Hier bin ich Mensch,

hier darf ich’s sein!

(Goethe)

Ich bin nämlich eigentlich ganz anders,

aber ich komme nur so selten dazu.

(Ödön von Horváth)

Agile Arbeitsformen und Strukturen setzen verstärkt auf das Prinzip der Selbstorganisation (vgl. Geramanis und Hutmacher 2020; Altherr 2019). An die Stelle einer monokratischen Konzentration von Macht und Entscheidungsbefugnissen in einer Position, wie sie traditionell in Hierarchien angelegt war, treten dynamische, oft teambasierte Führungskonstellationen mit multiplen, flexiblen Rollensettings und wechselnden Rollenträgern (z. B. Tech‑, People‑, Process‑, Project-Lead). Das postheroische Managementzeitalter sieht also eine Abkehr von Henri Fayols klassischem Prinzip der Einheit der Auftragserteilung (Einliniensystem, „one (wo)man, one boss“) und eine Hinwendung zum bereits von Frederick Taylor angedachten Funktionsmeistersystem (Mehrfachunterstellungen und -beeinflussungen).

Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Führt eine „Zersplitterung“ der Führung, die in der Literatur unter Begriffen wie plural leadership, shared leadership, emergent leadership, dynamic delegation, laterale und informale Führung diskutiert wird (vgl. Pearce und Conger 2003; Klein et al. 2006; Kühl 2017; Endres und Weibler 2019; D’Innocenzo et al. 2016), zu einer Verwirrung, Schwächung und Komplikation („Zu viele Köche verderben den Brei“) oder zu einer Verstärkung, neuen Klarheit und qualitativen Verbesserung bei der Frage der Machtausübung in der Entscheidungsfindung (Nutzung der „Weisheit der Vielen“)? Und wie lassen sich die damit einhergehenden Veränderungen und gruppendynamischen Einflussprozesse aus Forschungsperspektive theoretisch sinnvoll fundieren, um zu einem besseren Verständnis verteilter Führung(sfunktionen) zu gelangen?

Diesen Fragen soll der vorliegende theoriegeleitete Beitrag nachgehen, wobei speziell die letzte Frage im Zentrum der Analyse steht. Einerseits wird hierbei auf Erkenntnisse der Rollentheorie zurückgegriffen, die als erklärendes Fundament dienen, um verteilte Führungsfunktionen zu erfassen (vgl. Dahrendorf 2010), andererseits werden aktuelle Forschungsergebnisse aus der Analyse von Meetings bzw. der darin ablaufenden Interaktionssequenzen verwendet (vgl. Kauffeld und Sauer 2022; Allen und Lehmann-Willenbrock 2022; Mroz et al. 2018). Da Meetings in agilen Konzepten eine zentrale Stellung einnehmen, zugleich Kristallisationspunkte für Entscheidungen auf operativer, taktischer und strategischer Ebene sind, erscheint eine vertiefte Betrachtung der in ihnen wirksamen gruppendynamischen Kraftfelder bzw. Spannungslinien naheliegend und sinnvoll. Die dabei auftretenden Rollenkräfte werden im Rahmen des Beitrags durch einen führungsbezogenen Blickwinkel theoretisch erweitert und vertieft (vgl. von Ameln und Heintel 2016). Dies erscheint geboten, um zu einer realistischeren, gegenstandsangemessenen und auch kritischen Sicht auf Agilität zu gelangen. Schlussendlich besteht das Ziel des Beitrags darin, aufzudecken, wie sich Macht- und Entscheidungsfragen in agilen Strukturen auf dem Fundament der Rollentheorie klären lassen, welche Dynamiken und Schwierigkeiten hierbei auftreten, welche begünstigenden Voraussetzungen hierzu idealerweise gegeben sein müssen, welche Barrieren dem entgegenstehen und welche Handlungsempfehlungen sich ableiten lassen. Überspitzt formuliert: Gestaltet sich die in agilen Systemen stellende Machtfrage genauso volatil, unsicher, komplex und ambig wie die Prozesse in der Umwelt?

1 Einflussstrukturen in agilen Systemen

Die „Organisation ohne Hierarchie“ (Hasenzagl und Müller 2020), die Einführung demokratischer Willensbildungsprozesse auf Gruppenebene inklusive der Abschaffung des ungeliebten „diktatorischen“ Leaders bildet seit über 70 Jahren einen zentralen Diskussionsgegenstand der Managementforschung (vgl. Whyte 2002, S. 56; Schumacher und Wimmer 2019, S. 13). Ausgehend von kybernetischen Ansätzen der 1940er-Jahre über die systemtheoretischen Konzepte der Selbstorganisation (Autopoiesis) der 1970er- und 1980er-Jahre bis hin zu agilen Ansätzen und dem Sozialunternehmertum (social entrepreneurship) unserer Tage – stets herrscht weitgehend Einigkeit in der vorgebrachten Forderung, formale Hierarchien erheblich einzudämmen und stärker demokratisch auszurichten, durch selbststeuernd agierende Strukturen (z. B. Projektteams) zu ersetzen, im Mindesten aber zu ergänzen.

