1 Einleitung

„Kleider machen Leute“, so heißt eine berühmte Novelle des Dichters Gottfried Keller. Protagonist ist der Schneidergeselle Wenzel Strapinski, der seine Handwerkskunst nutzt, um sich vornehm zu kleiden, sodass man ihn bei einem Besuch in der Stadt Goldach für einen polnischen Grafen hält. Heute kommt der Facebook-CEO Mark Zuckerberg, immerhin 100-facher Milliardär, selbst dann mit einem Kapuzenpulli daher, wenn sein Unternehmen an die Börse geht. „Daten machen Leute“ könnte man angesichts des spektakulären Aufstiegs von Facebook und anderen Internetkonzernen sagen.

Aber Daten sind nicht nur Kapital für gigantische Unternehmensgewinne, sie sind auch ubiquitäre Statusanzeiger in der Welt der Digitalisierung geworden. „Daten machen Leute“ heißt heute nicht nur Reichtumsakkumulation durch den Besitz, die Auswertung und den Verkauf von Daten, sondern heißt, dass wir als Personen immer stärker datenmäßig erfasst, ausgelesen und kategorisiert werden. Rund um den Globus haben die exponentiell steigenden Möglichkeiten der Datenproduktion, Datenextraktion und algorithmischen Datenverarbeitung dazu geführt, dass diese Daten immer mehr zur Grundlage klassifizierender und bewertender Infrastrukturen und Praktiken geworden sind (Mau 2017; Muller 2018; Mennicken und Espeland 2019; Mühlhoff et al. 2019; Fourcade und Healy 2017a; Rottenburg et al. 2015; Houben und Prietl 2018; Diaz-Bone und Didier 2016; Desrosières 1998; Brankovic et al. 2018; Heintz 2010; Lupton 2016; Beer 2017; Rieder et al. 2018; Stark 2020). Statt an der Kleidung erkennt man uns an unseren Daten. Sie zeigen an, wo wir stehen, wie wir performen, wie gesund wir sind, welche Risiken wir tragen, welche Leistungen uns zustehen, welche ökonomischen Profite wir versprechen, welchen „Impact“ wir erzielen oder welche Reputation wir genießen. Ob Arbeit, Konsum, Gesundheit, Reisen, soziale Medien oder Sport – kaum ein Feld kommt heutzutage ohne quantifizierende Formen der Vermessung, Klassifizierung und sozialen Rangbildung aus.

Im vorliegenden Beitrag möchte ich die Rolle von Scorings ungleichheitssoziologisch erkunden und einordnen, wobei hier der Status von Individuen im Vordergrund stehen soll, nicht von Organisationen, Betriebseinheiten oder Institutionen. Der englische Begriff Score bezeichnet einen Punktestand. Mit Scorings sind die Praktiken und Prozeduren der Punkteermittlung gemeint, kurz: die Punktwertmethode. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um einen feststehenden Begriff, er war auch schon vor der Digitalisierung in Umlauf. Die Scorekarte beim Golf wird verwendet, um Spielergebnisse festzuhalten; die „balanced score card“ bezeichnet einen Erfassungsbogen der Aktivitäten und Leistungsströme eines Unternehmens; der Kreditscore repräsentiert die Kreditwürdigkeit eines Bankkunden auf der Grundlage statistischer Datenauswertung. Es gibt auch kein feststehendes mathematisches Verfahren, wie ein Score zustande kommt oder berechnet werden soll. Selbst Ratingergebnisse auf der Grundlage von Massenbewertungen, die mit einer punktemäßigen Einstufung einhergehen, lassen sich in einem weiten Verständnis als Scorings bezeichnen. Es werden auch nicht zwingend digitale Technologien benötigt, um Scores zu erstellen, obwohl ihre flächendeckende Verbreitung eng mit der Digitalisierung verknüpft ist.

In den neueren Verwendungskontexten, die in diesem Aufsatz im Mittelpunkt stehen, geht es in der Regel um die algorithmische Auswertung von digital erfassten und gespeicherten Daten mit dem Ziel, Personen einen Punktwert (Score) zuzuweisen, der diese in bestimmter Hinsicht klassifiziert und in eine Rangordnung einordnet. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei auf den allokativen Wirkungen des Einsatzes von Scores und weniger auf den – bereits häufiger untersuchten – prozeduralen Aspekten (Datenproduktion, Governance, algorithmische Entscheidungsarchitekturen). Ausgangspunkt ist also die Annahme, dass die Zuweisung von Lebenschancen und Statuspositionen in bestimmten gesellschaftlichen Feldern immer stärker über metrische Daten in Form von Scores vermittelt werden – wobei Scores einerseits eine bestimmte Position zuweisen, sie andererseits aber auch anzeigen. Durch die Darstellung und Kommunikation von Status über Scores – so die These – ergeben sich veränderte Dynamiken der Ungleichheit und der stratifikatorischen Ordnung.

