1 Einleitung

Die Digitalisierung als Megatrend erfasst alle gesellschaftlichen Bereiche und damit auch die Arbeitswelt (Kauffeld und Maier 2020; Maier et al. 2020). Im Mittelpunkt stehen dabei digitale Informationstechnologien, die zunehmend neben dem experimentellen wissenschaftlichen Kontext auch in der Praxis von Industrie und Wirtschaft eine Rolle spielen (Bottani und Vignali 2019). Mit einer zunehmenden Bedeutung im Anwendungskontext der Arbeitswelt wächst aber auch der Druck auf alle Akteure am Markt mit der Entwicklung „Schritt zu halten“. In der Industrie bedeutet dies, dass auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) diesem Druck ausgesetzt sind. Besonders interessant für KMUs sind dabei Informationstechnologien, die nicht nur in der Wertschöpfung selbst eine Rolle spielen, sondern auch neue Möglichkeiten des arbeitsbezogenen Lernens und Anlernens am Arbeitsplatz selbst eröffnen. Dazu gehören auch Augmented Reality (AR) Systeme, welche die Wahrnehmung um zusätzliche meist visuelle und auditive Informationen anreichern. Mit der Microsoft HoloLens 2 wird beispielweise eine AR-Brille angeboten, die sich neben der Forschung und Entwicklung auch direkt an potenzielle Kunden wendet (Microsoft Corporation 2019). Die HoloLens 2 wird dabei im Arbeitskontext selbst, sowie in der Bildung und Fortbildung eingesetzt und findet vorwiegend in der Medizin (z. B. Operationsassistenz) und Technik (z. B. Anleitung zum Nachrüsten von Maschinen in der Industrie) Anwendung (Park et al. 2021). Diese neuen Informationstechnologien erfüllen somit eine Doppelfunktion im Anlernen und der Unterstützung bei Arbeitstätigkeiten und können dadurch die operative, wie auch die strategische Ausrichtung nachhaltig unterstützen. Gerade für KMUs mit kleinen Belegschaften und oftmals wenig Möglichkeiten für Produktionsstillstände für Schulungsmaßnamen oder aufwändige Pilotierungsphasen stellen diese Technologien eine Möglichkeit dar, Organisations- und Arbeitsabläufe zu optimieren und Mitarbeitende am Arbeitsplatz anzulernen. Gleichzeitig verfügen KMUs aber über verhältnismäßig wenige Ressourcen für die Begleitung der Technologieeinführung und sind durch eine kleine Belegschaft im besonderen Maße anfällig für personelle Fluktuationen, was zusätzliche Hemmnisse für eine Technologieeinführung sein können (Astor et al. 2016; Warschat et al. 2015). Demnach sind ein potenzielles Scheitern der Technologieeinführung oder eine Ablehnung der neuen Technologie durch die Beschäftigten zu vermeiden und sich anbahnende Probleme sollten so früh wie möglich identifiziert werden. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass die Technologieeinführung auf beiden Ebenen – technischer und personeller – erfolgreich geplant und umgesetzt wird (Schlicher et al. 2020, 2022b).

Für die technische Umsetzung stellt die DIN EN ISO 9241-210 „Menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme“ ein Rahmenmodell für die Entwicklung und Umsetzung neuer Informationstechnologien wie AR-Systeme dar (Deutsches Institut für Normung e. V. 2019). Während für die technische Umsetzung also ein Referenzrahmen besteht, gibt es wenig Anhaltspunkte für den Einfluss dieser interaktiven Systeme auf die Arbeitsgestaltung. Dabei ist anzunehmen, dass sich im Zuge der Einführung dieser Systeme die arbeitsgestalterischen Änderungen auch auf die benötigten Kompetenzen der Mitarbeitenden auswirkt. So spielen Programmierungskenntnissen als Kompetenz branchen- und qualifikationsübergreifend eine immer wichtigere Rolle (Oberländer et al. 2020). Diese Veränderungen der Kompetenzen erstrecken sich auf das gesamte Erwerbsleben und reichen von wissensintensiven Arbeitsplätzen bis hin zu Industriearbeitsplätzen (Murawski und Bick 2017).

Erfolgt keine Anpassung durch Schulungen oder arbeitsplatznahe Weiterqualifikation, so können unzureichende Kompetenzen und Qualifikationen hingegen zu niedrigerer Arbeitszufriedenheit, einer niedrigeren Organisationalen Bindung und höheren Kündigungsabsichten (Sim und Lee 2018), sowie geringerem Wohlbefinden und schlechterer Gesundheit führen (Schaufeli und Taris 2014; van der Doef und Maes 1998). Nicht zuletzt deshalb wird die Berücksichtigung der zukünftigen Anforderungen in der DIN 33430 (Deutsches Institut für Normung e. V. 2002) gefordert, um die sich verändernden erforderlichen Kompetenzen zu adressieren und negative Folgen zu mildern. Eine Antizipation des Kompetenzprofils hat sich auch für die Einführung von AR-Technologien wie Datenbrillen in der Praxis als hilfreich erwiesen um z. B. durch die Einbindung der Mitarbeitenden Vorurteile und Ängste abzubauen (Paruzel et al. 2020). Um eine möglichst effektive Technologieeinführung und Personalentwicklung für KMUs im Kontext sich verändernder Arbeitsbedingungen zu ermöglichen, ist es daher wünschenswert neben einer menschenzentrierten technischen Umsetzung zukünftig erforderliche Kompetenzen bereits prospektiv zu erfassen und Handlungsempfehlungen für die praktische Umsetzung (z. B. konkrete Schulungsbedarfe) abzuleiten.

Eine Möglichkeit diese arbeitsbezogenen Veränderungen der Kompetenzen erfolgreich zu adressieren, besteht darin, wissenschaftlich fundierte Methoden einzusetzen, welche bereits vorab präzise Abschätzungen der sich verändernden Kompetenzen ermöglichen, um Ängste und Widerstände abzubauen und einen erfolgreichen Beitrag zum Change-Management zu liefern. Eine solche Methode ist die Prospektive Kompetenzanalyse (ProKA; Kato-Beiderwieden et al. 2021), welche bereits erfolgreich in Unternehmen eingesetzt wurde (Schlicher et al. 2022a). Die ProKA besteht dabei aus drei Schritten. Im ersten Schritt werden mittels teilstandardisierter Interviews und Arbeitsplatzbegehungen arbeitsrelevante Kompetenzen identifiziert, geclustert und von Mitarbeitenden bzw. Stelleninhaber*innen nach ihrer Relevanz gewichtet. Im zweiten Schritt wird die zukünftige Arbeitssituation z. B. mittels Workshops identifiziert und die Kompetenzen für diese zukünftige Arbeitssituation von den Mitarbeitenden erneut gewichtet. Im dritten Schritt werden die beiden gewichteten Kompetenzprofile der Arbeitssituationen verglichen und Maßnahmen abgeleitet. Der prospektive Ansatz durch die Ermittlung eines unternehmens- oder arbeitsplatzspezifischen Kompetenzprofils ermöglicht im Vergleich zu anderen Verfahren bereits im Vorfeld eine präzise Abschätzung des zukünftigen Arbeitsplatzes (Kato-Beiderwieden et al. 2021). Die Abstraktionsebene der Kompetenzen wird dabei so gewählt, dass diese auch zukünftige Arbeitsplatzveränderungen adäquat erfassen können und mit ähnlichen Tätigkeiten vergleichbar sind, wie dies in der Forschung zur Arbeitsplatzgestaltung üblich ist (Morgeson und Humphrey 2006). Der Einbezug von Mitarbeitenden und Führungskräften ermöglicht ein umfassendes Profil aller relevanten Kompetenzen. Durch den Abgleich des jetzigen und des zukünftigen Kompetenzprofils können systematisch Verzerrung durch eine zu starke Fokussierung auf die Veränderungen alleine reduziert werden (vgl. Schuler und Höft 2004), sodass der ganze Arbeitsplatz beurteilt wird. Eine grafische Übersicht des Vorgehens der ProKA, wie sie auch in diesem Praxisbericht umgesetzt wurde, findet sich im Artikel von Kato-Beiderwieden et al. (2021).

