1 Einleitung

Der Erwerb der Kulturtechniken Lesen und Schreiben ist eine essenzielle Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (UN 2015; OECD 2019). In der Regel wird die Vermittlung dieser Kompetenzen als Aufgabe der Schule angesehen, normalerweise im Rahmen des Regelunterrichts (z. B. KMK 2003, 2005). Doch wie können Lernende unterstützt werden, die sich beim Erwerb dieser Kompetenzen mit erheblichen Problemen konfrontiert sehen? Lernende, die unter besonderen Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und/oder Schreiben (LRS) leiden, benötigen zu deren Überwindung zusätzliche, über den Regelunterricht hinausgehende Förderung.Footnote 1 Ohne eine entsprechende Förderung drohen Betroffenen negative Folgen für den schulischen und beruflichen Erfolg sowie die seelische Entwicklung (Esser et al. 2002; Huck und Schmidt 2017). Bei der LRS handelt sich um ein sprachenübergreifendes, weltweit auftretendes Phänomen, von dem je nach Definition ca. 5 bis 10 % der Gesamtbevölkerung betroffen sind (Verhoeven et al. 2019, S. 10). Der Blick in verschiedene Länder zeigt, dass die Förderung unterschiedlich organisiert sein kann. Die zusätzliche Förderung Betroffener wird neben der rein innerschulischen Förderung z. B. in Finnland (Lyytinen et al. 2019), alternativ auch in unterschiedlichen Settings über die Jugendhilfe, z. B. in Deutschland (Schreck Graf von Reischach 2006; Huck 2020a) oder in den Niederlanden (Verhoeven 2019), organisiert. Dies bedeutet, dass die LRS-Förderung sowohl inner- als auch außerschulisch und durch verschiedene Berufsgruppen (z. B. Lehrkräfte, Sonderpädagog*innen, Psycholog*innen, Heilpädagog*innen oder (Lern‑)Therapeut*innen) durchgeführt wird. Sie wird außerdem auf Basis unterschiedlicher gesetzlicher Regelungen (z. B. Schulgesetzgebung oder Jugendhilfe) reguliert sowie finanziert. Aus organisationswissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage, wie sich solch divergente Vorgehensweisen institutionalisieren konnten und welche Faktoren innerhalb der Fördersysteme für eine Verringerung der Anzahl leistungsschwacher Schüler*innen sorgen. In diesem Artikel soll in Grundzügen ein Analyserahmen vorgestellt werden, mit dem LRS-Fördersysteme untersucht, verglichen und die Gründe für die Unterschiede nachvollziehbar gemacht werden können. Er soll den Grundstein für weitergehende Forschung in diesem Bereich legen. Die Nützlichkeit des Analyserahmens wird im letzten Abschnitt beispielhaft und episodisch anhand der Situation in Deutschland und den Niederlanden dargestellt.

Zu den Rahmenbedingungen der LRS-Förderung gibt es derzeit nur wenige Publikationen. Große Schulleistungserhebungen der OECD-Länder (Mullis et al. 2016; Reiss et al. 2019) und die wissenschaftliche Initiative „European Literacy Policy Network“ (ELINET) beschreiben grob den Umgang mit leistungsschwachen Lernenden im schulischen Kontext (Garbe et al. 2016). Außerschulische Fördersysteme werden von diesen Publikationen nicht berücksichtigt. Im auf den linguistischen Vergleich orientierten Sammelband von Verhoeven et al. (2019) werden verschiedene Interventionsmethoden im historischen Kontext und basierend auf den sprachlichen Besonderheiten beschrieben. In beiden Fällen wird nicht der Versuch unternommen, die unterschiedliche Herangehensweisen systematisch zu vergleichen und Erfolgsfaktoren herauszuarbeiten. In Bezug auf Deutschland sind die Publikationen von Marwege (2013) und Kolok (2016) hervorzuheben, die sich aus verfassungsrechtlicher Perspektive mit den Rahmenbedingungen vor Ort befassen. Diese Arbeiten konzentrieren sich jedoch auf schulrechtliche Regelungen. Sie erwähnen die außerschulische Förderung nur am Rande.

An einer umfassenden und bezüglich der Organisationsform offenen Analyse fehlt es also derzeit. Der Vergleich von LRS-Förderansätzen in unterschiedlichen Ländern erlaubt, die jeweils entstehenden Vorteile und Herausforderungen besser zu verstehen. So können diese konstruktiv hinterfragt und für Weiterentwicklungen nutzbar gemacht werden. Aus der Perspektive des umweltbezogenen organisationssoziologischen Neo-Institutionalismus kann man argumentieren, dass die jeweiligen LRS-Förderpraktiken maßgeblich von der institutionellen Umwelt abhängig sind. Diese wird als zentraler Erklärungsfaktor für flächendeckend bestehende oder sich ausbreitende Strukturen und Handlungsmuster in Organisationen angesehen. In einer Adaption des Drei-Säulen-Modells nach Scott (1995, 2014) zeigt dieser Beitrag, wie sie auf drei Ebenen untersucht werden kann: auf der kulturell-kognitiven Ebene mit Blick auf das vorherrschende Verständnis der Problematik, auf der normativen Ebene, hinsichtlich der involvierten Berufsgruppen, und auf der regulativen Ebene, mit Blick auf staatliche Vorgaben. Die analytische Trennung der drei Säulen erlaubt einen umfassenden Blick auf die verschiedenen Förderpraktiken. So kann das Zusammen- oder Entgegenwirken verschiedener Faktoren in den Blick genommen werden. Im Idealfall erklärt das Verständnis der Problematik die Zuständigkeit einer bestimmten Berufsgruppe. Das entsprechende Fördersystem ist zudem durch die passenden rechtlichen Regelungen unterfüttert. Es könnte jedoch auch sein, dass sich mehrere Berufsgruppen basierend auf unterschiedlichen Verständnissen der Problematik für die Förderung zuständig fühlen. Dann könnten die rechtlichen Regelungen ein bestimmtes Vorgehen befördern. Alternativ könnten die Zuständigkeit der Berufsgruppe und das konkrete Vorgehen durch ein einhelliges Verständnis der Problematik so klar umrissen sein, dass es kaum rechtlicher Regelungen zur Umsetzung bedarf. Der Beitrag soll als Inspiration für Forschende und Praktiker*innen dienen, die institutionelle Umwelt zu berücksichtigen und das Drei-Säulen-Modell auch für die Analyse anderer organisationaler Kontexte zu verwenden. Er soll den Blick dafür öffnen, dass es unterschiedliche Verständnisse, verschiedene Berufsgruppen und unterschiedliche rechtliche Regelungen für ein Thema geben kann. Die vorliegende Adaption des Drei-Säulen-Modells soll beispielhaft die Operationalisierung vor Augen führen.

