Organische und ad hoc gebildete Strukturen, Projektarbeit, autonome Teams, konsensorientierte und institutionalisierte Interaktionen, Netzwerkbildung quer zu den Abteilungs- und Hierarchiegrenzen, Partizipation bei Strategie- und Personalfragen, durchlässige Mitgliedschaftsgrenzen, erhöhte Personalfluktuation, organisationsinterne Marktstrukturen sowie flache Hierarchien und der Einsatz neuer Technologien sind einige der Phänomene, die in der Organisationstheorie unter dem Begriff Postbürokratie subsummiert werden. In der Organisationspraxis treten entsprechende Managementkonzepte mit den Versprechen erhöhter Anpassungsfähigkeit, der Flexibilisierung interner Strukturen und der Verbesserung von Entscheidungen an. Im aktuellen Diskurs firmieren diese Konzepte unter dem Label Agilität oder Selbstorganisation. Aktuelle ForschungenFootnote 1 zeigen, dass solche Modelle in Großorganisationen meist als Insellösungen eingeführt werden und weiterhin innerhalb bürokratischer Strukturen verhandelt werden müssen (Muster et al. 2021). Kontext dieser Einführungen sind häufig Digitalisierungsinitiativen, die ebenfalls mit einer Aufrichtung bürokratischer Formalstrukturen einhergehen (Muster und Büchner 2018).

Postbürokratische Reformen produzieren neue Unsicherheitsquellen, die ihrerseits der organisationalen Bearbeitung bedürfen. Wie genau diese Unsicherheit entsteht und wie sie durch agile Konzepte bearbeitet wird, ist die Fragestellung unseres Beitrages. Ein zentraler Ort der Bearbeitung von Unsicherheit in postbürokratischen Organisationen sind Interaktionen, soziale Systeme, die sich auf der Basis der wechselseitigen Wahrnehmung von Anwesenden bilden und im Rahmen von mitgliedschaftsbasierten Organisationssystemen unter besondere Bedingungen gestellt werden können. Während Postbürokratie oft mit dem Abbau formaler Strukturen identifiziert wird, die markantesten Beispiele sind sicher flache Hierarchien und die Vermeidung von direkten, unilateralen Anweisungen, lässt sich gleichzeitig, so unsere These, eine stärkere Verregelung von Interaktionen beobachten, die auf die Bedingung der autopoietischen Selbstreproduktion auf dieses Ebene reagiert.

Zur Erläuterung dieser These möchten wir mit Blick auf den Forschungsstand zunächst zentrale Phänomene und Theorien der Postbürokratie einführen. Dabei werden wir die Hybridisierung von Strukturmerkmalen der Bürokratie mit jenen Merkmalen, die als postbürokratisch gehandelt werden, als die zentrale Eigenschaft postbürokratischer Organisationen herausstellen. Im Zuge dessen möchten wir eine äquivalenzfunktionalistische Perspektive auf diese Hybriditätvorschlagen, die im Anschluss an frühe Überlegungen Luhmanns zum Funktionalismus problemorientierte Vergleiche anstrengt und auch geeignet ist systemspezifische Bedingungen der Autopoiesis von Systemen zu reflektieren. (1). Im Anschluss widmen wir uns der Verlagerung von Entscheidungsprozessen auf Interaktionssysteme, wie sie an der Einrichtung selbstorganisierter Teams und Projektgruppen zu beobachten ist. Diese Verlagerung beobachten bereits frühe Organisationstheorien, doch in den letzten Jahren wird sie verstärkt von Agilitätskonzepten propagiert (Beck et al. 2001) und in die Organisationspraxis getragen. Nachdem wir zunächst allgemein das Verhältnis von organisationaler Unsicherheitsabsorption und Interaktionssystemen skizzieren, widmen wir uns zwei Konzepten aus dem Bereich der Agilität. Vor dem Hintergrund der Hybriditätsdiagnosen postbürokratischer Theorien werden wir zeigen, wie die Projektmanagementmethode Scrum (Schwaber und Sutherland 2020) und das Organisationsmodell Holacracy (Robertson 2015) die Konzentration von Aufmerksamkeitsressourcen in Interaktionssystemen gewährleisten und das Mitteilungsverhalten der Anwesenden disziplinieren (2). Abschließend zeigen wir, nach einer kurzen Rekapitulation der Analyse agiler Konzepte, wie die von postbürokratischen Theorien beobachtete Hybridität durch eine äquivalenzfunktionalistische Perspektive als Leistungszusammenhang begriffen werden kann. Im Zuge dessen wollen wir auch auf den Nutzen einer solchen Perspektive für Manager:innen hinweisen. (3).

