1 Bedeutung psychischer Fähigkeiten in der modernen Arbeitswelt

Im Zuge des Wandels der Arbeitswelt – von der überwiegenden Handarbeit vorindustrieller Jahrzehnte, der Kopfarbeit ab Beginn der Technisierung, hin zur heutigen computergeprägten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft – werden immer stärker und differenzierter psychische Fähigkeiten von Mitarbeitenden verlangt (BMAS 2017; BMJV 2020).

Spezifische soziale und personale „Fähigkeiten“ – oder auch „Soft Skills“ genannt (Newman 2006; Touloumakos 2020) – werden in diesem ICF-basierten Fähigkeitskonzept verstanden als Gruppierungen von zusammen passenden Verhaltensweisen und Aktivitäten (Linden et al. 2015): Beispielsweise gehören Aktivitäten wie lächeln, jemanden ansehen, ansprechen, unverbindliche Fragen stellen und auf Fragen antworten zur Fähigkeit „Kontaktfähigkeit“. Vielfältige psychische Fähigkeiten werden tagtäglich in der Arbeit gebraucht, bspw. sich an Regeln und Routinen halten, Arbeitsabläufe strukturieren, Flexibilität, Gruppenfähigkeit oder auch Mobilität.

Personalverantwortliche, Führungskräfte und Betriebsärzt*innen müssen sich in vielfältiger Weise mit der fähigkeitsgerechten Anforderungsbeschreibung und dem Finden der Mitarbeiter*in-Anforderungspassung auseinandersetzen, bspw. bei

  • Der betrieblichen Wiedereingliederung (Sozialgesetzbuch SGB IX § 167) von mehr als sechs Wochen arbeitsunfähigen oder chronisch kranken Mitarbeitenden

  • Formulierung von Stellenausschreibungen und Gestaltung von Bewerbungs- und Einstellungsverfahren

  • Auswahl und Zuweisung von Mitarbeitenden zu Personalentwicklungs- oder Fortbildungsmaßnahmen,

  • psychischen Gefährdungsbeurteilung (§ 5 ArbSchG) und damit einer fähigkeitsorientierten Beschreibung von Arbeitsanforderungen

Für diese Zwecke müssen psychische Fähigkeiten praxistauglich beschreibbar gemacht und operationalisiert werden. Mit dem Rating für psychische Fähigkeitsbeeinträchtigungen Mini-ICF-APP (Linden et al. 2015) ist ein Konzept zur handhabbaren Beschreibung von 13 psychischen Fähigkeiten entstanden. Im Wesentlichen bildet das Mini-ICF-APP die heutzutage an den meisten Tätigkeitsfeldern erforderlichen „Soft Skills“ ab, d. h. verschiedene psychische Fähigkeiten die für Aufgabenmanagement, Interaktion und Selbststeuerung in der heutigen Lebenswelt wesentlich sind. Das Mini-ICF-APP basiert auf dem relationalen Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, WHO 2001) und dem Person-Job-Fit (French 1973; Edwards und van Harrison 1993).

Das Person-Job-Fit-Modell besagt, dass Arbeitszufriedenheit und -Gesundheit sich dann einstellen, wenn die Arbeitsanforderungen in Qualität und Quantität zu den Fähigkeiten der Mitarbeitenden passen („Fit“ = Passung).

Das ICF-Modell (WHO 2001) besagt, dass körperliche (Fehl)Funktionen, Fähigkeiten und Kontextfaktoren miteinander in Wechselbeziehungen stehen. Es bedeutet, dass nicht nur eine körperliche Fehlfunktion die Schwere einer Beeinträchtigung bestimmt, sondern auch die Tatsache, ob die Beeinträchtigung in einem bestimmten Kontext relevant ist. Eine Person mit Strukturierungsfähigkeit und Durchhaltefähigkeit, jedoch einer krankheitsbedingt reduzierten Grundstimmung und damit einhergehend schlechter Kontaktfähigkeit, hat möglicherweise bei einer Tätigkeit in der Buchhaltung keinerlei Beeinträchtigung. Sie kann jedoch im Verkauf gänzlich arbeitsunfähig sein. Mit dem Person-Job-Fit-Modell ausgedrückt: Die Passung von Anforderung und Fähigkeitsniveau ist in der ersten Konstellation (Regeltreue und Strukturiertheit) gegeben, in der zweiten (Kontaktfähigkeit) hingegen nicht.

