1 Warum Gruppendynamik?

Anwendungsorientierte Sozialwissenschaften zeichnen sich per Definition durch einen Praxisbezug aus. Der Fokus auf „Anwendung“ verweist bereits auf einen bestimmten, wenn auch nicht immer explizierten Sinngehalt, der andeutet, warum etwas angewandt oder getan werden soll. So verhält es sich auch mit der Gruppendynamik. Ihre Erkenntnisse haben mittlerweile Eingang in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Handlungsfelder und Organisationen gefunden, die von „einfachen“ Schulungen bis hin zu komplexen Organisationsentwicklungsprojekten reichen. Ob in der Erwachsenenbildung, der Managementfortbildung, in der Wirtschaft, der Bildung, im Gesundheitswesen oder anderen gesellschaftlichen Subsystemen, überall steckt Gruppendynamik drin, wenn auch häufig unerkannt bzw. implizit. Das Feedback z. B., eine Kernoperation gruppendynamischen Lernens, hat mittlerweile in Form der fast überall gebräuchlichen Evaluationen Karriere gemacht, auch wenn diese in der bürokratisierten Art ihrer Durchführung wenig Lerngewinn erzeugen.

Dabei geht es der Gruppendynamik um ein Verstehen der in und zwischen Gruppen ablaufenden Prozesse und anzutreffenden Phänomene. Sie zielt auf die bessere Steuerung sozial-kommunikativer Abläufe und Interaktionen, das Erkennen von und den Umgang mit Konflikten, Bedingungen von Kooperation, die Gestaltung und Beeinflussung von Gruppenatmosphären sowie das Entstehen eines funktionalen Verständnisses von Führung. Da sich dies stets auch förderlich auf Arbeitsprozesse auswirken und das Funktionieren beruflicher Abläufe unterstützen kann, verwundert es nicht, dass die Gruppendynamik überall dort unmittelbare Relevanz bekommt, wo Menschen tätig sind bzw. sein müssen.

Die Frage Warum Gruppendynamik? lässt sich jedenfalls vielfältig beantworten. Die Formulierung ist einem Artikel von Brocher (1970) entnommen, der unter dieser Überschrift den Auftakt der ersten Ausgabe der deutschsprachigen Zeitschrift GruppendynamikFootnote 1 bildet, dem Vorgängermedium der GIO, und in dem vor allem die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser neuen anwendungsorientierten Sozialwissenschaft herausgestellt wird: „Wenn es überhaupt eine Rettung vor der selbstzerstörerischen Potenz des Menschen gibt“, so führt es Brocher dabei aus, „dann ist es seine Vernunft und Intelligenz, die ihm Einsichten in die Wirkungen eigenen Verhaltens erlaubt. Sie werden jedoch wirkungslos, wenn er sie nicht antizipiert und für die Zukunft so planen kann, daß soziale Realität daraus wird.“ (ebd., S. 8) Das sind gewiss starke Worte. Damit es allerdings nicht beim bloß Appellativen bleibt, braucht man einen entsprechenden Organisationsbezug. Und genau hierfür wurde die Gruppendynamik als Lösung angesehen.

Worum also geht es wirklich? Die oben skizzierte Sinn- und Zielvorstellung ist für sich genommen gut und sinnvoll, zugleich jedoch nicht alles. Denn neben all den diversen Nutzanwendungen und Nützlichkeitserwägungen verweist die Gruppendynamik immer auch auf eine eminent politische Dimension. Geht man an ihre Anfänge zurück, wird das unmittelbar ersichtlich. Seit ihrer Begründung durch Kurt Lewin (1890–1947) ist sie eng mit dem Thema Demokratie verknüpft. Ihr geht es um die „Lösung sozialer Konflikte“ (Lewin 1948) und die Gestaltung sozialer Bedingungen und Verhältnisse, innerhalb wie außerhalb von Organisationen. Partizipation ist dabei nicht einfach nur eine gut klingende moderne Begriffshülse, eine willkommene Abwechslung, um die Stimmung in Teams und Abteilungen zu heben. Vielmehr wird Partizipation explizit als politische Kategorie verstanden, es geht darum „Betroffene zu Beteiligten“ zu machen, und das gruppendynamische Erfahrungslernen, allem voran die gruppendynamische Trainingsgruppe (T-Gruppe), wird als der Weg des Demokratielernens angesehen.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch der Aufbau des hier vorliegenden Beitrags, der sich dem Thema in drei Schritten annähert.

  • Zunächst wird dargelegt, dass die politische Dimension der Gruppendynamik ihr zwar grundsätzlich immanent ist, diese Ansprüche im Laufe der Zeit jedoch deutlich aus dem Blick geraten sind.

  • Mit Rückgriff auf kulturtheoretische Überlegungen wird daran anschließend auf aktuelle Entwicklungen im Kontext Training und Beratung eingegangen, die eine merkliche Akzentverschiebung beinhalten und ganz andere Referenzebenen fokussieren als die ehemals gesellschaftspolitischen. So zielen die aktuellen Bemühungen in erster Linie auf Leistungssteigerungen ab, entweder in Form von organisationalen Outputverbesserungen oder einer Optimierung der Individuen.

  • Diese Beobachtungen machen es wiederum notwendig an den ursprünglichen politischen Sinn des gruppendynamischen Lernens zu erinnern und diesen zu explizieren.