1 Die postbürokratische Organisation als hybride Form

Theorien der Postbürokratie unterziehen Webers idealtypischen Bürokratiebegriff einer kritischen Revision. Dabei stellen sie infrage, ob die von Weber beschriebenen bürokratischen Strukturen – Berufsbeamtentum, sachlich abgegrenzte Amtsbereiche, hierarchischer Instanzenzug, regelgeleitete Aufgabenerfüllung und Aktenmäßigkeit – unter veränderten gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Bedingungen noch immer Rationalität und die optimale „Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung“ (Weber 1980, S. 562) gewährleisten. Während Bürokratietheorien selbst immer schon mit Bürokratiekritik einhergingen (Derlien et al. 2011, S. 29), bildet Webers bürokratischer Idealtypus auch für die allgemeine Organisationstheorie einen der entscheidenden Abstoßungspunkte. Klassiker der Organisationstheorie weisen etwa auf den Einfluss von Personen und Gruppen (Merton 1968), divergierende Interessen des Personals (Gouldner 1954), die Funktionalität informaler Statushierarchien (Blau 1961), nicht intendierte Konsequenzen (Selznick 1966) oder mikropolitische Eigendynamiken (Crozier 1967) hin und identifizieren neue Rationalisierungsinteressen in bürokratischen Organisationen. Diese richteten sich verstärkt auf die „kollegiale Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung von Entscheidungen“ (Luhmann 1964c, S. 143) sowie „die Vorgänge vor der formalen Entscheidung“ (Luhmann 1964c, S. 143; Hervorheb. durch die Autor:innen). Luhmann spricht von einer „Akzentverschiebung von Entscheidungsbefolgung zur Entscheidungsfindung“ (1964c, S. 144).

Das Wissen um die Fallstricke und Folgeprobleme der Bürokratie findet auch Eingang in die Struktur von Organisationen. Bereits Anfang der 1960er-Jahre beschreiben die Kontingenztheoretiker Burns und Stalker (1961) einige jener Phänomene, die in den 90ern mit dem Begriff Postbürokratie belegt werden. Sie beobachten dezentrale und netzwerkartige Wissensstrukturen, flache Hierarchien, laterale Kommunikationskanäle sowie Ad-hoc-Zentren und situationssensible Aufgabendefinitionen, die sie auf Markt- und Technologieentwicklungen zurückführen. Mintzbergs Analyse organisationaler Konfigurationen identifiziert in sogenannten Adhokratien (1979, S. 431) ebenfalls organische Strukturbildungen und einen geringen Formalisierungsgrad, was diesen Organisationen erlaube, kurzfristig funktionsübergreifende Teams mit unterschiedlichen Expert:innen zusammenzustellen. Wie in Matrixorganisationen werden dabei zwei Differenzierungslogiken verknüpft (Galbraith 1971; Sayles 1976; Knight 1976). Schon hier offenbart sich, dass Organisationen bürokratische Formen mitnichten hinter sich lassen. Sie bilden, um neue Leistungspotenziale zu erschließen, vielmehr zusätzliche Strukturen aus, mit denen wiederum Folgeprobleme einhergehen.