Dieses Beispiel zeigt, dass Fähigkeiten(beeinträchtigungen) – im Unterschied bspw. zu einem Krankheitssymptom – immer nur in Bezug zu einem konkreten Kontext quantifizierbar sind: jemand ist nicht „un/fähig“ per se, sondern immer nur „un/fähig zu etwas“. Außerdem erlauben die Fähigkeitsdimensionen auch eine Ressourcenbeschreibung, d. h. über welche Fähigkeiten jemand in besonderem Maße verfügt. Analog dazu kann definiert werden, ob an einem Arbeitsplatz eine bestimmte Fähigkeit hilfreich, notwendig, oder unverzichtbar ist.

In den folgenden Kapiteln wird detaillierter auf die Anwendungsperspektive des relationalen Modelles (ICF. Person-Job-Fit) bei der Arbeitsfähigkeitsbestimmung eingegangen. Im Anschluss werden die Operationalisierungen der Fähigkeitsratings vorgestellt (Fremdrating Mini-ICF-APP, Selbstrating Mini-ICF-APP‑S und Arbeitsanforderungsrating Mini-ICF-APP-W).

2 Arbeitsfähigkeit: Eine Frage des Anforderungs-Fähigkeits-Fits!

Hintergrund und theoretische Basis für die Arbeitsfähigkeit ist eine relationale Betrachtung von Fähigkeiten, wie man sie etwa im Person-Job Fit-Modell (Caplan et al. 1975; Edwards und van Harrison 1993; French 1973) findet, oder auch im modernen Gesundheitsverständnis der ICF (WHO 2001). Im Kern bedeuten beide Konzepte, dass ein Mensch im Abgleich mit den Umweltanforderungen als mehr oder weniger fähig zu bestimmten Aktivitäten beschrieben werden kann, bzw. mit seinen Fähigkeiten mehr oder weniger gut zu bestimmten Arbeitsanforderungen und Arbeitsplätzen passt. Nach diesem Verständnis ist es nicht möglich, einen generell guten Arbeitsplatz zu definieren, sondern nur einen guten Arbeitsplatz für Mitarbeitende mit bestimmten Merkmalen und Fähigkeiten. Dieses Modell liegt auch den offiziellen medizinischen Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien zugrunde, nach denen Arbeitsfähigkeit von Erwerbstätigen mit Gesundheitsproblemen befundet wird (GBA 2016). Das relationale Konzept der Arbeitsfähigkeit zu verstehen ist nicht nur für (Betriebs)Ärzt*innen von Belang, sondern auch für Personaler oder Führungskräfte. Letztere sind diejenigen, die die Arbeitsanforderungen kennen, definieren, und die passenden Mitarbeitenden an die jeweiligen Arbeitsplätze setzen, also den Person-Job-Fit in der betrieblichen Praxis herstellen sollen.

Das relationale Modell (Person-Job-Fit, ICF-Gesundheitsmodell) ermöglicht im Kontext der Arbeitsfähigkeitsbestimmung eine umfassende Betrachtung des Menschen mit seinen Eigenschaften eingebettet in seinen jeweiligen Lebenskontext. Neben dem körperlichen Zustand werden auch die damit einhergehenden Fähigkeiten oder -beeinträchtigungen erfasst. Ein Mensch mit einem gebrochenen Arm (Gesundheitsstörung), ist nicht in der Lage den Arm zu heben (Fähigkeitsbeeinträchtigung). Als Kellner*in (Kontextanforderung) wäre man damit vorübergehend arbeitsunfähig. Als Fußballtrainer*in am Spielfeldrand wäre man arbeitsfähig.

Eine Gesundheitsstörung an sich ist also nicht gleichzusetzen mit einer Arbeitsunfähigkeit. Arbeitsfähigkeit kann nur beurteilt werden, wenn bekannt ist, welche Aktivitäten und Fähigkeiten genau die Arbeit erfordert.