In diesem Aufsatz möchte ich zunächst einige definitorische Überlegungen zu Scorings als Bewertungspraxis und Scores als Hierarchieerzeuger anstellen (Abschnitt 2). In einem zweiten Schritt greife ich Beispiele für Scoring auf, um daran einerseits zu zeigen, welche Bandbreite an Anwendungsbereichen sich heutzutage finden lässt, und um andererseits einige allgemeine Aspekte herauszuarbeiten, die Scorings charakterisieren (Abschnitt 3). Die Annahme ist dabei nicht, dass Scorings neben anderen Quantifizierungen einen klar abgrenzbaren Sonderstatus beanspruchen könnten, sondern dass sie aufgrund ihres zunehmenden Verbreitungsgrades sozial besonders relevant sind. Insbesondere akzentuiert ihre auf Rangbildung ausgelegte Konstruktionsweise die soziale Hierarchisierung, was aus ungleichheitssoziologischer Perspektive bedeutsam ist. Daran anschließend möchte ich einige konzeptionelle Erörterungen dazu anstellen, welche Art der „digitalen Statusarbeit“ Individuen durch Scorings angetragen wird (Abschnitt 4) und welche spezifischen Modi der Zuweisung von Statuspositionen und der Dynamisierung und Reproduktion der Ungleichheitsordnung wir erwarten können (Abschnitt 5). Die Kernfrage ist dabei: Welche stratifikatorischen Dynamiken und Effekte können von Scorings ausgehen? In einem letzten Schritt sollen prominente theoretische Perspektiven – nämlich die Arbeiten zur Singularisierung von Andreas Reckwitz und zur Digitalisierung von Armin Nassehi – daraufhin befragt werden, ob sie die ungleichheitsrelevante Tragweite dieser Scoringsysteme theorieinhärent erfassen können (Abschnitt 6). Sie wurden deshalb gewählt, weil sie unterschiedliche Theoriepositionen markieren, namentlich die Systemtheorie und die Praxistheorie, sich aber dennoch auf das hier behandelte Phänomen beziehen lassen. Ziel ist es, anhand ihres theoretischen Angebots zu zeigen, warum es einer eigenständigen ungleichheitssoziologischen Theoretisierung bedarf. Der Beitrag versteht sich als noch tastende Erkundung und Einladung zur weiterführenden, empirisch verdichtenden Arbeit, versucht aber zugleich, einige allgemeine Thesen zur Statusdynamik durch Scorings zu formulieren.

2 Scorings als Bewertungspraxis und Scores als Hierarchieerzeuger

Meine zentrale Ausgangsannahme ist, dass heutzutage Prozesse der Statuszuweisung und Bewertung immer stärker durch digitale Daten, die uns beschreiben und uns eine spezifische Form von Wertigkeit anzeigen, vorgenommen werden (siehe Fourcade 2022; Fourcade und Healy 26,27,a, b; Kropf und Laser 2019; Meier et al. 2016; Lamont 2012). Es sind immer mehr und umfangreichere Beobachtungssysteme aufgebaut worden, die auf Massendaten und algorithmischer Auswertung fußen und „Vergleich, Bewertung und Kategorisierung in einem ständigen rekursiven Prozess verknüpfen“ (Heintz 2021, S. 141). Dabei spielen Scorings als Punktwerteverfahren eine herausgehobene Rolle. So ist es zu einer enormen Vervielfältigung und Veralltäglichung derartiger Metrisierungsformen gekommen, die erkennbar in die Statusordnung eingreifen und neue Logiken und Hierarchisierungen durchsetzen. Scorings sind zugleich Messverfahren wie auch Bewertungsformen: Scores werden genutzt, um Personen (bzw. spezifischen Personeneigenschaften) einen spezifischen Wert innerhalb einer metrisierten Ranghierarchie zuzuweisen und dieses zugleich auszuweisen. Im Kontext der Digitalisierung geht es darum, aus gespeicherten oder erhobenen Daten Personen mittels einer konkreten Rechenvorschrift einen Punktwert (Score) zuzuordnen. Ein einzelner, errechneter Zahlenwert wird zum Informationsspeicher und Referenzwert sowie zur Verrechnungseinheit von Bewertung, Verhaltensvorhersage und Verhaltenssteuerung. Eine Arbeitsdefinition könnte lauten: Digitale Scorings sind auf der Basis von in der Vergangenheit oder der Gegenwart erfassten Daten durchgeführte algorithmische Berechnungsverfahren, die Personen einen Zahlenwert (den Score) zuordnen, um auf dieser Basis zukünftige Interaktionen zu strukturieren, Verhaltensprognosen vorzunehmen bzw. Verhalten effektiv zu steuern. Über die metrisch skalierten Punktwerte wird eine Ranghierarchie entsprechend einer spezifischen Wertigkeitsordnung (mehr/weniger, besser/schlechter, gesund/weniger gesund, produktiv/weniger produktiv, risikoreich/weniger risikoreich etc.) erzeugt, an der andere Akteure ihr Verhalten ausrichten (können), die aber ebenso reaktiv auf die Selbststeuerung wirken kann.