Bisher ist jedoch der Einsatz einer solchen prospektiven Methode für Arbeitsplätze mit kleinen Fallzahlen nicht untersucht worden, wenngleich dies gerade für KMUs mit einem hohen Innovationspotential für neue Informationstechnologien (Astor et al. 2016) als notwendig erscheint. Personelle und finanzielle Risiken sind zwei der fünf größten Barrieren für Innovationen in KMUs (Horváth und Szabó 2019) sodass diese im besonderen Maße von einem prospektiven Ansatz profitieren, um diese Barrieren zu überwinden, indem potenzielle Risiken vorab besser abgeschätzt und somit minimiert werden können. Bisher gibt es jedoch noch kein Konzept oder Praxiserfahrung für die Auswertung von Kleinststichproben mit einem prospektiven Verfahren (Kato-Beiderwieden et al. 2021). Es erscheint daher aus Sicht einer innovativen forschungsnahen Praxis heraus sinnvoll, Lösungen zu erarbeiten, sodass diese zukünftig leichter in KMUs umgesetzt werden können. Eine grafische Übersicht dieser Anpassungen findet sich in Abb. 3. Im Rahmen dieser Fallanalyse skizzieren wir daher den Einsatz und die erfolgreiche Adaptation der ProKA in KMUs als Teil eines Verbundprojektes (Audiovisuelle Unterstützung durch ein kognitives und mobiles Assistenzsystem für die moderne Arbeitswelt (AVIKOM)), in dem ein audiovisuelles AR-Assistenzsystem für verschiedene Anwendungsszenarien in KMUs entwickelt wurde (Neumann et al. 2020). Parallel zur technischen Entwicklung wurde die ProKA eingesetzt, um zukünftig erforderliche Kompetenzen für die erfolgreiche Ausführung beruflicher Tätigkeiten in den verschiedenen Szenarien zu erfassen, sodass Handlungsempfehlungen abgeleitet werden können. Abweichend zu dem von den Autor*innen der ProKA skizzierten Vorgehen zur Erarbeitung einer Vision der möglichen Arbeitsplatzveränderung, wurde in diesem Projekt der gegenwärtige Entwicklungsstand des AR-Assistenzsystems genutzt, sodass tatsächlich zu erwartende Arbeitsplatzveränderungen abgebildet werden konnten. Diese Ergebnisse der ProKA wurden über mehrere KMUs des Verbundprojektes hinweg zusammengefasst, um das Verfahren auch mit wenigen beteiligten Mitarbeitenden umsetzen zu können. Zusätzlich beschreiben und reflektieren wir eine methodische Anpassung der ProKA, die eine kosten- und zeiteffektive Ableitung von Handlungsempfehlungen durch unternehmensübergreifendes kollegiales Feedback ermöglicht und somit einen Transfer der Ergebnisse in die Praxis unterstützt. Dieser Beitrag skizziert somit eine mögliche praktische Umsetzung zur Kompetenzermittlung und Handlungsempfehlungen für KMUs für die Einführung neuer Informationstechnologien.

2 Methode

2.1 Projektumsetzung zur Entwicklung des audiovisuellen AR-Assistenzsystems

Das Ziel des Verbundprojektes war es, zwei bisher entwickelte Assistenzsysteme – ein visuelles AR-Assistenzsystems zur Handlungsunterstützung (Essig et al. 2016) und eines auditiven Assistenzsystems mit aktiver Geräuschunterdrückung (Fromme et al. 2015; Waßmuth 2015) – für den industriellen Anwendungskontext weiterzuentwickeln und beide Systeme zusammen einzusetzen (für Detail siehe Neumann et al. 2020). Als Plattform wurde dabei die HoloLens 2 von Microsoft genutzt (Microsoft Corporation 2019).