Etwas schwieriger als bei einem Armbruch ist es zu bestimmen, welche Fähigkeitsbeeinträchtigungen bei einem Arbeitstätigen entstehen können, der Ängste, Stimmungsstörungen oder Interaktionsstörungen hat. Dass derartige psychische Problemlagen hochrelevant sind, zeigen epidemiologische Studien nach denen – über Jahrzehnte hinweg stabil – etwa 25–30 % der Allgemein- und Erwerbspersonen von einer psychischen Erkrankung betroffen sind (Wittchen et al. 2011; Stansfeld et al. 2008; Gjesdal et al. 2008). Zudem lässt sich seit etwa zehn Jahren ein Trend zunehmender Arbeitsunfähigkeiten und Erwerbsunfähigkeitsberentungen „wegen psychischer Erkrankungen“ beobachten (DRV 2019). Dies liegt nicht daran, dass Arbeit krank macht. Die epidemiologischen Erkrankungszahlen sind über die Jahre hinweg gleich geblieben (Jacobi und Linden 2018); es werden jedoch zunehmend psychische Fähigkeiten gefordert (BMAS 2017). Menschen mit psychischen Erkrankungen können diese ggf. schwerer bewältigen. Eine Krankheit allein begründet somit keine Arbeitsunfähigkeit. Ausschlaggebend sind das Fähigkeitsprofil und die Passung von Anforderungen und Fähigkeiten.

Zur Erfassung von Fähigkeiten gibt es viele Messinstrumente (z. B. ADL- oder IADL-Skalen, Lawton und Brody 1968; GAS, Endicott et al. 1976; WHODAS 2.0, WHO 2004; ICF-Core-Sets, Cieza et al. 2004; Übersicht in Linden et al. 2015). Diese sind jedoch entweder sehr global, erfassen nur einen einschränkten Anwendungsbereich oder differenzieren nicht ausreichend zwischen körperlichem Zustand/Symptomen einerseits und Fähigkeiten und Teilhabe andererseits (Buchholz et al. 2015). Je nach Anforderungen der Umwelt (Kontext) haben Fähigkeiten(beeinträchtigungen) eine sehr unterschiedliche TeilhaberelevanzFootnote 1 bzw. sozialmedizinische Bedeutung: Rezeptionist*innen benötigen andere Fähigkeiten als Automechaniker*innen oder Buchhalter*innen.

3 Das Fähigkeitenkonzept nach Mini-ICF-APP

Das Fähigkeitskonzept des Mini-ICF-APP basiert auf dem funktionalen Gesundheitsmodell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, WHO 2001). In der ICF ist die Komponente der „Fähigkeiten und Aktivitäten“ als eine der wesentlichen Säulen in der Beschreibung von menschlichen (Gesundheits)Zuständen beschrieben und klassifiziert. Fähigkeiten ermöglichen Alltags- und Arbeitsaktivitäten und sind die Voraussetzung dafür, dass Menschen in ihrer Lebensumwelt teilhaben und ein erfolgreiches Leben führen können.

Die Mini-ICF-APP-Fähigkeitskonzept umfasst 13 psychische Fähigkeiten (Soft Skills). Das Assessment umfasst Instrumente zur Beschreibung von psychischen Fähigkeiten und Fähigkeitsbeeinträchtigungen von Personen sowie Fähigkeitsanforderungen an Arbeitsplätzen (Linden et al. 2009, 2015; Muschalla 2020).

Die 13 Fähigkeitsdimensionen des Mini-ICF-APP liefern außerdem auch eine Art Gliederungsmatrix für einen psychischen Fähigkeitsbefund, oder für einen Abgleich von Fähigkeitsprofil der Person und Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes. Die 13 Fähigkeitsdimensionen im Mini-ICF-APP-Konzept sind:

  • Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen

  • Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben

  • Flexibilität und Umstellungsfähigkeit

  • Kompetenz- und Wissensanwendung

  • Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit

  • Proaktivität und Spontanaktivitäten

  • Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

  • Selbstbehauptungsfähigkeit

  • Konversation und Kontaktfähigkeit zu Dritten

  • Gruppenfähigkeit

  • Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen

  • Fähigkeit zur Selbstpflege und Selbstversorgung

  • Mobilität und Verkehrsfähigkeit

Das Fähigkeitskonzept ist international validiert, übersetzt und im deutschsprachigen sozialmedizinischen Kontext der Arbeitsfähigkeitsbeschreibung ein Standardinstrument geworden. Es wird in Leitlinien zur Verwendung empfohlen (Linden et al. 2009, 2015; DRV 2012; SGVP 2016; AWMF 2019; Molodynski et al. 2013; Balestrieri et al. 2013; DGPM/DKPM 2020).