Heydebrand (1989) wählt dann den Begriff Postbürokratie, um organisationale Formen zu bezeichnen, für die eine neoliberale Doppelorientierung an Risiken und Opportunitäten, informationstechnisch unterstützte Kontrolle, Organisationskulturpropaganda sowie quasivertragliche Beziehungen zwischen Mitgliedern und organisationsinterne Marktstrukturen kennzeichnend seien. Clegg (1990), der in dekonstruktivistischer Tradition von postmodernen Organisationen spricht, konstatiert einen ähnlichen Wandel von bürokratischen zu demokratischen und von einer hierarchischen zu einer marktlichen Ordnung. Heckscher (1994) bildet einen interaktiven, Nohria und Berkley (1994) bilden einen virtuellen Idealtypus der postbürokratischen Organisation, womit sie je unterschiedliche Aspekte postbürokratischer Organisationen hervorheben. Das bürokratische Modell erscheint angesichts dieser Veränderungen nicht mehr als der einzige Garant für Rationalität (Alvesson und Thompson 2006), und die empirischen Überlappungen, Koexistenzen und Kombinationen bürokratischer und postbürokratischer Formen rücken in den Blick (McSweeney 2006, 2017; Maravelias 2003; Heckscher 2015). Hybride Formen sind industrieübergreifend zu beobachten (Bolin und Härenstam 2008; Bull und Muster 2021) und zeigen sich insbesondere in Projektorganisationen (Hodgson 2004; Clegg und Courpasson 2004). Auch im Bereich der Auftragsforschung (Grønning 2017) und im Zusammenhang mit Rollentransformationen im öffentlichen Sektor (Josserand et al. 2006) sind hybride Formen zu beobachten. Von einem Bruch zwischen Bürokratie und Postbürokratie kann daher nicht die Rede sein.

Der kurze Blick in die Literatur zeigt, dass das Ideal der postbürokratischen Organisation (noch) nicht realisiert ist und bestenfalls in einzelnen Strukturelementen aufscheint. Postbürokratie bezeichnet nicht einfach den Abbau formaler Strukturen, sondern vielmehr ihre Verlagerung. Jedes noch so kleine Quäntchen Freiheit in postbürokratischen Organisationen gehe, so Raelin (2011, S. 150), mit neuen Formen der Kontrolle einher. Wollen Organisationen Hierarchien abschaffen, Abteilungsgrenzen einreißen oder direkte Befehle durch Aushandlungen ersetzen, werden sie an anderer Stelle vom Geist Max Webers heimgesucht. Weder waren die Organisationen der Vergangenheit rein bürokratische Gebilde, noch können Organisationen heute als rein postbürokratisch gelten. Idealtypische Begriffe wie der interaktive Typus der Postbürokratie bezeichnen keine empirischen Systeme, sondern einen reinen Typus (Heckscher 1994, S. 15). In dieser idealtypischen Perspektive erscheint die empirische Hybridität von Organisationen als erklärungsbedürftige Abweichung. Stattdessen schlagen wir eine äquivalenzfunktionalistische, auf funktionale Vergleiche abstellende Perspektive auf Postbürokratie vor, die nicht in der Tradition Webers Ideal und Realität, sondern Problemlösungen vergleicht, die im Hinblick auf ein spezifisches Problem als gleichwertig behandelt werden können (Luhmann 1962, 1964a). Nicht die Reinheit eines Typus, sondern die Varaition von Bezugsproblemen ermöglicht der äquivalenzfunktionalistischen Analyse methodisch kontrollierte Vergleiche.. Sie betrachtet die bestehenden Strukturen einer Organisation in „einer etwas respektlosen Art“ (Luhmann 1964b, S. 19) als kontingent. Als veränderbar, wenn auch nicht beliebig veränderbar. Sie stellt ebenso in Rechnung, das andere Lösungen andere Folgeprobleme zeitigen. Durch die Variation von Problemen kann sie ihren Fokus systemrelativ anpassen, sich auf die Perspektive der Organisation sowie ihrer Subsysteme einlassen und die Anforderungen unterschiedlicher Systemebenen an die Autopoiesis reflektieren. Im Folgenden wenden wir uns nun jenen Interaktionssystemen zu, die in postbürokratischen Organisationen mit der Anfertigung von Entscheidungen betraut sind. Die Verlagerung der Unsicherheitsabsorption werden wir vor dem Hintergrund der äquivalenzfunktionalistischen Perspektive auf Postbürokratie als kontingente Problemlösung begreifen, deren Folgeprobleme ihrerseits der Bearbeitung bedürfen. An zwei Managementkonzepten aus dem Bereich der Agilität zeigen wir, wie die Verlagerung der Unsicherheitsabsorption durch die Verregelung der Interaktionssysteme abgestützt wird.