Scores können als quantitative Notationen (Benennungsformen) von Wert verstanden werden. Sie weisen Rang und Status zu, erzeugen so Hierarchien und ordnen Menschen in diese ein. Auch wenn sich die Anwendungsfelder stark unterscheiden, eint sie, dass jeweils versucht wird, über einen oder einige wenige Scores den Status in einem Feld bzw. Kontext zu markieren. Indem sie Differenzen ausweisen und Ränge abbilden (Wertanzeige) und gleichzeitig dazu beitragen, dass bestimmte Dinge mit Wert aufgeladen werden (Inwertsetzung), können sie als wichtige gesellschaftliche Ungleichheitsgeneratoren angesehen werden (Mau 2017; Fourcade und Healy 2017b). Die Erfassbarkeit vieler Lebensvollzüge und der beständig wachsende datenmäßige Fußabdruck, den wir tagtäglich hinterlassen, macht es dabei möglich, dass immer mehr Handlungen, Verhaltensweisen und Aspekte unseres Lebens zur Grundlage dieser digitalen Formen der klassifikatorischen Bewertung werden können. Technologien des Trackings, des Tracings, der Selbstvermessung, der Massenbewertung („user-generated content“), der personenbezogenen Datensammlung durch Behörden und Unternehmen sowie der digitalen Selbstauskunft (beispielweise durch die freiwillige Preisgabe von bestimmten Daten) sind Einspeisekanäle in die den Scores zugrunde liegenden Datenspeicher (Harcourt 2015; Zuboff 2019).

Scores sind dabei keine Realitätsabbildungen, sondern sie stellen – so eine Prämisse der „Bewertungssoziologie“ – Wertigkeitsordnungen sui generis dar. Sie greifen zwar auf vielfältige empirische Daten zurück, diese werden aber durch Verarbeitungsvorschriften, Recodierungen, Entscheidungen von Akteuren, Benennungsvorgänge etc. „formatiert“. Im Ergebnis läuft jede Scoreermittlung auf die Aktualisierung von kulturell, infrastrukturell und technologisch eingeschriebenen Vorstellungen von beispielsweise Erfolg, Performanz, Vertrauenswürdigkeit oder Fitness hinaus. Während sich die meisten Arbeiten diesen Praktiken des Wertens und Bewertens durch Metriken zuwenden, um aus der Perspektive einer „Soziologie der Bewertung“ danach zu fragen, wie „Wert“ hergestellt, verhandelt und verändert wird und wie Bewertungskategorien und Klassifikationen geschaffen werden, die scheinbar „objektiv“ Unterschiede festschreiben, geht es im Folgenden vor allem um die Ungleichheitseffekte von Scores und Scorings. Im Zentrum steht also nicht die Herstellung von Wert in bestimmten Bewertungskonstellationen, sondern die gesellschaftliche Weiterverarbeitung derartiger Daten im Kontext von Statuszuweisungsprozessen.

Zwar ist die Literatur zu Quantifizierung, Datafizierung und Digitalisierung mittlerweile ausufernd, doch finden sich darin bislang nur recht wenige ungleichheitssoziologische Überlegungen. Stattdessen stehen neben dem Bewertungsgeschehen selbst zumeist Fragen der digitalen Governance, der technologischen Entwicklung oder der Kontrolle und Überwachung im Vordergrund. Auch neuere Theoriebeiträge mit umfassenderem gesellschaftsdiagnostischen Anspruch weisen hier blinde Flecken auf und bleiben, was den Aufstieg quantifizierender Bewertungsverfahren angeht, ungleichheitssoziologisch stumm. Dagegen werden Scorings in diesem Aufsatz zuallererst als Praktiken der Rangermittlung innerhalb eines Statussystems (und einzelne Scores als Ranganzeiger) verstanden, wobei sie, wie gesagt, nicht einfach Repräsentanten einer vorgelagerten Realität darstellen, sondern selbst Herstellungsformen von Ungleichheit sind – sie sind selbst Stratifikatoren bzw. Rangerzeuger. Denn in vielen Bereichen, in denen wir ohne Scores nicht oder nur diffuse Besser-schlechter- oder Mehr-oder-weniger-Vergleiche vornehmen könnten, etablieren sie Register der Ungleichbewertung qua Punktzuweisung. Beim Scoring geht es um die Erzeugung und Visibilisierung von Statusungleichheit oder sogar um „automated social orders“ (Fourcade und Johns 2020, S. 813). Dabei werden Informationen über Individuen so aufbereitet, dass Dritte anhand der Scores Rückschlüsse auf individuelle Fähigkeiten, Charakteristika etc. ziehen können, was dann bestimmte Markt- oder Lebenschancen eröffnet oder vorenthält. Wenn die Annahme zutrifft, dass Scorings sich machtvoll verbreitende Instrumente der Bewertung, Klassifizierung und Statuszuweisung sind, so lohnt es sich, danach zu fragen, welche spezifischen Ungleichheitsdynamiken sich aus dieser Tatsache ergeben. So wäre beispielsweise interessant, ob sich durch Scores eine neue Form der „gesellschaftlichen Schätzung“ realisiert, die sich verstärkt an das meritokratische Hierarchieideal anlehnt, weil sich Unterschiede und Abstände nunmehr „objektiver“ feststellen lassen. Führt die Möglichkeit metrisierter individueller Zurechnung von Eigenschaften, Leistung oder Performanz gar zu einem Gewinn an „Statusfairness“? Beinhalten Scoringsysteme ein „Lob der Ungleichheit“ (Müller 2010), optimieren sie den „Wettbewerb als Interaktionsmodus“ (Rosa 2006) auf der Grundlage von Chancengleichheit?