2 Organisationen und ihre institutionelle Umwelt

Der umweltbezogene organisationssoziologische Neo-Institutionalismus (Org-NI) entstand in den 1970er-Jahren aus empirischen Studien über Bildungseinrichtungen an der Stanford University (Koch und Schemmann 2009, S. 24). Dort beobachteten Forschende der Soziologie in kalifornischen Schulen, dass die Gestaltung des Unterrichts nicht von bürokratischer Steuerung durch Schulverwaltungen, Schulleitungen oder Curricula, sondern von schulübergreifend geteilten Sichtweisen von Lehrkräften, Schulleitungen und Schulräten abhing (J. W. Meyer und Rowan 1978; J. W. Meyer et al. 1983). In der Folge wurden diese und ähnliche Beobachtungen aus anderen Studien in theoretischen Beiträgen aus sozialkonstruktivistischer Perspektive aufgearbeitet (gesammelt in W. W. Powell und DiMaggio 1991). Die Forschenden schlossen aus den Beobachtungen, dass sich Erwartungsstrukturen aus der Umwelt (Institutionen) in Organisationsformen und -handlungen widerspiegeln und diesen die notwendige externe Legitimität verschaffen (J. W. Meyer und Rowan 1977). Legitimität sorgt dafür, dass die Organisationen fortbestehen und auf notwendige Ressourcen wie Geld oder qualifiziertes Personal zugreifen können.

Das Forschungsinteresse des Org-NI gilt dem Verhältnis von Organisationen zu dieser institutionellen Umwelt auf der Meso-Ebene. Organisationen sind in diesem Kontext als kollektive Akteure mit einer sozialen Struktur, definierten Zielen und Aufgaben sowie Mitgliedern definiert. Organisationen können also beispielsweise Schulen, Firmen, Verwaltungen oder Verbände sein (Scott 2003, S. 18). Die institutionelle Umwelt kann durch das Drei-Säulen-Modell nach Scott (1995, 2014) beschrieben werden, das im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts steht. Die institutionelle Umwelt wirkt in dieser Variante des Neo-Institutionalismus auf gesellschaftliche Teilbereiche wie das Schulsystem (J. J. W. Powell 2011; Mejeh 2021), das Hochschulwesen (z. B. Krücken 2003, 2007), die Unterhaltungsbeschaffung und -produktion (Altmeppen et al. 2010) oder das Verkehrswesen (U. Meyer 2014). Die gesellschaftlichen Teilbereiche werden im Org-NI als organisationale Felder konzipiert (DiMaggio und W. W. Powell 1983). Diese setzen sich aus Organisationen und Akteuren eines bestimmten Sektors zusammen. Hierbei kann es sich um verschiedene Produzenten eines Produktes, Dienstleister, Konsumenten und Regulierungsbehörden handeln (ebd.). Die Untersuchung der organisationalen Felder erlaubt, die betrachteten Einflussfaktoren einzugrenzen und die Beziehung unterschiedlicher Organisationen zueinander näher zu beleuchten. Für den vorgestellten Analyserahmen wird davon ausgegangen, dass das organisationale Feld „LRS-Fördersystem“ in den Vergleichsländern unterschiedlich strukturiert ist. In allen Feldern werden Schulen, Familien von Betroffenen, Betroffenenverbände, Ausbildungsinstitutionen für LRS-Fachkräfte und Forschende zu finden sein. Je nach Finanzierungsweg werden verschiedene Ministerien bzw. Verwaltungen hinzukommen. Falls die LRS-Förderung außerschulisch angeboten wird, können auch LRS-Förderinstitute, Berufsverbände und Schulpsychologien oder andere diagnostische Einrichtungen Teil des organisationalen Feldes sein.

