Zusammenfassung
Kurt Lewin ist unbestritten die zentrale Referenz der gruppendynamischen Fachliteratur. Häufig vernachlässigt wird aber der philosophiegeschichtliche Boden, auf dem sich sein Denken und Wirken entwickeln konnte. Nach seiner Emigration in die USA war Lewin zwangsläufig mit dem amerikanischen Pragmatismus konfrontiert, einer Denkrichtung, die sich an seine bisherigen Überlegungen der Gestaltpsychologie und Feldtheorie als besonders anschlussfähig erwiesen und für die Gruppendynamik als gewinnbringend herausgestellt hat. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Werke John Deweys zu nennen, ein Autor, der in der gruppendynamischen Landschaft aber großteils unbeachtet geblieben ist. Der Beitrag widmet sich dem impliziten Verwandtschaftsverhältnis von Gruppendynamik und Pragmatismus und diskutiert zentrale Eckpfeiler und Parallelen der Theorien beider Autoren. Dabei soll deutlich werden, dass beide maßgeblich, wenn auch indirekt, zur gruppendynamischen Theoriebildung beigetragen haben und damit auch als Wegbereiter einer anwendungsorientierten Sozialwissenschaft gelesen werden können.
Abstract
Kurt Lewin is undisputedly the central reference in the literature of group dynamics. Often neglected, however, is the philosophical background against which his thinking and work were able to develop. After his emigration to the USA, Lewin was inevitably confronted with American pragmatism, a philosophical school of thought that proved to be compatible with his previous considerations on Gestalt psychology and field theory, and was profitable for the development of group dynamics. Most notably in this context is the work of John Dewey, an author, however, who for the most part was ignored in the area of group dynamics. The article deals with the implicit kinship between group dynamics and pragmatism and discusses mainstays and parallels between the theories of both authors. During the course of the argument, it should become clear that both authors significantly, even though indirectly, contributed to the theory of group dynamics and thus can be seen as pioneers of an application-oriented social science.
Notes
Das vorliegende Heft ist Ausdruck dieser Entwicklung und belegt in Lewins’ 125. Jubiläumsjahrs die Nachhaltigkeit seiner Überlegungen über mehrere sozialwissenschaftliche Hintergründe hinweg. Auch die 16. Öffentliche Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik (DGGO) am 18.–20. Juni 2015 in Berlin widmete sich mit einer eigenen Veranstaltung unter dem Titel „Feldkräfte – Was bewegt Menschen, Gruppen und Organisationen? Lewins Brille aktueller denn je!“ seinen theoretischen sowie handlungsbezogenen Nachwirkungen (vgl. dazu auch Antons und Stützle-Hebel, 2015).
Dies zeigt sich etwa auch bei der Verwendung des Begriffs Pragmatismus selbst. Kaum einer der zentralen Vertreter zeigte sich sonderlich erfreut mit der ursprünglichen Namensgebung, weshalb sie andere Bezeichnungen präferierten. So nannte James seine Philosophie lieber „radikalen Empirismus“ oder „Pluralismus“, Dewey sprach vom „Experimentalismus“ bzw. „Instrumentalismus“ und selbst Peirce wechselte zu der neuen Bezeichnung „Pragmatizismus“ (Martens 2009, S. 10).
Zwar spricht Sutor (2002) in diesem Zusammenhang nicht von Gruppendynamik, sondern von dem Verhältnis des amerikanischen Pragmatismus und der Politischen Bildung. In dem hier entfalteten Sinn lassen sich seine Überlegungen aber auch auf die gruppendynamische Praxis übertragen (vgl. auch Heintel 1977).
Interessant ist, dass Horkheimer in seinen Ausführungen die eindeutig trennenden Faktoren aber stillschweigend beiseitelässt. So beschreibt etwa Lück, dass neben den inhaltlichen Differenzen (z. B. in Bezug auf den Einstellungsbegriff, den Lewin im Unterschied zur Frankfurter Schule für weniger relevant erachtet) Lewin und seine Gruppe mit den emigrierten Mitgliedern der Frankfurter Schule auch konkurrierte (Lück 1996, S. 130). Lück nimmt dabei auf Wiggershaus (1988) Bezug, der wiederum einen Brief von Adorno an Horkheimer zitiert, indem er die geplante Studie zum autoritären Charakter (Adorno 1950) als „unser[en] ‚Gegenschlager‘ gegen das Zeug von Lewin“ bezeichnet (Wiggershaus 1988, S. 415 in Lück 1996, S. 130).
Dewey nimmt hier auf eine bekannte Unterscheidung der sogenannten ‚alten‘ und ‚neuen Erziehung‘ Bezug und kommt zu dem Schluss, dass im Sinne einer modernen und den Herausforderungen einer demokratischen Gesellschaft gerecht werdenden Pädagogik mit beiden Seiten gebrochen werden muss. Gerade diese Umwälzung des bisherigen pädagogischen Theoriekanons wurde als „Generalangriff auf die falsche Tradition“ (Oelkers 2000, S. 296) gewertet und war vor allem der deutschen idealistischen Pädagogik ein Dorn im Auge, ein Projekt, das zu einem nahezu aktiven Ignorieren seiner Arbeiten geführt hat (besonders illustrativ Oelkers 1993, 2000, 2009).
Als negatives Anschauungsbeispiel lassen sich hierfür z. B. Teambuilding-Trainings anführen, die zwar erfahrungsbasiert angelegt sind und diverse, mitunter auch lustvolle und spaßige Aktivitäten beinhalten, der Sinn und Zweck den Teilnehmenden aber verborgen bleibt. So weiß man etwa, dass man seiner Kollegin bzw. seinem Kollegen dank verbundener Augen in einem Outdoor-Parcours ‚blind vertrauen‘ kann, welche Bedeutung diese Erfahrung aber für die konkrete Arbeit hat und haben soll bleibt dabei oft ungeklärt.
Demselben Sinngehalt folgend, jedoch ohne Referenzen auf Lewin, bringt dies auch Negt sehr treffend auf den Punkt, wenn er schreibt: „Eine demokratisch verfasste Gesellschaft ist die einzige Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, alle anderen Gesellschaftsordnungen bekommt man so“ (Negt 2010, S. 27).
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Krainz, U. Verschwiegene Verwandtschaft. Gruppendyn Organisationsberat 46, 359–377 (2015). https://doi.org/10.1007/s11612-015-0289-z
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