Scores haben, wie es in der Arbeitsmarktforschung (klassisch: Spence 1978) in Bezug auf Bildungsabschlüsse und Zertifikate heißt, eine „Signaling“-Funktion, indem sie anderen verdichtete Informationen über nicht direkt zugängliche und nicht unmittelbar beobachtbare Personeneigenschaften bereitstellen. Wie etwa im Fall von Noten auf einem Zeugnis, die einem Arbeitgeber signalisieren, ob eine Person über eine bestimmte Kompetenz und ein bestimmtes Wissen verfügt und damit eine bestimmte Tätigkeit ausüben kann (unabhängig davon, ob das wirklich der Fall ist), sollen Scores eine Lösung für Situationen der Informationsasymmetrie bzw. Informationsunsicherheit bieten. Sie stellen eine klassifizierende Taxierung von Individuen zur Verfügung, hier: einen numerischen Wert, der Aspekte wie Performanz, Gesundheit, Konsumverhalten etc. auf eine Zahl bringt, an der sich andere orientieren können, die aber zugleich die Möglichkeiten der taxierten Person bestimmen. Scores können in diesem Zusammenhang als „kalkulative Instrumente“ (Beckert 2016, S. 5) angesehen werden, die Erwartungen stabilisieren. Diese Stabilisierung von Erwartungen durch Scores sorgt dafür, dass jenen, die in einem bestimmten Bewertungssystem gut oder sehr gut abschließen, mehr Vertrauen entgegengebracht wird; sie gelten als gesünder, produktiver etc., was nichts anderes heißt, als dass sich aus Scores Vor- oder Nachteile für Markt- und Lebenschancen ergeben können. In vielen Kontexten lassen sich Scores darüber hinaus als Reputationssignale verstehen, die über Aspekte wie Vertrauenswürdigkeit, Beliebtheit oder Prominenz Auskunft geben. Soziale Reputation lässt sich als Form des Sozialprestiges oder als soziales Kapital definieren, das darauf beruht, dass einer Sache oder einer Person ein bestimmter Wert zugeschrieben wird, der sich auf einen evaluativen Standard beziehen lässt.Footnote 1 Man kann für den hier interessierenden Bereich auch von digitaler Reputation sprechen (Gandini 2016; Hearn 2010).Footnote 2

Entscheidend für die Ungleichheits- und Verhaltenseffekte von Scores dürfte sein, welche Sichtbarkeit sie besitzen und wer sie in welcher Form nutzen kann: Handelt es sich um allgemein einsehbare, im Grunde öffentliche Scores, die beispielsweise in sozialen Medien oder in der Plattformökonomie soziale Netzwerke, Kundennachfrage oder Peer-to-Peer-Interaktionen strukturieren, oder um „interne“ Daten ressourcenverteilender und gouvernementaler Institutionen (wie Arbeitgeber oder Krankenversicherungen), die ihre eigenen Leistungsströme, Prämien- und Bonifizierungsysteme oder sogar die Weiterbeschäftigung an diesen Scores ausrichten? Für die Ungleichheitswirkung ergeben sich gravierende Unterschiede, da transparente Scores sehr starke und unmittelbare Flächeneffekte zeitigen können, weil sie von allen Interessenten genutzt werden können. Dritte können eine Person meiden, ihr gesteigerte Aufmerksamkeit zukommen lassen oder sich um Austausch bemühen (beispielsweise im Rahmen von Markttransaktionen), die Person selbst kann sich im Wissen um einen bestimmten Score um Verbesserung bemühen. Die Erträge der „Arbeit am Score“ lassen sich unmittelbar bilanzieren, der Verwendungsnutzen eines guten Scores schlägt schnell zu Buche. „Arkane“ Scores sind dagegen verdeckte Klassifizierungen, die nur denjenigen Informationen bieten, die sie berechnen oder auf sie zugreifen können. Typisch sind diese im Kontext spezifischer Abhängigkeits- oder Marktbeziehungen, wo sie als Art eines verdeckten Wertigkeitskontos von Personen über eingeräumte Chancen entscheiden. Von korporativen Akteuren oder staatlichen Stellen werden „Arkanscores“ zur Informationsschöpfung und Strukturierung ihrer eigenen Entscheidungen genutzt: Sie werden oftmals zur internen Verrechnung (beispielsweise eines Risikostatus, der Arbeitsperformanz, des Gesundheitszustandes, der Kreditwürdigkeit) verwendet. Sie sind zwar ebenso ungleichheitswirksam, aber in den Ursache-Wirkungsbeziehungen weniger durchschaubar und auch weniger leicht attribuierbar. Ihre Konsequenzen für Statuszuweisungen können drastisch sein, die Möglichkeiten der Individuen, ihre genaue Erhebung und Verwendung zu durchschauen, sind begrenzt. Das kann zu Indifferenz seitens der Gescoreten führen, aber auch zum diffusen Gefühl eines ununterbrochenen Monitorings, das einen dazu auffordert, immer weiterzumachen und keine Fehler zu begehen. Die Wirkung auf die Statusarbeit bestünde dann darin, im Bemühen nicht nachzulassen, ohne genau zu wissen, ob es sich lohnt.