Es handelt sich beim Mini-ICF-APP nicht um einen „Test“, sondern um ein System zur Dokumentation, Objektivierung und differenzierten Beschreibung von Fähigkeiten einer Person oder Fähigkeitsanforderungen an Arbeitsplätzen. Grundlage der Mini-ICF-APP Instrumentenfamilie sind die oben genannten 13 Fähigkeitsdimensionen. Sie werden anhand verhaltensnaher Ankerdefinitionen ausführlich beschrieben (Anhang A; Linden et al. 2009, 2015) und wurden an inhaltlich angrenzenden Aktivitäten-Interviews und -skalen validiert (Endicott und Nee 1997; Wiersma et al. 1990; Linden et al. 2010, 2009).

Im Folgenden werden die drei Operationalisierungen des Mini-ICF-APP (Fremdrating, Selbstrating und Arbeitsanforderungsrating) mit ihren Items (Anhänge A, B und C) und hinsichtlich der jeweils bedeutsamen Anwendungsaspekte vorgestellt.

3.1 Fremdbeurteilung von Fähigkeiten(beeinträchtigungen) mit dem Mini-ICF-APP

Vor Beginn der Fähigkeitenexploration nach dem Mini-ICF-APP-Fähigkeitenbogen ist der sogenannte Referenzkontext festzulegen (d. h. die Fähigkeits-Anforderungen), auf den sich die Beurteilung beziehen soll. Wenn bspw. eine Betriebsärztin oder -psychologin eines Klinikums erfährt, dass ein wiedereinzugliedernder Beschäftigter als „Gesundheits- und Krankenpfleger“ tätig ist, weiß man noch nichts darüber, welche Aktivitäten am Arbeitsplatz konkret von dem Beschäftigten verlangt wird. Je nachdem, ob er im Blutspendedienst, in der Notaufnahme, oder auf der psychiatrischen Station arbeiten, kann er sehr verschiedene Fähigkeitsanforderungen haben: hohe Regelroutine, oder hohe Flexibilität, oder ausgeprägte interaktionelle Fähigkeiten (Kontaktfähigkeit, Selbstbehauptung, Gruppenfähigkeit).

Die Fähigkeitsanforderungen müssen konkret erfragt werden, z. B. „Können Sie bitte erzählen, wie ein üblicher Tag bei Ihrer Arbeit aussieht? Was müssen Sie konkret tun, wenn Sie morgens um 7 Uhr zur Arbeit kommen?“. Ziel ist es, eine möglichst genaue Auflistung des geforderten Aktivitätenspektrums zu bekommen. Diese können den entsprechenden Fähigkeitsdimensionen des Mini-ICF-APP zugeordnet werden.

Im nächsten Schritt ist zu explorieren, ob es mit der Bewältigung der einzelnen Aufgaben Probleme gibt, und falls ja, wie ausgeprägt diese sind: Sind sie nur für den Beschäftigten merkbar im Sinne von es fällt ihm schwer (leichte Beeinträchtigung), oder sind sie auch für andere Kolleg*innen oder Vorgesetzten beobachtbar und ggf. ärgerlich (mäßige Beeinträchtigung), oder führen sie dazu, dass regelmäßig jemand einspringen und unterstützen oder die Aufgabe komplett abnehmen muss (schwere Beeinträchtigung)? Dabei gilt, dass der Anforderungsgrad auch den Grad der Beeinträchtigung mitbestimmt: Für Stewardessen, die Kolleg*innen ablösen sollen, ist zehnminütiges zu-Spät-Kommen (Fähigkeitsproblem: Anpassung an Regeln und Routinen) eine schwere Beeinträchtigung und führt ggf. zur Entlassung. Bei Büromitarbeiter*innen fällt es ggf. kaum auf, ob sie ein paar Minuten später am Schreibtisch sitzen, allenfalls haben sie möglicherweise selbst ein schlechtes Gewissen, weil sie sich vorgenommen haben früher ins Büro zu kommen (leichte Beeinträchtigung).

