Skip to main content
Log in

Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis

Von der Gefahr des systemischen Ansatzes sich in Beliebigkeit zu verlieren

The almost unavoidable trivialization of systems theory in practice

The danger of the systemic approach of getting lost in arbitrariness

  • Hauptbeiträge
  • Published:
Gruppendynamik und Organisationsberatung Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Die Systemtheorie Niklas Luhmanns hat sich zu einer Leittheorie des systemischen Managements und der systemischen Beratung entwickelt. Dabei wird vielfach von einer Eins-zu-eins-Übersetzung einer wissenschaftlichen Theorie in die organisationale Praxis ausgegangen. Eine zentrale Einsicht der Systemtheorie ist aber gerade, dass sie sich dieser simplifizierenden Übertragungslogik von Theorie in Praxis grundlegend entzieht. In der systemischen Beratung und dem systemischen Management ist es – so die These des Artikels – zu einer Trivialisierung der Systemtheorie gekommen. Die Systemtheorie verkommt in der Praxis zu einem Instrument der Kompetenzdarstellung, ohne dass dabei bemerkt wird, dass als systemisch verkaufte Postulate wie Ganzheitlichkeit, Authentizität oder Wertschätzung der Stoßrichtung der soziologischen Systemtheorie zuwiderlaufen.

Abstract

Niklas Luhmann’s systems theory has developed into a leading theory of systemic management and systemic consulting. Here, a one-to-one translation of a scientific theory into organizational practice is often assumed. However, an essential understanding of systems theory is that it is actually withdrawing from the simplifying transference logic of “theory into practice.” According to the article, in both systemic consulting and systemic management, a point of trivialization in regard to systems theory has been reached. In practice, systems theory is relegated to an instrument of competence depiction, while postulates made to pass off as systemic—such as Holism, Authenticity or Appreciation—run unnoticed against the stream of sociological systems theory.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. Eine ähnliche Debatte findet – unter anderen Vorzeichen – zurzeit unter dem Stichwort „Relevanz“ versus wissenschaftlicher „Rigorisität“ in den Management Studies statt. Siehe nur beispielhaft Whitley (1984); Rynes et al. (2001); Cohen (2007) und Bartunek und Rynes (2014). Es fällt auf, dass die Referenzen auf die Systemtheorie dabei eher die Ausnahme sind; siehe dafür Ernst und Kieser (2002); Nicolai (2004); Kieser und Leiner (2009); Nicolai und Seidl (2010).

  2. Die systemische Welt ist noch sehr viel bunter als sie hier in aller Kürze dargestellt werden kann. Die unkontrollierte Ausdehnung ähnelt dabei der Expansion des Begriffs des Coachings. Weil der Begriff „systemisch“ einen Ansatz beschreibt und der des „Coachings“ ein Tätigkeitsfeld fällt die Expnasion in solchen Begriffen wie „sysemisches Lebens-Coaching“ oder „systemisches Hund-Coaching“ nicht selten zusammen.

  3. Zur Rezeption der Systemtheorie durch Systemike fehlen noch – von wenigen Ausnahmen abgesehen – noch ausführliche empirische Studien. Interessant wären dabei nicht nur Studien über die Rezeption der Systemtheorie in der Literatur (siehe Krizanits (2007)) sondern besonders auch über Spuren der Systemtheorie in Beratungsprojekten. Als Beispiel für solche empirischen Studien über konkrete Beratungsinterventionen siehe z. B. Dörr (2009) oder Franzke und Schauf (2009).

  4. Ich verzichte hier auf ausführliche Belege dieser Fusionen von Theorie und Praxis. Es gibt genug und sie werden in der an Praktiker gerichteten Literatur auch konsequenterweise nicht thematisiert. Problematisch ist jedoch, wenn die wissenschaftliche Kontrollmechanismen nicht funktionieren und die Theorie-Praxis-Differenz bei Überblicksartikeln zu Rezeption der Systemtheorie von „Organisationstheorie, Management und Beratung“ einfach ignoriert wird (siehe die auffällige Fusion bei Wimmer (2012)).

Literatur

  • Bartunek, J. M., & Rynes, S. L. (2014). Academics and practitioners are alike and unlike: The paradoxes of academic-practitioner relationships. Journal of Management, 40, 1181–1201.

    Article  Google Scholar 

  • Beck, U. (1980). Die Vertreibung aus dem Elfenbeinturm. Anwendung soziologischen Wissens als soziale Konfliktsteuerung. Soziale Welt, 31, 415–441.