Die Umstände, in denen diese Überlegungen angestellt werden, könnten für ein solches Vorhaben bedeutsamer nicht sein. Die Welt erfährt im Zuge der COVID-19-Pandemie krisenhafte Erschütterungen, deren weitere Verläufe höchst ungewiss und deren Auswirkungen vom jetzigen Standpunkt aus gesehen nur schwer abzuschätzen sind. Jedenfalls sind neben den unmittelbaren medizinischen Problemen gerade auch die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Folgen zu bedenken, um die man sich wird kümmern müssen. Auch wenn eine große Transformation nicht zu erwarten ist, besteht so für eine gruppendynamisch orientierte Trainings- und Beratungsarbeit zumindest das Potenzial einer Wiedergewinnung des Politischen durch die Krise.

2 Von der Demokratisierung zur Entpolitisierung

Der Mensch ist anthropologisch gesehen ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen, kein Solitär und Einzelgänger, sondern immer abhängig von und existentiell angewiesen auf andere. Seit der antiken Philosophie wird in diesem Zusammenhang deshalb auch vom Menschen als „zoon politikon“ gesprochen. Aristoteles, von dem die Formulierung stammt (Politik, 1. Buch Kap. 2, 1253a)Footnote 2, bezieht dies in der Praxis zwar auf den griechischen Stadtstaat (Polis, davon „Politik“), dennoch ist die Feststellung nicht auf die besondere historische Situation im alten Griechenland bezogen, sondern eine Wesensbestimmung des Menschen, eine conditio humana (vgl. Rapp 2001, S. 50 ff.). Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wie gekonnt sich die Menschen im Sinne dieser Wesensbestimmung verhalten, weshalb sich die Frage der Paideia stellt, der Formung des Menschen durch Bildung (ausführlich Lesjak 2009). In unserer modernen Gesellschaft wird die Sphäre des Politischen durch den Umstand der Pluralität und der Verschiedenheiten der Menschen gebildet. Das Politische haftet somit nicht einfach dem Menschen an, sondern vollzieht sich vielmehr zwischen den Menschen, wie insbesondere von Arendt pointiert hervorgehoben wurde: „Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug.“ (Arendt 1950 [2007], S. 11).

Dieser Hinweis auf das relationale Moment klingt für die Gruppendynamik sehr vertraut und ist für die Betrachtung ihrer politischen Dimension von unmittelbarer Bedeutung. Als Praxisform geht es ihr gerade nicht um ein additives Denken in Einzelpersonen, sondern um eine Bewusstmachung und Bearbeitung der jeweiligen Beziehungen sowie der daraus resultierenden Wirkungen. In allen sozialen Kontexten, beruflich wie privat, in denen Menschen aufeinandertreffen und in denen es ein Zusammen- und Miteinandersein von Verschiedenen gibt, stellt sich immer auch eine Gestaltungs- und Organisationsfrage. Und diese ist immer auch politisch konnotiert, da es hierbei um Macht und Autorität sowie die Frage des Umgangs mit den vorzufindenden Verhältnissen und Differenzen geht. Jedenfalls impliziert dies ein sehr weit gefasstes Politikverständnis, bei dem es schwerfällt, das Soziale und das Politische trennscharf auseinanderzuhalten oder letzteres ausschließlich an ein eigenes umschriebenes Subsystem auszulagern, das sich dann um „die Politik“ kümmert, während alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens politikbefreit zurückbleiben.

Im Laufe der Gesellschaftsgeschichte haben sich unterschiedliche politische Ordnungssysteme herausgebildet, die je nach Form auch unterschiedliche soziale Interaktionen bedingen und ermöglichen. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal dabei ist die Vorstellung, ob – und wenn ja, inwiefern – die Menschen hierbei auch aufgefordert sind mitzugestalten, ob dies überhaupt vorgesehen oder gar gewünscht ist. Während ein aktives Sich-Einbringen in top-down gesteuerten Gesellschaftsformen (z. B. Aristokratien, Theokratien, Diktaturen) oder jenen, die sich durch Blut- oder Stammeszugehörigkeiten konstituieren, nicht nur als Störung empfunden wird, sondern auch lebensgefährlich sein kann, sind Teilhabe und Mitgestaltung zentrale Voraussetzungen und Wesensmerkmale moderner Demokratien. Als die Idee der Selbstorganisation von Menschen ist Demokratie die einzige Gesellschaftsform, die als Bottom-up-Prinzip fungiert und essentiell auf die Partizipation all ihrer Mitglieder angewiesen ist. Ein diesbezügliches Bewusstsein, ein Verständnis für demokratische Abläufe sowie entsprechende Handlungsbereitschaft sind beim Menschen jedoch nicht einfach von Anfang an vorhanden. Diese Qualitäten sind vielmehr als zivilisatorische Errungenschaft zu sehen, als Resultat diverser Anstrengungen und Bemühungen. Kollektive Entscheidungsfähigkeit ist etwas, das von einer Generation zur nächsten gelernt werden muss.

In dieser Hinsicht kommt der Gruppendynamik eine zentrale Bedeutung zu. Seit ihren Anfängen hat sie das Thema Demokratie in Zusammenhang mit hierfür als notwendig erachteten Lern- und Bildungsprozessen diskutiert: „Autocracy is imposed upon the individual. Democracy he has to learn.“ (Lewin 1939, S. 82) Ausschlaggebend hierfür war das Zusammenspiel mehrerer Faktoren. So musste Lewin, selbst Jude, aufgrund des anwachsenden Nationalsozialismus in die USA emigrieren, was zu einer deutlichen Verschiebung der eigenen Forschungsinteressen führte (vgl. Marrow 2002; Keupp 2015; Lück 2015). „Der erzwungene Kulturwechsel“, so Keupp, „hat die Sensibilität Lewins für gesellschaftliche Bedingungen erheblich gefördert“ (Keupp 2015, S. 6) und so transponierte er seine gestaltpsychologische Ausrichtung zunehmend ins Soziale und widmete sich verstärkt konkreten gesellschaftlichen Frage- und Problemstellungen. In den Vordergrund rückten die Themen Führung und Autorität, unterschiedliche Erziehungsstile sowie die Situation von Minderheiten. Ohne die Wirkungen der einschneidenden biographischen Erfahrungen Lewins in Abrede zu stellen, erwies sich auch das neue Umfeld in den USA für einen solchen Perspektivenwechsel als besonders geeignet. Einerseits traf Lewin dort auf eine seit der Gründung der Vereinigten Staaten zumindest programmatisch verankerte Ausrichtung, Erziehung mit Demokratie zu verbinden (Oelkers 2009). Andererseits hat gerade die damals vorherrschende Philosophie des amerikanischen Pragmatismus, insbesondere in der Version von John Dewey (Krainz 2015), der Erforschung von Praxisproblemen weit mehr Beachtung geschenkt, als dies in dem mehrheitlich idealistisch geprägten akademischen Milieu in Kontinentaleuropa der Fall gewesen ist. All dies begünstigte die Hinwendung zur Gruppendynamik und der artverwandten Aktionsforschung (action research) deutlich.

Jedenfalls entstand mit und um Lewin eine politisch aufgeladene Sozialpsychologie „mit einer Perspektive sozial eingreifender Forschung“ (Keupp 2015, S. 6). Ihr ging es explizit um die „experimentelle Anwendung der Sozialwissenschaften zur Förderung demokratischer Prozesse“ (Marrow 2002, S. 199). Probleme und Verhältnisse sollten demnach nicht einfach nur beschrieben und verstanden, sondern mit entsprechenden Interventionen auch verändert werden können. Damit übte die Gruppendynamik wesentliche Kritik an der auch heute noch weitverbreiteten Weltabgewandtheit des akademischen Elfenbeinturms, an einer fehlenden gesellschaftlichen Wirksamkeit von Wissenschaft und Forschung – „Research that produces nothing but books will not suffice.“ (Lewin 1946, S. 203). Demgegenüber war sie selbst von Anfang an anwendungsbezogen. Sie mischte sich ein, setzte an den anzutreffenden Verhältnissen an, um diese zu verändern, sei es im Kontext der Arbeits- und Berufswelt oder im Sinne expliziter politischer Einflussnahme. So stellte sie entscheidende Beiträge für jenes Vorhaben zur Verfügung, was Re-Education genannt wurde (dazu auch Bradford et al. 1964), den kulturellen Wiederaufbau und die Demokratisierung Deutschlands und Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Die angewandte Gruppendynamik verstand sich dabei selbst als „‚Erwachsenen-Sozialisation‘“ (Steinkamp 2018, S. 35), mit ihr war „die Hoffnung verbunden, die Verknöcherungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft auflockern zu können“ (ebd., S. 34).

Diese gesellschaftspolitischen Wurzeln der Gruppendynamik waren in Folge auch für den deutschsprachigen Raum identitätsstiftend, nicht nur für die operativ tätige und gruppendynamisch arbeitende Szene, sondern gerade auch im akademischen Milieu. Der Historiker Tändler spricht in Bezug auf die Gründungsherausgeber (u. a. Max Horkheimer, Friedrich Minssen, Tobias Brocher, Traugott Lindner) der 1969 gegründeten Fachzeitschrift Gruppendynamik etwa von einer „liberalen Prä-68er-Reformelite“ (Tändler 2018, S. 8), die ganz in der Tradition Lewins „ihre Hoffnungen auf eine Modernisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik durch die Anwendung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse setzte“ (ebd.). Neuen Aufwind bekam die Gruppendynamik durch die politisch-kulturellen Umbrüche von 1968 und den um die 1970er-Jahre einsetzenden „Psychoboom“ (Tändler 2016; König 2017), die in der Methode Gruppendynamik einen gewinnbringenden Weg zur individuellen Selbstbefreiung, einer anti-autoritären (Selbst‑)Erziehung sowie der grundlegenden Veränderung von Gesellschaft gesehen haben (deutlich für die Emanzipationsidee plädierend z. B. Richter 1972; Fritz 1974; eher skeptisch-kritisch Horn 1973; für eine ausführliche Rezension der damaligen Diskurse siehe Bachmann 1981).