Je nach Anforderungsgrad (Pünktlichkeit bei Stewardess versus Büromitarbeiter*in) fällt das gleiche Fähigkeitsproblem an einem Arbeitsplatz unterschiedlich stark ins Gewicht. Wichtig für die valide Anwendung des Mini-ICF-APP Fremdratings ist also, die Fähigkeitsanforderungen sehr konkret zu kennen bzw. zu definieren.

In der betrieblichen Praxis relevant sind Beeinträchtigungen, die ständigen Ärger im Betriebsablauf verursachen und ein regelmäßiges Unterstützen Dritter erfordern (schwere Beeinträchtigung), um die vorgesehenen Aufgaben zu erledigen. Da es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Regel wenig Freiheitsgrade gibt, für die Tätigkeiten einzelner Mitarbeitender ständig eine zweite Person zum Einspringen zur Verfügung zu stellen, ist in vielen Fällen eine Arbeitsunfähigkeit gegeben, wenn Fähigkeiten ständig in einer unterstützungsbedürftigen Weise, d. h. schwer beeinträchtigt sind.

Wenn eine Fähigkeitsbeeinträchtigung vorliegt ist zu klären, ob die Beeinträchtigungen krankheitsbedingt sind oder andere Gründe haben (z. B. Qualifikations- oder Trainingsdefizit oder konstitutionell bedingte Fähigkeitsschwäche). Hierzu braucht es eine/n Betriebsärzt*in. Fehlt es beispielsweise an ausreichender beruflicher Qualifikation oder Willensanstrengung, würde man keine „krankheitsbedingte“ Fähigkeitsbeeinträchtigung attestieren. Die festgestellten Abweichungen vom Soll wären dann nicht sozialmedizinisch von Bedeutung, sondern arbeitsrechtlich.

Fähigkeitsanforderungen zu definieren und Fähigkeitsprobleme zu erkennen und verhaltensnah zu beschreiben, kann durch Führungskräfte und das Arbeitsteam geschehen. Hierzu sind qualitative Beobachtungen hilfreich sowie ggf. ein Abgleich der Fähigkeitsanforderungen, die die Beschäftigten an dem Arbeitsplatz wahrnehmen (Anhang C) und der Fähigkeitsprofil-Selbstratings von Mitarbeitenden (Anhang B).

Eine Fremdbeurteilung und Beschreibung von Arbeitsfähigkeit im sozialmedizinischen Kontext ist jedoch Aufgabe von Ärzt*innen, ggf. unterstützt von sozialmedizinisch geschulten (Betriebs‑)Psychotherapeuten*innen.

3.2 Fähigkeiten-Selbsteinschätzung mit dem Mini-ICF-APP-S (Selbstrating)

Im Bereich der Fähigkeitsdiagnostik kommen auch Selbstbeurteilungen zum Einsatz. Beispiele sind der ICF-AT-50-Psych („Aktivitäten und Teilhabe“; Nosper 2008), das Selbstrating zum WHO-DAS‑2.0 (WHO 2004) oder der ICFPsych A&P (Brütt et al. 2015).

Mit Selbsteinschätzungen können Informationen über subjektiv wahrgenommene und erlebte Stärken und Schwächen ergänzend zur Fremdbeurteilung differenziert erfasst werden. Sie lassen sich ökonomisch einsetzen, um einen Einblick in die Selbstsicht von Personen auf ihr Fähigkeitsniveau und -profil zu erhalten, ohne dabei nach Gesundheitsbeeinträchtigungen fragen zu müssen. Auch lassen sich Veränderungsprozesse zwischen verschiedenen Messzeitpunkten abbilden, oder Interventionsentscheidungen unterstützen (Laireiter 2005).