    Google Scholar 

  • Beck, U., & Bonß, W. (1984). Soziologie und Modernisierung Zur Ortsbestimmung der Verwendungsforschung. Soziale Welt, 35, 381–406.

    Google Scholar 

  • Cohen, D. J. (2007). The very separate worlds of academic and practitioner publications in human resource management. Reasons for the divide and concrete solutions for bridging the gab. Academy of Management Journal, 50, 1013–1019.

    Article  Google Scholar 

  • Dörr, A. (2009). Die fließende Grenze der Supervision - von der Methodik der Psychotherapie in der supervisorischen Praxis. In K. Galdynski & S. Kühl (Hrsg.), Black Box Beratung. Studien zu Coaching und Supervision (S. 155–189). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

    Chapter  Google Scholar 

  • Elbe, M., & Saam, N. J. (2010). „Mönche aus Wien, bitte lüftets eure Geheimnisse“. Über die Abweichungen der Beratungspraxis von den Idealtypen der Organisationsberatung. In S. Kühl & M. Moldaschl (Hrsg.), Organisation und Intervention. Ansätze für eine sozialwissenschaftliche Funiderung von Organisationsberatung (S. 85–114). München, Mering: Rainer Hampp Verlag.

    Google Scholar 

  • Ernst, B., & Kieser, A. (2002). Consultants as agents of anxiety and providers of managerial control. Academy of Management Prooceedings, C1 - C6.

  • Franzke, A., & Schauf, M.-A. (2009). Personenorientierte Beratung über mehrere hierarchische Ebenen. Inwieweit kann ein Supervisor mögliche latente Probleme eines einzelnen Klienten objektiv erkennen und beheben? In K. Galdynski & S. Kühl (Hrsg.), Black Box Beratung. Studien zu Coaching und Supervision (S. 192–218). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

    Google Scholar 

  • Froschauer, U., & Lueger, M. (1999). Unternehmensberatung. Die Moralisierung der Wirtschaft. In A. Honer, R. Kurz, & J. Reichertz (Hrsg.), Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur (S. 119–134). Konstanz: UVK.

    Google Scholar 

  • Fuchs, P. (2002). Vom Hofnarren zum Berater und Zurück. Anmerkungen der neueren Systemtheorie zur Frage, ob Manager gut beraten sind, wenn sie sich beraten lassen. Wien. http://www.fen.ch/texte/gast_fuchs_hofnarr.htm.

  • Goffman, E. (1952). On cooling the mark out. Psychiatry, 15, 451–463.

    PubMed  Google Scholar 

  • Groth, T. (1999). Wie systemtheoretisch istSystemische Organisationsberatung? Neuere Beratungskonzepte für Organisationen im Kontext der Luhmannschen Systemtheorie. München: Lit Verlag.

    Google Scholar 

  • Groth, T. (2013). Person und Organisation als eine Seite der Medaille. Systemtheoretische Reflexionen. In T. Schumacher (Hrsg.), Professionalisierung als Passion. Aktualität und Zukunftsperspektiven der systemischen Organisationsberatung (S. 86–96). Heidelberg: Carl-Auer Verlag.

    Google Scholar 

  • Horn, E. (1994). Soziologische Systemtheorie und systemische Familientherapie. Einige Anmerkungen zu den Möglichkeiten eines Dialogs. In A. Herlth, E. J. Brunner, H. Tyrell, & J. Kriz (Hrsg.), Abschied von der Normalfamilie? Partnerschaft contra Elternschaft (S. 203–212). Heidelberg: Springer.

    Chapter  Google Scholar 

  • Iding, H. (2000). Hinter den Kulissen der Organisationsberatung. Qualitative Fallstudien von Beratungsprozessen im Krankenhaus. Opladen: Leske + Budrich.

    Book  Google Scholar 

  • Kieser, A., & Leiner, L. (2009). Why the rigour-relevance gap in management research is unbridgeable. Journal of Management Studies, 46, 516–533.

    Article  Google Scholar 

  • Kieserling, A. (1993). Konturen einer soziologischen Unternehmensberatung. Bielefeld: Unveröff. Ms.

    Google Scholar 

  • Kieserling, A. (2000). Die Soziologie der Selbstbeschreibung. In H. de Berg, J. F.K. Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie (S. 38–92). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Kieserling, A. (2015). Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. In S. Kühl (Hrsg.), Schlüsselwerke der Organisationsforschung (S. 422–426). Wiesbaden: Springer VS.