3 Adaption des Drei-Säulen-Modells als Analyserahmen für LRS-Fördersysteme

Der folgende Abschnitt ist der Adaption des Drei-Säulen-Modells nach Scott (1995, 2014) auf LRS-Fördersysteme gewidmet. Scott entwickelte dieses zur genaueren Beschreibung der institutionellen Umwelt bzw. von Institutionen und den damit verbundenen Legitimationsmechanismen. Er systematisierte damit die immer zahlreicher gewordenen Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, die häufig einzelnen Säulen zuzuordnen sind. Scott beschreibt folgende Eigenschaften von Institutionen:

„Institutions comprise regulative, normative, and cultural-cognitive elements that, together with associated activities and resources, provide stability and meaning to social life.“ (Scott 2014, S. 56)

Die drei Elemente stellen verschiedene Formen institutionalisierter Muster und Legitimationsmechanismen dar. Sie bringen Organisationen und Individuen auf unterschiedliche Art und Weise dazu, der institutionellen Umwelt zu entsprechen. Diese institutionellen Säulen können nach dem Verständnis von Scott unterschiedlich großen Einfluss haben oder sogar in unterschiedliche Richtungen wirken und Organisationen sowie Individuen dann Handlungsspielräume eröffnen (Scott 2014, S. 71). Es wird erwartet, dass der Grad der Institutionalisierung der LRS-Förderung durch das Wirken oder Fehlen einzelner Faktoren, die den drei Säulen zugeordnet werden können, gestützt oder geschwächt werden kann. Durch die rein analytische Trennung der regulativen, normativen und kulturellen Ebene können die darunter liegenden Mechanismen aufgedeckt und das Zusammenspiel verschiedener Einflussfaktoren auf das jeweilige Fördersystem besser durchdrungen werden (Tab. 1).

Tab. 1 Institutionelle Säulen nach Scott (2014, S. 16)

Dass sich das Drei-Säulen-Modell für einen Ländervergleich eignet, zeigten J. J. W. Powell (2011) und Biermann und J. J. W. Powell (2014) durch Analysen sonderpädagogischer Fördersysteme in Deutschland und den USA bzw. in Deutschland, Island und Schweden. Da Lernende mit einer LRS jedoch oftmals durch andere Berufsgruppen als sonderpädagogische Lehrkräfte gefördert werden, bedarf es einer eigenen Adaption. Die drei Säulen können für die LRS-Förderung wie folgt operationalisiert werden.

3.1 Kulturell-kognitive Säule: LRS-Paradigmen

Als „kulturell-kognitive Elemente“ versteht Scott innere (kognitive) und geteilte (kulturelle) Sichtweisen bzw. Deutungsmuster und Handlungslogiken. Sie drücken sich in zum Teil unreflektierten Routinen aus, die so allgemein verständlich sind, dass sie als gegeben angesehen und nachgeahmt werden. Kulturell-kognitive Elemente basieren auf gemeinsamen Definitionen von Sachverhalten sowie Glaubenssätzen, die im organisationalen Feld geteilt werden. Konformität mit diesen Elementen sorgt für Sicherheit bei den Beteiligten. Wird von diesen Prinzipien und Handlungsmustern abgewichen, sorgt dies für Unsicherheit und Unverständnis. Ihre Legitimation beruht somit auf dem allgemeinen Wiedererkennungswert. Krücken (2003) beschreibt beispielsweise die Humboldt’schen Ideale als kulturell-kognitive Handlungsmaxime für das Selbstverständnis deutscher Universitäten, wonach Studierende und Hochschullehrende eine eigenständige und sozial entkoppelte Gemeinschaft zum Zwecke der Bildung und (Grundlagen‑)Forschung darstellen.

Für die Untersuchung der LRS-Fördersysteme basiert eine kulturell-kognitive Institutionalisierung auf gemeinsam verwendeten Begriffen, Definitionen und Diagnosekriterien von LRS. Hier ist von entscheidender Bedeutung, welche Überzeugungen die Förderpraxis dominieren. Denn ohne ein übergreifendes Verständnis der Problematik kann es keine flächendeckenden LRS-Fördermaßnahmen geben. Den Zugang zu den vorherrschenden Begriffen und Definitionen erhalten Forschende über Experteninterviews, Ausbildungsliteratur, rechtlichen Regelungen und Verordnungen sowie durch Dokumente und Webseiten einschlägiger Berufs- und Interessenverbände. Bei der Analyse muss herausgearbeitet werden, ob es eine zentrale oder mehrere flächendeckend verwendete Definitionen gibt und welche Organisation/-en die Deutungshoheit über das Thema hat/haben. Die Definitionen lassen sich grob in eine medizinisch-klinisch-psychologische und eine pädagogisch-entwicklungspsychologische Perspektive einordnen. Gemäß medizinisch-klinisch-psychologischer Definitionen wird die LRS als Entwicklungsstörung beim Erwerb der Lese- und/oder Rechtschreibkompetenz verstanden (z. B. WHO 2019, 6A03.0, 6A03.1). Sie ist nicht durch eine verminderte Intelligenz bzw. Hirnschädigungen, eine unangemessene Beschulung oder Probleme beim Hören oder Sehen erklärbar und wird nicht als psychische Störung oder geistige Behinderung angesehen. Die LRS wird in diesen Kreisen oft als angeboren angesehen und es kann mitunter infrage gestellt werden, inwiefern sie „heilbar“ ist. In pädagogisch-entwicklungspsychologischen Definitionen wird von einer LRS gesprochen, wenn ein festgelegtes Kompetenz- bzw. Leistungsniveau nicht erreicht wird. Dies wird auf schwache oder fehlende individuelle Lernvoraussetzungen in Verbindung mit einer ungünstigen Subjekt-Umwelt-Interaktion zurückgeführt (z. B. Naegele 2014; Scheerer-Neumann 2018). Meist liegen diesen Definitionen entwicklungspsychologische Stufenmodelle zugrunde wie beispielsweise das Stufenmodell zur Entwicklung des Wortlesens nach Scheerer-Neumann (1996), die von allen Lernenden durchlaufen werden müssen. Der Fokus dieser Definitionen liegt darauf, dass die Schwierigkeiten mit einer angemessenen Förderung gemildert oder gänzlich behoben werden können.