3 Scorings: Ein empirisches Panorama

Bevor wir auf einer allgemeineren und konzeptionellen Ebene die ungleichheitssoziologische Wirkung des Scorings genauer beleuchten, soll das Phänomen zunächst anhand einiger Beispiele erörtert werden. Dabei soll einerseits anschaulich gemacht werden, dass wir es nicht mit einzelnen, sehr spezifischen Anwendungen ohne Breitenwirkung zu tun haben. Andererseits geht es darum, die enorme Varianz der tatsächlichen (und potenziellen) Einsatzgebiete von Scores kenntlich zu machen. Digitale Scorings sind aus meiner Sicht auf dem Weg, zu ubiquitären Klassifikationstechniken zu werden, mit Hilfe derer Menschen unterschieden, bewertet und auf Ränge platziert werden.

Über das chinesische Social Credit Scoring (SCS) wird seit einigen Jahren intensiv öffentlich diskutiert, wobei die Einschätzungen über die finale Form, die es irgendwann einmal annehmen wird, auseinandergehen (Liang et al. 2018; Lee 2019). Im Kern geht es bei diesem System – das bislang nicht flächendeckend, sondern nur in regionalen Pilotierungen existiert – darum, dass Daten aus vielen Lebensbereichen zu einem Score zusammengeführt werden, um Menschen als vertrauenswürdig oder nicht vertrauenswürdig zu klassifizieren. Auf dieser Grundlage wird dann der Zugang zu bestimmten Leistungen, Vergünstigungen oder öffentlichen Infrastrukturen reguliert. Dieses Beispiel gilt gemeinhin als exemplarisch für die Verschmelzung des Kontrollanspruchs eines Ein-Parteien-Staates mit den Möglichkeiten allumfassender digitaler Überwachung, wobei zu betonen ist, dass es in China eine breite soziale Akzeptanz dieser Systeme gibt (Kostka 2019). Man kann darin aber zugleich auch eine besonders avancierte (und kontrolllastige) Ausformung des Phänomens der Scorings verstehen, das in der Plattformökonomie seinen Ursprung hat, sich aber gesellschaftlich immer weiter ausbreitet (Mac Síthigh und Siems 2019). Entscheidend ist bei diesem Beispiel, dass einerseits staatliche Stellen mit Hilfe des Social Scores den Zugang zu öffentlichen Leistungen regulieren (in Form von Bonifizierungen, aber vor allem durch Ausschluss, falls die Werte unter einer definierten Schwelle liegen), andererseits aber auch andere Institutionen oder Bürger die „Vertrauenswürdigkeit“ prüfen können. Schließlich sind die Personen selbst aufgefordert, ihren Score zu optimieren.

Ein zweites Beispiel, dieses Mal aus der westlichen Hemisphäre: Das in den USA angesiedelte Tech-Unternehmen MyLife, eine sogenannte „information brokerage firm“, betreibt eine Website (www.mylife.comFootnote 3), auf der man sich recht leicht über den Datenstatus von Mitbürgerinnen und Mitbürgern informieren kann. Die Eingabe des Namens und der Postleitzahl reichen, schon beginnt das System zu arbeiten, um alle in den Tiefen des Internets verfügbaren Informationen auszuwerten und zu einem Reputationsscore zusammenzufassen. Die Reputationsermittlung geht in mehreren Schritten vor: Zunächst werden alle Namen und Aliasnamen einer Person, also auch etwaige Namensänderungen bei Heirat, festgestellt. Dann ruft die Seite alle Adressen und Telefonnummern sowie sämtliche Einträge in sozialen Medien, inklusive derer, die gelöscht wurden und sich technisch wiederherstellen lassen, ab. Zudem werden Daten zur erweiterten Familie und zum Freundeskreis verarbeitet. Damit jedoch nicht genug: Auch registrierte Lizenzen, Waffenbesitzgenehmigungen inklusive Lizenznummer und Ablaufdatum, frühere und anhängige Gerichtsverfahren, Geschwindigkeitsübertretungen, Beschreibung der zur Last gelegten Straftaten, Privatinsolvenzen oder Sittlichkeitsdelikte werden einbezogen, um schließlich einen Score zwischen 0 (negativ) und 5 (positiv) auszugeben, dazu eine Anzeige auf einem Vertrauenstacho von Rot bis Grün. Hier werden die Scores, die Daten aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen amalgamieren, auf einer Dienstleistungsplattform transparent gemacht und navigieren die Kundennachfrage; letztlich werden Marktchancen strukturiert. Die hohe Transparenz und die Zugänglichkeit eines solches Scores führt dazu, dass er letztlich in allen Lebensbereichen herangezogen werden kann, durch Arbeitgeber, auf dem Wohnungsmarkt oder im Kontext der Plattformökonomie.

MyLife ist womöglich ein extremes Beispiel, noch dazu eines, bei dem wir nicht genau abschätzen können, wie verbreitet es ist und ob es überhaupt in sozial relevanter Weise genutzt wird. Dennoch: Scoring-Systeme sind in fast allen gesellschaftlichen Feldern auf dem Vormarsch und oftmals schon fest etabliert. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und letztgültige Systematik kann man folgende Anwendungsbereiche von ScoringsFootnote 4 unterscheiden:

  • Kreditscoring. Das Kreditscoring in der Kredit- und Bankenwirtschaft ist vermutlich der einschlägigste und bekannteste Bereich von Scoring (Marron 2007). Dabei geht es um eine Schätzung der Kreditrisiken auf der Basis von unterschiedlichen personenbezogenen Informationen, wie der Einkommens- und Vermögenssituation, dem Erwerbsstatus, vorhandenen Sicherheiten, der bisherigen Zahlungsmoral oder dem Wohnort.Footnote 5 Die Datenbasis wird dabei fortwährend erweitert, unter anderem dadurch, dass Menschen zur Übergabe immer weiterer Daten ermuntert werden, die die Validität des Ratings verbessern sollen.Footnote 6 Auf der Basis des Kreditscores werden Entscheidungen über die Vergabe wie auch über die Konditionen von Krediten (Zinssatz, Laufzeiten, Belastungshöhe etc.) getroffen, sodass sich unmittelbare Effekte auf Marktchancen ergeben. Zugleich reicht die Nutzung von Kreditscores inzwischen weit über den engen Finanzbereich hinaus – denn Versicherer, Autovermieter, Wohnungsvermittlungen und Unternehmen nutzen den Score ebenfalls. Befragungsergebnisse zeigen, dass immerhin sechzig Prozent aller Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in den USA bei der Personalrekrutierung Kreditchecks durchführen, um sich ein Bild von einer Person zu machen (Chen et al. 2013). Damit wird das Kreditscoring als allgemeines Bewertungsproxy für „finanzielle Gesundheit“, Vertrauenswürdigkeit oder ökonomischen Status genutzt. Verändert hat sich auch die Transparenz, denn die bewerteten Personen (vor allem in den USA und im UK) wissen um ihren Score, kennen Wege der Verbesserung und setzen ihn aktiv in unterschiedlichen ökonomischen Kontexten ein.

  • Verbraucherscoring. Es gibt eine Vielzahl von algorithmenbasierten Scores und Score-Infrastrukturen, die Verbraucherinnen und Verbraucher punktemäßig klassifizieren und ihr Verhalten und den prospektiven ökonomischen Nutzen abschätzen, beispielsweise hinsichtlich Kundentreue/Abwanderungswahrscheinlichkeiten, Kaufkraft, Konsumpräferenzen und -gewohnheiten. Es geht im engeren Sinne um den „Wert“ des Kunden für ein Unternehmen, manchmal wird auch von „Nutzwertanalyse“ gesprochen. Ungleichheiten ergeben sich im Hinblick auf die Behandlung als Kunde bzw. Kundin, denn anhand dieser Informationen lassen sich Werbeofferten, Rabattangebote, Versicherungsprämien, Bonuspunkte etc. ausgestalten (bis dahin, wie schnell im Call Center der Anruf entgegengenommen wird) (Pham und Castro 2019). Diese Scores sind in der Regel nicht öffentlich und den Konsumentinnen und Konsumenten nicht bekannt (Dixon und Gellman 2014), sodass die Verhaltensrückwirkungen diffus bleiben.

  • Bedrohungs- oder Risikoscorings. Diese Scores werden zuvorderst im Bereich der Sicherheit und der polizeilichen Überwachung eingesetzt, um Verdächtige oder „riskante“ Gruppen und Individuen zu identifizieren. An verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern nutzt die Polizei im Rahmen des „predictive policing“ Big-Data-Analysen, um individualisierte „threat scores“ zu berechnen (Jouvenal 2016). RisikoscoringsFootnote 7 spielen ebenso bei der Entwicklung sogenannter „smart borders“ eine große Rolle (wo es darum geht, zwischen risikoreichen und risikoarmen Reisenden zu unterscheiden, vgl. Mau 2021, 2020), oder auch beim Scoring im Justizwesen. Das bekannteste Beispiel ist hier das von US-Gerichten genutzte System COMPAS (Correctional Offender Management Profiling for Alternative Sanctions), das auf der Basis von über 100 Merkmalen die Wahrscheinlichkeit errechnet, ob ein Straftäter rückfällig wird oder nicht (Angwin et al. 2016). Es geht um „rank orders of risk“ (Van Den Meersche 2022, S. 174), die mit neuen gouvernementalen Steuerungsformen (etwa automatisierten Entscheidungen) einhergehen. Diese Art der Scores sind Bestandteil eines präemptiven Ansatzes der Risikopolitik, der darauf gerichtet ist, „kritische Fälle“ herauszufiltern. Allerdings bleibt der angelegte Risikobegriff häufig sehr diffus und ist vielfachen Anpassungen ausgesetzt. In der Regel handelt es sich um „negative Klassifikationen“, die Problemfälle heraussieben sollen, die dann besonders behandelt oder gar exkludiert werden.

  • (Sozial)staatliche Scorings. Im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen und der sozialstaatlichen Transfers gibt es eine erkennbare Ausweitung der Nutzung algorithmischer Scoringverfahren, wobei die Spannbreite der Einsatzfelder recht groß ist. Beispiele sind die Nutzung von Scores in der aktiven Arbeitsmarktpolitik (bei der Zuteilung von Weiterbildungsmöglichkeiten), bei der Identifikation von „Risikofamilien“, bei der Ermittlung von Steuerbetrug oder beim Zugang zu öffentlichen Hilfesystemen („eligibility“) (Eubanks 2018; Algorithm Watch und Bertelsmann Stiftung 2019). In diesen Scores verbinden sich „care and control“, es gibt also eine Verzahnung von Fürsorge und Überwachung mit dem Ziel, den „Nutzen“ staatlicher Intervention abzuschätzen und Risiken frühzeitig zu erkennen.