Die praktische Umsetzung orientierte sich an den Montage- und Logistikprozessen von drei KMUs als Industriepartner mit jeweils einem konkreten Anwendungsbezug. Diese waren 1) die Optimierung der Auftragsabwicklung durch die Anbindung des Assistenzsystems an das Warenwirtschaftssystem, 2) Nutzung des Assistenzsystems zur simultanen Kommissionierung und Verpackung mehrerer Ersatzteilaufträge und 3) Erhöhung der Arbeitssicherheit durch mittels des Assistenzsystems bei der Montage von Produkten mit Losgröße eins. Aus diesen drei Anwendungsbezügen wurden je KMU zwei konkrete Anwendungsszenarien des audiovisuellen AR-Systems abgeleitet, wobei die Anwendungsszenarien bei zwei KMUs gleich waren, sodass es vier Anwendungsszenarien gab. Diese waren Auftrag annehmen, sowie das Montieren oder Maschine rüsten für zwei KMUs und das Prüfen/Kontrolle vornehmen und Logistik für ein KMU.

Neben einer menschenzentrierten Gestaltung und technischen Umsetzung nach DIN EN ISO 9241-210 (Deutsches Institut für Normung e. V. 2019) wurde die ProKA begleitend umgesetzt, um auch die Veränderungen der Arbeitsplätze durch die Technologieeinführung zu erfassen, zu quantifizieren und geeignete Handlungskonzepte für die beteiligten KMUs zu erarbeiten.

2.2 Prospektive Kompetenzanalyse (ProKA)

2.2.1 Phase 1 – Analyse der jetzigen Situation

Die erste Phase der ProKA zur jetzigen Situation umfasst drei Teilabschnitte 1) Identifikation von Kompetenzen, 2) Clusterung der Kompetenzen und 3) Gewichtung der Kompetenzen (Kato-Beiderwieden et al. 2021). Zur Identifikation der Kompetenzen wurden zuerst gemäß den Autor*innen der ProKA teilstandardisierte Interviews mit stellenrelevanten Stakeholdern (z. B. Stelleninhaber*innen, die jeweiligen Führungskräfte) geführt. Auf diese Weise soll ein möglichst präzises und umfassendes Bild der Arbeitstätigkeit und der benötigen Qualifikationen gewonnen werden. Um dies zu erreichen, umfassten die Interviews die fünf Themenblöcken: 1) Arbeitsaufgaben, 2) tätigkeitsrelevante Qualifikationen, 3) wichtige Arbeitssituationen, 4) kritische Arbeitssituationen, sowie 5) Einsatzmöglichkeiten und Wünsche an das audiovisuelle Assistenzsystem. Der Interviewleitfaden orientierte sich an dem Task-Analysis-Tool zur Ermittlung der Anforderungen (Koch und Westhoff 2019). Ziel des Task-Analysis-Tools ist es mittels dieser Interviews Informationen zu den Zielen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten, den KSAs (Knowledge, Skills and Abilities), sowie erfolgsentscheidenden gegenwärtigen und zukunftsorientierten Situationen und Verhaltensweisen (Critical Incidents) zu erhalten. Eine Frage des Interviewleitfadens beispielsweise war: Welches Fachwissen sollte man haben, um erfolgreich die gestellten Aufgaben zu erledigen?

Befragt wurden insgesamt n = 10 Stelleninhaber*innen in den Unternehmen, sowie insgesamt n = 3 Beschäftigte (eine Person je Unternehmen) mit einer Führungs- oder Verwaltungsfunktion mit vergleichbaren Aufgaben. Auf diese Weise wurden die Informationen über die Arbeitsplätze gesammelt, in welcher das audiovisuelle Assistenzsystem eingesetzt werden soll. Darüber hinaus wurden noch n = 3 teilstandardisierte Expert*inneninterviews mit den Entwickler*innen des Assistenzsystems zur geplanten Machbarkeit und Umsetzung in den Unternehmen geführt. Diese Expert*inneninterviews sollten zusätzlich sicherstellen, dass durch die Einführung des AR-Assistenzsystems keine neuen Kompetenzen benötigt werden, die nicht bereits erhoben wurden bzw. die noch zu ergänzen sind. Die Interviews sind als Tonspuren aufgenommen worden und wurden im Anschluss von einem Projektmitarbeiter, der nicht die Interviews geführt hat oder an der Clusterung beteiligt war, transkribiert.