Der historische Blick verdeutlicht die immer schon mit der Gruppendynamik verbundenen, inhärenten politischen Zielsetzungen. Er offenbart zugleich aber auch eine schleichende Veränderung dieses Selbstverständnisses im Laufe der Zeit, ein sukzessives Schwinden des Politischen. Verantwortlich hierfür sind zwei Entwicklungen. Einerseits ist dies als Folge des Psychobooms zu verstehen, dessen Zielsetzung (bis hin zum Abzweigen ins „Spirituelle“) eine Art „innere Befreiung“ war (z. B. „Mitte finden“, „ganz bei sich sein“ usw.). Emanzipation, oder das, was man für eine solche hält, läuft damit in eine Sackgasse, weil sie asozial wird. Es fehlt ihr der gesellschaftliche Ort, der organisationale Kontext, auf den sie sich bezieht. Andererseits hat dieser Wandel auch mit der Ökonomisierung der Gruppendynamik in Form einer Professionalisierung der Beratungsbranche zu tun. Ging es zu Beginn der 1960er-Jahre noch explizit um „Demokratisierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, was sich auch an den damals bevorzugten Zielgruppen für Veränderung festmachen lässt (gearbeitet wurde insbesondere im Kontext Bildung und Pädagogik, mit sozialen und kirchlichen Einrichtungen, dem Gesundheitswesen usw.), zeichnet sich in den späten 1970er-Jahren „eine auf die Ausweitung von Verdienstmöglichkeiten abzielende Schwerpunktverlagerung der professionellen Gruppendynamik hin zur pragmatischen Organisationsberatung und -entwicklung ab“ (Tändler 2018, S. 16). Tatsächlich lassen sich für ein Training mit Führungskräften in Firmen höhere Honorare verrechnen als für einen Workshop im Feld der Sozialpädagogik, auch wenn der „gesellschaftliche Nutzen“ hierbei womöglich ungleich bescheidener ausfällt. Die Folgen der zunehmenden „Professionalisierung“ der gruppendynamischen Szene und die damit einhergehende verstärkte Marktorientierung implizieren somit nicht einfach nur eine Vergrößerung ihres Anwendungsfelds, sondern gerade auch eine markante Veränderung ihrer politischen Aufladung. Nicht länger war die „Politisierung der Gruppendynamik“, sondern „ihre Entpolitisierung das Mittel für die weitere gesellschaftliche Etablierung“ (ebd.).

3 Kritik der praktischen Vernunft aktueller Entwicklungen in Training und Beratung

Auch wenn gerade in jüngerer Zeit wieder vermehrt an diese politischen Wurzeln angeknüpft wird (z. B. Stähler und Stützle-Hebel 2018; Krainz und Krainz 2019), sind solche Überlegungen im Bereich Training und Beratung deutlich in der Minderheit. Die Zugänge, die aktuell dominieren, laufen unter ganz anderen Überschriften – z. B. Achtsamkeit (mindfulness), Agilität, New Work, VUCA, Disruption, Purpose usw. –, ein eigenes Vokabular, das in den einschlägigen Communities vermehrt zu vernehmen ist.

Diese Zugänge sollen hier jedoch nicht im Einzelnen diskutiert, sondern als Symptom eines zugrundeliegenden Problems betrachtet werden. Sie können selbst als Ausdruck eines vorherrschenden Zeitgeists verstanden werden, der diesen Konzepten überhaupt erst den entsprechenden ideologischen Boden bereitet und Aufwind verleiht. Festgemacht wird dies an zwei Punkten,

  1. 1.

    an einem beobachtbaren affirmativ-unkritischen Aufgreifen dieser Managementmoden zugunsten der eigenen Marktprofilierung sowie

  2. 2.

    einer auffälligen Nichtbeachtung der damit einhergehenden Akzentverschiebungen in Richtung Individualisierung und Optimierung.

3.1 Affirmation aktueller Managementmoden

Es ist unwidersprochen, dass es immer wieder auch seriöse Managementbemühungen gibt, in die Hoffnungen gesetzt werden können. Aufgrund der allgemeinen Vermarktungslogik, die in nahezu allen Lebensbereichen um sich greift, zeigt sich die organisationsbezogene Trainings- und Beratungsbranche aber höchst empfänglich für sich stets als neu präsentierende Moden und Trends. Überblickt man die einschlägigen Diskurse kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es bei dieser Popularität und den jeweiligen Bezugnahmen darauf auch weniger um sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung oder kritische Analyse, um ein genuines Theorieinteresse oder Bedürfnis nach Weltverstehen geht. Die Gründe liegen vielmehr abseits des Inhaltlichen.

Der Hype um das aus dem Feld der Softwareentwicklung stammende Thema Agilität, das sich selbst für ein Paradigma hält, liefert hierfür bezeichnende Anschauungsbeispiele. Dies zeigt sich etwa bei der völlig unkritischen Rezeption des ursprünglich aus dem Militärischen stammenden Akronyms VUCA (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity), das erstmals nach dem Zusammenbruch der ehemaligen UdSSR zur Umschreibung neuer Bedrohungsszenarien aufgetaucht ist, nun aber auf sämtliche gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt wird. Vom regionalen Kindergarten bis hin zur internationalen Industrie, alles ist heute „VUCA-Welt“. Auch kleiden sich diese Neuerungen gerne in einem wohl klingenden „demokratischen“ Gewand. Gesprochen wird von einer sich durch die neuen Arbeitsformen der Selbstorganisation nahezu automatisch einstellenden „Demokratisierung“ von Organisation (herausragend plakativ z. B. Hübler 2018), ohne dabei genauer auszuführen, weshalb der Fokus auf Effizienz und Beschleunigung sowie ein besseres Mithaltenkönnen mit der immer rasanter werdenden Schnelllebigkeit automatisch als Hinweise auf eine menschenfreundlichere und konstruktivere Gestaltung des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens zu verstehen sein sollen (dazu kritisch Singe und Tietel 2019; Krainz und Krainz 2019). Nicht zuletzt ist auch die Rede von dem „Purpose“ der Organisation, auf den man sich laut moderner Konzepte zu besinnen hat, mehr als befremdlich (z. B. Fink und Moeller 2018). Einerseits werden die Begriffe Purpose und Sinn dabei regelmäßig gleichgesetzt, so als würden sie beide dasselbe beschreiben (Purpose heißt Zweck/Absicht, nicht Sinn). Andererseits darf angezweifelt werden, ob ein Bekenntnis zu dem jeweiligen Organisationszweck dann auch automatisch mit (persönlicher) Sinnerfüllung gleichgesetzt werden kann und soll. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Purpose – also „Zweck“ – neben „Mitgliedschaft“ und „Hierarchie“ ohnehin zu den konstitutiven Merkmalen einer jeden Organisation zählt (Kühl 2011). Organisationen sind somit immer „purpose-driven“, haben immer einen Existenzgrund, d. h. sie sind einmal aus einem bestimmten Anlass und für einen bestimmten Zweck gegründet worden, sei dieser noch so sinnvoll oder sinnlos. Es mag ja sein, dass einzelne Organisationen – warum auch immer – vergessen haben, was ihr jeweiliger Purpose ist, weshalb es auch eine Ermahnung braucht, sich auf das Eigentliche zu konzentrieren. Früher hat man „Kernkompetenz“ dazu gesagt.