Um ergänzend zur Fremdbeurteilung auch die Selbstschätzung von Menschen zu ihren eigenen wahrgenommenen Fähigkeiten erheben zu können, wurde der Selbstbeurteilungsbogen Mini-ICF-APP‑S entwickelt und in einer Untersuchung von Patient*innen mit psychischen Erkrankungen sowie einer Allgemeinbevölkerungsstichprobe evaluiert (Linden et al. 2018). Er umfasst dieselben 13 Fähigkeiten („Soft-Skills“) des Mini-ICF-APP. Die Proband*innen können auf einer Skala ihre jeweiligen Fähigkeiten einschätzen von „0 = das ist eindeutig eine Stärke von mir“ über „3 = das geht schon irgendwie“ und „4 = das klappt nicht immer“ bis hin zu „7 = das kann ich gar nicht.“ (Anhang B).

3.3 Fähigkeitsorientierte Arbeitsplatzbeschreibung mit dem Mini-ICF-APP-W (Work)

Seit Jahrzehnten sind die Prävalenzen psychischer Erkrankungen stabil (Wittchen et al. 2011; Jacobi und Linden 2018; Zielke 2017). Die Sichtweise, dass Arbeit krank mache, verhindert aber, dass das eigentliche Problem der modernen Arbeitswelt erkannt und angegangen wird: der zunehmend problematische Person-Job-Fit (Jacobi und Linden 2018) für Beschäftigte mit psychischen Erkrankungen. Psychische Erkrankungen sind chronische Erkrankungen und Volkskrankheiten, etwa 25–30 % der Menschen leiden an einer psychischen Erkrankung (Stansfeld et al. 2008; Wittchen et al. 2011). Ein Großteil von ihnen ist berufstätig: Bspw. hatten von 307 Hausarztpatient*innen mit chronischen psychischen Erkrankungen 66 % einen Arbeitsplatz (Linden und Muschalla 2018). Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz sind daher ein nicht zu vernachlässigendes Phänomen. Die moderne Arbeitswelt macht allerdings nicht krank, wie zuweilen debattiert wird, sondern stellt heute mehr als früher Anforderungen an kognitive und interpersonelle Leistungen (BMAS 2017). Die zu erfüllen kann Menschen mit psychischen Erkrankungen Schwierigkeiten bereiten (Meier-Credner und Muschalla 2019; Jacobi und Linden 2018). Menschen mit psychischen Erkrankungen fallen daher vermehrt mit Arbeitsunfähigkeit auf (GBA 2016) oder ganz aus der Arbeitswelt heraus. In der Konsequenz gilt, dass wieder mehr sogenannte Toleranzarbeitsplätze benötigt werden. Im Sinne der ICF (WHO 2001) und des Person-Job-Fit bedeutet dies, dass die Arbeitsanforderungen so eingerichtet werden sollten, dass sie zu den menschlichen Fähigkeiten passen und Freiheitsgrade ermöglichen. Auch das Arbeitsschutzgesetz (§ 5 ArbSchG 2013) fordert von Arbeitgeber*innen, psychisches Gefährdungspotential an Arbeitsplätzen zu minimieren. Dies lässt sich durch die Herstellung fähigkeitsgerechter Arbeitsplätze erreichen. Der Arbeitsplatz muss zu den Fähigkeiten der Mitarbeitenden passen. Um einen Person-Job-Fit prüfen zu können braucht es eine Beschreibung von Mitarbeiterfähigkeiten und Arbeitsanforderungen entsprechend eines einheitlichen Konzepts. Dies wird mittels der Mini-ICF-Instrumentenfamilie gewährleistet.