Die präzise Definition agiler Strukturen, zu denen praktische Konzepte wie Scrum, Holacracy oder Soziokratie zählen, erweist sich als schwierig, einerseits weil hier verschiedene Strömungen der Vergangenheit zusammenfließen (Human Relations, Organisationsentwicklung, systemische und evolutionäre Ansätze der Organisationsgestaltung, Flexibilisierung, humanistische Psychologie, Human Potential Movement, New Work), andererseits weil der Begriff selber Änderungen unterliegt, die seiner inhärenten Entwicklungslogik geschuldet sind, denn Iteration und Reflexion, Anpassung an sich ändernde Umstände sind Kernelemente des Agilitätsgedankens. Einerseits werden Strukturen dezentraler, tritt Selbstorganisation etwa in Gestalt sich selbst steuernder Teams (Kreise) in den Vordergrund, andererseits werden Menschen potenzialorientierter gesehen, nach ihren Stärken eingesetzt und in ihrem individuellem Wachstum gefördert, wobei all dies auf der kulturellen Basis eines „agilen Mindset“ fußt. Zentrale Grundlage des agilen Mindsets sind die Werte und Prinzipien des Agilen Manifests wie z. B. Vertrauen, Verantwortung und auch die Bereitschaft, sich ständig weiterzuentwickeln und zu lernen. Es zielt auf Autonomie von Individuen und Teams, einen konstruktiven Umgang mit Unsicherheit, um größtmöglichen Kundennutzen zu gewährleisten (vgl. Busch und Link 2022, S. 131). Die Nutzung von Spezialisierungsvorteilen spielte zwar seit jeher in der arbeitsteilig funktionierenden Organisation eine tragende Rolle, doch kommt heute dem Aspekt des Empowerments, der Eigenverantwortung von Mitarbeitenden, vor allem auch der eigeninitiierten Gestaltung von Arbeit und Arbeitsbeziehungen im Sinne des Job Crafting eine immer größere Bedeutung zu (vgl. Busch und Sichler 2023; Kaudela-Baum 2019; Sichler 2006), nicht zuletzt, um immer knapper werdende Fachkräfte zu gewinnen, ihnen Sinn in der Arbeit zu ermöglichen und sie dadurch an das Unternehmen zu binden. Die Frage der Koordination, des Alignment, d. h. der Ausrichtung aller Organisationsmitglieder auf gemeinsame, übergeordnete bzw. überpersönliche Ziele, aber auch die Definition derselben, bleibt jedoch bestehen. Und auch der funktionale Bedarf nach Führung bleibt allgemein erhalten, denn Führung im Sinne einer ergebnisorientierten Lenkung von Ideen, Personen und Ressourcen ist stets erforderlich, unabhängig davon, ob diese Leistungen durch hierarchisch-zentralisierte oder heterarchisch-dezentralisierte Arbeitsstrukturen erbracht werden. Die zentrale Herausforderung, die sich in agilen, weniger auf formaler Positionsmacht als auf informaler Personenmacht und Teams stützenden Strukturen stellt, ist die, wie sich hier (zwischen)menschliche Einflüsse geltend machen (vgl. Busch und Link 2021a), durch welche Mittel sie gelenkt werden (z. B. durch Meetings) und auf welcher Basis einzelnen Akteuren von ihrem Umfeld freiwillig mehr Einfluss zugebilligt wird als anderen, wer und warum sich am Ende bei der Willensbildung somit behaupten kann.

In der klassischen Definition nach Max Weber ermöglicht es Macht, den eigenen Willen auch bei Widerstreben des Gegenübers durchzusetzen (vgl. Weber 1972, S. 28), wobei auf Hierarchie gestützte Herrschaft diese Macht in Positionen verankert und institutionalisiert. Vorstellungen im Hinblick auf Ziele, Vorgehensweisen, einzusetzende Instrumente und Ressourcen sowie die all dem zugrunde liegenden Werte, die sich konträr zu den eigenen, als richtig erachteten Vorstellungen verhalten, können also aufgrund positional zugewiesener Macht „gebrochen“, überhört und ignoriert werden (zu einer weiterführenden systemtheoretischen Betrachtung von Macht vgl. von Ameln und Kramer 2012, S. 190 ff.). Implizit liegt dieser Definition die Annahme zugrunde, dass eine Person „gottgleich“ alles weiß, im Sinne Erich Gutenbergs als geistiges Willens- und kreatives Ideenzentrum zu betrachten ist, das die betriebliche Tätigkeit plant, organisiert, überwacht und von dem aus alle zweckdienlichen Anregungen ausgehen (vgl. Gutenberg 1983, S. 131 f.). Dass diese Sichtweise vermutlich damals schon obsolet bzw. kaum haltbar war, da die Geschäftsführung sich stets durch Stäbe, Spezialisten, erfahrene Mitarbeitende und externe Berater unterstützen ließ, erscheint einsichtig. Dennoch war die relative Berechen- und Planbarkeit unternehmerischen Handelns bis zum Ende des Kalten Krieges insgesamt höher. Mit der heutigen Komplexität und Dynamik einer globalisierten, interdependenten „VUCA-Welt“ erscheint der Alleingang noch weit weniger möglich. Gegenseitiges Lernen und Reflektieren in Entscheidungsteams kommt der Realität näher, wenn auch Einzelpersonen weiterhin durch ihre Visionen, ihren Einsatzwillen und ihre gestalterische Kraft herausragen, sich sozusagen zu Gleicheren unter Gleichen (primus inter pares) entwickeln können.

Das feste hierarchische Gefüge mit zur Spitze hin wachsender Ressourcenverfügungsgewalt wird in agilen Strukturen bewusst aufgegeben. Das „Ober sticht Unter“-Prinzip wird durch das „Besser sticht Schlechter“-Prinzip ersetzt. Zumindest in der Theorie gibt es das Postulat eines „herrschaftsfreien Diskurses“ (Jürgen Habermas), in dem sich auf zwanglose Weise am Ende das bessere Argument durchsetzt. Böse formuliert wird künstliche (fremdorganisierte) Ordnung durch natürliches (selbstorganisiertes) Chaos ersetzt, wobei auch diesem Chaos die zwingende Tendenz innewohnt, sich sozial wieder zu ordnen, wenn auch anders, als dies unter hierarchisch geplanten Bedingungen geschieht. Auf ähnliche Weise wie im herrschaftsfreien Diskurs wird im Entscheidungsverfahren der Soziokratie eine Entscheidung erst dann getroffen, wenn niemand unter den Diskutanten mehr einen gewichtigen Einwand vorzubringen hat (Konsent-, in Abgrenzung zum Konsens-Prinzip) (vgl. Strauch und Reijmer 2018). Inwiefern sich schlussendlich nicht doch wieder verdeckt wirksame, oligarchische Einflüsse bestimmter Personen(gruppen) geltend machen, ja geltend machen müssen, um speziell im Falle des Dissens überhaupt zu einer Entscheidung zu gelangen, soll an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Ebenso, wer darüber entscheidet, anhand welches Gütemaßstabes eine Einstufung von Argumenten in „besser“ oder „schlechter“ vorgenommen wird. Das, was aus Sicht einer Einzelperson oder des Unternehmens nützlich erscheint, kann aus Sicht der Gesellschaft schädlich sein. Das, was in einer rein profitorientierten Betrachtung als gut, kann in einer an Nachhaltigkeit und Mitmenschlichkeit ausgerichteten Betrachtung als schlecht erscheinen. Nachfolgend werden zunächst die personenbezogenen Kräfte, die sich in (wechselnden) Rollen manifestieren, näher betrachtet, bevor im Anschluss auf die interaktionsbezogenen Rollen- und Einflussdynamiken in Entscheidungssituationen, speziell in Meetings, eingegangen wird.

2 Personenbezogene Rollenkräfte

Die Rollentheorie hat eine lange Tradition in der Forschung, speziell in der (Organisations‑)Soziologie (vgl. Miebach 2022, S. 63 ff.; Lippmann und Steiger 2019; zur Historie Sachsse 1992). In seinem klassischen Aufsatz „Homo Sociologicus“ definierte Dahrendorf die Rolle als einen „Komplex von Verhaltenserwartungen“ (Dahrendorf 2010, S. 33). Der Begriff der Erwartung – an sich selbst oder durch andere, aus der eigenen Person oder der Umwelt kommend – steht hierbei im Mittelpunkt. Durch Erwartungen wird Berechenbarkeit und Verlässlichkeit in zwischenmenschlichen Interaktionen hergestellt, wobei Erwartungen je nach Setting bei ein und derselben Person unterschiedlich ausfallen können. Dennoch gibt es bestimmte Konstanten, die in der Persönlichkeit, fachlichen Fähigkeiten und individuellen Vorlieben gründen. In agilen Konzepten hat der Rollenbegriff eine Renaissance erfahren, da es hier keine fixen, künstlich errichteten Stellengefüge mehr gibt, sondern flexible, sich an natürlichen Veranlagungen der Mitarbeitenden orientierende Beziehungsgeflechte, die sich adhocratisch an Kunden- bzw. Umwelterfordernisse anpassen. Dies schließt nicht aus, dass Strukturen mit der Zeit dennoch eine gewisse Beständigkeit und Kontinuität entwickeln. Kreise oder Teams bilden die organisationale Basiseinheit agiler Systeme, die sich somit aus vielen, miteinander verbundenen Organisationen im Kleinformat zusammensetzen. In Teams stellen sich en détail Herausforderungen, die en gros ebenso auf organisationaler Ebene gelöst werden müssen, d. h. sie setzen stets eine arbeitsteilige Führungs‑, Aufgaben- und Rollenstruktur voraus, um funktionsfähig und erfolgreich operieren, um überhaupt zielorientiert (zusammen)arbeiten zu können (auch wenn die „Flughöhe“ und die Anforderungen je nach Ebene – von der strategischen bis hin zur Teamebene – unterschiedlich sind). Speziell die theoretische Klärung des Rollenbegriffs, in dem sich sämtliche (inter)personellen Kräfte – Dominanz‑, Beziehungs- und Leistungsstreben, Streben nach Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit – bündeln, liefert die Grundlage, um zu einem vertieften Verständnis von Agilität zu gelangen, um seine Funktionsbedingungen aufzudecken, aber auch mögliche Reibungspunkte und Spannungslinien offen zu legen. Der Fokus liegt nachfolgend auf der Teamebene.

Die funktionalistische Rollentheorie geht davon aus, dass in jedem sozialen System basale funktionale Erfordernisse erfüllt sein müssen, damit es dauerhaft bestehen und überleben kann. Entscheidend ist dabei nicht, von wem bestimmte Funktionen wahrgenommen werden, sondern dass sie wahrgenommen werden (vgl. Neuberger 1995, Sp. 982; Sichler 2004, S. 71 ff.). Grundlegende Probleme wie Zieldefinition, Kontrolle des Arbeitsfortschritts, kritische Prüfung von Sachverhalten, Problem- und Konfliktbearbeitung, Motivation und Koordination von Teammitgliedern gehören stets adressiert und gelöst (zu einem Überblick über die verschiedenen Führungsfunktionen vgl. Mintzberg 1973; Zaccaro et al. 2001, S. 453 ff.; Wurst und Högl 2001, S. 163, 169; Morgeson et al. 2010, S. 10). Der shared leadership-Gedanke greift dies auf, geht dann allerdings nicht mehr davon aus, dass es hierzu einer zentralen Anlaufstelle bedarf, sondern dass sich die diversen Führungsfunktionen auf mehrere Schultern verteilen lassen, idealerweise auf diejenigen Personen, die hierzu die besten Kompetenzvoraussetzungen mitbringen (vgl. Grille und Kauffeld 2015). Neben diesem stärkenorientierten Argument spricht auch die aktuell diskutierte abnehmende Bereitschaft der jüngeren Generationen, die „stressige“ – komplexe, konfliktreiche sowie zeit- und arbeitsintensive – Führungsrolle zu übernehmen, dafür, shared leadership-Konzepte in der betrieblichen Praxis umzusetzen. Die Führungsfunktionen bleiben wie gesagt erhalten und müssen weiterhin erfüllt werden, nur eben nicht mehr von nur einer Person. Es findet eine Entlastung und Konzentration der Kräfte bzw. Nutzung der jeweiligen Stärken statt, die schon Taylor vor 100 Jahren angestrebt hatte, auch wenn sich sein Vorschlag der radikalen Arbeitsteilung auf Managementebene, nämlich die Zerlegung der „Kopfarbeit“ in abgrenzbare Teilfunktionen, nicht durchsetzen konnte (allenfalls über Umwege, z. B. in der Matrixorganisation). Der entscheidende Grund für die zögerliche Umsetzung war, dass die mit der Aufteilung von Führungsaufgaben auf unterschiedliche Rollenträger einhergehenden Abstimmungsprozesse nicht nur sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen, sondern fast unweigerlich zu zwischenmenschlichen Reibungen führen, die in der klassischen Hierarchie durch das „Machtwort“ abgefangen werden. Im guten Fall löst dies kreative Synergien in Teams aus, erhöht die kollektive Lern- und Problemlösungsfähigkeit; im schlechten Fall kommt es zu Intransparenz, Verzögerung von Entscheidungen, hohen Koordinationskosten und einem Verlust an Zielfokussierung, zu persönlicher Belastung durch nervenaufreibende Konflikte (Machtkämpfe) und übertrieben aufwändiger Dokumentation (vgl. Schreyögg und Geiger 2016, S. 95).

Formale Machtbefugnisse – (Führungs‑)Kompetenzen im klassischen Sinne – werden vor allem mit der Zielsetzung sowie der Planung und Zuweisung personeller, finanzieller und materieller Ressourcen, der Informationssammlung, -integration und -verteilung in Verbindung gebracht (aber auch der Vertretung nach außen, der Verhandlungsführung und der Unterzeichnung von Verträgen). Informale Macht- oder Einflussausübung versteht Kompetenzen in einem modernen Sinne als sämtliche Handlungsvoraussetzungen, die dazu beitragen, gesetzte Ziele gemeinsam zu erreichen. Dazu zählen nicht nur Fach‑, Methoden‑, Sozial- und Selbstkompetenzen, sondern eben auch teamspezifische Führungskompetenzen (vgl. Kauffeld 2021), die sich unter die traditionelle Lokomotions- und Kohäsionsfunktion (Förderung der Aufgaben- und Beziehungsorientierung) subsumieren lassen. Bis heute hat sich nichts daran geändert, dass es stets um die Sache und um den Menschen geht. Geändert hat sich eher das Wie im Miteinander, das kooperativer geworden ist, und das Wer bzw. das Wieviele in der Beteiligung an Entscheidungen, das inklusiver geworden ist.