Weit wichtiger als tiefergehende theoretische Auseinandersetzungen mit solchen Konzepten scheinen jedenfalls ihr Tausch- bzw. Anwendungswert am Markt zu sein. Die Ausführungen lassen sich daher vordergründig „als ein Amalgam von politischer Korrektheit, froher Botschaft und Markttauglichkeit“ (Reichenbach 2007, S. 64) verstehen. In diesem Sinn dienen die Bezugnahmen der persönlichen Profilierung, dem Ausschmücken und Aufpeppen der eigenen Produkt- und Angebotspalette. Wer den neuesten Sprachjargon beherrscht, kann imponieren und signalisieren, sich auf der Höhe der Zeit zu bewegen.Footnote 3 Ähnliche Phänomene der Kompetenzdarstellung werden auch für die sich selbst als „systemisch“ (miss)verstehende Beratung beschrieben (Kühl 2015).

Pongratz spricht in diesem Zusammenhang deshalb von „Zeitgeistsurfern“ (Pongratz 2003), die auf den neuesten Trendwellen so lange dahinzugleiten versuchen, bis sich eine neue Welle am Horizont ankündigt. Dabei folgen die jeweils kolportierten Neuerungen auch wiederholt demselben Prinzip. Zuerst wird irgendeine „alte Logik“ vorgestellt, die das vorherrschende Denken präge. Wenig überraschend fällt die Gesamtbilanz hierbei immer miserabel aus (z. B. trivialisierend, Komplexität nicht entsprechend berücksichtigend, sinnentleerend, inhuman usw.). Danach wird die jeweilige „neue Logik“ eingeführt, die nicht einfach nur besser ist als die alte, sondern gleich alles rundum erneuert. Intellektuell seicht, wenn nicht geradezu peinlich, wird es dann, wenn zur Untermauerung der Bedeutsamkeit des eigenen Ansatzes im Sinne eines „Management by …“ auch mythologische, religiöse oder historische Figuren strapaziert werden.

Woran es jedenfalls kaum mangelt, ist Großspurigkeit. Das Unbehagen, das dabei aufkommt, ist deshalb auch als ein expliziter Arbeitsauftrag an die Wissenschaft zu werten, die ein notwendiges Korrektiv zu diesem Marktgeschrei mit all seinen Irrationalitäten zu bilden hat. Die angesprochene Kunst des Wellenreitens (Pongratz 2003) kann nämlich nicht automatisch als kritische Einsicht gelten. Denn: „Auf der Höhe der Zeit zu sein“, so Pongratz weiter, „bedeutet noch lange nicht, über sie hinauszuweisen. Der selbstbewusste Gleichschritt mit dem Zeitgeist entpuppt sich nicht selten als bewusstloser Reflex der Zeitumstände“ (ebd., S. 7).

3.2 Ignoranz gegenüber zeitgenössischen Akzentverschiebungen

Innerhalb kulturtheoretischer Auseinandersetzungen werden diese Zeitumstände aktuell vor allem unter dem Vorzeichen „neoliberal“ diskutiert. Zum Teil mit explizitem Rückgriff auf Foucaults’ Überlegungen zur „Gouvernementalität“ (Foucault 1978 [2019]), wird dabei auch auf zeitgenössische Management-Diskurse Bezug genommen (z. B. Han 2014; Bröckling 2016, 2017, 2019). „Gouvernementalität“ ist eine Wortkreation, die zwei Begriffe – Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité) – semantisch zusammenführt, um neuzeitliche Regierungspraktiken der Fremd- und Selbstführung zu beschreiben (Lemke et al. 2019, S. 8). In der Kritik stehen hierbei aber nicht einfach nur eine zusehende Ökonomisierung des Sozialen, eine vom Markt dominierte und an diesem orientierte Lebensgestaltung und Lebensführung. „Neoliberal“ meint in dieser Hinsicht auch nicht ausschließlich die Devise „mehr privat, weniger Staat“. Vielmehr wird gerade eine damit einhergehende Subjektkonzeption kritisiert, ein Typus moderner Subjekte, der als konstitutive Voraussetzung solcher Vorhaben angesehen wird.

Als modern gilt demnach ein Selbst, das unternehmerisch handelt (Bröckling 2016), bereit ist sich fortlaufend und in allen Belangen stets neu auszurichten, selbst zu optimieren und zu verbessern. Entscheidende Pointe dabei ist, dass ein solches Selbst aber nicht einfach existiert, im Sinne einer anthropologischen Wesensbeschreibung. Es handelt sich vielmehr um eine eigene Subjektivierungsform, um ein Leitbild und Programm, etwas, das in dieser Form erst beschworen und hergestellt werden muss: „Ein unternehmerisches Selbst ist man nicht, man soll es werden. Und man kann es nur werden, weil man immer schon als solches angesprochen ist.“ (ebd., S. 47).