2 Unsicherheitsabsorption in Interaktionen agiler Modelle

Interaktionen werden in postbürokratischen Organisationen, als Systeme der Anfertigung und Vorbereitung von Entscheidungen, zu einem zentralen Ort organisationaler Unsicherheitsabsorption. In institutionalisierten Dialogformaten, zum Beispiel in Taskforces, Projekt- und Produktentwicklungsteams, Lenkungskreisen und anderen interaktionsnahen Varianten, werden Entscheidungen angefertigt sowie vor- und nachbereitet (Heckscher 1994, S. 24 f.). Theorien der Postbürokratie weisen sowohl auf die Zunahme von interaktionsbasierter Entscheidungsfindung als auch auf die Grenzen dieses Modus in Organisationen hin (Krackhardt 1994). Die Systemtheorie führt die Grenzen der Unsicherheitsabsorption durch Interaktionen auf deren begrenzte Kapazität zur Verarbeitung von Komplexität zurück. Die Kapazität dieser Systeme kann jedoch durch die Zentrierung von Interdependenzen der Kommunikation in der Zeit‑, Sach- und Sozialdimension erweitert werden (Luhmann 1984, S. 564 f.).

Postbürokratische Organisationen differenzieren verstärkt Moderations- statt Managementrollen aus (Raelin 2011, 2013) und typisieren grenzüberschreitende Kontakte ihrer Mitglieder (Kellogg et al. 2006). In weitgehend autonomen und selbstorganisierten Teams kommen laterale Kontrollen zum Zuge (Barker 1993), die durch Informationstechnik unterstützt werden (Sewell 1998), und auch Selbstverpflichtungen von Mitgliedern anstatt direkter Anweisungen durch Vorgesetzte sind in postbürokratischen Organisationen zu beobachten (Innocenti et al. 2017; Seabright und Delacroix 1996). All diese Einrichtungen sind in der einen oder anderen Weise mit der Verlagerung von Entscheidungen in Interaktionssysteme und der Konditionierung dieser Systeme verbunden. Sie machen Komplexität für die Interaktion unter Anwesenden bearbeitbar.

Für agile Managementkonzepte, die ebenfalls den postbürokratischen Organisationsformen zugerechnet werden (Annosi und Brunetta 2017, S. 56 f.), sind Interaktionen im Wortsinn entscheidend. Das agile Manifest (Beck et al. 2001), eine Art Gründungsdokument der Agilitätsbewegung, räumt der Interaktion von Individuen gegenüber festgelegten Prozessen mehr Gewicht ein und zieht die Kollaboration mit Kund:innen ausführlichen Vertragsverhandlungen und langfristigen Plänen vor. Ideen des agilen Manifests hielten Einzug in unterschiedliche Managementkonzepte, die unter der Flagge der Agilität segeln oder ihr zugerechnet werden. Zwei von ihnen schauen wir uns nun etwas genauer an: Die agile Projektmanagementmethode Scrum plädiert für ein iteratives Vorgehen in kurzfristigen Sprints und stellt, trotz ihrer Skepsis gegenüber langfristigen Plänen, kontrollierbare Risiken und bessere Vorhersagen des Projektverlaufs in Aussicht (Schwaber und Sutherland 2020, S. 3). Das agile Organisationsmodell Holacracy verspricht eine evolutionäre Organisationsstruktur und die Abschaffung von Hierarchien zugunsten eines legislativen Prozesses auf der Basis von Zirkelinteraktionen (Robertson 2015, S. 21 ff.). Uns interessiert hier nicht, ob die Konzepte ihre Versprechen einhalten, noch können wir sie in ihrer Gesamtheit besprechen. Im Anschluss an die postbürokratische Verlagerung der Unsicherheitsabsorption auf Interaktionssysteme werden wir daher den Fokus auf jene Strukturpropositionen der Konzepte legen, die in Interaktionen wirksam werden und dort das Verhalten der Anwesenden konditionieren. Ausgangspunkt bleibt, da es sich um formalisierte Interaktionen in Organisationen handelt, die formale Organisation.

Organisationen begreifen wir in Anlehnung an Luhmann (2000) als soziale Systeme, die sich über die rekursive Verknüpfung von Entscheidungen operational schließen und in einen Zustand selbsterzeugter Unbestimmtheit versetzen, den sie „durch Selbstorganisation produzieren und kontrollieren“ (Luhmann 2000, S. 47). Die Autopoiesis der Organisationen verläuft demzufolge als Prozess der Unsicherheitsabsorption von aneinander anschließenden Entscheidungen (Luhmann 2000, S. 183 ff.). Unsicherheit ist sowohl das Bezugsproblem des Entscheidens als auch zugleich dessen Bedingung. Jede Entscheidung zwischen Alternativen reduziert Unsicherheit, indem sie die Organisation über ihren historischen Zustand informiert, und reproduziert zugleich Unsicherheit, da sie den Horizont von Anschlussmöglichkeiten verschiebt, der weitere Selektionen erfordert. Durch Entscheidungen über Entscheidungsprämissen bauen Organisationen ein „virtuelles Irritationspotenzial“ (2000, S. 229) auf, das etwa in Form binärer Unterscheidungen wie richtig/falsch oder konform/abweichend die Selbstbeobachtung des Systems konditioniert. Auch die Verschiebung der Entscheidungsfindung in Richtung von Interaktionen ist Teil dieses sich selbst konditionierenden Prozesses der Unsicherheitsabsorption. Während Organisationen die rekursive Vernetzung von Entscheidungen auf Mitgliedschaft stützen, basieren Interaktionssysteme auf Anwesenheit und stützen ihre Autopoiesis auf die reflexive Wahrnehmung von Beteiligten (Luhmann 36,37,a, b, 2017, S. 174 ff.; Kieserling 1999). Nicht jede Wahrnehmung kann kommuniziert werden, denn das würde das System überfordern. In Organisationen sollte darüber hinaus nicht alles Wahrgenommene kommuniziert werden oder sollten Mitteilungen zumindest mit Rücksicht auf die formale Ordnung und ihre Fiktionen ausgewählt werden. Interaktionen in Organisationen müssen ihre Strukturen nicht mit „Bordmittel[n] des Interaktionssystems“ (Luhmann 1984, S. 566) erarbeiten, sondern können sich auf Mitgliedschaft stützen, um Interaktionen zu technisieren (Kieserling 1994, S. 172 ff.). Das unterscheidet Interaktionen in Arbeitsteams von geselligen sowie auch kollegialen Interaktionen. In Organisationen und ihren formalen Subeinheiten kann das Mitteilungsverhalten der Anwesenden verbindlicher diszipliniert und die verfügbaren Aufmerksamkeitsressourcen zielgerichteter konzentriert werden als in den als informal ausgeflaggten Interaktionen von Kolleg:innen oder Cliquen, die wiederum durch Personenwissen Kommunikation einsparen oder abkürzen können (Kühl 2021). Im Folgenden befassen wir uns mit formalisierten und auf Wiederholung ausgerichteten Interaktionsformaten, nicht mit Kontakten, die in den Bereich der Informalität von Organisationen fallen.

Postbürokratische Organisationen, die Entscheidungen verstärkt in institutionalisierten Interaktionen anfertigen, sind in besonderer Weise darauf angewiesen, die Interdependenzen der Kommunikation durch Entscheidungsprämissen in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht zu zentrieren, um die Aufmerksamkeitsressourcen der Anwesenden zu konzentrieren und deren Mitteilungsverhalten zu disziplinieren. Einerseits um das Interaktionssystem nicht zu überfordern, andererseits um den Verlauf zu beeinflussen und die Entscheidungen mit anderen Entscheidungsprämissen der Organisation zu harmonisieren. Die Zentrierungen können in den drei Sinndimensionen unterschiedlich stark ausgeprägt sein und einander in begrenztem Maße substituierenFootnote 2. Für Ordnung in der Sachdimension sorgt bereits der Fokus auf ein Thema, in der Sozialdimension beispielsweise die „Orientierung an Führern oder privilegierten Sprechern“ (Luhmann, 1984, S. 565), und in der Zeitdimension kann über die Befristung eine „Finalisierung des Systems“ (1984, S. 565) erreicht oder entlang der Unterscheidung vorher/nachher eine Reihenfolge der Themen und Kommunikationsbeiträge geregelt werden.