Diagnose-Kriterien sind Typisierungen, auf die Fachkräfte als allgemeingültige Wissensbestände im Alltag zurückgreifen. Diese können Empfehlungen und/oder den Leitlinien von Fachgesellschaften, Berufsverbänden und/oder staatlichen Stellen entnommen werden. In der Analyse muss konkretisiert werden, ob es sich um standardisierte oder individualisierte (Förder‑)Diagnoseinstrumente handelt und ob diese regelmäßig oder bei Bedarf eingesetzt werden. Es gilt herauszuarbeiten, ob es eine Kultur der Lernstandserhebungen und daraus resultierender gezielter Fördermaßnahmen gibt bzw. ob eine gezielte Förderung als relevant angesehen wird. Bei Berufsgruppen, die Diagnosen durchführen, kann es sich beispielsweise um Lehrkräfte, die Schulpsychologie oder externe Fachkräfte handeln.

Die kulturell-kognitive Säule wird als stark ausgeprägt angesehen, wenn eine einheitliche Definition in regulativen Dokumenten, der Ausbildung von LRS-Förderfachkräften sowie Berufs- und Betroffenenverbänden zur Anwendung kommt. Zudem gibt es dann einheitliche Diagnosekriterien und -instrumente, die von einer definierten Berufsgruppe eingesetzt werden. Die Säule ist mäßig ausgeprägt, wenn es innerhalb eines Landes mehrere Definitionen gibt, die jedoch jeweils innerhalb einer Ausbildungsvariante verwendet und von einem Berufs- oder Interessenverband geteilt werden bzw. in regulativen Vorgaben eines Politikfeldes zur Anwendung kommen. Diese verschiedenen „Schulen“ sollten dann auch einheitliche Diagnosekriterien und -instrumente nutzen. Sie wird als schwach ausgeprägt betrachtet, wenn es eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen gibt, die in unterschiedlichen Kontexten zur Anwendung kommen. Weiterhin kommen in diesem Fall unterschiedliche Diagnoseinstrumente zum Einsatz, die von den Organisationsmitgliedern individuell ausgewählt werden.

3.2 Normative Säule: Ausbildungsangebote und Interessenverbände für Förderfachkräfte

Mit „normativen Elementen“ sind bindende Erwartungen bzw. Erwartungshaltungen gemeint, die Organisationen und ihre Mitglieder sich selbst und anderen gegenüber hegen. Ihre bindende Wirkung entfalten diese Elemente durch (Selbst‑)Reflexion der Organisationsmitglieder, die Scham bei Verstößen oder Selbstachtung und Ehrgefühl bei Konformität empfinden bzw. Verachtung oder Anerkennung zurückgespiegelt bekommen. Diese Säule basiert auf Werten (wünschenswertem Verhalten) und Normen (geltenden Standards), die beispielsweise während der Ausbildung, der Einführung in die Organisation sowie in Berufsverbänden internalisiert und daher als angemessen empfunden werden. Sie wird daher mit dem Grad der Professionalisierung und dem Professionsverständnis verbunden. Normative Elemente übertragen den Betroffenen sowohl Rechte und Privilegien als auch Pflichten und Handlungsmandate. Indikatoren für die normative Dimension von Institutionen können eigenständige Zertifizierungen und Akkreditierungen sein. Diese Elemente werden durch moralische Steuerung legitimiert. J. J. W. Powell (2009, S. 224) beschreibt beispielsweise für sonderpädagogische Fördersysteme die Abgrenzung der Sonderpädagogen als separates Berufsbild mit eigenständigen Studiengängen und Berufsverband als Faktor für die bestehende Segregation von Lernenden in Sonderschulen.

Der Zugang zur normativen Säule erfolgt über die Untersuchung des Grades der Professionalisierung sowie des Professionswissens von Förderfachkräften. Welche Berufsgruppen die Förderung durchführen und wie diese qualifiziert werden, liegt hier im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Auch diese Fragen können mithilfe von Experteninterviews ermittelt werden. Die Professionalisierung spiegelt sich zudem in den aktuell zu findenden Ausbildungsangeboten wider. Es sollten nur extern zertifizierte oder akkreditierte Lehrgänge berücksichtigt werden. Dabei kann es sich um Studiengänge, Studienmodule/-Vertiefungen sowie Fort- und Weiterbildungen handeln. Zielstellung zu berücksichtigender Ausbildungsangebote muss der spätere Einsatz als Förderfachkraft sein. Die Ausbildungsangebote werden überwiegend im (sonder-)pädagogischen, psychologischen oder therapeutischen Bereich angesiedelt sein bzw. Weiterbildungen eine entsprechende Vorbildung erfordern. Bei der Untersuchung der Ausbildungsangebote gilt es zu berücksichtigen, ob diese sich an eine oder unterschiedliche Berufsgruppen richten und somit eine Überprofessionalisierung besteht. Ein weiteres Zeichen für den Grad der Professionalisierung ist die Existenz von eigenständigen Berufsverbänden für LRS-Förderfachkräfte. Deren Standards können ebenfalls Aufschluss auf das Professionswissen geben. Bezüglich der Ausbildungscurricula und Standards von Berufsverbänden gilt es zu analysieren und zu vergleichen, welche Vorstellungen von LRS und zur Förderung vermittelt werden. Die vermittelten Begriffe und Definitionen sind hierbei der kulturell-kognitiven Säule zuzuordnen. Der wünschenswerte Umgang mit LRS ist Teil der normativen Säule. Bei diesem Aspekt kommt es zu Wechselwirkungen mit der kulturell-kognitiven Säule, da die Vorstellungen von LRS auch die Form der Förderung sowie die zuständigen Berufsgruppen beeinflussen. Gibt es Ausbildungsangebote für mehrere Berufsgruppen oder sogar Berufsverbände, sollten die vermittelten Vorstellungen und Förderansätze verglichen werden.