In dieser Hinsicht konvergieren Zeitgeist und Managementmoden zu einem eigentümlichen Ganzen. Es verwundert daher auch nicht, dass aktuelle Diskurse zumeist eine nahezu propagandistische Veränderungsrhetorik aufweisen, Bekenntnisakte einfordern („Agiles Manifest“) und Veränderung durch zahlreiche Einschwörungsformeln imperativisch nahegelegt wird („Wenn die Welt VUCA ist, musst du agiler werden!“). Zwar ist der konkrete Inhalt der Veränderungsabsicht dabei ebenfalls höchst volatil, vom Zeitgeist abhängig, und zum Teil in sich widersprüchlich, jedoch auch gar nicht Ziel der ganzen Unternehmung: „Mögen sich die angestrebten Ideale auch drehen wie die Fähnchen im Wind“, so Straub, „mal soll man sich in der Kunst zu streiten, mal in Achtsamkeit üben –, so bleibt eines doch immer ein und dasselbe: der Imperativ, sich zu ändern und dabei zu verbessern“ (Straub 2019, S. 9). Das eigentliche Ziel ist somit die fortlaufende Arbeit an sich selbst, ununterbrochener Kompetenzerwerb und Selbstoptimierung, eine Anforderung, die mittlerweile schon so vertraut ist, dass sie kaum noch negativ aufstößt. Innerhalb kulturtheoretischer Analysen werden diese Entwicklungen deshalb auch als eine eigene „Psychopolitik“ (Han 2014), als „humanwissenschaftliche Optimierungsprogramme“ (Sieben et al. 2012) oder als „totale Mobilmachung“ (Bröckling 2019) charakterisiert.

An dieser Stelle lassen sich zentrale Differenzen zur gruppendynamischen Vorstellung der Organisationsentwicklung markieren. Während die Lewinsche’ Traditionslinie noch explizit eine politische Dimension der angewandten Sozialwissenschaften herausgestellt hat, bewegen sich die aktuellen Diskurse zunächst einmal fern von gesellschaftspolitischem Bewusstsein. Vielmehr geht es ausschließlich um eine durch Optimierung erzielte schnellere und effizientere Performance bei der Verrichtung von Arbeitsprozessen. Auch haben sich die anvisierten Anknüpfungspunkte für Veränderung deutlich verschoben. Während das gruppendynamische Interventionsprinzip ein aufklärungsorientiertes ist, und zur Einsicht in die jeweils bestimmenden Verhältnisse befähigen möchte, um so auch an den jeweiligen Bedingungen und Strukturen selbst anzustoßen und diese zu verändern, weisen die aktuellen Diskurse vor allem eine anpassungsorientierte Individualisierung struktureller Problemlagen auf. Politisch interpretiert ist dies systemstützend, also „konservativ“, jedenfalls nicht systemtranszendierend. Veränderung bedeutet in dieser Hinsicht vorwiegend Veränderung des Menschen, nicht der jeweiligen Verhältnisse. Adressiert und in die Pflicht genommen, wird stets die Einzelperson. Die implizit mitschwingende politische Vorstellung über diese Vorgehensweise ist, dass aus lauter optimierten Individuen automatisch eine bessere Gesellschaft entsteht.

Einerseits stehen diese Selbstoptimierungsbemühungen stets an der Kippe zur Selbstausbeutung, bei der im Glauben sich selbst zu verwirklichen und zu entfalten, regelmäßig an und über die eigenen Grenzen gegangen wird (Han 2014). Auf Dauer ist das nur schwer auszuhalten. Das sich optimierende Selbst der modernen Gesellschaft ist chronisch erschöpft (Ehrenberg 2004), müde und ausgebrannt (Han 2010).Footnote 4 Aus diesem Grund wird auch eine entsprechende Aufrüstung der Subjekte als notwendig erachtet, die ihren Widerhall in der Rede von Resilienz, Coping und Achtsamkeit findet (dazu Bröckling 2017; Niebel und Straub 2019). Andererseits sind diese Entwicklungen auch als „diskursive Strategie[n] der Entpolitisierung“ (Bröckling 2017, S. 137) zu verstehen. Fragen der Gestaltung des Gemeinwesens – und das genau ist die Idee des Politischen – treten so zusehend in den Hintergrund. Diese Aufgabe ausschließlich an eine Kaste der Politiker/innen zu delegieren, ist in diesem Sinn Selbstentmächtigung.

Dabei sind die Quellen, auf die sich viele aktuelle Managementzugänge zumindest implizit beziehen, ursprünglich durchaus als gesellschaftspolitisch und auch -kritisch zu werten. So hat beispielsweise die Resilienzforschung unter dem Motto „Vorbeugen ist besser als heilen“ zahlreiche Impulse zur Präventionsarbeit in vielen Feldern geliefert. Im Gewand der rezenten Managementdiskurse erfahren diese Überlegungen jedoch eine entscheidende Wendung: „Der präventive Furor ist zu einem antizipierenden Coping geschrumpft.“ (Bröckling 2017, S. 123) Nicht der Abbau organisatorischer Belastungen oder eine Veränderung der äußeren Bedingungen stehen im Vordergrund, sondern ein Ansetzen am Inneren, eine Erhöhung der Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit durch entsprechende Veränderung der individuellen Einstellungen und Haltungen. Hat man die richtige Einstellung, geht so gut wie alles.Footnote 5 „Die ‚Kraft der Widerständigen‘“, so führt es Bröckling aus, „widersteht nicht, sie übersteht – Coping statt Konflikt“ (ebd., S. 136 f.). Der verstärkte Fokus auf Resilienz, der bei existenziellen Schicksalsschlägen von zentraler Bedeutung ist (z. B. Umgang mit schweren Erkrankungen, Tod usw.), wirkt in Hinblick auf eigentlich erst zu gestaltende Arbeitszusammenhänge nicht nur wie ein Abhärten, sondern zugleich auch wie ein unausgesprochenes und gewöhnendes Zähmungsprogramm. Anstatt an den organisatorisch-strukturellen sowie gesellschaftlichen Bedingungen Anstoß zu nehmen und sich bei unmittelbar betreffenden sozialen Kontexten engagierend einzubringen, soll diesen Verhältnissen vielmehr achtsam, womöglich gar wertschätzend aber wenigstens mit innerem Gleichmut – resilient eben – begegnet werden.