Scrum-Projekte gehen iterativ und kurzzyklisch vor. In befristeten Entwicklungsphasen, den sogenannten Sprints (Schwaber und Sutherland 2020, S. 7 f.), werden funktionstüchtige Inkremente angefertigt, veröffentlicht und unter realen Anwendungsbedingungen erprobt, um die Ergebnisse in der nächsten Iteration wieder in den Entwicklungsprozess einzuspeisen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um ein Softwareprodukt oder andere Produkte, die modular entwickelt werden können. Ein einzelner Sprint besteht aus einer Sequenz von Interaktionen. Der Verzicht auf langfristige Planung zu Beginn des Projekts verschiebt die Planungsentscheidungen in diese sequenzierten Interaktionen. Innerhalb der Sprints sind zwar nur die Anlässe und abstrakten Ziele der sogenannten Scrum-Events (Planning, Daily, Review, Retrospective) und nicht die konkreten Themen vorgegeben. Die Zeithorizonte der Interaktionen sind jedoch genau abgesteckt (2020, S. 8 ff.). Auf diese Weise zentrieren Scrum-Projekte die Interdependenzen der Kommunikation über die Anlässe in der Sachdimension nur in geringem Maße, während sie zugleich in der Zeitdimension besonders rigide sind. Harte Befristungen mahnen Anwesende zur Eile, die formalisierten Anlässe drängen sie zur Beschränkung ihrer Beiträge auf Sachdienliches. Die lediglich abstrakte Festlegung von Anlässen, die auf der Ebene der Sachthemen Freiräume lässt, soll regelmäßige Gelegenheiten bieten, den Kurs des Projekts zu verändern. Moderationsrollen, die sogenannten Scrum Master (2020, S. 6), sind als Regelwächter:innen für die Durchführung der Scrum-Events verantwortlich und zentrieren die Kommunikation zusätzlich in der Sozialdimension; „[e]nsuring that all Scrum events take place and are positive, productive, and kept within the timebox“ (2020, S. 6). Während die Scrum Master über den Ablauf der Interaktionen und die Einhaltung der Zeitgrenzen wachen, sind für die Vorbereitung der Interaktionen andere Rollen verantwortlich. Detailfragen des Anforderungsmanagements und die Planung der genauen Umsetzung sind den Entwickler:innen überlassen (2020, S. 5 f.). Mit einer Erhöhung des Detaillierungsgrades von Anforderungen, die in einem digitalen Protokoll, dem sogenannten Product Backlog (2020, S. 10), nachgehalten werden, wächst die Zahl potenzieller Themen, die in den Scrum-Events erörtert werden. Die Priorisierung von Anforderungen wird weitgehend dem Product Owner überlassen (2020, S. 5 f.), der so die Reihenfolge der Themen im Vorfeld der Interaktionen beeinflussen kann. Auch die Priorisierung wird im Backlog hinterlegt.

Hier zeigt sich, dass die Interaktionen von Produktentwicklungsteams auf Grund von der Autonomie und Selbstorganisation dieser Teams stärker formalisiert werden. Scrum versucht, durch den Verzicht auf einen langfristigen und umfassenden Projektplan der fachlichen Diskussion der Anwesenden Raum zu lassen, und läuft dadurch gleichsam Gefahr, die einzelnen Interaktionen mit der Komplexität der Themen und ihrem Detailreichtum zu überschwemmen. Neben der Sozialdimension (Moderation) werden daher insbesondere in der Zeitdimension Konditionierungen vorgenommen. Diese Konditionierungen entlasten das System insofern, als sie auf die sachliche Komplexität der Themen reagieren. Während die Befristungen eine Finalisierung des Systems sicherstellen und endlose Diskussionen über Detailfragen unterbinden, beeinflusst die Priorisierung durch den Product Owner die Reihenfolge der Thematisierung von Produktanforderungen und Zielen während der Planungsmeetings. Eine ähnliche Form der Zentrierung von Interaktionen ist auch in anderen agilen Modellen zu beobachten, die eine Verlagerung der organisationalen Unsicherheitsabsorption in Interaktionssysteme anregen, aber weniger auf die Einbindung volatiler Kundenbedürfnisse als vielmehr auf eine Demokratisierung der Organisation zielt.