Diese Säule wird als stark ausgeprägt angesehen, wenn theoretische und praktische Inhalte zur LRS-Förderung im Rahmen eines Hochschulstudiums vermittelt werden und obligatorischer Bestandteil der Ausbildung sind. Zudem sind die Fachkräfte in diesem Fall in einem eigenständigen Berufsverband organisiert, der ein Austauschforum zur LRS-Förderung darstellt. Sie wird als mäßig ausgeprägt betrachtet, wenn entweder die LRS-Förderung zwar als obligatorischer Bestandteil eines Hochschulstudiums vermittelt wird, es jedoch keinen Berufsverband gibt, oder alternativ die LRS-Förderung nur als Weiterbildung angeboten wird, aber speziell ausgebildete Fachkräfte sich in einem Berufsverband über das Thema austauschen können. Die Säule wäre dann schwach ausgeprägt, wenn es unterschiedliche Qualifizierungswege für mehrere Berufsgruppen gibt und die Fachkräfte sich in keinem oder unterschiedlichen Berufsverbänden für die Berufsgruppen austauschen können. Gleiches gilt, wenn die LRS-Förderung von Fachkräften mit anderen Kernaufgaben mit übernommen wird.

3.3 Regulative Säule: staatliche Vorgaben für den Umgang mit LRS

„Regulative Elemente“ umfassen formalisierte oder informelle Regeln des sozialen Handelns wie z. B. Gesetzte, Vorschriften oder Gerichtsurteile. Diese Säule basiert darauf, dass solche Regeln etabliert und durch Kontrollen sowie Sanktionen oder Belohnungen in Form zugewiesener Ressourcen durchgesetzt werden. Organisationen und ihre Mitglieder folgen ihnen, weil sie sich einen praktischen Vorteil davon versprechen. Regulative Elemente funktionieren nach dem Prinzip des Zwanges und sind dadurch legitimiert, dass entsprechende Regeln folgenreich sind. Beispiel für solche Elemente sind die Regeln für eine kompetitive Sportart, die durch Verbände für den Wettbewerb festgeschrieben werden und zusätzlich einen informellen Verhaltenskodex beinhalten (North 1990).

Der zu analysierende Textkorpus umfasst Gesetze, Verordnungen und Richtlinien, die im direkten Bezug zur LRS-Förderung stehen. Es ist möglich, dass die LRS nicht explizit benannt wird. Die LRS-Förderung kann in inklusiven Bildungssystemen beispielsweise in die Kategorie besonderer Fördermaßnahmen fallen und somit nur implizit adressiert werden. Inhaltlich können die Regelungen Verantwortlichkeiten für die Förderung, die Finanzierungswege, den Ausbildungsstandard für Fachkräfte sowie Handlungsvorgaben zur Identifikation und Förderung von Betroffenen beinhalten. Dabei gilt es zu berücksichtigen, ob es sich um Vorgaben oder Empfehlungen handelt. Für die Analyse ist ebenfalls relevant, welchem Politikfeld die Rechtstexte zuzuordnen sind. Denn in Abhängigkeit des Politikfeldes sind voraussichtlich unterschiedliche Berufsgruppen in die Förderung involviert. Dieser Aspekt steht somit in Wechselwirkung mit der normativen Ebene. Potenzielle Politikfelder umfassen die Bildungspolitik, Gesundheitspolitik und Sozialpolitik. Werden in Rechts- oder Begleittexten Definitionen genannt, so ergeben sich außerdem Interdependenzen mit der kulturell-kognitiven Ebene. Hierbei ist von besonderem Interesse, welche Relevanz rechtlich festgeschriebene Definitionen gegenüber möglichen anderen Verständnissen von LRS haben.

Während die formalen Vorgaben anhand von Dokumentenanalysen ermittelt werden können, bieten Experteninterviews einen besseren Zugang zur Auslegung und der Relevanz der Vorgaben für die alltägliche Förderpraxis. Sie ermöglichen auch, einen besseren Einblick in bestehende Kontrollmechanismen zu erhalten. Es wird davon ausgegangen, dass bei einer außerschulischen Förderung Einzelfälle geprüft und separate finanzielle Mittel bewilligt werden. Kontrollen könnten sich in diesem Fall auf die Feststellung der LRS sowie die Akkreditierung der außerschulischen Einrichtung beziehen. Bei einer LRS-Förderung innerhalb der Schulen wird vermutlich eine einrichtungsbezogene Finanzierung geben. Kontrollmaßnahmen könnten hier in Form von Budgets in Abhängigkeit von der Anzahl an betroffenen Lernenden oder Schulinspektionen bestehen.

Diese Säule wird als ausgeprägt angesehen, wenn die LRS in den Dokumenten direkt benannt wird, detaillierte Vorgaben in Gesetzen und Verordnungen umgesetzt sind und es zentralisierte Kontrollmechanismen für die Umsetzung gibt. Sie wird als mäßig ausgeprägt angesehen, wenn allgemeinere Vorgaben in Verordnungen oder Richtlinien umgesetzt sind, aber es dezentral organisierte Kontrollmechanismen gibt, oder wenn es zwar detaillierte Vorgaben in Gesetzen, Verordnungen oder Richtlinien gibt, jedoch keine Kontrollmechanismen. Diese Säule ist schwach ausgeprägt, wenn es nur allgemeine Vorgaben in Verordnungen oder Richtlinien und keine Kontrollmechanismen für die Umsetzung gibt.