Als zentrale Einflusskräfte bzw. Machtwirkungen hat bereits Bales in den 1950er-Jahren den aufgabenorientierten task leader und den beziehungsorientierten socio-emotional leader in Gruppen identifiziert (Bales und Slater 1955). Ersterer wird als Tüchtigkeits-, letzterer als Beliebtheitsführer bezeichnet, wobei diejenige Person, die beide Kräfte in sich vereint, als great (wo)man anzusehen ist (sog. Divergenztheorem der Führung). Eine Personalunion ist eher selten, weshalb in hierarchischen Systemen zumeist die formale, gestrenge Führung für Zielklarheit, Aufgabenfokussierung und Leistungserbringung einsteht, während die informale, lockere Führung den Zusammenhalt im Team herstellt und aufrechterhält. Belbin (2001) hat nachfolgend zwischen drei arbeitswirksamen Kräften differenziert: Handlungsorientierte Rollen (Macher, Umsetzer, Perfektionist) wirken antreibend, drängen das Team in Richtung Zielerreichung. Kommunikationsorientierte Rollen (Wegbereiter, Teamarbeiter, Integrator) stellen Verbindungen innerhalb des Teams, aber auch zwischen dem Team und seiner Umwelt her. Wissensorientierte Rollen schließlich (Spezialist, Beobachter, Erfinder) bringen kreative Lösungen hervor und sorgen für Qualität in der erbrachten Leistung. In diesen drei Kräften spiegeln sich die von McClelland identifizierten „big three“, die drei grundlegenden menschlichen Bedürfnisse, d. h. das Macht‑, Anschluss- und Leistungsmotiv. In der bisher umfassendsten aktuellen Analyse zum Thema konnten diese zentralen Dimensionen bestätigt werden und wurden hier als Dominanzstreben, soziales Streben und Aufgabenorientierung bezeichnet (vgl. Driskell et al. 2017, S. 488). Diese Dimensionen sind bipolar angelegt (hohe oder niedrige Ausprägung) und grenzen „Rollenräume“ ab, in denen 13 Rollencluster mit ähnlichen Verhaltensmustern bzw. Handlungsprofilen identifiziert werden konnten. Der Ansatz lässt eine noch feingefächertere Einordung des vielfältigen, man könnte auch sagen unübersichtlichen menschlichen Verhaltensspektrums in Teams zu. Ähnlich gründlich geht die Interaktionsanalyse vor, die Gesprächsbeiträge in Teammeetings akribisch erfasst, auswertet und klassifiziert und im folgenden Kapitel dargestellt wird.

Für die Erfüllung von Führungsfunktionen in agilen Systemen ist die Kenntnis der verschiedenen Rollenleistungen deswegen essentiell, weil dadurch Über- oder Unterbesetzungen im Team, funktionale Redundanzen und Defizite, erkannt werden können und sich aus dieser Kenntnis ein Bedarf an personellen Veränderungen ableiten lässt. Bei Teammitgliedern, die dem Team mehr schaden als nützen, deren Zielbeitrag sich also gelinde gesagt in Grenzen hält (z. B. „runterziehende“ Schwarzseher oder notorische Aufmerksamkeitsheischer), ist zu prüfen, ob es nicht besser wäre, sie aus dem Team zu entfernen, um ein wertschätzendes und leistungsorientiertes Arbeitsklima zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Übergeordnetes Ziel ist die Schaffung eines ausgewogenen Rollenmixes, eines Mischwaldes, keiner Monokultur, wie Belbin (2001, S. 88 f.) es plastisch ausdrückt. Einseitig besetzte Teams (z. B. zu viele dominante Charaktere, zu viele Erfinder) sollten vermieden werden, da ansonsten kräftezehrende Machtrangeleien oder Endlosdebatten drohen.

Im Normalfall werden Rollen (im Gegensatz zur fachlichen Zuständigkeit) zu Beginn der Teamarbeit nicht bewusst zugewiesen. Die Rollenverteilung ergibt sich im Verlauf der Teamarbeit von ganz alleine, d. h. es kommt zu eher passiven (emergenten) Rollenübernahmen. Ein Teammitglied bekommt dabei eine oder mehrere Rollen unausgesprochen zugewiesen, weil es vom Gesamtteam für bestimmte (Führungs‑)Aufgaben als besonders geeignet eingestuft wird (oder aber weil es bei der Übernahme unliebsamer Aufgaben zu schwach war, nein zu sagen). Hierbei kann auch von role taking gesprochen werden. Übernimmt ein Teammitglied hingegen bewusst und aktiv eine bestimmte Funktion, weil es diese innehaben will (z. B. die Rolle des Wortführers in der Gruppe) und formt sich diese nach eigenen Vorstellungen selbst aus, so kann von role making oder job crafting gesprochen werden (vgl. Graen 1976; Wrzesniewski und Dutton 2001). Praktisch dürfte immer eine Mischung aus bewusster, eigen- und fremdinitiierter Planung und emergenter Entstehung vorliegen, schon allein deshalb, weil sich die Nachfrage nach unterschiedlichen Rollen im Arbeitsverlauf dynamisch wandelt, d. h. in unterschiedlichen Teamphasen sind unterschiedliche Teamrollen in unterschiedlicher Intensität gefragt (vgl. Belbin 2001, S. 22). „Die verschiedenen Rollen liegen nicht als vorgestanzte Behältnisse bereit, sie werden ‚im Verlaufe der Geschichte‘ entwickelt, ausgehandelt, angeboten, zurückgewiesen. Sie sind nicht fertig, objektiv, generell gültig, sondern immer einmalig und fragwürdig“ (Neuberger 2002, S. 334). Egal ob bewusst geplant oder selbstorganisiert entstanden, am Ende sollte die im Team vorhandene Rollenstruktur möglichst den faktischen Talenten, Stärken und tieferliegenden Neigungen der jeweiligen Rollenträger entsprechen (z. B. Technik anwenden, Umgang mit Zahlen, Beraten und Betreuen, Theorien entwickeln und konzeptionell denken, vgl. Butler und Waldroop 2004, S. 96 f.).