Im Holacracy-Modell (Robertson 2015) geht es, anders als bei Scrum, nicht um das Management von Projekten, sondern um eine Reorganisation der gesamten OrganisationFootnote 3, doch auch hier werden Interaktionen, insbesondere in der Sozial- und der Zeitdimension verregelt. Über eine Quasiverfassung sollen die Regeln der Methode ins Werk gesetzt und auf allen Ebenen der Organisation verbindlich gemacht werden; „power shifts from the person at the top to a process“ (2015, S. 21). Organisationsmitglieder holakratischer Organisationen sind nicht Abteilungen, sondern verschiedenen Zirkeln zugeordnet. Ihr Rollenprofil gibt darüber Auskunft, an welchen Zirkeln sie beteiligt sind. Die Rollen begrenzen den Kreis der Anwesenden. Die Rollenprofile werden – wie die Produktanforderungen in Scrum-Projekten – in einem digitalen Protokoll (oft in Form eines Wikis) hinterlegt. Während der Zirkelinteraktionen sollen die Anwesenden, so der Grundgedanke des Modells, Spannungen im Sinne aktuell ungenutzter Potenziale identifizieren und daraufhin mögliche Anpassungen der Formalstruktur diskutieren und abstimmen; „how things are and how things could be“ (2015, S. 5; Hervorheb. im Original). Die Entscheidungskompetenzen der Rollen werden in den Interaktionen von den jeweils Betroffenen ausgehandelt (Robertson 2015, S. 44 f.). Während Scrum die Interaktionsanlässe an der Planung und Evaluation des Produkts sowie der Zusammenarbeit im Team ausrichtet, unterscheidet Holacracy lediglich zwei abstrakte Anlässe für die Interaktionen der Zirkel. Die sogenannten Tactical Meetings sind für Themen des operativen Geschäfts reserviert, während in den Governance Meetings (2015, S. 65) Organisationsstrukturen und Rollenprofile ausgehandelt werden sollen. Die Interaktionen sind nicht nur durch einen formalisierten Anlass, sondern darüber hinaus in ihrem Ablauf und dem Modus der Entscheidungsfindung vorstrukturiert. Nach der Festlegung einer Tagesordnung führt ein:e Moderator:in, unterstützt durch eine:n Protokollführer:in, durch das Meeting. Auch hier ermöglicht die Moderationsrolle die Zentrierung kommunikativer Interdependenzen in der Sozialdimension. Zusätzlich zu dieser sachlichen und sozialen Zentrierung der Kommunikation wird bei Holacracy die Methode der integrierten Entscheidungsfindung eingesetzt, welche die Reihenfolge der Kommunikationsbeiträge in der Zeitdimension ordnet. Für jeden Tagesordnungspunkt ist nicht nur die Reihenfolge der Kommunikationsbeiträge geregelt (2015, S. 72 f.), sondern zudem ein Verfahren für die Prüfung von Einwänden (2015, S. 116 ff.). Der geringe Grad an Zentrierung in der Sachdimension soll auch im Holacracy-Modell eine offene fachliche Diskussion und Entscheidungsfindung in den Zirkeln gewährleisten, die wiederum durch die Moderation in der Sozialdimension und besonders durch die Sequenzierung der Beiträge in der Zeitdimension eingeschränkt werden.

Während sich die beiden agilen Konzepte zwar hinsichtlich ihrer Wertorientierungen unterscheiden, ähneln sie sich in ihren Strukturpropositionen für formale Interaktionen. Beide Varianten von Agilität verregeln Interaktionen und schließen so Verhaltens- und Kommunikationsmöglichkeiten aus, um die Leistungsfähigkeit dieser Systeme zu steigern.

3 Fazit: Postbürokratie aus systemtheoretischer Perspektive

Die äquivalenzfunktionalistische Perspektive der Systemtheorie begreift Postbürokratie nicht als Epochenumbruch oder Idealtypus. Sie versucht nicht Veränderungen in der Umwelt von Organisationen zu qualifizieren, sondern begreift die empirische Hybridität bürokratischer und postbürokratischer Elemente als organisationsinterne Verlagerung der Unsicherheitsabsorption. Mit der Verlagerung der Unsicherheitsabsorption auf die Interaktionsebene verändern sich die Bedingungen der Autopoiesis. Die Folgeprobleme der Verlagerung entspringen den begrenzten Kapazitäten dieser Systeme Kommunikation zu prozessieren. Diese kann jedoch durch die oben beschrieben Zentrierungen erweitert werden. Die Autonomie der Entscheidungsanfertigung auf der Ebene kurzzyklisch arbeitender Projektteams als auch der holakratischen Zirkel, wird durch die Formalisierung von Interaktionsregeln abgesichert. Moderationsrollen und die Befristung von Interaktionen, die sowohl Scrum als auch Holacracy vorsehen, erlauben zwar keine Steuerung, doch eine Konditionierung dieser Systeme, um sie besser in die Autopoiesis der Gesamtorganisation einzupassen.

Die hier vorgeschlagene Perspektive beobachtet postbürokratische Reformen, deren Folgeprobleme und die agilen Lösungskonzepte als einen Zusammenhang von Problemen und Lösungen. Die Hybridität beschreibt in dieser Perspektive einen funktionalen Leistungszusammenhang, in dem der Abbau von Hierarchie oder die Autonomie von Teams durch die Verregelung von Interaktionen abgesichert bzw. substituiert wird.

Agile Methoden versuchen die Folgeprobleme der Akzentverschiebung in Richtung Interaktion einzuhegen. Die verbindliche, auf Mitgliedschaft gestützte, Formalisierung von Befristungen, Prioritäten, Anlässen und Moderationsrollen wird in den Interaktionen als Einschränkung wirksam, die Aufmerksamkeitsressourcen für komplexe Themen freimacht. Sowohl die Projektmanagementmethode Scrum als auch das Organisationsmodell Holacracy zentrieren Kommunikationsinterdependenzen in der Sachdimension lediglich durch die Festlegung von Interaktionsanlässen. Beide sehen Moderationsrollen vor, die während der Interaktionen berechtigt sind, die Führung zu übernehmen, und versuchen den Einfluss disziplinarischer Führungsbeziehungen aus formalen Interaktionen zu verbannen. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, können sich Moderator:innen auf die formalisierten Regelwerke der Konzepte stützen. Am stärksten zentrieren beide Konzepte die Interdependenzen der Kommunikation jedoch in der Zeitdimension. Befristungen begrenzen Interaktionen in ihrer Dauer und erzeugen Dringlichkeit. Die Priorisierung von Anforderungen und Zielen sowie zusätzliche Methoden der Entscheidungsfindung erlauben es sowohl die möglichen Sachthemen als auch die einzelnen Beiträge der Anwesenden in eine Reihenfolge zu bringen. Die äquivalenzfunktionalistische Perspektive der Systemtheorie erlaubt es den postbürokratischen Abbau organisationaler Regeln bei gleichzeitiger Verregelung von Interaktionen nicht nur als Verschiebung, sondern als Substitution zu beobachten. Sie komplementiert dadurch Analysen, die postbürokratische Reformen als Folge von Markt- und Technologieveränderungen beobachten. Indem sie die begrenzte Kapazität von Interaktionssystemen als das Bezugsproblem der Verregelung markiert, stellt sie die Interaktionsteilnehmer:innen als Organisationsmitglieder und als psychische Umwelt mit begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen in Rechnung.

Auch für die Praxis ist eine äquivalenzfunktionalistische Perspektive auf postbürokratische Reformbestrebungen hilfreich. Im Hinblick auf die wechselnden Trends in der Managementliteratur bietet ein Denken in funktionalen Zusammenhängen Manager:innen die Möglichkeit, Reformvorhaben im Voraus auf kritische Punkte zu prüfen und frühzeitig geeignete Abstützungsstrukturen für Verschiebungen der Unsicherheitsabsorption einzurichten. Ferner hilft es Managementkonzepte auf ihre mythologisierenden Anteile zu prüfen. Konzepte wie Scrum, das auf Kundenbedürfnisse zielt, oder Holacracy, das Demokratisierung und Enthierarchisierung verspricht, verbreiten sich in modeartigen Wellen in Organisationen und tendieren zur Abdichtung gegen Kritik und zur Nivellierung sowohl ihrer inneren Widersprüche als auch der Widersprüche und Widerstände in Anwenderorganisationen, wo sie multiple Rationalitäten und divergierende Interessen vorfinden. Die Verortung der Konzepte und Arbeitsweisen im Bereich der Postbürokratie kann darüber hinaus die Neuheitsbehauptung innovativer Managementkonzepte entschärfen. Kombiniert mit der funktionalen Vergleichstechnik kann so auch in der Organisationspraxis ein Bewusstsein für die Ähnlichkeiten von Problemstellungen und Lösungen erzeugt werden. Ein Denken in funktional äquivalenten Möglichkeiten setzt den Versprechungen immer neuer Managementkonzepte sowie den durch sie aufgepeitschten Reformbestrebungen in Organisationen die nüchterne Analyse dessen entgegen, was ist, was daraufhin möglich wäre und welche Folgenprobleme zu erwarten sind, wenn man bestimmte Möglichkeiten realisiert.