4 Implikationen für die Praxis

Im Folgenden sollen die vorgestellten Dimensionen anhand des deutschen Falles beispielhaft durchdekliniert und punktuell mit den Praktiken in den Niederlanden verglichen werden (Tab. 2).

Tab. 2 Ausgestaltung der LRS-Förderung in Deutschland auf den verschiedenen Ebenen

4.1 Kulturell-kognitive Säule

In Deutschland werden je nach Kontext unterschiedliche Begriffe für LRS verwendet, die in der Förderpraxis häufig parallel verwendet werden. Im schulischen Kontext wird in der Regel von stark ausgeprägten oder besonderen „Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten“ gesprochen. Das damit einhergehende Verständnis der Lernschwierigkeiten in Handreichungen für Lehrkräfte kann als eine Mischung aus pädagogischer und klinisch-psychologischer Definition angesehen werden. Sie gehen von Entwicklungsverzögerungen aus, die durch eine spezifische Förderung aufgeholt werden können (pädagogisch-entwicklungspsychologische Definition). Gleichzeitig wird berücksichtigt, dass ausreichende Sprachkenntnisse und eine Lernbereitschaft bestehen. Betroffene sollen jedoch keine zusätzlichen sonderpädagogischen Förderbedarfe haben und eine allgemeine Förderung hat keine Erfolge erzielt. Diese Aspekte erinnern entfernt an medizinisch-klinisch-psychologische Definitionen. Die Diagnose von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten soll anhand von Lernstandserhebungen, Lernbeobachtungen und ggf. lernprozessbegleitende Diagnostik wie der Hamburger Schreibprobe (May 2012) erfolgen. Die Ergebnisse standardisierter psychologischer Tests durch die Schulpsychologie oder durch Kinderärzt*innen können für die Förderplanung mitberücksichtigt werden. Sie sind außerdem die Basis für einen Nachteilsausgleich oder Notenschutz.

Parallel wird im Rahmen der Jugendhilfe auf den Begriff der Lese-Rechtschreib-Störung zurückgegriffen. Entsprechende Teilleistungsstörungen werden auf Basis von standardisierten Tests festgestellt, die auf der Leitlinie zur „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung“ der deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie basieren (Schulte-Körne und Galuschka 2019). Dabei handelt es sich um eine klassisch medizinisch-klinisch-psychologische Definition. Im Rahmen der Jugendhilfe wird die Feststellung zur Bewilligung von Einzelförderung im Rahmen der Wiedereingliederungshilfe nach § 35a SGB VII verwendet. Im schulischen Kontext ist diese Definition für Nachteilsausgleiche und den Notenschutz relevant. Auf diese Begriffe und die Definition beruft sich auch der Betroffenenverband, der Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie (BVL 2022).

Der Fachverband für integrative Lerntherapie, eine Interessenvertretung integrativer Lerntherapeut*innen, verbindet die verschiedenen Perspektiven zu einem interdisziplinären Verständnis (FiL 2022). Auch wenn von „Lernstörungen“ gesprochen wird, liegen der Definition die in pädagogisch-entwicklungspsychologischen Sichtweisen beschriebenen Erwerbsstufen der Lese- und Schreibkompetenz zugrunde. Diese ermöglichen didaktisch fundierte Förderansätze. Gleichzeitig wird auf die in medizinisch-klinisch-psychologischen Definitionen verwiesene genetische Komponenten der Problematik und einen möglichen Krankheitswert hingewiesen. Hinzu kommt das systemische Modell des „Teufelskreises Lernstörungen“ nach Betz und Breuninger (1982). In diesem Modell wird auch die Rolle des Umfelds sowie das Selbstkonzept von Betroffenen miteinbezogen, was einen therapeutischen Ansatz ermöglicht.

Aufgrund dieser verschiedenen Definitionen lässt sich festhalten, dass es in Deutschland kein disziplinenübergreifendes Verständnis der LRS gibt und je nach Kontext mit unterschiedlichen Begriffen und Definitionen gearbeitet wird. Diese Situation verhindert selbstverständliche gemeinsame Handlungslogiken und eine gemeinsame Basis für die Förderung. In der Praxis wirkt sich dies dadurch aus, dass Eltern und Betroffene selbst aktiv werden und eine eigene Übersetzungsarbeit leisten müssen, um von der einen in die andere Handlungslogik zu wechseln. Zusätzlich werden durch diese Differenzen gezielte Kooperationen zwischen schulischen und außerschulischen Organisationen erschwert. Die kulturell-kognitive Säule kann somit als nur als schwach bis mäßig ausgeprägt angesehen werden.

In den Niederlanden scheint das Verständnis der Problematik im Vergleich dazu recht einheitlich medizinisch-klinisch-psychologisch geprägt zu sein, wie aus dem „Protocol Dyslexie Diagnostiek en Behandeling“ (Tijms et al. 2021) hervorgeht. Die außerschulische Förderung wird hier als vierte Förderstufe in einem umfassenden Förderkonzept angesehen, sodass der Übergang zwischen schulischer und außerschulischer Förderung in einen gemeinsamen Rahmen integriert ist. Die kulturell-kognitive Säule kann im Gegensatz zu Deutschland somit als stark ausgeprägt angesehen werden.

