Zusammenfassung
Was und wie viel wir über das Coronavirus und die COVID-19-Pandemie wissen, liegt nicht allein ‚in der Natur der Sache‘. Es hängt auch von sich gesellschaftlich herausbildenden Wissensregimen ab, die, explizit oder implizit, vorgeben, welches und wessen Wissen wichtig ist, was vordringlich erforscht werden soll und was man demgegenüber nicht zu wissen braucht. Wissensregime sind daher gleichzeitig auch Nichtwissensregime, sie regeln, was als zweitrangig, uninteressant oder gänzlich irrelevant anzusehen ist. Das für die deutsche Regierungspolitik in der Coronapandemie prägende (Nicht-)Wissensregime wird in dem Beitrag durch vier Charakteristika beschrieben: erstens die Fixierung auf die Impfung als entscheidendes Mittel zur Pandemie-Bekämpfung; zweitens die Vernachlässigung von sozial (etwa durch Arbeits- und Wohnverhältnisse) bedingten erhöhten Infektions- und Erkrankungsrisiken; drittens die Ausblendung der globalen Infektionsdynamik und ihrer Rückwirkungen auf die Länder des Globalen Nordens; viertens ein geringes Interesse an der Entstehung des Coronavirus sowie an Ansatzpunkten, um künftige Pandemien zu vermeiden. Hinter diesen Charakteristika steht die fragwürdige Prämisse, bei der Pandemie handele es sich in erster Linie um ein medizinisch-biologisches Phänomen und nicht (auch) um ein globales soziales und sozial-ökologisches Geschehen.
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Notes
- 1.
Der Titel des vorliegenden Beitrags greift eine Formulierung des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn aus dem Spätsommer 2021 auf. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Präsidenten des Robert Koch-Instituts (RKI) im September 2021 sagte Spahn laut einem Bericht der ARD-Tagesschau: „Wir haben das Mittel in der Hand, uns in die Freiheit und Normalität zurückzuimpfen.“ (Tagesschau 2021a)
- 2.
Ausgeblendet bleibt dabei, dass bisher gegen andere hochgefährliche Virusinfektionen (etwa AIDS oder Ebola) keine Impfung existiert, wie auch, dass nicht wenige Impfungen, etwa die alljährlich zu wiederholende Grippeimpfung, nur eine begrenzte Wirksamkeit haben (vgl. Delanty 2021, 8 ff.).
- 3.
Um einem erwartbaren Missverständnis bereits an dieser Stelle zuvorzukommen: Von einer Fixierung auf die Impfung zu sprechen, bedeutet weder, zu sagen, die Coronaimpfungen seien wirkungslos, noch gar, irgendwelchen Verschwörungsmythen das Wort zu reden. Aber wie der bisherige Verlauf zeigt, reichen Impfungen (zumindest mit den aktuell verfügbaren Impfstoffen) nicht aus, um die Pandemie zu beenden oder sie zumindest so weit einzudämmen, dass sie ‚kontrollierbar‘ wäre. Notwendig sind deshalb auch andere medizinische und nichtmedizinische Maßnahmen, die jedoch durch die dominante Ausrichtung auf das Impfen marginalisiert zu werden drohen. Vgl. dazu ausführlicher unten Abschn. 3.1.
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Das Konzept ist seither vor allem in der Soziologie, besonders in der Professionssoziologie (Schützeichel 2010; 2018) und der Wissens-, Wissenschafts- und Techniksoziologie (Böschen 2016; Frommeld 2019) sowie in der Geschichtswissenschaft (Kehrt 2014; Römer 2020; Bennemann 2021) genutzt worden, um die Herausbildung strukturierter Prozesse der Produktion, Bewertung und Nutzung von Wissen analysieren zu können. Bezogen auf den Umgang mit Wissen und Nichtwissen in der Coronapandemie liegen erste Überlegungen von Offe (2021) sowie indirekt von Römer (2021) (in Anlehnung an Römer 2020) vor.
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Allerdings müssen Wissensregime nicht per se hierarchisch strukturiert sein, mit einem bestimmten Wissen und Wissenstyp an der Spitze, der anderen Wissensformen lediglich eine untergeordnete Rolle und (Hilfs-)Funktion zuweist; sie können vielmehr auch auf die Kooperation als prinzipiell gleichberechtigt und gleichwertig anerkannter Wissensformen ausgerichtet sein.
- 6.
- 7.
Die meisten dieser Charakteristika prägen sicherlich auch die Coronapolitiken und Wissensregime anderer Staaten des globalen Nordens. Lediglich der zweite Aspekt, erhöhte Ansteckungs- und/oder Erkrankungsrisiken infolge ungünstiger, prekärer Lebensverhältnisse, findet in einigen Ländern, wie den USA oder Großbritannien, stärkere Berücksichtigung als in Deutschland, zumindest auf der Ebene der Wissensproduktion, wenn auch nicht unbedingt in den konkreten Politikstrategien (vgl. Khoo 2021, 9; Römer 2021).