Analog zum Fähigkeiten-Selbst- und Fremdrating wurde dementsprechend das Mini-ICF-APP‑W für die Beschreibung von Arbeits-Fähigkeits-Anforderungen entwickelt (Muschalla 2018a, 2018b; Anhang C). Mit dem Mini-ICF-APP-W(ork)-Rating kann auf einen konkreten Arbeitskontext bezogen beurteilt werden, in welchem Maße eine Tätigkeit verschiedene psychische Fähigkeiten erfordert. Eine Validierung des Mini-ICF-APP‑W wurde bei 166 chronisch kranken Erwerbsaltrigen durchgeführt (Muschalla 2018a, 2018b). Die Inter-Rater-Reliabilität lag bei r = 0,63–0,91 (Muschalla 2018a). Bei Patient*innen, die eine psychische Problematik hatten, wurde ein Abgleich von Fähigkeitsanforderungen (Mini-ICF-APP-W) und Fähigkeitsprofil der Person (Mini-ICF-APP) vorgenommen. Bei Patient*innen mit negativer erwerbsbezogener Prognose, d. h. voraussichtlich dauerhafter Unfähigkeit ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit wieder aufzunehmen, bestand in den Dimensionen Flexibilität, Durchhaltefähigkeit sowie den interaktionellen Fähigkeiten (Selbstbehauptung, Kontakt-, und Gruppenfähigkeit) ein Mismatch: Die Fähigkeitsausprägungen der Personen waren gering, bei gleichzeitig höher erlebten Arbeitsanforderungen.

4 Diskussion

4.1 Fremdbeurteilung und Selbstbeurteilung von Fähigkeiten im Vergleich

Bei sozialmedizinischen Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit werden besondere Kompetenzen vom Beurteiler verlangt. Kompetenz zur Beschreibung von Arbeits- und Leistungsfähigkeit/sdefiziten bei Gesundheitsproblemen haben Ärzt*innen und sozialmedizinisch geschulte Psychotherapeut*innen. In die Arbeitsfähigkeitsbeurteilung fließen sowohl die Selbstaussagen der Patient*innen aber auch die Verhaltensbeobachtung und explorierte Daten durch die Untersuchenden sowie Vorbefunde und Behandlungsverläufe mit ein.

Bei dieser klinischen Urteilsbildung mögliche Fehlerquellen (Halo-Effekt: Generalisierung von einer Beeinträchtigung auf andere Bereiche, unterschiedliches Verständnis oder Schwerpunktsetzung in der Exploration oder Beschreibung von Anforderungen oder Beeinträchtigungen) können aber durch intensive Trainings in der Anwendung von Fremdbeurteilungsverfahren verringert und dadurch gute Interrater-Reliabilitäten erzielt werden. Beim Mini-ICF-APP wurde die Interrater-Reliabilität von 0,7 (ungeschulte Rater) bis auf 0,9 (trainierte Rater) verbessert (Linden et al. 2009).

Ein entscheidender Validitätshinweis aus der ersten Untersuchung mit dem Fähigkeiten-Selbstrating (Mini-ICF-APP‑S, Linden et al. 2018) ist, dass sich Patient*innen, die im ärztlichen Urteil bei Entlassung arbeitsfähig sind oder nicht, bereits bei der stationären Aufnahme hinsichtlich ihres subjektiv eingeschätzten Fähigkeitsniveaus unterscheiden. Ältere schätzen ihr Fähigkeitsniveau besser ein als jüngere, z. B. in der Proaktivität, Planungsfähigkeit, Selbstbehauptungsfähigkeit, und Durchhaltefähigkeit. Bei den untersuchten Rehabilitationspatient*innen lag der Altersdurchschnitt bei 50 Jahren, es geht also um die erfahreneren Arbeitnehmer*innen. Die Daten entsprechen auch langjährigen klinischen Beobachtungen, wonach reifere Personen mehr Übersicht zeigen als jüngere Menschen sowie mehr Durchhaltevermögen oder auch eine höhere Sozialkompetenz.

Der Kontextbezug bleibt bei der Selbstbeurteilung im Gegensatz zum Fremdrating nach außen hin unklar. Insgesamt scheint es sich eher um ein Rating der Zufriedenheit mit den eigenen Fähigkeiten zu handeln, als um eine objektive Beschreibung seines Zustandes (Linden et al. 2018). Trotz der genannten Einschränkungen in der Validität von Selbstbeurteilungen liefert das Mini-ICF-APP‑S wichtige Informationen darüber, ob und wo die Proband*innen Schwierigkeiten erlebten. Selbst- und Fremdeinschätzung liefern unterschiedliche Perspektiven und können daher ergänzend zum Einsatz kommen. Mögliche Diskrepanzen zwischen der Selbst- und Fremdbeurteilung können in Gesprächen mit den Beteiligten (Mitarbeitenden, Führungskraft, Betriebsärzt*in) geklärt werden und ggf. passgenaue Lösungen für die jeweilige Arbeitsplatzkonstellation erarbeitet werden.