4.2 Normative Säule

Die Erwartungshaltung gegenüber Lehrkräften hinsichtlich der Förderung von Betroffenen ist in Deutschland groß. Dies ist unter anderem darin begründet, dass die Kultusministerkonferenz die Förderung von Betroffenen als Aufgabe der Schule deklariert hat (KMK 2003). Dieser Anspruch wurde in der Folge in zahlreichen Erlassen der Bundesländer bestätigt. Die Aus- und Fortbildungsangebote für Lehrkräfte sind indessen nicht systematisch auf diese Anforderungen abgestimmt. In der Grundbildung werden die Diagnostik und Interventionsmethoden, wenn überhaupt, nur oberflächlich behandelt. Auch werden in der Regel keine umfangreicheren Vertiefungsmodule angeboten. Auch wenn die Erlasse für LRS-Fachkräfte eine gesonderte Schulung fordern, gibt es in der Regel keine festgelegten Standards für derartige Weiterbildungen. Oftmals sind die Lehrkräfte darauf angewiesen, sich das Wissen durch Handreichungen der Länder (z.B.IQ M-V 2013) sowie individuell zusammengestellte Vorträge und Seminare eigenständig anzueignen. Die Förderung erfolgt durch Binnendifferenzierung im Unterricht oder in Kleingruppen. Die Binnendifferenzierung Der personelle Rahmen ist meist so eng gestrickt, dass die Abdeckung des Regelunterrichts zunächst gesichert werden muss und im Zweifel einer Kleingruppenförderung vorgeht. Den Lehrkräften bleibt so nur wenig zeitlicher Spielraum für die gesonderte Förderung. Die innerschulische Förderung kann daher auf der normativen Ebene als schwach ausgeprägt angesehen werden.

Für außerschulische Förderfachkräfte gibt es in Deutschland ein sehr breit gefächertes Ausbildungsangebot. Lerntherapeut*innen können zwischen staatlich akkreditierten Masterstudiengängen, durch die Zentralstelle für Fernunterricht (ZFU) zugelassenen Zertifikaten, durch den „Fachverband für integrative Lerntherapie e. V.“ (FiL) und/oder durch den „Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e. V.“ (BVL) zertifizierten Weiterbildungslehrgängen sowie diversen weiteren ungeprüften und nicht zertifizierten Angeboten wählen. Die Förderfachkräfte haben in der Regel eine pädagogische, psychologische oder sprachtherapeutische Vorbildung. Zwischen den unterschiedlichen Angeboten gibt es nur bedingt Überschneidungen und es herrscht keine abschließende Klarheit über die geltenden Standards. Geht es um eine öffentlich finanzierte Einzelfallhilfe nach § 35a SGB VIII, so werden die Standards maßgeblich von den kommunalen Jugendämtern geprägt. Denn in Leistungsvereinbarungen oder Trägerverträgen zwischen Jugendämtern und Lerntherapie-Einrichtungen werden oftmals die Ausbildungsumfänge, Abschlüsse und Stundensätze individuell festgelegt (Huck 2020b, S. 64 ff.). Diese Säule kann für den außerschulischen Bereich in Deutschland daher als mäßig ausgeprägt angesehen werden.

In den Niederlanden gibt es für Förderfachkräfte eine bindende Berufsrichtlinie (Schletinga et al. 2021). Sie gilt für verschiedene Berufsgruppen, die im Bereich der LRS-Förderung auf verschiedenen Förderstufen tätig sind. Die Richtlinie umschreibt sämtliche Grundsätze für die Definition, Diagnostik sowie anerkannte Fördermethoden, die eine gemeinsame Basis für sämtliche Förderfachkräfte bilden. Diese sind in verschiedenen Berufsverbänden organisiert: dem Verband für Psycholog*innen (NIP), dem Verband für Pädagog*innen und Erziehungswissenschaftler*innen (NVO), dem Verband für Förderlehrkräfte (LBRT) und dem Verband der Logopäd*innen (NVLF). Weiterhin können außerschulische Einrichtungen vom Niederländischen Qualitätsinstitut für LRS (Nederlands Kwaliteitsinstituut Dyslexie) geprüft und zugelassen werden. Die Prüfung stellt unter anderem Anforderungen an die Abschlüsse und die Interventionsmethoden. Der Grad der Professionalisierung und das umschriebene Professionswissen kann somit als mäßig bis stark ausgeprägt angesehen werden.

4.3 Regulative Säule

Im schulischen Kontext sind die Regeln wie bereits beschrieben durch eine Kombination aus Hinweisen in Schulgesetzen, spezifizierenden Erlassen und Handreichungen (Empfehlungen) für Lehrkräfte festgelegt. Die Vorgaben haben für die Förderung jedoch keine sanktionierende Wirkung. Die Einrichtung von Kleingruppen, separaten Förderklassen oder Intensivkursen unterliegt in einer Reihe von Bundesländern sogar dem Haushaltsvorbehalt. Auch leiten sich aus den Erlassen in der Regel keine Kontrollmechanismen ab. Auf schulischer Ebene entfaltet die regulative Säule somit nur eine geringe Wirkung.

Wie bereits in den vorherigen Abschnitten beschrieben, kann die außerschulische Förderung über die Kinder- und Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII bewilligt und finanziert werden. Voraussetzung hierfür ist ein Antragsverfahren durch die Eltern. Es handelt sich um Einzelfallprüfungen durch kommunale Jugendämter, die die außerschulischen Einrichtungen kontrollieren und somit Standards setzen können. Für die Bewilligung sind sie auf medizinisch-klinisch-psychologische Gutachten der Schulpsychologie oder von Kinderärzt*innen angewiesen, die auch zur drohenden seelischen Behinderung Stellung nehmen. Sie ist gegenüber schulischen Fördermaßnahmen nachrangig. Dennoch haben die Jugendämter einen gewissen Interpretationsspielraum, etwa bezüglich der Stundensätze und geforderten Ausbildungsstandards für Förderfachkräfte. Auch entscheiden sie über die finale Bewilligung, in der sie im Zweifel auch dem ärztlichen oder psychologischen Gutachten widersprechen können. Eine entsprechende Einzelfallhilfe kann im Zweifel jedoch auch von Eltern eingeklagt werden. Die regulative kann somit im außerschulischen Bereich in Deutschland als mäßig eingestuft werden. In der Praxis hat dies zufolge, dass Kinder mit einer LRS früher oder später auf eine außerschulische Therapie zurückgreifen. Aufgrund des Kriteriums einer drohenden seelischen Behinderung kann von einem „wait-to-fail“-Ansatz gesprochen werden. Die Betroffenen sind zu diesem Zeitpunkt aufgrund dieser Vorgabe bereits stark psychosozial belastet. Die beiden parallel existierenden schulischen und außerschulischen Systeme greifen nur bedingt ineinander, sodass zwischen den beiden Fördervarianten häufig eine Lücke entsteht.

