Meistern von Widersprüchen und Paradoxien eine zentrale Herausforderung für Führungskräfte und Berater:innen.