In einem zweiten Schritt wurde eine Clusterung der Antworten nach ihrer Ähnlichkeit vorgenommen und benötigte Kompetenzen für den Arbeitsplatz aus diesen Antworten formuliert. Diese Clusterung erfolgte von zwei Expertinnen (Master-Abschluss) in der Durchführung von Arbeitsplatzanalysen. Auf diese Weise wurden induktiv 43 Kompetenzen über alle Unternehmen und Stellen hinweg abgeleitet (vgl. Tab. 1). Die Einteilung der Kompetenzen erfolgte nach Koch und Westhoff (2019) nach den kognitiven, sozialen, motivationalen und emotionalen Voraussetzungen, wobei durch die Interviewergebnisse zusätzlich die Kategorie physische Voraussetzungen aufgenommen wurde, um die handwerklich-motorischen Aspekte der Tätigkeiten adäquat adressieren zu können.

Tab. 1 Übersicht der Mittelwerte der Kompetenzprofile in den Anwendungsszenarien der KMUs – Vergleich der aktuellen Arbeitssituation und der zukünftigen Arbeitssituation unter Verwendung des AR-Assistenzsystems

Im Anschluss wurden von n = 9 weiteren Mitarbeitenden (n = 3 je Unternehmen) zu je zwei konkreten Arbeitssituationen (Anwendungsszenarien) die Wichtigkeit der 43 Kompetenzen mittels einer 5‑stufigen Likert-Skala mit den Skalenpunkten „sehr unwichtig“, „eher unwichtig“, „mittel“, „eher wichtig“ und „sehr wichtig“ beurteilt. Die Anwendungsszenarien waren dabei die konkreten Situationen, in denen das audiovisuelle Assistenzsystem für die jeweiligen Unternehmen zum Einsatz kommen soll. Die Ergebnisse finden sich in Tab. 1, sowie eine grafische Darstellung eines Anwendungsszenarios für eine KMU in Abb. 1 dargestellt. Die Ergebnisse sind somit eine Gewichtung der aktuell relevanten Kompetenzen der Arbeitsszenarien vor der Systemeinführung. Die Befragung wurde mittels einer anonymen Paper-Pencil-Befragung durchgeführt, um eine offene und ehrliche Beurteilung zu ermöglichen (Paruzel et al. 2020).

Abb. 1
figure 1

Veränderung des Kompetenzprofils durch die Einführung des audiovisuellen AR-Assistenzsystems (AVIKOM). (Ausschnitt des Kompetenzprofils eines KMU für die Arbeitstätigkeiten des Anwendungsszenarios „Prüfen und Kontrolle vornehmen“, welches durch das audiovisuellen AR-Assistenzsystems zukünftig unterstützt werden soll. Ausschnitt zeigt die Bereiche physiologische und kognitive Voraussetzungen. Vergleich aktueller und zukünftiger Kompetenzen. 0 sehr unwichtig, 1 eher unwichtig, 2 mittel, 3 eher wichtig, 4 sehr wichtig)