3 Interaktionsbezogene Rollen- und Einflussdynamiken in Meetings

Die Vielfalt an unterschiedlichen Persönlichkeiten, d. h. menschliche Eigenheiten, die durch genetisch-neuronale, fachliche, herkunfts-, alters- und bildungsgezogene, aber auch durch kulturelle Unterschiede bedingt sind, und die individuell variierenden Stärken und Präferenzen, bestimmte Rollen zu übernehmen, lassen erahnen, welche oft ungeplante Interaktionsdynamik sich in Teams im Verlauf der Zusammenarbeit in den einzelnen Teamprozessen entfalten kann. Die Forschung hat in den letzten 20 Jahren ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf solche emergenten bzw. gruppendynamischen, d. h. nur bedingt plan- und vorhersehbaren Erscheinungen gerichtet, um dadurch zu einer dynamisierenden und mehrdimensionalen Betrachtung des bis dahin dominanten, jedoch eher statisch-mechanistisch angelegten Input-Prozesse-Output-Modells der Teamarbeit zu gelangen (vgl. Marks et al. 2001; Busch 2015, S. 213 ff.; Busch und von der Oelsnitz 2016, S. 346 ff.). Neben Teamkognitionen, also kollektiven Wissensstrukturen (z. B. das Wissen der Teammitglieder übereinander, über jeweilige Eigenheiten und Fähigkeiten, das Wissen über geltende Regeln und Gepflogenheiten) und Teamemotionen (z. B. Teamgeist, Teamstimmung) wird vor allem informellen, Schwankungen unterworfenen Teamhierarchien in jüngerer Zeit immer mehr Beachtung geschenkt (vgl. To et al. 2022). Diese spiegeln faktisch geltende, prinzipiell aber veränderliche Rangordnungen bzw. -folgen im Team wider, die sich im Wesentlichen aus den Verhaltensweisen und Leistungen von Teammitgliedern, aus ihren unterschiedlichen Rollenbeiträgen und deren Bewertung durch Teammitglieder ergeben.

Im Tierreich wird seit Thorleif Schjelderup-Ebbe von Hackordnungen gesprochen. In zwischenmenschlichen Gruppen erweisen sich Statuszuweisungen allerdings als wesentlich komplexer und veränderlicher, schließen jedoch Rangkonflikte und Aggressionen im Kampf um knappe Ressourcen mit ein (vgl. Greer et al. 2017, S. 105 ff.; Vatter und Kugler 2022, S. 361). Sie sind nicht auf ein Kräftespiel zwischen natürlichem Führer (Alpha) und Gruppe beschränkt und basieren auch nicht auf einem kontinuierlichen hierarchischen Ranggefälle vom Ersten bis zum Letzten. So finden sich auf dem zweiten Platz in Gruppen häufig mehrere Gleichwertige und die Prestigeverhältnisse ab der dritten Position unterscheiden sich ebenfalls oft nur geringfügig (vgl. Schindler 2016, S. 106, 308). Der österreichische Psychiater Raoul Schindler hat sich in seinem rangdynamischen Modell daher auf vier idealtypisch konzipierte Positionen beschränkt, innerhalb dieser Positionen aber darauf verzichtet, weitere Rangabstufungen vorzunehmen. Die Macht, die jemandem zukommt, ist eng mit seiner Rolle am Arbeitsplatz verknüpft. Anders als Belbins Rollen, die im Zeitverlauf relativ beständig sind, können die von einem einzelnen Teammitglied im Verlauf der Zusammenarbeit eingenommenen Machtrollen sowohl innerhalb eines Teams als auch zwischen Teams wechseln. Das Denken in Rollen-Klischees sollte hier unbedingt vermieden werden (vgl. Spaller 2018, S. 406). Das soziale Gefüge einer Gruppe erscheint eher wie ein Mobile, das ständig in Bewegung ist, mit wechselnden Rangstufen (im Gegensatz zum psychiatrischen Kontext, wo Rollen stärker fixiert sind). Ein einzelnes Gruppenmitglied kann also je nach Teamkonstellation und situativem Bedarf voneinander abweichende Rollen einnehmen bzw. emergent zugewiesen bekommen.

Innerhalb seines rangdynamischen Modells hat Schindler vier Positionen unterschieden, die er jeweils mit griechischen Buchstaben kennzeichnete: Alpha, der als natürlicher Anführer durch sein Engagement die Richtung bestimmt, das Team repräsentiert und vorangeht; Beta, die fachliche Autorität im Team, die sich ihre Unabhängigkeit durch inhaltlich wertvolle Beiträge erhält; Gamma, die Position all derer, die Alpha nachfolgen und sich mit dessen Initiative identifizieren, sie leisten die eigentliche Arbeit, und Omega, der als letzter nachfolgt, zögernd oder gehemmt, vielleicht ängstlich, der aber auch kritisch hinterfragt; er ist sozusagen der Gegenspieler von Alpha, ein Widerspruchsgeist, dessen Wirken für die Kreativität und dynamische Weiterentwicklung des Teams aber bedeutsam ist (vgl. Schindler 2016, S. 116, 232, 344; Busch und von der Oelsnitz 2018, S. 222–235). Je strukturierter das Ranggefüge eines Teams ist, desto erfolgreicher ist es bei der Erreichung seines Ziels, je unstrukturierter ein Team nach innen ist, desto eher sind Misserfolge vorprogrammiert (vgl. Pollany 1983; Moreno 1996), d. h. die „Rangordnung regelt nicht nur das Prestigegefälle innerhalb der Gruppe, sondern erfüllt auch eine dynamische Aufgabe für das Zustandekommen der Gruppenleistung, die von den Gammas getragen, von Beta geformt und von Alpha und Omega angeregt wird. Der einzelne Rangträger spielt daher auch für das Funktionieren der Gruppe im Innern und ihre Leistung nach außen eine bestimmte, sich immer klarer ausprägende Rolle“ (Schindler 2016, S. 173).