In den Niederlanden gibt es durch das Jugendgesetz und das zusätzlich erlassene „Protocol Dyslexie Diagnostiek en Behandeling“ (Tijms et al. 2021) konkrete Vorgaben für die offiziell gültige Definition, Diagnostik, Zuständigkeiten, Finanzierung sowie konkrete staatliche Kontrollmechanismen. Diese Ebene kann somit als stark ausgeprägt angesehen werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die analytische Trennung der kulturell-kognitiven, normativen und regulativen Ebene eine umfassende Beschreibung von Fördersystemen erlaubt. Die überblicksartige Beschreibung des Fördersystems in Deutschland zeigt auf, dass die LRS-Förderung durch die parallel existierenden Systeme geschwächt wird. Der inner- und außerschulischen Förderung liegen auf kulturell-kognitiver Ebene unterschiedliche Verständnisse der Problematik zugrunde. Weiterhin konnten die Schwächen der jeweiligen Teilsysteme insbesondere auf normativer Ebene und für den schulischen Bereich zusätzlich auf regulativer Ebene aufgezeigt werden. Der episodische Vergleich mit den Niederlanden zeigt auf, dass ein in sich konsistentes System basierend auf einer einheitlichen LRS-Definition eine stärkere bessere Abstimmung zwischen den Förderfachkräften zu ermöglichen scheint.

Die beschriebene Operationalisierung der drei Säulen wurde auf Basis logischer und pragmatischer Gesichtspunkte entwickelt und in ersten Ansätzen vorgestellt. Bei einer tiefergehenden systematischen Analyse der Fördersysteme verschiedener Länder müssen die gewählten Kriterien noch validiert werden. Dem hier vorgeschlagene Studiendesign liegt ein qualitativ und konstruktivistisch geprägter Ansatz zugrunde. Die klassischen Gütekriterien quantitativer und auf einem positivistischen Weltbild basierender Forschung können daher nur bedingt angewendet werden, insbesondere bei der Bestimmung von Grenzwerten für den Grad der Institutionalisierung (siehe auch Flick 2020). Es wird daher vorgeschlagen, die Relevanz der berücksichtigten Kriterien und Interpretationen mit den befragten Experten kommunikativ zu validieren. Die befragten Expert*innen sollten dabei nach dem Schneeballsystem mit der Prämisse ausgewählt werden, möglichst unterschiedliche Sichtweisen auf das Fördersystem zu generieren. Die von den Expert*innen getroffenen Aussagen und Einschätzungen können zudem in einer ergänzenden Dokumentenanalysen überprüft und gestützt oder entkräftet werden. Das entwickelte Kategoriensystem zur Auswertung der Experteninterviews und Dokumente könnte zudem konsensuell validiert werden. Die Qualität der Ergebnisse könnte somit durch Triangulation verschiedener Daten, Methoden sowie durch die Auswertung verschiedener Forscher*innen sichergestellt werden.

Zusammenfassend beschreibt dieser Artikel, wie die institutionelle Umwelt bei der Analyse von Teilbereichen des Bildungssystems berücksichtigt werden kann. Es wird argumentiert, dass der Vergleich unterschiedlicher LRS-Fördervarianten vor diesem Hintergrund weitere Handlungsoptionen für Praktiker*innen und politische Entscheidungsträger*innen eröffnet. Das Wissen um diese Faktoren ermöglicht ein besseres Verständnis beobachteter Handlungsmuster zwischen und in einzelnen Organisationen, da sich aus der institutionalisierten Umwelt Rückschlüsse zum Verhalten und zur Motivation verschiedener Akteure ziehen lassen. Für die vergleichende Bildungsforschung kann die Nutzung des Drei-Säulen-Modells auch für andere Anwendungsfälle interessant sein, z. B. wenn es um die Schnittstelle von Schule und sozialer Arbeit geht. Denkbar wäre auch die Analyse unterschiedlicher Förderansätze für konkrete sonderpädagogischer Förderbedarfe im Kontext inklusiver Bildung sowie im Spannungsfeld zwischen Bildung, Erziehung und Gesundheit. Versuche, einzelne Elemente aus erfolgreichen Bildungssystemen in andere Systeme zu transferieren, haben sich in der Vergangenheit als mühevoll und ineffektiv erwiesen (vgl. z. B. die Bemühungen um die Etablierung einer „Gemeinschaftsschule“ in Deutschland (Ridderbusch 2019)). Analysen im Rahmen des Drei-Säulen-Modells können helfen, die Entwicklung erfolgreicher Modelle in den Herkunftsländern in den kulturellen Kontext zu setzen und die notwendigen Rahmenbedingungen für die Anwendung in anderen Ländern besser zu verstehen. Der hier vorgestellte Analyserahmen kann somit einen Anstoß für die konzeptionelle Weiterentwicklung für die Untersuchung sonderpädagogischer Förderung und Bildungssysteme geben.