  • Gesundheitsscoring. Im engeren medizinischen Bereich ist die Verwendung von Scores im diagnostischen und therapeutischen Bereich (z. B. bei der Klassifizierung von Krankheitsbildern) schon lange ein eingeübtes Verfahren. Neu ist die Erstellung und Nutzung von Gesundheitsscores in Eigenregie, durch Kranken- und Lebensversicherer oder Arbeitgeber (Mau 2017, S. 115 ff.). Gesundheitsscores basieren auf der Erfassung von Vitaldaten durch körpernahe Sensoren, die Körperdaten auslesen – es geht um ein kontinuierliches Health-Tracking. Auch zur Überwachung chronisch Kranker oder beim Einsatz von Medikation können sie eingesetzt werden. Viele Gesundheitsscores erfassen zusätzlich den Lebensstil, Ernährungsgewohnheiten, sportliche Aktivitäten oder das allgemeine Wohlbefinden bis hin zu psychischen Zuständen und errechnen auf Grundlage dieser Daten einen oder mehrere „Health Scores“, die nicht nur zum eigenen gesundheitsbewussten Verhalten auffordern, sondern auch zu Bonifizierungen durch Krankenkassen führen können.

  • Performanzscoring in der Arbeitswelt. Zu den Performanzscorings zählen alle punktebasierten Systeme der Erfassung von Produktivität, Output und Leistung. Das scorebasierte Monitoring von Performanz findet man in fast allen Bereichen, in denen die quantifizierende Leistungserfassung üblich ist.Footnote 8 In unternehmerischen Kontexten ist Performance-Management von Beschäftigten zwar kein neues Thema, aber mit der Digitalisierung haben sich die Verfügbarkeit und die Auswertungsmöglichkeiten von Daten nachhaltig verbessert (Bhave 2013). Es ist nunmehr in weit größerem Maße möglich, Daten tätigkeitsnah abzuschöpfen (Lechermeier et al. 2020). Schon allein das Mitführen eines digitalen Endgerätes schafft zumindest prinzipiell die Option, den Aufenthalt und die Bewegungsgeschwindigkeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auszulesen. Bei Bildschirmtätigkeiten lassen sich die Interaktionen mit dem Computer nachvollziehen.Footnote 9 Darüber hinaus finden wir in der Arbeitswelt digitalisierte Scoring- und Ratingsysteme, bei denen Peer-to-peer-Bewertungen zum Bestandteil des Personalmanagements werden (Staab und Geschke 2020; Logg et al. 2019). Über derartige Systeme lassen sich Entscheidungen über Weiterbeschäftigungen, Aufstiegsmöglichkeiten und Vergütungen steuern.

  • Bewertungs- und Zufriedenheitsscores. Eine ganze Reihe von Scores kommt aufgrund von Massenbewertungen zustande. Durch die Verbreitung digitaler Technologien ist es möglich, im Grunde ubiquitäre Feedbackinformationen in Form von numerischen Bewertungen zu erfragen. Dies kann im Kontext von Abfragen von Kundenzufriedenheit durch einzelne Unternehmen geschehen. Noch verbreiteter sind aber Empfehlungssysteme in der Plattformökonomie: Nutzerinnen und Nutzer oder Klientinnen und Klienten werden in Bewertungen eingebunden, die dann zu Ratings (oft in Form von Punkten oder Sternchen) aggregiert und anderen Nutzerinnen und Nutzern als Entscheidungshilfen zur Verfügung gestellt werden – was ihnen eine recht große Wirkung in der Lenkung von Aufmerksamkeiten und Auswahlentscheidungen verleiht (Diekmann und Przepiorka 2019; Mau 2017, S. 139 ff.). Viele Geschäftsmodelle der Plattformökonomie hängen unmittelbar an der Schaffung von nutzergenerierten Vertrauenssystemen, die Transaktionen erst möglich machen (z. B. Airbnb). In anderen Bereichen (Bewertung von Ärzten, Handwerkerportale, Restaurants etc.) wird durch die Bewertungen eine Vergleichsinfrastruktur geschaffen und (vermeintliche) Markttransparenz hergestellt. In den sozialen Medien sind quantifizierende Bewertungsformen (Likes, Sternchen etc.) ebenso allgegenwärtig und teilen die wesentlichen Charakteristika von Scorings.Footnote 10 Ihre Bedeutung für soziale Ungleichheit erlangen diese Scores dadurch, dass sie über umfassende wirtschaftliche und soziale Bereiche hinweg als Vertrauens‑, Popularitäts- und Reputationsmetriken wirksam werden, die Nachfrage, Aufmerksamkeit und Interaktionen lenken.

  • Social Scorings/Superscores. Als Social Scorings lassen sich Formen der algorithmischen Punktevergabe bezeichnen, die auf die Bewertung des sozialen Verhaltens (Wohlverhalten, Reputation, Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit) zielen. Dafür werden in der Regel sehr diverse Informations- und Datenquellen genutzt, um ein Konstrukt zu berechnen, das auf die Bewertung der Person insgesamt zielt. Als Superscores gelten jene schon genannten Beispiele (MyLife, Social Credit Score), die aus einem breiten, sich beständig erweiternden und auch private Lebensbereiche umfassenden Datenkranz eine einzige Punktzahl destillieren, die dann wieder in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern Möglichkeiten eröffnet (oder verschließt) (siehe Gapski und Packard 2021).