In selbstorganisierten Strukturen geht es verstärkt um die Betrachtung solcher informellen Teamhierarchien und allgemein um die Frage, warum und wodurch sich Einzelpersonen oder Personengruppen in Diskussionen und Entscheidungen durchsetzen: Aufgrund „schlagender“, fachlich überzeugender oder rhetorisch wirksamer vorgebrachter Argumente? Aufgrund der Fähigkeit, Sympathien für sich zu gewinnen, Koalitionen zu bilden und die Mehrheit auf die eigene Seite zu ziehen? Aufgrund gemeinsamer Wertvorstellungen, an die appelliert wird? Aufgrund des dominanteren, zwingenderen Auftretens oder der besonderen Ausstrahlung, des Charismas einer Person, dem sich das direkte Umfeld kaum entziehen kann, oder auch aufgrund des Einsatzes eher fragwürdiger Beeinflussungstechniken (z. B. Agenda Setting, mikropolitische Taktiken, Impression-Management)? Wem wird die natürliche Alpha-Position, die informale Leader-Rolle zugesprochen (und durch welche Verhaltensweisen wird sie wieder aberkannt)? Wer verfügt über das größere Standing, die höhere Autorität, um seine Sichtweise der Dinge am Ende durchzusetzen? Allein diese Fragen der Durchsetzung erscheinen bereits sehr komplex. Hinzu kommt die wohl noch größere Herausforderung, zu klären, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt der Teamarbeit welche Rollenkräfte (inklusive der damit in Verbindung stehenden Teamprozesse), zum Beispiel die mehr nach Effizienz und Zielerreichung strebenden Macherrollen (Exploitation) oder die mehr auf Kreativität und vielfältige Lösungssuche abzielenden Sucherrollen (Exploration), in den Vordergrund rücken und Dominanz entfalten sollten (vgl. Driskell et al. 2017, S. 503; Csar 2021; Güttel und Konlechner 2017). Die Antwort hierauf kann leider weder im Vorhinein für einzelne Teams gegeben werden noch lässt sie sich generell, teamübergreifend je abschließend bestimmen, da teamintern ausgelöste und umweltinduzierte Störereignisse, allgemein sich wandelnde situative Umstände, stets auftreten (z. B. personelle Umstrukturierungen im Team, Verhalten konkurrierender Unternehmen, geänderte Kundenwünsche, neue Rechtsvorschriften) und zu berücksichtigen sind. Ideale Lösungen setzen ein ideales, beständiges Team und Umfeld voraus. Diese Voraussetzungen gibt es aber nicht. Überdies erzeugt nach Luhmann jede Problemlösung wiederum ein „Lösungsproblem“: unerwartete Folgewirkungen, die angegangen gehören. Es gibt demnach keine dauerhaft perfekte Organisation, lediglich eine für die gerade bestehende Situation mehr oder weniger geeignete (Teil)Struktur.

Um Anpassungsleistungen zu bewerkstelligen, sind regelmäßige Treffen erforderlich, in denen Informationen und Ideen ausgetauscht werden, in denen gemeinsam reflektiert, debattiert, koordiniert und kooperiert wird. Nicht umsonst spielen Retrospectives, Daily und Weekly Sprints, Standups und viele ähnliche Formate in agilen Arbeitsformen eine Schlüsselrolle. Meetings werden damit zu zentralen Einflussfaktoren einer starken Arbeits- und Unternehmenskultur. Virtuelle und reale Treffen werden nicht nur in der Praxis immer häufiger eingesetzt, sondern sind auch in der aktuellen Forschung zu einem wichtigen Erkenntnisobjekt, zu einer als bedeutsam eingestuften Analyseeinheit geworden (vgl. Allen und Lehmann-Willenbrock 2022). Erfolgreichen Unternehmen gelingt es, Meetings gut zu planen, durchzuführen und im Anschluss die Ergebnisse im betrieblichen Handeln tatsächlich auch umzusetzen. Wie oft dies fehlschlägt, weiß jede/r aus eigener Erfahrung. Bereits Peter Drucker erkannte in seinem 1967 veröffentlichten Klassiker „The effective executive“ die essentielle Bedeutung produktiv durchgeführter, zielgerichteter Besprechungen als Basis erfolgreichen Managements, schließlich würden Führungskräfte mehr als die Hälfte ihres Arbeitstages dort verbringen. Der Zweck (z. B. Herbeiführung einer Entscheidung, Informationsvermittlung, Klärung einer Vorgehensweise) sollte im Vorfeld immer gründlich durchdacht werden und allen Teilnehmenden klar sein (vgl. Drucker 2014, S. 9 f., 75 ff.).

In der interaktionsbezogenen Forschung werden Teambesprechungen mit Hilfe von Videokameras aufgenommen und anschließend sorgfältig nach verbalen und nonverbalen Äußerungen ausgewertet (vgl. Kauffeld 2007, S. 60; Lehmann-Willenbrock et al. 2011, S. 650). Das auf Bartel und Saavedra (2000, S. 208) zurückgehende Beobachtungsinstrument erfasst etwa den Gesichtsausdruck, die Körperhaltung und die Modulation der Stimme. Kauffeld und Lehmann-Willenbrock (2012, S. 133 ff.) haben zur Erfassung von Interaktionssequenzen ein integratives Kodierungsschema entwickelt. Die einzelnen Äußerungen von Teammitgliedern während eines Meetings werden hierbei vier kommunikativen Grundtypen zugeordnet: Problemfokussierte, verfahrensbezogene, sozio-emotionale und handlungsorientierte Äußerungen. Aus solchen Analysen lässt sich herauslesen, von wem richtungsweisende Äußerungen und entscheidende Denkimpulse ausgehen, wer Zustimmung oder Ablehnung erfährt und wem schlussendlich welche Rangposition im Team zukommt – eher anführend, mitmachend, beratend oder widerstehend.

Vielversprechend erscheint auch die allgemeine Erfassung von Gruppendynamiken, positiven und negativen Interaktionszyklen im Verlauf von Teammeetings, in denen sich immer unvorhergesehene Entwicklungen ergeben können; zwei Treffen desselben Personenkreises können durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen (vgl. Lehmann-Willenbrock und Gerpott 2018, S. 277 ff.; Wimmer 2022, S. 575). Die Stimmung kann sich „aufheizen“, Gräben können sich auftun oder Einzelpersonen können sich zu Lasten anderer zu sehr in den Vordergrund rücken, so dass am Ende die Entscheidungsqualität darunter leidet. Dabei gilt es, die altbekannten gruppenpathologischen Erscheinungen im Blick zu behalten (z. B. übertriebenes Konformitätsstreben im Sinne des Groupthink, Festhalten am Kurs trotz absehbarem Misserfolg (escalating commitment), Polarisierungen und Spaltungstendenzen in Gestalt von Subgruppenbildungen, Risikoschübe und Verantwortungsdiffusion). Interessant erscheint speziell die Frage, wie es Teams gelingt, Erfolgsspiralen in Gang zu setzen und Abwärtsspiralen rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden (vgl. Lindsley et al. 1995). Kauffeld (2007) hat hierfür den Begriff des „Jammerzirkels“ geprägt – das Klagen über schlechte Bedingungen als ein zwar zusammenschweißendes, die Lösungsfindung aber blockierendes Band. Doch selbst Erfolge bergen Gefahren, indem sie informelle Teamhierarchien entstehen lassen, die anschließend Fehlentwicklungen begünstigen können, weil sich das Team weiterhin auf diese verlässt, obwohl inzwischen womöglich veränderte Bedingungen eingetreten sind, die nach anderen Kompetenzen und Lösungswegen verlangen (vgl. To et al. 2022).