Selbstoptimierung statt Gemeinschaft? Aushalten statt Aushandeln? Jedenfalls wird deutlich, dass es bei den aktuellen Diskursen um etwas gänzlich anders geht als um den ursprünglich politischen Anspruch der gruppendynamisch fundierten Trainings- und Beratungsarbeit, wie er weiter oben bereits ausgeführt wurde. Soweit die Organisationsentwicklung auch das Ziel verfolgt (hatte), Beiträge zu einer „Humanisierung der Arbeitswelt“ zu leisten, zeigt sich in Hinblick auf zeitgenössische Managementdiskurse eine pervertierende Umkehr dieses Anspruchs: Es geht nicht länger darum, die Arbeit „menschenfreundlicher“, sondern den Menschen „arbeitsfreundlicher“ zu machen.

4 Aufklärung als Prozess: Der politische Sinn gruppendynamischer Praxeologie

Wenn hier an den ursprünglichen politischen Sinn des gruppendynamischen Lernens aufmerksam gemacht wird, wie er in Form von Training und Beratung zur Geltung kommen kann, soll ein damit verbundenes Problem nicht unterschlagen werden. Bei jeder Form von Aufklärung gibt es eine „normative Versuchung“, die mit der Differenz zwischen denen, die sich für aufgeklärt halten und denen, die aufzuklären sind, zusammenhängt. Wohl kann man es für wünschenswert halten, dass von offenkundigen Unterdrückungsverhältnissen bis zur gewohnheitsrechtlichen „normativen Kraft des Faktischen“ alles einer gebührenden Kritik unterzogen und auf seine freiheitseinschränkenden Wirkungen hin thematisiert wird. Es ist dabei aber darauf zu achten, im Zuge der Auseinandersetzungen nicht derselben Logik zu erliegen, die kritisiert wird. Im Sinne der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer und Adorno 1947 [2008]), die der Aufklärung (obwohl von dieser nicht intendiert) eine Nähe zum Totalitarismus unterstellt, läuft man stets Gefahr das inhaltlich Abgelehnte stilistisch zu reproduzieren und den sprichwörtlichen Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Ob man nun Antifaschismus im Sinn hat oder Geschlechtergerechtigkeit – „die vindizierte Überlegenheit der Aufklärer über die noch Aufzuklärenden ist“, wie Habermas ausführt, zwar „theoretisch unvermeidlich, aber zugleich fiktiv und der Selbstkorrektur bedürftig: in einem Aufklärungsprozeß gibt es nur Beteiligte.“ (Habermas 1971 [2014], S. 45) Der Hinweis auf Beteiligung und Partizipation im Zuge des Erkenntnisprozesses relativiert nicht nur die Verdachtslage einer der Aufklärung grundsätzlich innewohnenden Normativität, sondern bildet zugleich die Brücke zum gruppendynamischen Lernen.

Häufig wird übersehen, dass die Gruppendynamik ihre Wurzeln nicht nur in der Sozialpsychologie hat. Als sozialwissenschaftliche und praktische Disziplin steht sie auch in der Tradition der Aufklärung, und diese ist nun einmal ein Produkt der europäischen Philosophie des 18. Jahrhunderts (mit einer gewissen spin-off-Wirkung nach Nordamerika). Deshalb verbindet sich die Gruppendynamik auch mit (sozial-)philosophischem Denken (dazu z. B. Schwarz 1996; Krainz 2006; Heintel 2010), was ihr neben aller Praktikabilität für die Steuerung sozialer Prozesse immer auch eine eigene ideenpolitische Relevanz verleiht. Ob als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1784, S. 53), ob als Bestimmung menschlicher Würde durch „aufrechten Gang“ (Bloch 1961 [1972], S. 12), ob als Zivilcourage oder allgemeinem gesellschaftlichem Engagement teilt die Gruppendynamik die Ansicht, dass der Mensch als ein zu vernunftgeleitetem Handeln befähigtes Wesen grundsätzlich dazu in der Lage ist, sich selbst zu bestimmen, die jeweiligen Verhältnisse und Anforderungen um ihn herum zu registrieren, zu benennen und darauf entsprechend zu reagieren. Dieses Potenzial entfaltet sich jedoch nicht bloß im Denken, sondern im Sozialen, als Diskurs, als kommunikative Vergemeinschaftung. Die Gruppendynamik kann daher als eine Verlängerung dieser philosophischen Ideen ins Soziale betrachtet werden, weil ihre Realisierung immer in konkreten sozialen Kontexten stattfindet. Dies zu ermöglichen, ist damit immer auch eine Art „Politisierung“. In ihrem aufklärungsorientierten Bestreben geht es der Gruppendynamik um die Förderung und Kultivierung einer Bereitschaft, die Verhältnisse über sich selbst und das eigene Tun und Wirken zum Nachdenken zu bringen.