4.2 Interventionsmöglichkeiten auf Basis von Fähigkeiten-Diagnostik

In der betrieblichen Praxis interessiert weniger ein Mittelwert der 13 Fähigkeiten, sondern vielmehr eine konkrete verhaltensnahe Beschreibung einzelner relevanter Fähigkeiten(beeinträchtigungen) sowie auch Fähigkeitsreserven Mitarbeitender. So kann beispielsweise eine Beeinträchtigung nur einer Fähigkeit schlimmstenfalls bereits eine Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen (z. B. Mobilität bei Mitarbeitenden beim städtischen Ordnungsamt). Andererseits ist auch die Berücksichtigung intakter Fähigkeiten praktisch relevant, wenn diese kompensatorisch genutzt werden können (z. B. die Fähigkeit Kolleg*innen dazu zu bringen, Wege außer Haus für die eigene Person zu übernehmen, während man den entsprechenden Kollegen*innen Innendienstaufgaben abnimmt).

Die Beschreibung von Stärken und Beeinträchtigungen und somit einem Fähigkeitenprofil ermöglicht es, Passung und Nichtpassung von Fähigkeiten und Anforderungen zu beschreiben und gezielte Interventionen zur Optimierung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit zu finden. Beispiele sind zum einen Fähigkeitstrainings (Muschalla 2014) wie Soziales Kompetenztraining (Hinsch und Pfingsten 2002; Löffler et al. 2012; Smith 2003) bei Beeinträchtigungen der Selbstbehauptungs‑, Kontakt- oder Gruppenfähigkeit, oder Problemlösetraining (D’Zurilla und Goldfried 1971; Kaluza 2004) bei Problemen in der Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben oder der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit.

Neben Fähigkeitentrainings können auch (vorübergehend) Kontextänderungen zur Besserung oder Kompensation von Fähigkeitseinschränkungen eingesetzt werden. Dazu gehören beispielsweise eine entsprechende Gestaltung des Arbeitsplatzes (z. B. Anschaffung einer Lesebrille, eines speziellen Schreibtischstuhls, die Verringerung des Arbeitsweges durch Versetzung in eine andere Dienststelle, Flexibilisierung der Arbeitszeit), Veränderung der Art der Aufgaben, so dass sie zu den Fähigkeitsstärken der Mitarbeitenden passen (z. B. der Kontaktfreudige mit Aufmerksamkeitsstörung macht Kundengespräche statt Buchhaltung), Maßnahmen im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM, § 167 SGB IX) oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA, § 49 SGB IX).

Bei Fällen von krankheitsbedingten Fähigkeitsdefiziten ist immer (betriebs)ärztliche Expertise hinzuzuziehen, damit die passende Maßnahme zum Arbeitsfähigkeitserhalt ausgewählt werden kann.

4.3 Fazit für die Praxis

Mit dem Fähigkeitenkonzept nach Mini-ICF-APP kann das Fähigkeitsprofil eines Menschen mit dem Profil der Fähigkeitsanforderungen verglichen werden. Wenn am Arbeitsplatz Fähigkeiten verlangt werden, die eine Person nicht erbringen kann, dann liegt ein Problem mit dem „Person-Job-Fit“ vor. Darauf gibt es drei Reaktionen (Linden et al. 2015):

  1. a)

    die Wiederherstellung der unzureichenden Fähigkeiten (bei veränderbarem Fähigkeitsniveau, mittels Training; Muschalla 2014), und damit (Wieder‑)Erreichung des „Person-Job-Fit“

  2. b)

    die Entpflichtung von der Arbeit, z. B. durch ein Arbeitsunfähigkeitsattest, und

  3. c)

    die Herstellung eines passenden Arbeitsplatzes, d. h. einen „Person-Job-Fit“ (bei nicht veränderbarem Fähigkeitsniveau).