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Dies korrespondierte zumindest in den Anfängen der Pandemie mit einer Abwehrhaltung gegenüber der Vorstellung, dauerhaft „mit dem Virus leben“ zu müssen, wie die entsprechende Formel lautete, sowie mit Desinteresse an den einschlägigen Erfahrungen der Länder des globalen Südens im Umgang mit gefährlichen Virusausbrüchen wie Ebola etc. (Khoo 2021, S. 11 f.).
- 9.
Nach Angaben des RKI war im Zeitraum vom 14. Februar 2022 bis 13. März 2022 bei 5003 Neuaufnahmen mit COVID-19 auf deutschen Intensivstationen der Impfstatus bekannt; das entspricht etwa 78 % aller COVID-Neuaufnahmen in diesem Zeitraum, Von diesen 5003 Fällen waren zwar 28,7 % (1438 Fälle) ungeimpft, und 9,4 % (468 Fälle) wiesen nur einen unvollständigen Immunschutz auf (genesen ohne Impfung oder nur Teilimmunisierung), doch 61,9 % (3097 Fälle) besaßen einen vollständigen Impfschutz (Grundimmunisierung oder Booster), wobei der Anteil mit Boosterimpfung bei 39,5 % (1974 Fälle) lag. Für insgesamt 2281 der vollständig geimpften Erstaufnahmen lagen zudem Informationen zum Alter vor. 80,5 % davon waren 60 Jahre alt oder älter (RKI 2022, 19). Zu ergänzen ist, dass in Deutschland im genannten Zeitraum 76 % der Menschen vollständig geimpft (und 58 % zusätzlich geboostert) waren, also gut dreimal so viele wie ungeimpft oder unvollständig geimpft waren (RKI 2022, 4).
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Mit dem Ruf nach einer Impfpflicht wird auch suggeriert, die Pandemie werde überwiegend oder sogar ausschließlich von ungeimpften Personen verlängert. Jens Spahn hatte in der oben (Fußnote 1) erwähnten Pressekonferenz von einer „Pandemie der Ungeimpften“ gesprochen, und ähnlich hatte sich im Oktober 2021 auch der spätere Gesundheitsminister Karl Lauterbach in einem Interview geäußert (Emmrich und Gaugele 2021). Die hohe Zahl von Impfdurchbrüchen bei vollständig geimpften und häufig auch geboosterten Menschen (vgl. RKI 2022, S. 26 sowie die vorhergehende Fußnote) steht solchen Aussagen eindeutig entgegen.
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„Vermeintlich biologisch“, weil Vorerkrankungen häufig die Folge prekärer Lebensbedingungen und deshalb kein rein biologisches Faktum sind. Die Definition altersbezogener Risikogruppen hatte zur Folge, dass „die Älteren“ oder „die Alten“, von denen viele noch kurz zuvor als einkommensstarke „Silverager“ und potenziell ehrenamtlich Tätige umworben wurden, jetzt als homogene, mehr oder weniger gebrechliche und deshalb – angeblich zu Lasten der Jüngeren – besonders schutzbedürftige Risikogruppe wahrgenommen wurde (Graefe et al. 2020).
- 12.
Immerhin konnte für Deutschland und die Schweiz durch Auswertungen der Sterblichkeitsstatistiken gezeigt werden, dass bei Menschen, die in diesen Ländern leben, aber eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen und vermutlich zu einem erheblichen Teil Arbeitsmigrant*innen sind, der Anstieg der Sterblichkeit im ersten Pandemiejahr 2020 deutlich höher war als bei der Bevölkerung mit deutschem bzw. Schweizer Pass (Plümecke et al. 2021; Plümecke und Supik 2022): In beiden Ländern war die prozentuale Zunahme der Todesfälle von 2019 auf 2020 unter Menschen mit ausländischem Pass ungefähr doppelt hoch wie bei den Bevölkerungsgruppen mit inländischem Pass (in Deutschland beispielsweise 10,0 % gegenüber 4,7 %), wobei die Diskrepanz bei einzelnen Altersgruppen noch deutlicher stärker ausfiel.
- 13.
So die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz im November 2020 (Merkel 2020b).
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Wehling, P. (2023). In die Normalität ‚zurückimpfen‘? Das (Nicht-)Wissensregime der deutschen Coronapolitik. In: Frommeld, D., Gerhards, H., Weber, K. (eds) Gesellschaften in der Krise. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39129-4_9
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