2.2.2 Phase 2 – prospektive Analyse der zukünftigen Situation

Die zweite Phase der ProKA umfasst ebenfalls drei Schritte: 1) Die Erfassung der zukünftigen Situation, 2) die Beschreibung der zukünftigen Situation und eine anschließende 3) Gewichtung der zukünftigen Kompetenzen (Kato-Beiderwieden et al. 2021). Die ProKA sieht für die Erfassung der zukünftigen Situation Workshops vor, in denen Vignetten (Beschreibung von hypothetischen Situationen) für die zukünftige Arbeitssituation erstellt werden. Ein solches Vorgehen durch Befragungen von Expert*innen und Stelleninhaber*innen ist ein etabliertes Vorgehen zur Abschätzung von zukünftigen Arbeitsplatzentwicklungen (Kauffeld et al. 2022). Es wird jedoch ebenso empfohlen das Vorgehen unternehmens- und situationsspezifisch anzupassen (Kato-Beiderwieden et al. 2021). Durch die parallel stattfindende Entwicklung des audiovisuellen Assistenzsystems wurde der geplante Einsatz in den Unternehmen mittels der Business Process Model and Notation (BPMN; Object Management Group 2014) spezifiziert und es wurden im Rahmen des Projektes Diagramme der Firmenprozesse für die konkreten Anwendungsszenarien erarbeitet, die als Grundlage für die Vignetten genutzt wurden (vgl. Abb. 2). Entsprechend der Empfehlungen für realitätsnahe Vignetten (Aguinis und Bradley 2014) wurden unsere Vignetten sowohl von den Entwickler*innen des Systems in Hinblick auf die tatsächliche praktische Umsetzung, sowie von den Führungskräften der Unternehmen in Hinblick auf die Nützlichkeit und Realitätsnähe geprüft. Auf diese Weise wurde somit in einem zweiten Schritt die zukünftige Situation durch die Einführung des audiovisuellen AR-Systems erfasst. In Abb. 2 ist die anonymisierte Vignette für ein Anwendungsszenario, sowie die zugehörige anonymisierte und vereinfachte BPMN dargestellt. Es wurden für jedes Unternehmen zwei Vignetten erstellt, die für die geplanten zwei Anwendungsszenarien je KMU den Einsatz und die damit einhergehenden Veränderungen durch das audiovisuelle AR-Assistenzsystem realitätsnah darstellen.

Abb. 2
figure 2

BPMN und Vignette des Anwendungsszenarios „Montieren oder Maschine rüsten“. (Links: vereinfachte und anonymisierte BPMN Darstellung der Montage eines Kugelhahns/einer Absperrklappe. Rechts: Anonymisierte Vignette der zukünftigen Unterstützung durch das audiovisuelle Assistenzsystem)

In einem dritten Schritt sind anschließend von den Mitarbeitenden erneut die 43 Kompetenzen in Hinblick auf ihre Wichtigkeit für die zukünftigen Arbeitssituationen beurteilt worden. Auf diese Weise wurden für jedes Unternehmen zwei Anforderungsprofile der Kompetenzen für die gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitstätigkeiten erstellt (vgl. Abb. 1 und Tab. 1).

2.2.3 Phase 3 – Abgleich der zukünftigen mit der jetzigen Situation

Die aus der zweiten Phase resultierenden Ergebnisse wurden in einer dritten Phase an die jeweiligen Unternehmen individuell zurückgespiegelt. Mit den Führungskräften wurden daraus Handlungsempfehlungen und Schulungsbedarfe in Expert*innengesprächen erarbeitet, sowie Strategien entwickelt diese praxisnah umzusetzen. So ergaben sich beispielsweise für das Unternehmen aus Abb. 1 die größten Veränderungen bei den kognitiven Voraussetzungen der Kompetenzen für das Prüfen und Kontrolle vornehmen durch die Einführung des audiovisuelle AR-Assistenzsystems. Die Wichtigkeit der drei Kompetenzen Messen, Software bedienen und einfache/kleine Geräte bedienen nahm in diesen Bereichen am meisten ab. Entscheidungsfähigkeit und Planungsfähigkeit erfuhren ebenso eine, wenn auch geringere, Abnahme. Während erstere drei Kompetenzen von den Führungskräften des Unternehmens als Entlastung durch Informationsbereitstellung des Assistenzsystems gewertet wurde, so sollten die letzteren beiden Kompetenzen unverändert bleiben. Es wurde daraus ein Schulungsbedarf für die korrekte Nutzung des Assistenzsystems abgeleitet, um Vorurteile abzubauen, dass das System bei korrekter Nutzung die Handlungsmöglichkeiten einschränken wird.