All das legt den Schluss nahe, dass nicht nur die Arbeit im Team, sondern auch die kontinuierliche Arbeit am Team (aber auch die zwischen Teams) erforderlich ist, die regelmäßige Hinterfragung des eigenen Handelns und der jeweiligen Handlungsvoraussetzungen. Gefragt ist also das, was die Teamforschung seit langem intensiv unter der „Metakompetenz“ der Teamreflexivität erörtert (vgl. West 2012, S. 10 f.; Busch 2015, S. 106–146). Selbststeuerung in Teams baut ganz wesentlich auf der Fähigkeit auf, über das Was und das Wie der Zusammenarbeit gemeinsam zu reflektieren. Mit eingeschlossen ist dabei das Sprechen darüber, wie im Team Führung organisiert und praktiziert, aber auch dahingehend evaluiert wird, ob diese den jeweiligen situativen Erfordernissen entspricht. Da diese Themen in hierarchischen Verhältnissen relativ tabuisiert und der Gestaltung weitgehend entzogen sind, stellen sie eine neue und anspruchsvolle Anforderung für alle Beteiligten dar, muss doch nun gelernt werden, ehedem Unausgesprochenes explizit und besprechbar zu machen. Empirisch sollte künftig noch stärker durch Befragung und Beobachtung geklärt werden, wann, wie und ob Teams über Führung sprechen und welche Implikationen dies auf das kollektive Lernen, die Anpassungsfähigkeit und den Erfolg hat. Ohne Zweifel sind weiterhin auch besondere Leadership-Fähigkeiten gefragt, d. h. die Bereitschaft Einzelner, voranzugehen, umfassendere, größer angelegte Pläne und Zukunftsbilder zu entwerfen, andere dafür zu gewinnen und Entwicklungsprozesse zu steuern. Ein alleiniges Bemühen um kontinuierliche Verbesserung des Bestehenden reicht in disruptiven Zeiten nicht mehr aus, um dauerhaft auf dem Markt bestehen zu können. Neben kleinen Schritten, müssen von Zeit zu Zeit auch größere Sprünge gewagt werden. Neben dem Blick auf das Einzelne ist auch der Blick auf das Ganze zu kultivieren.

4 Funktionsbedingungen und Barrieren agiler Einflussstrukturen

Im Vergleich mit der hierarchischen Organisation müssen in der agilen Organisation sämtliche Organisationsmitglieder fortlaufend viel lernen und reflektieren, aber auch (Selbst)Führungsverantwortung übernehmen, unternehmerisch denken und uneigennützig handeln. Es fehlen die eindeutigen, klaren, vorgegebenen, berechenbaren und entlastend wirkenden Strukturen und Routinen des alten Systems, was von den Beteiligten wiederum mehr Flexibilität sowie die Akzeptanz und Beherrschung von „Unsicherheitszonen“ (Kühl 2015, S. 9) verlangt. Diese können sich speziell in Konflikten als problematisch erweisen. Anders formuliert braucht es eine hohe Stress‑, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz bei den Mitarbeitenden, die nur dann gesundheitlich abgefangen werden kann, wenn eine generell fürsorgliche Kultur des Miteinanders und der Menschlichkeit das Unternehmen trägt und im Alltag gelebt wird.

Nicht wenige in Theorie und Praxis behaupten, dass all dies in kleinen und jungen Einheiten mit direkten und häufigen Kontaktmöglichkeiten leichter umsetzbar ist als in größeren, zwangsläufig anonymer und bürokratischer werdenden, konzernartigen Strukturen (vgl. Greiner 1998). Solche Einheiten (z. B. F&E-Abteilung, Start-ups, Projektteams) hätten im Grunde aber immer schon quasi agil gearbeitet (vgl. Takeuchi und Nonaka 1986). Der Erfolg agiler Strukturen hängt demnach in starkem Maße von der Größe und den mitwirkenden Menschen mit ihrem Mindset ab. Banai konnte dies auf überzeugende Weise für israelische Kibbuzim und das Orpheus Chamber Orchestra, das ohne Dirigenten auskommt, herausarbeiten. Wesentliche Erfolgskriterien bilden hierbei Gewinn- und Kapitalbeteiligungen (ownership), eine überschaubare Gruppengröße, vollkommen freiwillige Mitgliedschaft, sehr lange Probezeiten (um den cultural fit, aber auch das Leistungs- und Verwendungspotenzial möglicher Kandidaten zu überprüfen), eine gemeinsame Vision, ein hohes Ausmaß an gegenseitigem Vertrauen, geteilte bzw. rotierende Führung, interessante Aufgabeninhalte und intensive Face-to-Face-Kommunikation, durch die sich starke Beziehungen – als unerlässliche Voraussetzung für eine starke Organisation – aufbauen können (vgl. Banai 2021; Banai et al. 2000). Solche elementaren Funktionsbedingungen herbeizuführen ist bereits herausfordernd. Erschwerend wirken außerdem blockierende Kräfte, die in der widersprüchlichen Natur des Menschen, aber auch in der Kultur der Gesellschaft gründen und langfristig eher für die Persistenz der Hierarchie als für die allgemeine Verbreitung von Agilität sprechen (von staatlicher Überregulierung und Zertifizierungszwängen, die Unternehmen zunehmend die Luft zum freien Atmen nehmen, soll hier gar nicht gesprochen werden) (vgl. Busch und Link 2021b, S. 80 ff.). Nicht alle Menschen verfügen über den Willen und die Reife, eigenverantwortlich zu handeln und zu entscheiden. Unsere wettbewerbsorientiert-kapitalistische Gesellschaft schürt überdies den sich von anderen abgrenzenden Materialismus und Karrierismus. Die Bereitschaft, auf Status und Privilegien zu verzichten, ist allgemein eher gering ausgeprägt. Gleichberechtigte Führungsstrukturen widersprechen zudem kulturell tief verankerten Vorstellungen im Hinblick auf eine effektive Führung (sog. leadership prototypes), von der – eher unbewusst – Dominanz, klare Zielvorgaben, Durchsetzungswille und rhetorische Stärke erwartet werden (vgl. Lord und Maher 1993; Schweiger et al. 2020, S. 414). Solche tiefer liegenden Denkmuster können nicht von heute auf morgen verändert werden. Die kulturelle Transformation, wie sie etwa der norddeutschen Hotelkette Upstalsboom gelungen ist, benötigte in etwa sieben Jahre. Welche Unternehmen verfügen über einen derart langen Atem, welche haben einen ebenso charismatischen Befürworter und „Treiber“ wie Bodo Janssen? Denn durch eine solche visionären Einzelperson wird der Erfolg einer Transformation zu Beginn entscheidend geprägt, auch wenn sich dieser später auf viele Einzelpersonen stützt und verteilt.

5 Gestaltungsempfehlungen und Forschungsausblick

Damit agile Strukturen funktionieren, müssen Rollen klar definiert, voneinander abgegrenzt und für alle transparent sein. Es muss – soweit planbar – klar sein, wer welche Führungsfunktionen erfüllt bzw. wer auch aus rein rechtlichen Gründen welche Führungsbefugnisse wahrnehmen darf (Prokura). Dies führt oft zu der paradoxen Entwicklung, dass das ursprünglich vorgesehene freie Spiel der Kräfte am Ende doch wieder zu einem stark formalisierten, verregelten und verschriftlichten Miteinander wird. Auf „bürokratisierte“ Agilstrukturen weisen bereits einige Forschungsergebnisse hin (vgl. Sua-Ngam-Iam und Kühl 2021; Farkhondeh und Müller 2021). Agile Organisationen benötigen überdies andere Schlichtungsmechanismen bei Streitfragen (z. B. Ombudspersonen, auf gewaltfreier Kommunikation aufbauende Clear-the-air-Meetings), da die hierarchische „Abkürzung“ fehlt.

Auch klassische Karrieresysteme sind zu überdenken. Da in selbstorganisierten Strukturen im Grunde sämtliche Mitarbeitenden führungsverantwortlich sind, sollte die Messung speziell des Führungspotenzials auf einen breiteren Kreis ausgedehnt werden (z. B. mit Hilfe des Hamburger Führungsmotivationsinventars, des Power-Potential-Profile®, des Fragebogens zur Integrativen Führung oder des LEaD-Kompetenzmodells, vgl. Felfe et al. 2012; Kannenberg 2015; Rowold und Poethke 2017; Dörr et al. 2021). Dies spielt bereits bei der Rekrutierung und im anschließenden Onboarding, das nicht nur (stellen)zuweisend, sondern auch suchend-experimentell angelegt sein sollte, eine zentrale Rolle. Die identifizierten Leadership-Fähigkeiten einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, z. B. entscheidungsstark und visionär zu sein, gut zuhören und beobachten oder Fähigkeiten in seinen Mitmenschen erkennen und fördern zu können, sollten genutzt werden, um ihn oder sie in der Projektleitung, als Buddy im Onboarding, als Mentor oder allgemein als „Alltags-Coach“ einzusetzen. Viele andere Beispiele sind denkbar. Führung ist weniger monolithisch, mehr modular zu denken: als vielfältiges Set an zu erfüllenden Grundfunktionen, die auf unterschiedliche Arbeitskräfte zu verteilen sind. Das hat dann nur noch wenig mit der ursprünglich auf einen exklusiven Kreis festgelegten Führungskräfteentwicklung zu tun. Der Stärken- und Talentidentifikation, aber auch der Persönlichkeitsentwicklung kommt allgemein eine viel größere Bedeutung zu (vgl. Janssen und Grün 2017; Gallup 2022). Identifizierte Stärken und auf diese „job-gecraftete“ Aufgabengebiete, die das Flourishing (Aufblühen) von Mitarbeitenden fördern, können sich am Ende dennoch wieder in rigideren, ja oligarchischen Strukturen verfestigen, da speziell die menschliche Bereitschaft, antreibende, Kontrolle ausübende Führungsrollen zu übernehmen, unterschiedlich hoch ist. Läuft also schließlich doch wieder alles auf eine Hierarchie hinaus, wenn auch von einer informell-stärkenbezogenen Basis ausgehend? Herbert Simon ging in seinem klassischen Aufsatz davon aus, dass Komplexität stets Hierarchie als strukturierendes Ordnungsschema braucht; es ist seiner Meinung nach kein zufälliges, sondern ein essentielles Merkmal erfolgreicher Systeme (vgl. Simon 1962). Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass die formale Hierarchie per se besser ist. Man kann nur sagen, dass es hierarchieähnliche Strukturen braucht (vgl. Slade Shantz et al. 2020) und ein professionelles Zusammenspiel zwischen formellen und informellen Lenkungskräften erforderlich ist (vgl. Oedzes et al. 2019), wobei durch Agilität eine gewisse Schwerpunktverlagerung hin zu informellen Kräften eingetreten ist.

Fest steht aber auch, dass es das reine „Führerprinzip“ so nie gab. Selbst die nationalsozialistische Ordnung konnte von der verwaltungswissenschaftlichen Forschung als auf dem „divide-et-impera-Prinzip“ gründende Polykratie oder gar als „organisiertes Chaos“ überzeugend nachgezeichnet werden (vgl. Seibel und Raab 2003). Nicht nur für die politische Analyse von Herrschaftsstrukturen, sondern auch für die unternehmerische Analyse von Führungsstrukturen wird es künftig daher immer wichtiger, den Forschungsfokus von der Personenzentrierung auf die Netzwerkebene zu verlagern. Nicht mehr die dyadische Führer-Geführten-Beziehung (gegebenenfalls verfeinert durch Leader-Member-Exchange-Betrachtungen), sondern das Team an Führungskräften, das Führungsnetzwerk wird zum entscheidenden Erkenntnisgegenstand. Michel Foucault spricht von Gouvernementalität, von in Netzwerken verteilter und in Relationen gründender Macht, die in Interaktionen konstruiert wird (vgl. von Ameln 2018, S. 32). Wer steht mit wem in Kontakt? Welche Dynamiken und Konfliktkonstellationen gibt es? Welche Veränderungen treten durch Neuzugänge auf? Wie verteilt sich innerhalb des Netzwerks formelle und informelle Macht? Gibt es besonders einflussreiche Knoten? Wie hängen autoritär, klassisch hierarchisch gesteuerte und emergente, selbstorganisiert entstehende Einflussordnungen zusammen? All dies sind relevante Fragen der zukünftigen Führungsforschung, die verstärkt auf Soziometrie, Netzwerkanalyse, über einen längeren Zeitraum gehende Intensivbeobachtungen, Dokumenten- bzw. Internetspuren-Auswertungen sowie Interviews und strukturierte Nachbesprechungen zu setzen hat, um feinkörnige Veränderungen bzw. phasenspezifisch wechselnde Einflüsse emergenter Phänomene im Zeitverlauf präziser erfassen zu können (vgl. Busch et al. 2020, S. 639 f.; exemplarisch Kim et al. 2012). Wenn Führung im Alltag komplexer, unübersichtlicher und vielgestaltiger wird, dann hat auch die Forschung hiermit Schritt zu halten.