Wird in aktuellen Managementkonzepten daher bloß von Selbstorganisation oder Selbststeuerung gesprochen, ist das verkürzt und trifft auch nicht immer den Kern gruppendynamischer Praxeologie oder das Bemühen einer gruppendynamisch fundierten Trainings- und Beratungsarbeit. Denn jeder Selbststeuerung muss immer eine Selbstaufklärung vorausgehen, ein selbstthematisierender Untersuchungsprozess, da nur so ein höheres Maß an Bewusstheit bei der Koordination der gesetzten Aktivitäten entstehen kann, das sich von dem blinden Streben eines unreflektierten Handlungsvollzugs abhebt. Lediglich „selbstgesteuert“, ist bald etwas, angefangen bei routinierten Handlungen bis hin zu massenpsychologischen Dynamiken (dazu kritisch Krainz 2019). Politisch gesehen hat eine solche Einführung von Vernunft und „Intelligenz“ in das System durch ein Anhalten zur Reflexion auch etwas Emanzipatorisches: es geht darum eine „Gruppe selbst zu „ermächtigen“, sich über Selbstbeobachtung zu steuern“ (Heintel 2010, S. 21), ohne dabei auf anleitende Impulse von außen angewiesen zu sein.

Diese Überlegungen befinden sich qualitativ somit auf einer gänzlich anderen Ebene als funktionalistische Diskurse über Selbststeuerung zugunsten besserer Performance und Leistungssteigerung (dazu auch Pongratz 2003, S. 115 f.). Selbstermächtigung und Selbstbestimmung verleihen dem Aufklärerischen ein Freiheitsmoment, ein Bewusstsein erzeugendes „Über-den-Dingen-Stehen“. Selbstverständlich ist damit nicht eine faktische Loslösung von den konkreten Verhältnissen und Machtstrukturen gemeint, die einen umgeben. Vielmehr geht es um den „Versuch zu ‚bestimmen, was uns bestimmt‘“ (Krainz 1990, S. 32). In T‑Gruppen wird das beispielsweise immer dann ersichtlich, wenn im Zuge eines gemeinsamen Reflexionsprozesses bei Teilnehmer/innen plötzlich ein Gefühl entsteht, sich auszukennen und die Geschehnisse, in die sie immer selbst verwickelt sind, besser zu verstehen. Denn erst die „theoretischen Deutungen, in denen die Subjekte sich und ihre Lage erkennen […] bringen einen Bildungsprozeß zu Bewußtsein“ (Habermas 1971 [2014], S. 43).

Das Aufklärungsverständnis, auf das hier Bezug genommen wird, ist ein besonderes und beides zugleich, sowohl bescheiden als auch radikal. Bescheiden ist es deshalb, da Aufklärung nicht als heilsbringende Erlösung für sämtliche Probleme oder als Verkündigung von Wahrheit angesehen wird, die Nichtwissenden von außen kommend verabreicht werden kann. Aufklärung wird vielmehr prozesshaft verstanden, als eine regulative Idee, als etwas, das sich niemals wirklich abschließen lassen wird. Radikal ist dieses Verständnis insofern, als eine solche Suche nach Wahrheit auch nicht einfach durch individuelle Kontemplation zustande kommt, sondern als soziale Unternehmung konzipiert und somit auf kollektive Nachdenkprozesse umgestellt wird. Individuelle Reflexion allein ist für sich genommen nicht ausreichend, jedenfalls nur auf selektiver Wahrnehmung beruhend und nicht im Austausch mit anderen überprüft, bearbeitet und zur Disposition gestellt. Als Praxisform zielt die Gruppendynamik darauf ab mittels geeigneter Interventionen und Methoden ein solches Nachdenken zu ermöglichen. In diesem Sinn geht es ihr um „kollektive Selbststeuerung“ (Heintel 2006, S. 196), um einen vergemeinschafteten Blick auf die Dinge, um „einen Akt der Selbstvergewisserung, des Setzens ‚selbstbewusster Kollektivität‘“ (ebd., S. 191). Die „soziale Wahrheit“ einer Gruppe bzw. eines Systems ist somit als Produkt der Vergemeinschaftung aller einzelnen Sichtweisen, der gruppendynamische Lernprozess als „‚angeleitete Selbstaufklärung‘, ein ‚Zu-sich-selbst-Kommen kollektiver Freiheit‘“ (Heintel 2010, S. 32) zu verstehen.

Die demokratiepolitische Bedeutsamkeit der hier angestellten Überlegungen ist evident. Denn Demokratie ist essenziell darauf angewiesen, dass sich Menschen aktiv einbringen, partizipieren und gemeinsam Entscheidungen nach hoffentlich vorangegangener kritischer Urteils- und Meinungsbildung treffen (können), ohne vorschnellen und verführerischen Simplifizierungen komplexer Zusammenhänge und deren Propagandisten aufzusitzen oder zu erliegen. Die dafür notwendige „politische Bildung“ ist ein Unterfangen, das nicht automatisch gelingt und dem man sich nur um den Preis der Selbstentmächtigung entziehen kann. Sie ist keine einmalige Intervention, sondern muss als ein eigenes und fortlaufend zu gestaltendes Lernvorhaben verstanden werden – für jede heranwachsende Generation von neuem. Soweit es gruppendynamisches Lernen betrifft, ist genau das sein politischer Sinn.