    Google Scholar 

  • Klein, L. (2015): What the hell is Systemtheorie? Eine Polemik. Organisationsentwicklung, 1, 66–68.

  • Krizanits, J. (2007). Die systemische Organisationsberatung Wie sie wurde was sie wird. Wien: Facultas.

  • Kuchler, B. (2013). Kriege. Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte. New York: Campus.

    Google Scholar 

  • Kuchler, B., & Beher, S. (2014). Einleitung: Soziologische Theorien der Liebe. In B. Kuchler & S. Beher (Hrsg.), Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in theoretischer Perspektive (S. 7–54). Berlin: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Kühl, S. (2003). Das Theorie-Praxis Problem in der Soziologie. Soziologie, 4, 7–20.

  • Kühl, S. (2008). Coaching und Supervision. Zur personenorientierten Beratung in Organisationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

    Google Scholar 

  • Kühl, S. (2015a). Strategien entwickeln. Eine sehr kurze organisationstheoretisch informierte Einführung. Wiesbaden: Springer Gabler.

    Google Scholar 

  • Kühl, S. (2015b). Zur Auswahl der Schlüsselwerke der Organisationsforschung – Einleitung. In S. Kühl (Hrsg.), Schlüsselwerke der Organisationsforschung (S. 19–37). Wiesbaden: Springer VS.

    Chapter  Google Scholar 

  • Lau, C. (1984). Soziologie im öffentlichen Diskurs. Voraussetzungen und Grenzen sozialwissenschaftlicher Rationalisierung gesellschaftlicher Praxis. Soziale Welt, 4, 407–428.

    Google Scholar 

  • Luhmann, N. (1964). Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.

    Google Scholar 

  • Luhmann, N. (1971a). Reform des öffentlichen Dienstes. In N. Luhmann (Hrsg.), Politische Planung (S. 203–256). Opladen: WDV.

    Chapter  Google Scholar 

  • Luhmann, N. (1971b). Zweck - Herrschaft - System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers. In N. Luhmann (Hrsg.), Politische Planung (S. 90–112). Opladen: WDV.

    Chapter  Google Scholar 

  • Luhmann, N. (1973). Zweckbegriff und Systemrationalität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Luhmann, N. (1975). Allgemeine Theorie organisierter Sozialsysteme. In N. Luhmann (Hrsg.), Soziologische Aufklärung 2 (S. 39–50). Opladen: WDV.

    Chapter  Google Scholar 

  • Luhmann, N. (1977). Probleme eines Parteiprogramms. In H. Baier (Hrsg.), Freiheit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys (S. 167–181). Opladen: WDV.

    Chapter  Google Scholar 

  • Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen: WDV.

    Book  Google Scholar 

  • Nicolai, A. T. (2004). The bridge to the ‚real world‘. Applied science or a ‚Schizophrenic Tour de Force‘? Journal of Management Studies, 41, 951–976.

    Article  Google Scholar 

  • Nicolai, A., & Seidl, D. (2010). That’s relevant! Different forms of practical relevance in management science. Organization Studies, 31, 1257–1285.

    Article  Google Scholar 

  • Rynes, S. L., Bartunek, J. M., & Daft, R. L. (2001). Across the great divide. Knowledge creation and transfer between practitioners and academics. Academy of Management Journal, 44, 340–355.

    Article  Google Scholar 

  • Scherf, M. (2002). Beratung als System. Zur Soziologie der Organisationsberatung. Wiesbaden: DUV.

    Google Scholar 

  • Simon, H. A. (1957). Administrative Behavior. New York: The Free Press.

    Google Scholar 

  • Sprenger, R. K. (1995). Systemtheorie und Selbstverantwortung. Organisationsentwicklung, 4, 72–77.

  • Whitley, R. (1984). The scientific status of management research as a practically-oriented social science. Journal of Management Studies, 21, 369–390.

    Article  Google Scholar 

  • Wimmer, R. (2012). Organisationstheorie, Management und Beratung. In O. Jahraus, A. Nassehi, M. Grizelj, I. Saake, C. Kirchmeier, & J. Müller (Hrsg.), Luhmann-Handbuch. Leben - Wirken - Wirkung S. (373–378). Stuttgart: J.B. Metzler.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Stefan Kühl.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Kühl, S. Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis. Gruppendyn Organisationsberat 46, 327–339 (2015). https://doi.org/10.1007/s11612-015-0286-2

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s11612-015-0286-2

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation