1 Einleitung

Das gesellschaftliche Geschehen wurde in den vergangenen Jahren stark durch einen winzigen viralen Mitspieler bestimmt. In der politischen Bewältigung der Corona-Pandemie spielte neben dem sich stetig wandelnden Wissen aus medizinischen Wissenschaften wie Virologie, Immunologie und Epidemiologie vor allem solches aus politiknahen Fächern wie den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften eine entscheidende Rolle. Soziologische Beiträge waren zwar zahlreich – man denke nur an die Vorträge des Dreiländerkongresses von DGS, ÖGS und SGS 2021 –, konnten im öffentlichen Diskurs aber nicht annähernd so viel Gehör gewinnen (Knobloch 2023; Lohse und Canali 2021). Zu den wiederholt vorgebrachten soziologischen Perspektivierungen gehörten u. a. die Feststellung einer „Datenerhebungskatastrophe“ in der Pandemiepolitik (Wiarda 2021) sowie vielstimmige Hinweise, dass nicht nur der Erreger auf verschiedene Bevölkerungsteile sehr unterschiedlich wirkt, sondern auch die Effekte der Pandemiepolitik Menschen höchst ungleich zu Verlierern macht: Städter und Landbewohner, Reiche und Arme, Mütter und Väter, Kinder und Senioren, Singles und Alleinerziehende, Home-Office-Beschäftigte und Dienstleister:innen usw. (z. B. Dollmann und Kogan 2021; Holst et al. 2022; Stauber 2021; Wright et al. 2021).

Angesichts der dringlichen praktischen Herausforderungen der Pandemiebewältigung kam ein anderer möglicher Beitrag der Soziologie bislang eher schwach zum Tragen: das analytische Verstehen und theoretische Durchdringen des pandemischen Geschehens.Footnote 1 Wie lassen sich Einzelbeobachtungen einordnen, Muster erkennen, Prozessstrukturen identifizieren und Mechanismen der pandemischen Restrukturierung der Gesellschaft begreifen? Dieser Aufsatz nutzt zum Verständnis pandemischer Sozialität die Theorieperspektive der Humandifferenzierung. Sein Thema ist die klassifikatorische Neuordnung des gesellschaftlichen Personals während der Pandemie.

Der Aufsatz entstammt dem laufenden DFG-Projekt „Pandemische Humandifferenzierung“, das die Corona-Pandemie über den Zeitraum von vier Jahren zeitgeschichtlich begleitet und als eine historisch wiederkehrende Form der Differenzierung von Menschen untersucht. Das Projekt bearbeitet neben dem hier dargestellten Thema zwei weitere: einen Vergleich der Humandifferenzierung in der Corona-Pandemie mit anderen Fällen der Seuchengeschichte (Hock 2024) und die räumliche Segregation von Menschen durch proxemische Abstandsregime (Hirschauer 2021b).Footnote 2 Es verfolgt die Entwicklungen der Humandifferenzierung in der Corona-Pandemie mit vier Sondierungen (und Datenformen): a) mittels der Berichterstattung in überregionalen Printmedien (SZ, ZEIT, taz u. a.), b) mit Hilfe der Prozessdokumentation des Kategorienwandels sowie der Ausgangs- und Zugangsbeschränkungen von ca. 300 Corona-Verordnungen, c) mit qualitativen Interviews zum Sprachgebrauch und zu den Risikokalkülen privater Sozialkontakte sowie d) in ethnografischen Alltagsbeobachtungen der proxemischen Segregation von Menschen.

In dieser Chronik rekurrieren wir nur illustrativ auf die Ereignisdokumentation und Kategorienverwendung in Printmedien sowie auf Dokumente von pandemierelevanten Institutionen (etwa das RKI). Wir stützen uns einerseits auf die analytische Perspektivierung der Theorie der Humandifferenzierung, andererseits auf eine kultursoziologische Kategoriengeschichte der Pandemie, wie sie sich vor allem im öffentlichen Sprachgebrauch massenmedialer Diskurse in Deutschland spiegelte. Hier wurden die sich wandelnden Wissensbestände der medizinischen Forschung, die politischen Debatten und die administrativ-bürokratischen Vorgaben gesellschaftlich vermittelt. Unser Ziel ist eine Verlaufsbeschreibung mit systematischem Interesse, die die Genese und den Wandel der so plötzlich auftauchenden und wieder verschwindenden pandemischen Unterscheidungsgewohnheiten rekonstruiert. Wir verfolgen dabei keine linguistische Feinanalyse des Erstauftretens, der Proliferation und der „Inzidenz“ einzelner Kategorien in bestimmten Sprachkorpora, sondern eine synoptische Längsschnittdarstellung des ethnosemantischen Wandels während des gesamten Zeitraums der Pandemie.

Nach Vorstellung des theoretischen Ansatzes (Abschnitt 2) werden wir die Entwicklung der Leitunterscheidungen und die semantische Verschiebung ihrer Kategorien nachzeichnen (3) und dann das Problem der Identifizierung Infizierter fokussieren: von der Fremddetektion in Laboratorien über den häuslichen Selbsttest bis zur Zertifizierung und Verifikation an öffentlichen Passagepunkten (4). Nach einem Seitenblick auf die Triage als entscheidungsabhängigem Spezialverfahren der Unterscheidung von Menschen (5) ziehen wir ein kurzes Fazit der Humandifferenzierung in der Corona-Pandemie (6). Unsere These ist, dass die tiefgreifende Restrukturierung des gesellschaftlichen Personals während der Pandemie ihr Bezugsproblem in einem für Humandifferenzierungen ganz untypischen tiefen Unwissen über kategoriale Zuordnungen sowie in deren hochgradiger Ambiguität hatten: Alle konnten sowohl Gefährder als auch Gefährdete sein, ohne dies von sich oder anderen je verlässlich wissen zu können. Dies war die beherrschende Konstellation der Humandifferenzierung in der Corona-Pandemie.

2 Eine neue theoretische Perspektive auf die Corona-Pandemie

Die Humandifferenzierung lässt sich in einem Kontext multipler Differenzierungen (Renn 2014) grob typologisierend über ihre Ansatzpunkte von anderen Differenzierungsformen abheben. So setzt (1) die funktionale Differenzierung primär an der Spezifität von Tätigkeiten und Kommunikationsinhalten an, (2) die stratifikatorische Differenzierung an Gütern, Einkommen und Positionen sowie (3) die relationale Differenzierung von Gesellungsformen wie Interaktionen, Gruppen und Organisationen an der Qualität von Sozialbeziehungen. Verteilungstheoretisch gesprochen geht es stratifikatorisch um die Frage der Distribution von Ressourcen auf Personen: Wer verfügt über welche Güter, Chancen und Positionen? Bei der funktionalen Differenzierung steht die Allokation von Tätigkeiten auf Personen im Vordergrund: Wie formieren Professionen Personen, wer besetzt wie stark spezialisierte Rollen? Die relationale Differenzierung dreht sich um Dichte und Verlauf von Assoziationen: Wer gesellt sich wie zu wem? Bei der Humandifferenzierung geht es dagegen um die Frage der Verteilung von Personen auf Kategorien: Wer zählt eigentlich als was?

Differenzierungsprozesse setzen hier unmittelbar an dem an, was in der alltagsweltlichen Ethnosoziologie als persönliche Eigenschaften gilt, am „Menschenmaterial“ wie Simmel (1992 [1908], S. 33) formulierte. Im Fokus stehen dann körperliche Invarianten wie Geschlecht, Hautfarbe, Körpergröße und -behinderungen, unverfügbare biografische Wurzeln wie Alter, geografische und soziale Herkünfte, begrenzt disponible biografische Anker wie sexuelle Selbstentwürfe sowie politische oder religiöse Destinationen und schließlich situative Einsätze, vor allem im Sinne individueller Leistungen. Im Verhältnis der Humandifferenzierung zu anderen Differenzierungsformen gibt es auf der einen Seite theoretische Implikationsverhältnisse, auf der anderen Seite empirische Verschränkungen. So rekurrieren Funktionssysteme neben ihren endogenen personellen Differenzierungen in Funktionsrollen immer auch selektiv auf bestimmte exogene Faktoren wie Geschlecht oder Alter, ohne dass sie in institutionellen Selbstbeschreibungen explizit auftauchen (Hirschauer 2024). Humandifferenzierung lässt sich im Rahmen dieser Verhältnisbestimmungen als eine Form kultureller Differenzierung begreifen, die sich in Fällen von nur flüchtigen oder lokalen Differenzierungen auf kognitive, sprachliche und praktische Elemente von Wissensordnungen beschränkt, ohne Folgen für soziale Differenzierung haben zu müssen. In Fällen starker Institutionalisierung dagegen gewinnt dieser Differenzierungstyp über losere oder engere Kopplungen an gesellschaftliche Strukturen soziale Relevanz, etwa wenn das Alter als rechtliches Kriterium Zugänge eröffnet oder verschließt.

„Differenzierung“ wird in diesem Ansatz als ein sozialtheoretischer Begriff verwendet, der auch mikro- und kultursoziologische Fragestellungen informieren und unmittelbar zu einer empirischen Differenzierungsforschung beitragen soll. Dieser Begriff von Differenzierung ist praxeologisch gedacht, setzt an ihrer Vollzugswirklichkeit an und versteht sie als praktizierte Abstandsvergrößerung. Er bezeichnet ein laufendes Auseinanderfinden, -halten, -ziehen und -treiben im sozialen Geschehen, das entweder vollzogen und aufrechterhalten wird und dadurch hohe Institutionalisierungsgrade erreicht oder auf niedrigem Niveau stagniert, wenn nicht unterbrochen und ganz eingestellt wird. Je nach Grad ihrer Institutionalisierung entwickeln sich Prozesse der Humandifferenzierung also zu verschiedenen Stufen der Abstandsvergrößerung des gesellschaftlichen Personals, beginnend mit vorsprachlichen perzeptiven Unterscheidungen über sprachliche Kategorisierungen, wissenschaftliche und bürokratische Klassifikationen, sozialisatorische Dissimilierungen der Körper und räumliche Segregationen bis hin zu asymmetrischen Differenzierungen wie Alterisierung und politische Polarisierung (Hirschauer 2021a).

Stark institutionalisierte Humandifferenzierungen können mit sozialen Strukturen (etwa Arbeitsmarktsegregation), großen imaginierten Gemeinschaften und materiellen Infrastrukturen verbunden sein. Menschen stark zu differenzieren heißt also, sie in irgendeiner Hinsicht zu unterscheiden und unterscheidbar zu machen, sie sprachlich auseinanderzuhalten, körperlich auseinanderzuentwickeln, sie taxonomisch zu trennen, sie in interessierten Gruppen und Gemeinschaften zu organisieren, sie zu befremden und bestaunen, sie auf- oder abzuwerten, sie räumlich zu trennen und Konflikte zwischen ihnen anzuzetteln. Einige Formen von Humandifferenzierung wirken so nur als flüchtige Distinktionen mit situativem Orientierungswert, andere als bloß lokal und temporär hochrelevante Trennungen, wieder andere als hartnäckig-ubiquitär mitlaufende Schemata des Alltagslebens und einige als totalinklusive gesellschaftliche Raumteiler mit hohem Konfliktpotenzial. Die Grade der Differenziertheit und die gesellschaftliche Relevanz solcher Teilungen variieren also beträchtlich. Nicht jede Unterscheidung gerinnt zur kulturellen Differenz.

In ihren elementaren Stadien hängt erfolgreiche Humandifferenzierung neben der Entwicklung und Verfeinerung sprachlicher Unterscheidungen primär an der perzeptiven Befestigung ihrer Kategorien an Individuen. Kategorisierung ist die sprachliche Seite des Identifizierens, Identifizierung die perzeptive Seite des Kategorisierens. Die Erkennbarkeit von kategorialen Zugehörigkeiten wird zumeist, man denke nur an die von Geschlechtern, Altersgruppen oder Ethnien, durch nicht-sprachliche kulturelle Zeichensysteme aufgebaut: von vagen Anzeichen und Spuren über kommunikativ gehandhabte Indizes und mit der Zeit kondensierte Marker im Sinne etablierter Erkennungszeichen bis hin zu wissenschaftlich oder bürokratisch definierten Kriterien.

Illustrieren wir den Theorieansatz zunächst durch eine lose Applikation auf die Corona-Pandemie. Präverbale Unterscheidungen spielten in ihr nur eine untergeordnete Rolle in den intuitiven körperlichen Distanznahmen zu erkennbaren Symptomträgern, neue sprachliche Kategorien wurden in großer Zahl und enormem Tempo entwickelt, kulturelle Markierungstechniken und Identifizierungspraktiken bekamen vor allem deshalb hohe Relevanz, weil der Erreger und die Krankheitsverläufe nur in wenigen Fällen für eine Erkennbarkeit sichernde materielle Dissimilierung der Körper sorgte. Eine dramatische Ausgestaltung erfuhren räumliche Segregationen: einerseits als kategorien-unspezifische proxemische Gebote („social distance“), die neben den unpersönlichen Kontakten der Öffentlichkeit auch soziale Nahbeziehungen gravierend umgestalteten und einschränkten, andererseits als vom Infektionsstatus abhängige Ausgangs- oder Zugangsbeschränkungen. Schließlich entfaltete die Pandemie natürlich auch Polarisierungspotenzial: einerseits in den sichtbaren gesellschaftlichen Konfliktlinien um die politischen Entscheidungen über Schließungen und Zugangsbeschränkungen, andererseits als eher latent bleibende generationelle Differenzierung zwischen den viral betroffenen Alten und den von den Maßnahmen betroffenen Jungen, die nach den chronologisch unmittelbar vorausgehenden Protesten der Fridays-for-Future-Bewegung Ende 2019 für eine drastische Schubumkehr generationaler Verantwortung sorgte.

Die Corona-Pandemie tangierte also auch vorhandene Formen von Humandifferenzierung, etwa zwischen den Generationen oder den Geschlechtsklassen, sie brachte aber auch unübersehbar neue Formen hervor. Sie sind Gegenstand dieses Aufsatzes. Er untersucht pandemiespezifische kategoriale Unterscheidungen des gesellschaftlichen Personals: die Unterscheidung und praktische Identifizierung von (Nicht-)Infizierten und (Nicht-)Geimpften. Er versucht zu bestimmen, was für ein Fall von Humandifferenzierung diese pandemiespezifischen Unterscheidungen waren, und verfertigt eine Chronik des zeitgeschichtlichen Wandels der Leitunterscheidungen und -kategorien für Menschen im Verlauf der Corona-Pandemie in Deutschland vom Januar 2020 bis zum April 2023. Er fokussiert damit die am zügigsten entwickelten Stufen pandemischer Humandifferenzierung: die sprachlichen und diagnostischen Kategorien sowie die Praktiken der Identifizierung.

Dieser Wandel von Leitunterscheidungen und Kategorisierungstechniken ließe sich politikwissenschaftlich etwa so verfolgen, dass man die wissenschaftliche Genese, die selektive politische Beratung, die kontroversen Entscheidungen und administrativen Durchsetzungen biomedizinischer Kategorien rekonstruiert (dazu: Knobloch 2023). Wir fragen dagegen in einer historisch-kultursoziologischen Perspektive nach der Neustrukturierung unserer „socio-mental maps“ während der Pandemie. Der Beitrag rekonstruiert kontingente Verzweigungen in der Entstehung eines pandemischen Wissenssystems, das in hohem Tempo und mit enormen Wissenslücken biowissenschaftlich entwickelt und alltäglich implementiert wurde. Wie sind im Laufe der Pandemie medizinische Kategorien zu alltagspraktischen Orientierungen geworden?

3 Die Unterscheidungen und ihre Kategorien

Am 5. Mai 2023 verkündete die WHO das Ende des internationalen Gesundheitsnotstands, die Zahl der offiziellen „Corona-Toten“ (weltweit ca. 7 Millionen) und die Dunkelziffer (ca. 20 Millionen). COVID-19 gelte nun als etabliertes und andauerndes Gesundheitsproblem. Etwa zeitgleich verschwand die Corona-Pandemie in den Gesellschaften, die sich gut mit Impfstoff versorgten, allmählich aus dem Bewusstsein. Erinnern wir daher zunächst kurz mit einem kleinen Schaubild an ihren zeitlichen Verlauf in Deutschland. Abbildung 1 zeigt die Zeitpunkte des ersten Auftretens von (laut WHO) besorgniserregenden Virusmutanten, die sieben vom RKI deklarierten Infektionswellen, den Anstieg der Grundimmunisierung ab Herbst 2021 sowie eine Reihe ausgewählter Schlüsselereignisse der letzten Jahre.Footnote 3

Abbildung 1
figure 1

Zeitverläufe und Schlüsselereignisse der Corona-Pandemie in Deutschland. Inzidenz: Neuinfektionen der vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner; Grundimmunisierte: Anteil der mindestens zweifach Geimpften an der Gesamtbevölkerung. Quellen: RKI, Impfdashboard, eigene Darstellung

In diesen drei Jahren ist der gesellschaftliche Wortschatz um eine Reihe von Humankategorien erweitert worden, die vor der Pandemie noch nicht zur Alltagssprache gehörten oder überhaupt niemandem bekannt waren, z. B. „asymptomatisch Infizierter“, „geboosterte Kontaktperson“, „symptomfreier Superspreader“. In den meisten dieser sprachlichen Kategorien sind zwei medizinische Unterscheidungen vorausgesetzt: die von Infizierten und Nicht-Infizierten (d.h. risikosoziologisch: von Gefährdern und Gefährdeten) sowie die von Geimpften und Ungeimpften. Ihr Bezugspunkt war eine neuartige virale Bedrohung der Gesundheit, die sich auf die vom Virus Affizierten übertrug. Beide Unterscheidungen haben sich in den vergangenen Jahren auf spezifische Weise entwickelt, weil sich die Verteilung der Bevölkerung auf ihre kategorialen Seiten gravierend veränderte.

3.1 Gefährder und Gefährdete

Der Infektionsstatus ist im Fall von Pandemien nicht bloß eine medizinspezifische Rollendifferenzierung wie die Unterscheidung von Gesunden und Kranken (Parsons 1951), er ist tatsächlich ein Status, also eine gesellschaftsweit wirksame Form der Humandifferenzierung, die auch alle augenscheinlich Gesunden als potenziell Kranke oder als unerkannte Überträger in den Blick nimmt. Die alltagsweltliche Relevanz des Infektionsstatus liegt darin, dass mit ihm über die Agency der Gefährdung entschieden wird, über die Frage nämlich, wer wen anzustecken droht, wer also Gefährder und Gefährdeter ist. Diese gesamtgesellschaftlich relevante Unterscheidung konnte allerdings nur durch die Medizin getroffen werden. Infizierte ließen sich eben nicht wie bei den meisten Formen von Humandifferenzierung auf Basis etablierter kultureller Codes erkennen (so wie etwa „Alte“, „Asiaten“ oder „Frauen“). Es brauchte das medizinische Aufspüren des Erregers, standardisierte Formen der Detektion, Laborbefunde von prekärer Verfügbarkeit und eine Infrastruktur aus Zertifikaten wie Kontrolleur:innen, um den Infektionsstatus überhaupt feststellen zu können (siehe Abschnitt 4). Die Unterscheidung war also ein Fall von Humandifferenzierung mit ubiquitärer Relevanz, aber teilsystemgebundener Unterscheidbarkeit.

Im gesellschaftlichen Alltag sorgte diese interaktive Undurchführbarkeit der relevanten Unterscheidung seit Beginn der Pandemie für ein Problem der Ununterscheidbarkeit von Gefährdern, Gefährdeten und Gefeiten (d. h. minder gefährdeten und gefährdenden): Wer ist Virusträger, wer unerkannter Überträger und wer bereits immunisiert? Da der je aktuelle Infektionsstatus nur durch Labortests zu bestimmen und zunächst nur den Getesteten selbst bekannt war, die Bedrohung jedoch unmittelbar von den Mitmenschen ausging, hatten alle gute Gründe, sich gegenseitig zu misstrauen. Die neue Normalität des pandemischen Alltags war durch eine grassierende Unsicherheit im Zuordnen von Gefahren durch und für andere Menschen geprägt. Hinzu kam, dass die Zugehörigkeit zu einem Infektionsstatus instabil und zumeist nicht mal den Körperbewohnern selbst bekannt war. Das Virus schuf laufend unerkannte Seitenwechsel von Menschen: von diffus Gefährdeten über gefährliche Befallene entweder zu Gefeiten oder zu schwer Erkrankten und Verstorbenen. Das Virus schuf also einen Unterschied von vitaler Bedeutung, bei der die Unterschiedenen irgendwann die Seiten wechseln, ohne dass sie wussten, auf welcher sie sich gerade befinden, wer also wen gefährdet.

Vor dem Hintergrund dieses Unterscheidbarkeitsproblems kam es wie schon in historisch vergangenen Pandemien zum Ausweichen auf untaugliche, aber leichter handhabbare Behelfsunterscheidungen, mit denen man versuchte, das Problem grassierender Ungewissheit über den Infektionsstatus zu verringern. Kulturell stabile Stigmatisierungen dienten der Verortung der Ansteckungsgefahr: In der Pest des 14. Jahrhunderts machte man religiös Andere, die jüdischen „Brunnenvergifter“, als Gefährder dingfest (Thießen 2014), drei Jahrhunderte später wahlweise die protestantischen „Häretiker“ oder die Katholiken (Dinges 1995). Spätere Infektionskrankheiten wurden nachhaltig ethnisiert. Man assoziierte das Fleckfieber mit Sinti, Roma und Juden, die Tuberkulose mit chinesischen Stadtvierteln usw. (Weindling 2007). Zuerst suchte und benannte man also die (vermeintlichen) Gefährder.

Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde das drängende Problem der Identifizierung der Gefährder zunächst auf die grobe Differenzierung von Ausländern und Inländern abgeschoben. Diese Unterscheidung ließ sich an Papieren erkennen und über Reihentestungen an Landesgrenzen vollziehen, etwa bei Urlaubsrückkehrern. Es wurden aber auch optisch einladende rassialisierende Zurechnungen vorgenommen: in den USA auf Schwarze, in Südafrika auf Weiße („white man’s disease“), in Europa auf Asiaten. In Deutschland folgten im Frühjahr 2020 aus der Verwaltungsstruktur abgeleitete Regionalstigmatisierungen von Kommunen und Landkreisen als „Risikogebiete“, etwa der „Kreis Heinsberg, das deutsche Corona-Epizentrum“ (Zeit Online 2020a). Diese Kennzeichnung implizierte weniger das Ausweisen einer Gefahrenzone für die Bewohner:innen denn eine Stigmatisierung von „Corona-Schleudern“ (Zeit Online 2020b) vor der Öffentlichkeit. Wie zuletzt China im Januar 2023 wurden ganze Länder zu „Hochinzidenzgebieten“ oder „Virusvariantengebieten“ im internationalen Reiseverkehr erklärt, aus denen die potenziell gefährlichen „Reiserückkehrer“ die Virusvarianten einschleppen.Footnote 4 Beispielhaft sei verwiesen auf die Corona-Einreiseverordnung 2021. Man kann diese regionale Verörtlichung des Risikos und die lokale Versämtlichung von Populationen einerseits als rational-bürokratische Variante der seuchenhistorisch alten Fremdenabwehr verstehen, andererseits aber auch als schwachen und ungezielten Ersatz für eine präzisere Verortung des Risikos in Personen durch eine Quarantänepolitik, wie sie viele asiatischer Länder betrieben. Dort wurden die entdeckten infizierten Gefährder viel konsequenter temporär isoliert, die pandemische Humandifferenzierung also in räumliche Segregationen übersetzt, als in den europäischen Demokratien.Footnote 5

In Europa fand sich dagegen nur ein zunächst schwacher Versuch der Differenzierung der Gefährdeten. Es wurden Risikogruppen evoziert, also eine Unterscheidung nach der Wahrscheinlichkeit nahegelegt, mit der Menschen schwer erkranken können. Damit war zwar die Unsicherheit über die Gefährder nicht aufgehoben, aber die Gruppe der besonders zu Schützenden etwas konkreter gefasst. Diese Kategorie umfasste in Deutschland nach der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020 allerdings zunächst 40 Millionen „Ältere und Vorerkrankte“, hatte also keinerlei operative Schärfe, sondern nur einen diffusen Informationswert bei der Aufklärung über angemessenes Gesundheitsverhalten. Vor allem enthielt sie den Appell zur „De-Mobilisierung der ‚gefährdeten‘ Alten“ (Graefe et al. 2020, S. 414). Diese Unterscheidung nach Lebensalter hatte alltagsweltlich den Effekt, dass die besonders Gefährdeten ihr erkennbares Alter zugleich als Marker für Schutzbedürftigkeit trugen. Aber auch die Gefährder wurden zu diesem frühen Zeitpunkt der Pandemie weitgehend altersdifferenziert versämtlicht, etwa als „junge Menschen, die keine Symptome zeigen, mobil sind und viel reisen“ (so der SPD-Abgeordnete Lauterbach, Zeit Online 2020a).Footnote 6 Insbesondere Kinder im betreuungspflichtigen Alter sollten von den Gefährdeten ferngehalten werden (Spiegel Online 2020), was auch ihre Altersmarker zu Zeichen besonderer Gefährdung machte. Das sichtbare Alter war eine grob versämtlichende, aber sich über die gesamte Pandemie als stabil anbietende Distinktion, an der sich Menschen im Alltag orientieren konnten.

Ab dem Sommer 2020 wurde der Differenzierungs- und Identifizierungsbedarf zunehmend ins Sozialverhalten verschoben (Ellerich-Groppe et al. 2020; Cook et al. 2021), wo gemeinschaftsstiftende moralische Behelfsunterscheidungen zwischen „Verantwortungsvollen und Leichtsinnigen“, „Solidarischen und Rücksichtslosen“, „Vernünftigen und Covidioten“ aufkamen, festgemacht an der Nicht-Konformität mit gesundheitspolitisch auferlegten oder empfohlenen Verhaltensweisen.Footnote 7 Ein Schlüsselereignis war dabei das erste „Superspreader-Event“ im Februar 2020, eine „Jeckenparty, […] wo der Karneval […] zum Massenmultiplikator“ wurde (Zeit Online 2020a). Zeitlich parallel stabilisierte sich die Behelfsunterscheidung von Inländern und Ausländern in der Hybridkategorie der „Reiserückkehrer“. Die bis April 2023 täglich veröffentlichten Lageberichte des RKI verweisen darauf, dass „Wohnort und wahrscheinlicher Infektionsort nicht übereinstimmen müssen“ (RKI 2023), das Virus also als Folge von Reiselust und geselligem Sozialverhalten „eingeschleppt“ werde. Mit dieser Verschiebung hin zu entscheidungsabhängigem Verhalten entwickelte sich auch eine Moralisierung des Status des Gefährdenden, die sich mit Appellen zu solidarischem Impfen verstärkte.

3.2 Geimpfte und Ungeimpfte

Mit der Verfügbarkeit von Impfungen ab Ende 2020, während der zweiten Welle, wandelte sich das Bild. In einer Gesellschaft von Impflingen gab es eine zweite Leitunterscheidung: die von Geimpften und Nichtgeimpften. Es handelt sich insofern um eine von den Infektionsstatus abgeleitete Folgeunterscheidung, als gegen Krankheiten Geimpfte idealerweise weder infizierbar noch infektiös sein sollten.Footnote 8 Auch die Corona-Impfung, die für eine materielle Dissimilierung der Körper sorgte, sollte einer Infektion vorbeugen, also schneller sein als die Assoziierungsaktivität des Virus mit dem menschlichen Wirt. Halbwegs gelang das aber nur bis zum Auftauchen der Omikron-Variante Ende November 2021, die auch Geimpfte in großer Zahl infizierte. Seitdem schützte der Impfstoff die meisten Geimpften verlässlich nurmehr gegen schwere Erkrankungen und machte sie weniger infektiös (Ärzteblatt 2022a). Omikron wirkte somit abmindernd auf die kontrastive Unterscheidung von Gefährdern und Gefährdeten.

Mit der Impfung entstanden neue Humankategorien wie „Impfberechtigte, -schwänzer, -drängler und -botschafter, Zweitimpfling“ (Zeit Online 2021b), aber auch Impfskeptiker, -gegner und -verweigerer, später: Geboosterte, Immunnaive etc. Steuernd für diese Verzweigungen der Humankategorien wirkten Angebot und Nachfrage nach Impfstoffen und der Grad der gesellschaftlichen Obligation zur Impfung. Vor dem Hintergrund der anfänglichen Impfstoffknappheit wurden die Impflinge in die schon geimpften und die „als nächste“ oder später zu impfenden Personen sortiert und letztere von Januar bis Juni 2021 vier politisch-administrativen Priorisierungsklassen zugeordnet. Diese Klassen rekurrierten auf Unterscheidungen von Risikogruppen nach Alter, Erkrankungsrisiko und Vorerkrankungen sowie auf „systemrelevante“ Berufe.Footnote 9 Dies valorisierte zum einen die Versorgungsleistungen dieser Berufe für die Gesamtbevölkerung, zum anderen fokussierte es die Angehörigen medizinischer Berufe auf hochambivalente Weise (Kaldewey 2022). Sie erhielten öffentliche Aufmerksamkeit einerseits als das von Infektion und Krankheitsausfall verstärkt bedrohte Versorgungspersonal der Erkrankten, andererseits als potenzielle Gefährder von Risikogruppen. Dieselbe Ambivalenz fand sich schon ab März 2020 im Verhältnis zu Kindern. Während sich das Image von Angestellten in Pflegeberufen von „Schutzpersonal“ hin zu potenziellen Gefährdern verschob, wurden Kinder immer weniger als Schutzbefohlene gesehen denn als distanzlose „Gruppenwesen“ mit Gefährdungspotenzial, die man als getarnte Virusträger beäugte – sowohl angesichts ihrer „wilden“ Sozialität als auch aufgrund der in ihrem Fall nicht selten fehlenden oder schwachen Symptome (so explizit etwa in der taz 2020).

Nach der dritten Welle, im Sommer 2021, wurde erstmals kurz diskutiert, ob Geimpfte und Genesene Sonderrechte bekommen und im Alltag von den AHA-Regeln befreit werden könnten. Man entschied sich schließlich dagegen, weil ihre Infektiosität noch unbekannt und die Alltagstauglichkeit der Überprüfung unklar war. Solche Sonderrechte hätten zu diesem frühen Zeitpunkt aber auch zwei Folgeprobleme der Humandifferenzierung aufgeworfen. Erstens wäre im Alltag aufdringlich sichtbar geworden, welches „Zweiklassensystem“ die politisch verordnete Impfpriorisierung schuf. Daher wurden Geimpfte auch aus Gründen des gesellschaftlichen Zusammenhalts weiter in Maskenverantwortung gehalten. Zweitens gab es das Erkennbarkeitsproblem, da man den Impfstatus in der Öffentlichkeit noch nicht gut kontrollieren konnte. Man hätte unmaskierte Geimpfte ohne weitere Erkennungszeichen und Kontrollen nicht von ungeimpften „Maskenmuffeln“ unterscheiden können und so die Wirksamkeit und Akzeptanz der AHA-Regeln untergraben.

Im Verlauf des Jahres 2021 erfuhr die neue Unterscheidung starke Veränderungen. Das betraf erstens die Besetzungsstärke ihrer Kategorien: Die Menge der Geimpften wurde in wenigen Monaten von einer Minderheit zu einer Mehrheit (BMG 2023). Ein solcher Umschwung der Besetzungsstärke würde bei den Wählern von Regierungs- und Oppositionsparteien als „Erdrutsch“ gelten. Auch wurde die Kategorie der Impfbaren durch Absenkung der Altersschwelle erst auf Jugendliche, dann auf Kinder, immer inklusiver. Ein Großteil der Bevölkerung hatte damit den selbstgewählten Seitenwechsel zum elementar Geschützten vollzogen, dessen Gesundheit von einer Infektion weniger bedroht sein sollte.

Zweitens kam es seit dem Frühjahr 2021 zu einer kategorialen Ausdifferenzierung der Geimpften in Erst- und Zweitgeimpfte sowie „Geboosterte“ als temporärem Standard auf dem Weg zum Durchgeimpften. Tatsächlich hätte sich die medizinische Auffrischungsnotwendigkeit der Impfung genauer nach der individuellen Zahl von Antikörpern bemessen lassen. An die Stelle entsprechender Tests, denen es an klaren Grenzwerten und an hinreichender Verfügbarkeit fehlte, trat mit dem Wegfall der Impfpriorisierung seit Juni 2021, d. h. mit Ende der dritten Welle, die alltagstaugliche bürokratische Zählung der Impfungen und ihre politische Wertung als „einfach, vollständig, zusätzlich“. Als sich spätestens mit Aufkommen der Omikron-Variante Ende November 2021 die Notwendigkeit weiterer „Booster“ abzeichnete, verschob sich die Bedeutung von „vollständig“.Footnote 10 Die Selbst- und Fremdkategorisierung als „durchgeimpfte“ Person bot spätestens seit dem „zweiten Booster“ keine Gewissheit mehr über die eigene Gesundheitsgefährdung.

Drittens veränderte die Unterscheidung ihre Bedeutung. Anfang 2021 trennte sie die, die schon „dürfen“, von den vielen, die noch aufs Impfen warten müssen. Seit dem Herbst 2021 teilte sie im dominanten politischen Diskurs die auf der „richtigen“ Seite von einem zunächst zwiespältigen Rest aus Impfunwilligen und Impfuntauglichen. Mit der Vergrößerung der Menge der Geimpften und Impfbaren wurde dieser „Rest“ weiter kategorial und semantisch spezifiziert: Nicht-Impfbare wie Schwangere, Kinder, manche Alte und Immunsupprimierte, wie etwa Organempfänger, galten als Gefährdete und zu Schützende, Impfskeptiker als durch Kampagnen zu Überzeugende, Impfgegner als zu Sanktionierende und im sozialen Umgang zu Beschämende.

Diese Verschiebung hatte auch den infrastrukturellen Hintergrund, dass sich im Herbst 2021 die Marktlage einer drängenden Nachfrage für ein knappes Impfstoff-Angebot zu einer potenziellen Vollversorgung der Gesamtbevölkerung gedreht hatte. Zu eben diesem Zeitpunkt wurden sukzessive Beschränkungen der Zugangsberechtigung zu Einrichtungen eingeführt, die sich auf die Kategorien der Geimpften, Genesenen und Getesteten stützten und eine kontrollierbare räumliche Segregation zur Folge hatten. Den Geimpften und Genesenen wurde eine geringe Selbst- und Fremdgefährdung, den Getesteten eine zumindest temporär geringere Fremdgefährdung unterstellt. Für die Restriktion von Zugängen wurden seit Mai 2021 mit der 3G- und 2G-Regel Kategoriencluster hergestellt – kategoriale „Klumpungen“ im Sinne von Zerubavel (1996). 3G fasste Geimpfte, Genesene und Getestete zusammen, während die 2G-Regel die Nicht-Geimpften abspaltete und vom Zugang zu vielen Einrichtungen ausschloss.Footnote 11 Mit der expliziten Ausgrenzung „Ungeimpfter“ wurde ein starker politischer Druck in Richtung Impfungen aufgebaut (Wehling 2023). Aus der Theorieperspektive der Humandifferenzierung drängte sich der Impfstatus neben den medizinischen und gesundheitspolitischen Vorteilen der Impfung auch deshalb als zweite Leitunterscheidung auf, weil er, anders als der chronisch labile Infektionsstatus, leicht feststellbar, zählbar, zertifizierbar und eindeutig am eigenen Leib erfahrbar war.

Die Verschiebung der pandemischen Leitunterscheidung hin zur Impfung hatte den interessanten Effekt, dass die Stigmatisierung, die seuchengeschichtlich nur als irrationaler Sündenbockmechanismus, nämlich als Ethnisierung oder religiös motivierte Diffamierung, in Erscheinung trat, mit den Impfgegnern ein politisch rationales Objekt fand. Der Druck auf sie nahm mit der Stagnation der Impfkampagne seit dem Herbst 2021 (in pandemischer Zeitrechnung: im Anstieg der vierten Welle) kontinuierlich zu. Ferner kam es mit dem politischen Diskurs um eine Impfpflicht auch zu einer Polarisierung entlang der Frage der politischen Haltung zur Impfung. Sie konnte entstehen, weil die Wertepräferenz bei der ersten Leitunterscheidung nach Infektionsstatus noch gesellschaftlicher Konsens war – es ist besser, sich nicht zu infizieren –, bei der zweiten dagegen offen wurde für weltanschauliche Devianz. Mit der Spezifikation der Nicht-Geimpften und der Herauslösung der bloß Säumigen, Indifferenten, Zögernden aus dieser Menge wurde allmählich die moralisch deviante Minderheit von Impfgegnern herauspräpariert, die sich ihrerseits selbst als relevante Seite einer „Spaltung der Gesellschaft“ stilisierte (Frei und Nachtwey 2021, S. 12).Footnote 12

Die im Winter 2021/22 antizipierte und mit den Ungeimpften assoziierte neuerliche Zuspitzung der Gefahr für die Gesundheit wurde, wie schon im Winter des Vorjahres, im Engpass von Intensivbetten gesehen. Vor diesem Hintergrund wurde im Januar 2022 im Angesicht der drohenden Omikron-Welle eine Erneuerung der Triage als „tragischer“ Form der Humandifferenzierung diskutiert (siehe Abschnitt 5). Damit verschob sich die Bedeutung des Impfstatus ein weiteres Mal. Als der argumentative Appell ans vernünftige und solidarische Impfen sich in Richtung einer verordneten Impfpflicht entwickelte, wandelte sich die Reputation des Nichtgeimpftseins von der legitim abweichenden Meinung zur unsolidarischen Verweigerung. Impfverweigerer erschienen zunehmend als systemische Gefährder, die die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems unterminieren, die lebensrettende Behandlung von anderen Erkrankten blockieren, eine schnellere Eindämmung der Pandemie verzögern und wirtschaftliche Existenzen aufs Spiel setzen.

Hintergrund dieser Entwicklung war ein anderer Rekrutierungsweg in die Kategorien der beiden verwandten Leitunterscheidungen: Zum Infizierten wird man durch meist unwissentlichen Kontakt, zum Geimpften durch persönliche Entscheidung. Diese war zwar durch gesundheitspolitische Aufklärung und gesellschaftlichen Druck massiv diskursiv beeinflusst, blieb aber letztlich klar individuell zurechenbar. Das verschob auch die moralische Bedeutung der Kategorien der ersten Leitunterscheidung: Infizierte waren nicht mehr nur Opfer einer Ansteckung, an der sie nur vielleicht „leichtsinnig“ beteiligt sein konnten, sie kamen auch als unsolidarische und gegenüber sich selbst wie anderen entschlossen verantwortungslose Gesellschaftsmitglieder in Betracht, insbesondere wenn sie schwere Symptome entwickelten.Footnote 13

4 Das Identifizierungsproblem

Neben den Unterscheidungen und sprachlichen Kategorien umfassen die elementaren Stufen der Humandifferenzierung auch Praktiken der Identifizierung der Kategorisierten. Die meisten Fälle von Humandifferenzierung stützen sich bei der perzeptiven Verknüpfung von sprachlichen Kategorien mit der äußeren Erscheinung von Menschen auf etablierte kulturelle Marker sowie auf die alltagsweltlich-kommunikative Kundgabe mittels Indizes, mit denen Personen ihnen selbst bekannte soziale Zugehörigkeiten anzeigen können. Während der Corona-Pandemie entstand dagegen ein gravierendes Identifizierungsproblem, weil das Virus die Möglichkeiten menschlicher Kommunikation unterlief: Man konnte den Infektionsstatus nicht wie andere kategoriale Zugehörigkeiten alltäglichen Darstellungen entnehmen, sondern nur über die technisch vermittelte Entnahme körperlicher Sekrete aufspüren. Es dominierten von Beginn an exklusive (Labor-)Verfahren der Detektion (2.1.), also Verfahren reiner Fremdkategorisierung. An die Stelle des sicheren biografischen Wissens von der eigenen Zugehörigkeit rückte die laufende Selbstdetektion (2.2.), an die Stelle der leiblichen Indizierung des Status die Ausweisung durch Zertifikate und deren Kontrolle (2.3.).

4.1 Anzeichen und Fremddetektion

Die Humandifferenzierung während der Corona-Pandemie hatte es stets mit den Besonderheiten des SARS-CoV-2-Virus zu tun. Sie liegen im Vergleich mit anderen Seuchen u. a. in drei Aspekten: a) in einer spezifischen Inkubationszeit, also der Zeit zwischen Infektion und dem Auftreten von Symptomen, während der jemand unverdächtig, aber bereits ansteckend ist; b) in dem Umstand, dass bei 40 Prozent der Infizierten gar keine Symptome auftraten, sie aber ihrerseits infektiös sind (Ma et al. 2021); c) in der schwachen Spezifität der Symptome (vor allem Husten und Fieber). Im Gegensatz zu dieser dreifachen Tarnung sorgte etwa im Falle des Vorläufers SARS‑1 eine starke Symptomspezifität für die schnelle Erkennbarkeit von Infizierten mit entsprechend größeren Chancen der Verbreitungshemmung. Und auch die AIDS-Pandemie ging mit recht eindeutigen Leitsymptomen (wie dem Karposi-Sarkom), aber auch einer sehr langen und für die Rückverfolgung äußerst ungünstigen Inkubationszeit einher. Das Corona-Virus indizierte seine Präsenz in Körpern dagegen entweder gar nicht oder nur durch mehrdeutige Symptome, die dann von Patienten und Ärzten wahrgenommen, identifiziert und mitgeteilt werden konnten. Definitiv aufgestöbert und nachgewiesen wurde es in den Körpern mit oder ohne Symptomen letztlich nur mittels Testverfahren, deren Ergebnis dann in behördlichen „Meldungen“ auch dem Staat angezeigt wurde. So unzuverlässig sich die Symptome auch erwiesen, so blieben sie allerdings nicht nur als Anlass für Testungen, sondern, mit ihnen koexistierend, auch als alltagsweltlich leicht verfügbare „Alarmzeichen“ (Goffman 1974, S. 318 ff.) in Gebrauch, etwa zum Ausschluss von hustenden Kund:innen aus Flugzeugen und Arztpraxen oder als informelle Verdachtsmomente im Risikokalkül von Sozialkontakten neben sozialer Promiskuität, Distanzlosigkeit und anderen Anhaltspunkten der anfänglichen Behelfsunterscheidungen.

Die medizinische Detektion begann mit simplem Fiebermessen an Passagepunkten und fand in PCR-Tests schnell ihren Goldstandard. Verglichen mit kulturell etablierten Verfahren der Zuschreibung kategorialer Zugehörigkeiten, etwa in der Geschlechtsklassifikation, wirkt ein PCR-Test ziemlich ausgefallen. Er beruht auf der Entnahme eines Abstrichs mittels Tupfern in Arztpraxen, Apotheken oder Testzentren, wobei Probe und Personal wechselseitig vor Kontamination geschützt werden: die Probe durch ein Plastikröhrchen, das Personal durch mehrfach gewechselte Plastikkittel und Latex-Handschuhe, FFP2-Masken und Gesichtsschild. Mit persönlichen Daten versehen, in Datenbanken erfasst und in einer bruchsicheren Box verstaut, werden die Proben in ein Labor gefahren und dort an einer Sicherheitswerkbank geöffnet, die erneut das Laborpersonal abschirmt, indem ein steter Luftstrom die Luft von ihrer Hantierzone wegsaugt. Ein Lösungsmittel löst die Proben aus dem Tupfer, ein Pipettierautomat fügt Reaktionsmittel hinzu. Dann sorgt ein Gerät namens Thermozykler, das die Temperaturzyklen einer Polymerase-Kettenreaktion (PCR) selbständig durchführen kann, für eine messbare Vervielfältigung von Viren-Erbgut aus den Proben und exprimiert die Ergebnisse als Graphen in einem Computer, die das Fachpersonal oder eine Software dann als positiv kategorisiert, sobald vorab definierte Schwellenwerte überschritten werden. Die Test-Ergebnisse werden den Probanden zugeordnet, diese elektronisch informiert und positiv Befundete ans Gesundheitsamt gemeldet. So entstehen Fälle für die Statistik, Akten für die Behörden und Körper, die sich mit der Leitunterscheidung infiziert/nicht-infiziert klar zuordnen lassen.

Anders als dieses Standardverfahren gelangte eine andere Form von Fremddetektion nur ins Experimentierstadium: die animalische Humandifferenzierung durch COVID-Spürhunde. Hier wurden Hunde zu „Frühwarnsystemen“ (Ärzteblatt 2022b), um Menschen für einen PCR-Test vorauszuwählen, indem sie die organischen Verbindungen, die der durch Viren veränderte Metabolismus menschlicher Zellen ausscheidet, erschnüffeln. Die Tierärztliche Hochschule Hannover trainierte schon seit 2020 Hunde (Jendrny et al. 2020), indem sie Proben aus Speichel, Schweiß oder Urin auf Wattestäbchen in ein Gerät mit Öffnungen für Hundenasen platzierte, das automatisierte, randomisierte und doppelblinde Versuche ermöglicht. Nach einigen Wochen identifizierten die Tiere 93 % der Proben als SARS-CoV-2-positiv, wenn ihnen diese neben negativen Kontrollproben präsentiert wurden. Die Sensitivität – also die Zuverlässigkeit, Erkrankte als positiv zu erkennen – lag dabei zwischen 68 % und 95 %, die Spezifität – die Erkennung Gesunder als negativ – zwischen 92 % und 99 %. Beim praktischen Einsatz der Tiere zeigte sich das Bundesgesundheitsministerium im Sommer 2022 noch zögerlich, während COVID-Spürhunde an den Flughäfen von Helsinki, Miami und Dubai bereits im Einsatz waren. Immerhin wurden sie im September und Oktober 2021 bereits für Konzerte in Hannover und seit November 2022 in Pflegeheimen in Mainz getestet (Ärzteblatt 2022b). Gerade bei hohen Besucherzahlen haben Hundenasen großes Potenzial: Sie sind nichtinvasiv, schnell, mobil, kostengünstig und relativ stabil gegenüber Mutationen des Virus.Footnote 14

Während solche „Schnelltests auf vier Beinen“ (taz 2022) nicht in den Regelbetrieb gelangten, war die maschinell gestützte Humandifferenzierung des PCR-Tests schnell identitätsstiftend für das Virus: Der Test wies seinen Aufenthaltsort in Testspuren sichtbar nach. Andererseits war die Verfügbarkeit der Tests immer auch von infrastruktureller Ressourcenknappheit bedroht. Außerdem sorgten die Mutationen des Virus dafür, dass auch ihre Validität prekär blieb. Als Ende November 2021 die Omikron-Variante BA.2 auftauchte, die durch PCR-Tests nicht gut aufzuspüren war und den Immunschutz umging, war in Medien schnell von der „Tarnkappen-Variante“ die Rede (z. B. T‑Online 2022). Außerdem behielt der PCR-Test stets drei Makel: die unsichere Haltbarkeit einer Momentaufnahme, die Abhängigkeit von Laborexperten und eine starke zeitliche Verzögerung durch die begrenzten Bearbeitungskapazitäten der Labore sowie der Meldeketten zu und von den Gesundheitsämtern.

4.2 Selbstdetektion

Mit dem Abklingen der zweiten Infektionswelle ab Ende 2020 erleichterten Antigen-Schnelltests in den Testzentren die Detektion des Virus und der von ihm Affizierten. Ab Februar 2021 machten die ersten Selbsttests unter diesen Schnelltests die perzeptive Durchführbarkeit der primären Leitunterscheidung deutlich alltagstauglicher. Diese anfangs noch knappe medizinische Technologie des Selbst erlaubte es medizinischen Laien erstmals, selbständig an Wissen über den eigenen Infektionsstatus zu gelangen, entsprechende Auskunft in ihrem sozialen Umfeld geben und ihren Status auch an lokalen Passagepunkten Dritten gegenüber ausweisen zu können – eine neu eröffnete Chance der Selbstkategorisierung.

Andererseits konnte dies die Ambiguität und Unsicherheit nicht beseitigen. Ein positiver Test konnte eine Infektion mit seiner Definitionsmacht attestieren, die in der Deutungshoheit der Körperbewohner schlicht nicht erlebbar war. Und ein falsch negativer Test konnte eine Selbstwahrnehmung suggerieren, die der nächste Schnelltest oder ein PCR-Test schon wieder falsifizierte. Dies wurde regelmäßig als eine Asynchronizität von Befunden erlebbar: Menschen fühlten sich noch krank, während der Test schon negativ ausfiel, oder gesund, obwohl der Test bereits eine Infektion indizierte. Ein weiterer Preis für die verbesserte Verfügbarkeit war die schlechtere Validität der perzeptiven Differenzierung. Schnelltests wirken nur bei Hochinfektiösen sicher, sonst haben sie eine Fehlerquote zwischen 25 und 50 %, erlauben es dem Virus also „durchzuschlüpfen“. Da es sich vielen Infizierten auch nicht durch Symptome bemerkbar machte, konnte es so irgendwann bei Ungeschützten landen und schwere Verläufe auslösen. Es sickerte durch wie ein kleines Geheimnis im Flüsterfunk unter tausend Diskretionsgesten.

Hinzu kam eine kategorienspezifische Sensitivität der Tests, die zu einem prekären Kreuzungspunkt der zwei Leitunterscheidungen führte: Einerseits wurde der Impfstatus seit Mai 2021 beständig zur Linderung der Ambiguitätsprobleme beim Infektionsstatus eingesetzt, denn man setzte darauf, dass Geimpfte wahrscheinlich ungefährlicher sind. Andererseits befanden die Tests aber gerade bei Geimpften oft auf „nicht-infiziert“, obwohl diese bei ersten Symptomen, also aktivierter Immunabwehr, hochinfektiös waren. Ein Antigen-Test zeigt nämlich nur eine massenhafte Vermehrung des Virus an, die die Impfung aber unterbindet. Bei Nicht-Geimpften ist der Test dagegen verlässlicher, dafür reagiert das ungeschulte Immunsystem aber viel später mit alltäglich erkennbaren Abwehrsymptomen, sie haben also längere asymptomatisch infektiöse Phasen, in denen sie unerkannt gefährlich sind (Ärzteblatt 2022a).

Die Sensitivität eines Tests ist seine Detektionsgenauigkeit, die die Verwechslungssicherheit der Humankategorien sichern muss. Das Paul-Ehrlich-Institut hatte von September 2020 bis April 2021 erstmalig 245 für den deutschen Markt zugelassene Schnelltests geprüft (Scheiblauer et al. 2021). Dieser Test zweiter Ordnung prüfte, ob die Tests in der Lage waren, Proben mit hoher Viruslast – ein grober Indikator für die Infektiosität – zu erkennen. Die 199 als hinreichend empfindlich beschiedenen Tests mussten bei mindestens 75 % der Proben mit hoher Viruslast den Virenbefall erkennen, bei 25 % durften sie falsch negativ ausfallen, also Infizierte unentdeckt lassen. Diese Testprüfung zeigte vor allem drei Grenzen der Schnelltests auf: Erstens ihre begrenzte Aussagekraft für die frühe Phase der Infektion, wenn die Betroffenen noch keine Symptome verspüren, die Viruslast aber auch noch zu gering für viele Tests ist. Sie enttäuschen dann die Erwartung, schneller zu sein als die körperliche Selbstwahrnehmung. Zweitens das Problem falscher Sicherheitssuggestionen: Testet man 1.000 Probanden, von denen 300 infiziert sind, übersieht ein Test mit einer hohen Sensitivität von 90 % 30 Infizierte, ein Test mit der hinreichenden Sensitivität von 75 % sogar 75 Infizierte, die ungewarnt weiter andere anstecken können. Jedes Testversagen verstärkt dann die Tarnung des Virus, weil es eine falsche Sicherheit suggeriert. Drittens den Zielkonflikt zwischen Validität und Verfügbarkeit. Die Publikation der wenigen Tests mit hoher Sensitivität durch das Paul-Ehrlich-Institut führte dazu, dass viele dieser Tests schnell nur noch schwer oder gar nicht mehr auf dem Markt zu bekommen waren.

Wie an anderen Stellschrauben der Pandemiepolitik gab es hier einen engen Zusammenhang zwischen den praktischen Verfahren und den mit der Zeit aufgebauten Infrastrukturen der Humandifferenzierung. Wenn es in der Frühphase der Pandemie weltweit noch nicht genug Tests gab, trug das ebenso zur Verunklarung des Infektionsstatus bei, wie wenn einzelne Staaten nicht genug in Testinfrastrukturen, etwa in Laborkapazitäten, investierten. Die Dunkelziffer und die Statusambiguität blieben dann hoch. Ebenso hatten die Kapazitätsgrenzen der Gesundheitsämter bei der Erfassung und zügigen Meldung von Infektionen, der Warnung von Kontaktpersonen und der Kontrolle der Quarantäne unmittelbare Effekte auf die praktische Durchführung der Differenzierung des jeweiligen Infektionsstatus.Footnote 15 Und schließlich bedeutete das Fehlen eines Impfregisters auch, dass Menschen zwar von sich wussten, welchen Impfstatus sie haben, und dies auch Interessierten zeigen konnten, aber dass der Staat es anders als bei Alter, Geschlecht und Wohnort nicht wusste. In diesem Fall war das Kategorisierungswissen nur den Laien und nicht den administrativen Professionellen verfügbar.

Insgesamt blieb die Erkennbarkeit der kategorialen Zugehörigkeit auch trotz verbesserter Testinfrastruktur und veralltäglichter Selbstdetektion für die Körperbewohner wie für ihre Interaktionspartner prekär. Denn Symptome schufen nur einen Verdacht, Tests nur instabile Momentaufnahmen. Auch konnten besonders Schnell- und Selbsttests zu riskantem Verhalten führen, wenn sie falsch negativ waren. Ihre Evidenz musste sich daher an unangebrachten Verhaltensfolgen relativieren lassen: Sie konnten self-defying wirken.

4.3 Ausweisung und Verifikation

Zu einem weiteren wichtigen Element der Identifizierung wurden nach der dritten Welle, also seit Juni 2021, selbst indizierbare und von anderen einsehbare Ungefährlichkeitsausweise für Passagepunkte im sozialen Leben. In den per Handy, Impfausweiskarte oder Impfpass demonstrierbaren Zertifizierungen des Impfstatus bzw. der medizinischen Nicht-Impfbarkeit und in der Möglichkeit, den Nicht-Infektionsstatus mittels tagesaktuellen Tests zu demonstrieren, wurden Laborbefunde und stattgefundene Impfungen in alltagstaugliche Erkennungszeichen übersetzt. Diese Belege eröffneten nicht zuletzt Zugänge zu sozialen Veranstaltungen und schufen damit sowohl weitere Anreize zur Impfung als auch effektive Mittel des Ausschlusses Nicht-Geimpfter.

Für die Alltagstauglichkeit einer zugangsregulierenden Überprüfung der Zertifikate stellte sich schnell die Frage, ob die Verifikation des Impf- und Infektionsstatus auf dem Niveau von seltenen Stichproben wie bei der Führerscheinkontrolle oder auf dem Niveau obligatorischer Ticket-Kontrollen wie beim Veranstaltungseinlass durchzuführen ist. Werden sie regelmäßig durchgeführt, auf Kontrollstaffagen beschränkt (ein freundliches „Nachweis haben Sie dabei?“), nur an Hinweisschilder delegiert oder ganz unterlassen? So entstanden drei Folgeprobleme der Zertifizierung. Das erste war die Frage, wer die nötigen Kontrollen ausüben sollte. Ordnungsamt und Polizei konnten nur Stichproben machen, daher wurden auch Arbeitgeber, Schaffnerinnen, Kellner und andere Berufsgruppen mit Kontrollkompetenzen an dieser polizeilichen Funktion beteiligt. Als Gatekeeper ihrer Einrichtungen wurden sie zugleich als Agenten der Humandifferenzierung rekrutiert, allerdings mit zum Teil prekärer Ermittlungsbefugnis.

Ein zweites Folgeproblem war die Frage, wie man das bei den Kontrollen erhobene Wissen in Form sichtbarer Marker allgemein verfügbar machen konnte um Segregationen nach Impfstatus zu ermöglichen. Bei Großveranstaltungen wie dem Berlin-Marathon im September 2021 wurden die Läufer:innen an zentralen Passagepunkten mit speziellen Bändchen und darauf versehenem QR-Code ausgestattet und die Besucher:innen bei Erstbetreten durch farbige Bändchen für weitere Kontrollen markiert, um den Zutritt zu den nach Impfstatus parzellierten Zuschauerzonen zu regeln (B. Z. 2021). Auch bei der Eröffnung des Deutschen Bundestags im Oktober 2021 wurde die Sichtbarkeit des Ungefährlichkeitsausweises mit einem Bändchen am Handgelenk hergestellt, also ein allen Umstehenden sichtbarer körperfixierter Marker zur Voraussetzung gemacht, den Plenarsaal betreten zu dürfen. Diese Markierung setzte sich in der Adventszeit 2021 auch in den Innenstädten durch, wo sie nach Passieren einer zentralen Kontrolle zunächst den Zutritt zu den Buden des Weihnachtsmarkts, später auch zu den Innenräumen der Ladengeschäfte ermöglichte, ohne dass der Ungefährlichkeitsausweis ständig hervorgekramt werden musste.

Ein drittes Folgeproblem war die Fälschbarkeit der Zertifikate. In den mit der 3G- oder 2G-Regel verbundenen Zugangsvorteilen lag eine Einladung zur Täuschung, zum „passing as vaccinated“. Auch ließ sich die mangelhafte Reliabilität der Schnelltests so nutzen, dass sie einfach so oft wiederholt wurden, bis man ein negatives Ergebnis vorweisen konnte. Ende Dezember 2021 verfolgten die Landeskriminalämter bereits 11.000 Fälle von Impfpassfälschungen, Marktpreis zwischen 50 und 350 €, davon viele in dreifacher Zahl und bei großem Dunkelfeld (Zeit Online 2021c). Die Umgehung der Beschränkungen für Ungeimpfte dürfte also ein Massenphänomen gewesen sein. Erst seit Ende November 2021 war die Nutzung nicht mehr straffrei: Bei Entdeckung, die meist während der Digitalisierung in Apotheken geschah, drohten Geldstrafe oder Gefängnis bis zu zwei Jahren, bei gewerbsmäßigem Handel bis zu fünf Jahren. Etwa zeitgleich bot das Paul-Ehrlich-Institut Apotheken und Polizei eine Überprüfung der Echtheit von Chargennummern, die Fälscher allerdings auch von fotografierten Pässen Geimpfter abkupfern konnten. Dem Virus boten die Fälschungen wie die lückenhaften Kontrollen stets willkommene Maschen zum Durchschlüpfen. Ein vollständiger Kontrollapparat zur Identifikationssicherung ließ sich eben nicht einrichten. Das war auch schon in den Pandemien des 19. Jahrhunderts nur ein „politischer Traum“ der Regierenden gewesen (Foucault 1976, S. 254).

Bevor sich weitere Verfestigungen von Kategorien und ihre Kontrollen etablieren konnten, trat die Humandifferenzierung in der Corona-Pandemie mit der Abschwächung der Krankheitsfolgen in eine weniger heiße Phase ein. Die Pandemie ging in Deutschland schon vor der Verkündung ihres Endes durch die WHO in ein endemisches Stadium über, als der Anteil der gänzlich „Immunnaiven“ in der Bevölkerung von 100 Prozent zu Beginn der Pandemie auf knapp 5 Prozent sank (BMBF 2023). Vor diesem Hintergrund verloren beide Leitunterscheidungen der Pandemie seit Beginn des Jahres 2023 an Schärfe: Es gab keine Unterscheidung klar konturierter Gruppen in Sachen Infektionsstatus mehr, nur eine instabile, weiche Differenzierung, durchlässig für temporäre Überquerungen. Die meisten Infizierten mussten sich nicht mehr als stark Bedrohte erleben, und Geimpfte erwiesen sich nicht als ultimativ Gefeite, nur als besser Geschützte.

5 Humandifferenzierung durch Triage

Werfen wir noch einen Blick auf einen speziellen Fall von Humandifferenzierung, den die Pandemie zu verschiedenen Zeitpunkten ins Spiel brachte: die Triage. Sie war erstens mit weiteren Unterscheidungen und Humankategorien verbunden, bestand zweitens in einem hochspeziellen, nämlich strikt kriteriengeleiteten, entscheidungsabhängigen Verfahren der Kategorisierung von Menschen, und war drittens nicht zufällig der Anlass für eine öffentliche Dramatisierung der politischen und moralischen Implikationen der Kategorien pandemischer Humandifferenzierung – der Frage, wer eigentlich wen gefährdet.

Die Triage ist ein in der Unfall- und Katastrophenmedizin, aber mitunter auch im Routinebetrieb von Kliniken bei knappen Ressourcen regelmäßig auftretender Fall der Humandifferenzierung (Schmidt 1996). Mediziner können Patienten mit einer besseren Prognose den Vorrang geben vor denjenigen, die sehr wahrscheinlich sterben werden, auch um Ressourcen für noch zu erwartende Dritte vom Tod Bedrohte zu schonen.Footnote 16 In der Corona-Pandemie wurde die Triage relevant, weil Pandemien ähnlich wie Naturkatastrophen nicht nur die Gesundheit Einzelner bedrohen, sondern auch die Infrastrukturen zur Erhaltung der Gesundheit Aller. Mit den Bildern der sich stauenden Leichenwagen aus Bergamo schwebte die Triage seit Beginn der Pandemie wie ein Damoklesschwert über der Corona-Politik: als ihr unbedingt zu vermeidendes Bezugsproblem. Andererseits war schon die Impf-Priorisierung von Risikogruppen 2020 eine Allokationsentscheidung bei knappen Ressourcen. Auch die Triage auf Intensivstationen wird zumeist implizit für Infrastrukturprobleme genutzt, während diese Probleme bei Knappheit von Tests oder fehlendem Amtspersonal der Kontaktnachverfolgung, wie oben festgestellt, umgekehrt die nötige pandemische Humandifferenzierung von Infizierten und Nicht-Infizierten unterliefen.

Vor der gesetzlichen Regelung Ende 2022 entwickelten Kliniken in Deutschland professionsinterne Kriterienkataloge. Das Triage-Protokoll der Intensivmedizin der Augsburger Uniklinik aus dem Herbst 2021 sah etwa folgendes Vorgehen vor: Täglich ist bei jedem Intensivpatienten der sog. SOFA-Score zu ermitteln (taz 2021). Er beruht auf dem Scoring von sechs Organsystemen nach einer Fünf-Punkte-Skala von normal funktionierend bis massiv eingeschränkt. Daraus lässt sich eine Überlebensprognose ableiten. Mit einem zusätzlichen Gebrechlichkeits-Score (den später das Bundesverfassungsgericht kritisierte) wird abgeschätzt, welchen Gesundheitsgewinn ein Patient durch die Intensivmedizin im Vergleich zu vorher erreichen kann. Aus diesen beiden Scores wird eine Rangfolge gebildet und in den Akten farblich markiert: Rot bekommen die mit dem dringlichsten Behandlungsbedarf und der höchsten Erfolgsaussicht, dann kommen die Orangen. Die Gelben werden als erste von der Ressource getrennt, z. B. von der Beatmungsmaschine. Die Entscheidung trifft ein dreiköpfiges Team aus Intensivmedizinern und Pflegekräften, das nicht unmittelbar an der Behandlung beteiligt ist. Es würde über die Intensivstationen gehen und jeden Tag alte wie neue Patienten evaluieren.Footnote 17

Das hier erkennbare utilitaristische Prinzip der Medizin, durch die Prämierung der Überlebenswahrscheinlichkeit zugleich Ressourcen für möglichst viele gefährdete Patienten zu schonen, geriet angesichts der hohen drohenden Fallzahlen 2021 in Konflikt mit dem von der Verfassung nahegelegten rechtlichen Imperativ, auf jede Bewertung von Menschenleben zu verzichten. Wie zuletzt das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2021 befürchteten Jurist:innen Risiken einer sachunangemessenen Diskriminierung, vor allem von Menschen mit Behinderung, und hielten das Unterscheidungsverbot des Grundgesetzes hoch.Footnote 18 Es ist letztlich im menschenrechtlichen Unterscheidungsverbot fundiert: Auf Egalität gegründete Gesellschaften dürfen nicht zwischen überlebenswürdigem und sterbewürdigem Leben unterscheiden. Eben dieses Szenario flackerte im Januar 2022 als eine durch die Omikron-Inzidenzen beflügelte Fantasie wieder auf. Im Hin und Her der Entwürfe brachten Jurist:innen und Politiker:innen der Grünen auch ein Losverfahren ins Spiel, um jede kriterienbasierte Humandifferenzierung zu unterbinden. Nach der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, auch mit Blick auf zukünftige Pandemien Triagevorgaben festzulegen, verabschiedete der Bundestag im November 2022 eine Regelung im Infektionsschutzgesetz, die die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen im Pandemiefall regulieren soll. Alleiniges Kriterium ist seitdem die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“. Eine Benachteiligung wegen anderer Formen der Humandifferenzierung, etwa nach Behinderung, Grad der Gebrechlichkeit, Alter, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Geschlecht oder sexueller Orientierung, soll explizit vermieden werden.

Unabhängig von diesen Regulierungsversuchen fanden latente Triagierungen in Kliniken während der Pandemie natürlich statt. Die öffentlich diskutierte medizinische Praxis war nur die Spitze einer viel größeren stillen Triage. Unterhalb der journalistisch, juristisch und medizinethisch grell beleuchteten Vorgänge der Triage als drohendem Verfahren nahm die Bundesregierung schon im März 2020, also noch während der ersten Welle, den Klinikärzt:innen die Entscheidung über die Zuweisung knapper Intensivbetten aus der Hand, indem sie den Kliniken einfach das Freihalten von Intensivbetten für Coronapatienten finanzierte. Dies präjudizierte eine schon in der ersten Coronawelle massenhafte Verschiebung von Operationen, allein im Dezember 2020 über eine Viertelmillionen (Zeit Online 2021a), zugunsten von Coronaintensivpatienten. Ab Herbst 2021 waren dies vor allem Infizierte, die die Freiheit beansprucht hatten, sich nicht impfen zu lassen. Während Coronapatienten und Impfgegner viel öffentliche Aufmerksamkeit erhielten, wurde die Erhöhung von zum Teil letalen Gesundheitsrisiken für andere Patienten infolge der Bindung von Klinikressourcen kaum zum Thema. Sie erscheint bis heute nur im Medieum nachträglicher Statistiken.

Das medizinische Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit, sprich: bei effektiver Ressourcennutzung möglichst viele zu retten, trat daher hinter die politische Priorisierung von Coronakranken zurück. Sie wurde gar nicht erst als diskutable ethische Entscheidung gerechtfertigt, weil sie sich als unabweisbare Infrastrukturentscheidung tarnen konnte. Letztlich haben die Dominanz der pandemischen Umsortierung sowie die Neufokussierung der Gesundheitsgefährdung durch das neue Virus dazu geführt, dass eine gesundheitliche Betroffenheit zweiter Ordnung entstand. So wurden die freiwillig Ungeimpften zu Profiteuren der gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit für Coronakranke und -sterbefälle. Wie Heroin unter den Rauschmitteln avancierte Corona im Risikobewusstsein der Gesellschaft während der Pandemie zu der kulturell dramatisierten Todesursache, hinter der alle anderen, die natürlich nicht aus der Welt waren, temporär verschwanden.

6 Schluss und Ausblick

Insgesamt zeigten sich die pandemiespezifischen Unterscheidungen zwischen Menschen als Fall einer dramatisch relevanten, aber nur temporär wirksamen und schwach institutionalisierten Form der Humandifferenzierung. Zumindest hierzulande beschränkte sie sich auf die elementaren Differenzierungsstufen der Unterscheidung und Kategorisierung, schuf vorwiegend temporäre Infrastrukturen, mündete nur in vergleichsweise ungezielte und inkonsequente Segregationen sowie in vorübergehende moralische und politische Polarisierungen, vor allem im Hinblick auf den Impfstatus. Bemerkenswert waren im Pandemieverlauf aber vor allem zwei Phänomene der Humandifferenzierung, die sich bei der Entwicklung der Unterscheidungen und Kategorien (1) sowie beim Problem kategorialer Erkennbarkeit manifestierten (2).

Unsere erste Beobachtung ist, dass die Corona-Pandemie zu einer differenzierungstheoretisch überraschenden gesellschaftsweiten Priorisierung einer einzelnen medizinischen Unterscheidung von Menschen führte, wie man sie sonst nur von fundamentalistischen Teilungen in Gläubige und Ungläubige oder kriegerischen Teilungen in Freund und Feind kennt. Auf Seiten der gefährdeten Infizierbaren wurden die Risikogruppen und die Impfpriorisierten als besonders Schutzbedürftige differenziert, auf Seiten der gefährlichen Infektiösen zunächst Behelfsunterscheidungen gemacht, dann die medizinisch kontrollierten Infektionsstatus festgestellt. Die Entwicklung zeigte eine gewisse Verdrängung der anfänglichen Behelfsunterscheidungen aus wesentlichen Teilen des öffentlichen Lebens, eine sich sukzessiv versachlichende Zielgenauigkeit der Unterscheidungen – schon Regionalstigmatisierungen und Sozialverhalten waren triftiger als z. B. ein asiatisches Aussehen – und eine zunehmende Verzweigung und Schärfung der Kategorien. Bei allem Wissenszuwachs in diesem gesellschaftlichen Lernprozess handelte es sich aber nicht einfach um einen medizinischen Rationalitätsgewinn, dem sich nur die Impfgegner und die Geselligkeitsroutinen der Bevölkerung verweigertenFootnote 19, sondern auch um eine administrative Durchdringung von zweifelhafter Rationalität. Die staatliche Kategorienbildung nahm die medizinischen Kategorien zeitweise vollständig in ihren Dienst, höhlte sie in ihrer medizinischen Bedeutung aus und überformte sie politisch. Sie stützte sich dabei ganz zentral auf gemeldete positive PCR-Tests, die schließlich in die so genannte Sieben-Tage-Inzidenz mündeten. Trotz Dunkelfeldstudien, die zeigten, dass man zehn wissentlich Infizierten noch etwa acht unwissentlich Infizierte hinzurechnen müsste (Universitätsmedizin Mainz 2021), galt nie die große Zahl der Virus-Befallenen als offiziell „infiziert“, sondern nur die viel kleinere Zahl der wöchentlich gemeldeten Testpositiven. Als „genesen“ galten umgekehrt nicht ehemalige Kranke, sondern erkrankte oder symptomfreie PCR-Testpositive der letzten sechs Monate. Dazu zählte auch die wachsende Zahl von Long-COVID-Patienten, die lange nach der Infektion mit Gesundheitsfolgen leben müssen. Ihre Genesung wurde und wird rein „sozial“ über ihre Infektiosität und Infizierbarkeit operationalisiert. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Initiative von Long-COVID-Patienten, die im Januar 2023 vor dem Bundestag demonstrierte, sich den Namen „NichtGenesen“ gab und sich mit entsprechenden Buttons erkennbar machte.Footnote 20

Unsere zweite Beobachtung ist, dass Ambiguität und Instabilität der kategorialen Zugehörigkeit bestimmend für das Erkennbarkeitsproblem und die dadurch bedingten sozialen Prozesse blieben. Die pandemische Humandifferenzierung entwickelte sich so krisenhaft, weil hier ein effektives Differenzieren zwischen Menschen einerseits durch eine akute Bedrohungslage gefordert, andererseits durch ein mehrfaches grassierendes Unwissen verunmöglicht wurde. Die Differenzierungsprobleme betrafen dabei drei Aspekte:

  1. a.

    Die Ambivalenz der Kategorien, also ihre unklare Wertigkeit, blieb unabweisbar und drängte sich immer wieder auf. Wenn die Gesunden die Gefährdeten sind, die genesenen Kranken die Gefeiten und die symptomfrei Ungefährdeten besonders gefährlich – was bedeutet der Infektionsstatus dann für die Verortung des Risikos in Personen? Zugleich ließ sich die risikosoziologische Ambivalenz keineswegs auf Pflegeberufe und Kinder beschränken: Auch wenn sich die Unklarheit, ob man infiziert ist oder nicht, mit Tests mehr oder weniger ausräumen ließ, konnte der Status des Gefährders oder Gefährdeten doch mit jedem Interaktionspartner wechseln. Menschen waren auf eine signifikante Weise potenziell immer beides zugleich.

  2. b.

    Die Ununterscheidbarkeit der Kategorien blieb ein perennierendes Problem. Das betrifft zum einen die fehlende Dauerverfügbarkeit von verlässlichen Indikatoren und Verfahren für die kategoriale Zuordnung von Personen, zum anderen die gegenläufigen Evidenzen unterschiedlicher Verfahren sowie von Fremd- und Selbstkategorisierung (inkl. Körpergefühl). Quarantäne und Zugangsbeschränkungen segregierten kategorial erkennbar gemachte Menschen, aber AHA-Regeln und Kontaktverbote trennten Menschen proxemisch, deren Infektions- und Immunstatus schlicht unbekannt war.

  3. c.

    Die Ambiguität der Kategorien, also die Labilität der Zuordnung, manifestierte sich in ihrer konkreten Anwendung: Waren Genesene und Geimpfte dauerhaft oder nur temporär ungefährdet und waren sie schon ungefährlich oder noch infektiös? SARS-CoV‑2 hat eine stabile Zuordnung auf die Seiten einer vitalen Differenz lange verunmöglicht. Deshalb waren alle angesteckt von der Angst vor der Ansteckung, die nur wenige – aber wer nur? – tatsächlich haben mussten. Die Frage, ob Menschen infiziert sind oder nicht und ob sie es auch morgen noch sein werden, begleitete die Gesellschaft ebenso durch die Pandemie wie die Frage, was eine attestierte Infektion bedeutet: eine symptomlose Änderung des administrativen Status, eine leichte Erkältung, eine schwere, unter Umständen lebensbedrohliche Erkrankung? Oder gar eine Krankheit, die kein absehbares Ende findet? Dieses Ausmaß an Unwissenheit und Ambiguität dürfte maßgeblich zum Vordringen „starker Meinungen“ beigetragen haben, also zu den politischen Polarisierungen im Zuge der Pandemie.

Natürlich gibt es auch andere Formen von Humandifferenzierung, die nicht ohne Weiteres erkennbar sind. So braucht es zur Feststellung der Staatsangehörigkeit neben der Identifizierung der Sprache in der Regel eines Passes. Und politische und religiöse Überzeugungen sind im Gegensatz zu ethnischer „Abstammung“ selten sichtbar – aber Personen können problemlos Auskunft über sie geben. Vergleichbar dramatische Fälle von Ambiguität und Statusunsicherheit sind eher andere medizinische Fälle, etwa werdende Eltern bei einer verunsichernden unklaren Pränataldiagnostik oder Menschen mit der potenziellen genetischen Disposition zu einer todbringenden Krankheit, die sich fragen müssen, ob sie diagnostische Klarheit wollen oder nicht. Im Unterschied zur pandemischen Humandifferenzierung geht es bei diesen Fällen allerdings um die individuelle Betroffenheit kleiner Personenkreise und nicht um ein das gesamte gesellschaftliche Leben temporär bestimmendes Massenphänomen. In der Corona-Pandemie war die Gesellschaft insgesamt mit einem Virus konfrontiert, das sich weder in eindeutigen phänotypischen Indizien manifestierte, noch durch Testtechnologie stets sicher identifizieren noch durch Impfungen vollständig entschärfen ließ.

Für die absehbare Zukunft der nächsten Pandemie sind neben der Aktivierung der gewonnenen Unterscheidungen, Kategorien, Routinen und Infrastrukturen auch noch weitere Differenzierungen denkbar, die bereits im medizinischen Diskurs oder der ärztlichen Praxis bereitliegen und eine relevante Wissensnachfrage bezeichnen, aber während der Corona-Pandemie noch keine klar konturierten gesellschaftsweiten Kategorien stifteten. Dazu zählen etwa die Krankheitswertigkeit von Infektionen unterhalb von Hospitalisierung und Beatmung oder die Frage, welche Schwellenwerte des Immunitätsstatus bei Antikörpertests gelten sollen. Ferner könnte neben dem Infektionsstatus auch die Viruslast oder Infektiosität, sprich: der mit einem PCR-Test ablesbare CT-Wert, systematisch gemessen und erkennbar gemacht werden – ein Datum, das schon bei der Olympiade in Peking 2022 zum strikten Kriterium von Teilnahme oder Isolation gemacht wurde. Dies könnte kommende Viren zu Alltagsbegleitern abschwächen, die Infizierte nur in ausgewählten Fällen auch zu Infektiösen machen. All dies wurde noch kaum normiert und als Status konturiert, sondern verharrt einstweilen im Standby von Spezialdiskursen und Laboren, kann aber bei nächster Gelegenheit eine ebenso schnelle wie kurze gesellschaftsweite Karriere machen wie die Humandifferenzierung der Corona-Pandemie.