2.3 Erweiterung der ProKA für Handlungsempfehlungen

Wir haben für die Ermittlung der Handlungsempfehlungen und Schulungsbedarfe ein zyklisches Vorgehen in der ProKA erprobt. Dabei sind die anonymisierten Ergebnisse für die Schulungsbedarfe der drei Unternehmen jeweils an ein weiteres KMU des Verbundprojektes weitergeleitet worden (Abb. 3). Diese wurden vom zweiten Unternehmen kritisch kommentiert und Hinweise zur Umsetzung gegeben. Die Rückmeldung stellt eine Form der kollegialen Beratung dar (Kaesler 2019) und zeichnet sich durch eine klare Struktur und einem ökonomischen Vorgehen aus (Scholer 2013). Anschließend sind diese Gesamtergebnisse mit dem Feedback jeweils an das dritte KMU weitergegeben und auch von diesem kommentiert. Abschließend wurden diese Ergebnisse aus der doppelten Feedbackschleife dem Ausgangsunternehmen zurückgemeldet. Gegenüber gemeinsamen Workshops mit allen beteiligten KMUs sollte das neue Vorgehen durch die Anonymität einerseits einen breiteren übergreifenden Austausch und eine Übertragung der Ideen ermöglichen, aber auch andererseits eine individuellere Umsetzung gewährleisten. Zusätzlich ermöglicht dieses Vorgehen auch einen unternehmensübergreifenden Austausch, da durch einheitliche Kompetenzen ein gleiches Verständnis von Arbeitsinhalten geschaffen werden kann und gleichzeitig auf die Preisgabe von sensiblen Informationen wie Firmenprozesse und Abläufe verzichtet werden kann.

Abb. 3
figure 3

Übersicht des Einsatzes der ProKA zur Ermittlung zukünftiger Kompetenzen durch die Einführung des audiovisuellen AR-Assistenzsystems und die Planung der Umsetzung. (Links: der Einsatz der ProKA. Rechts: Ergänzung der dritten Phase um zusätzliche kollegiale Rückmeldung der geplanten unternehmensspezifischen Umsetzungsmaßnahmen)

3 Fazit

In diesem Artikel haben wir ein mögliches Vorgehen mittels wissenschaftlich fundierter Methoden skizziert, um eine Technologieeinführung in KMUs zu begleiten und damit einhergehende Veränderungen der Kompetenzprofile zu erfassen, um so bereits in der Entwicklungsphase das Ableiten von Schulungs- und Handlungsbedarfen zu ermöglichen. Der Fokus dieses Beitrags liegt dabei auf KMUs und Arbeitsplätze mit nur wenig Beschäftigten, die oftmals mit ausschließlich quantitativen Methoden nur schwer zu erfassen sind. Unser Ziel war es für die Veränderung dieser Arbeitsplätze eine Vereinheitlichung, Vergleichbarkeit und ein standardisiertes Vorgehen unter dem Einsatz etablierter Methoden zu entwickeln, sodass für zukünftige Forschungsvorhaben und Technologieeinführungen auch KMUs adäquat erfasst und adressiert werden können.

Das hier beschriebene Vorgehen stellt dabei nur eine Möglichkeit dar und es bedarf weiterer empirischer Untersuchungen der Wirksamkeit – insbesondere durch größere Forschungs- oder Interessensverbünde. Das zusätzliche zyklische Vorgehen bei der Beurteilung der Handlungsbedarfe benötigt weiterer Forschung, z. B. bezüglich des Aufwandes und Mehrwertes seitens der KMUs, da keine systematische Evaluation vorgenommen wurde. Der Beitrag ist daher als Ideenimpuls für zukünftige Technologieeinführungen und deren wissenschaftliche Begleitung zu verstehen.