Diese – als schlaglichtartig zu verstehende – Liste ist nicht abschließend. Neben den genannten Anwendungsbereichen gibt es eine schier unüberblickbare Fülle von weiteren Scorings – sei es beim Computer-Gaming, der Impactmessung, dem Social Media Scoring von „Influencern“ oder bei vielerlei Wettbewerben –, die über Punktevergabe operabel gemacht werden. Jeweils hängt es von den einzelnen Fällen und Verwendungskontexten ab, wie stark diese Scores Lebens- und Marktchancen determinieren.

4 Digitale Statusarbeit

Das Adjektiv „digital“ nutze ich hier in seiner simpelsten Bedeutung als in Ziffern dargestellte Information.

Nachdem wir einige Arten des Scorings samt ihrer Nutzungskontexte kennengelernt haben, soll nun gefragt werden, wie Individuen mit den Infrastrukturen der Scorings umgehen. Welche Verhaltensaufforderungen und welche Anreize sind mit Scoringsystemen verbunden und wie wirken diese auf individuelle Orientierungen? Man kann zur genaueren Bestimmung dieser Frage auf das Konzept der „investiven Statusarbeit“ (Groh-Samberg et al. 2014; Schimank et al. 2014; Mau et al. 2019; Schimank 2015) zurückgreifen, das vor allem für die Mittelschichten einen Nexus einer bestimmten Kapitalausstattung mit einer dieser gemäßen Art der Lebensführung behauptet. Dementsprechend geht es in der Statusorientierung der Mittelschichten mindestens um den Erhalt, wenn möglich aber um die Verbesserung der eigenen Statusposition (samt eines entsprechenden Lebensstandards und damit verbundener Lebenschancen), was sie zu einem spezifischen Modus der Lebensführung anhält. Die Mittelschichten verfügen über eine mittlere Ausstattung an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital (Bourdieu 1983), welches sie je zum Zwecke des Statuserhalts und der Statusverbesserung einsetzen können. Aufgrund dieser mittleren Ausstattung – die Mittelschichten leben nicht in der Zone des sorgenfreien und sicheren Reichtums, aber auch nicht der der Knappheit und materiellen Not – sind sie dazu angehalten, dieses Kapital umsichtig und auf langfristige Statuserträge hin zu investieren. Investieren heißt, dass sie etwas gewinnen, aber auch verlieren können, was zur permanenten, umsichtigen und planerischen Arbeit am eigenen Status anhält. Typisch für ihre Lebensführung ist sowohl ein Leistungsethos, das sich auf Anstrengungen und Eigeneinsatz verlässt, als auch ein Planungsimperativ, der auf die eigene Biographie und die eigenen Kinder ausgerichtet ist (und damit sowohl ein Von-der-Hand-in den-Mund-Leben und einen tagtäglichen „Ad-hocismus“ wie auch dynastische und über Generationen laufende Zeithorizonte ausschließt).

Man kann diese Betrachtung der investiven Lebensführung ohne große Anstrengungen auf den Bereich der digitalen Gesellschaft – oder noch konkreter: die Gesellschaft der Scores – überführen. Digitale Statusdaten spielen eine immer größere Rolle als Statusproduzenten, Statusanzeiger und Statusspeicher, man kann sie in gewisser Hinsicht als Kapitalien im Bourdieu’schen Sinne verstehen.Footnote 12 Bourdieu (1987) geht bekanntermaßen davon aus, dass die Position des oder der Einzelnen im gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüge durch die Menge und Mischung unterschiedlicher Kapitalsorten zustande kommt, ebenso wie davon, dass Kapital akkumuliert, investiert und teilweise und mit mehr oder weniger großem Aufwand in andere Kapitalformen konvertiert werden kann. Scores, die Individuen bewerten und klassifizieren, lassen sich als Ausstattungen oder Verfügungen charakterisieren, die Lebenschancen eröffnen oder verschließen können. Sie bilden Stratifizierung ab und greifen zugleich produzierend und reproduzierend in die Ungleichheiten ein, indem sie Individuen Markt‑, Bildungs‑, Gesundheits- oder sonstige Chancen eröffnen oder verschließen. „Gute Scores“ verbessern die individuellen Handlungsmöglichkeiten, „schlechte Scores“ verringern sie. Aufgrund dieser Eigenschaften sprechen Fourcade und Healy (2017b) unter explizitem Bezug auf Bourdieu (und in Anlehnung an Nietzsche) vom „Überkapital“ (oder auch „Eigenkapital“) als einer auf Daten beruhenden Kapitalform. In dieser werden Informationen über Individuen aufgehoben, die dann zu deren Klassifizierung und Bewertung genutzt werden und damit über die Zuteilung von Lebenschancen entscheiden. Es handelt sich nach Ansicht von Fourcade um eine Meta-Kapitalform, die „aus jeglicher Form von Kapital [besteht], die aus den digitalen Daten einer Person erwächst“ (Fourcade 2022, S. 46). Durch Scores werden spezifische Wertigkeiten in eine metrische Repräsentation überführt und kommensurabel gemacht. Dies können Leitvorstellungen des „guten Bürgers“, des rentablen Kunden, der populären Freundin, des gesunden Lebensstils, des vertrauenswürdigen Reisenden oder der individuellen Bonität sein.

Die Scorewerte können als aus vielerlei Datenpunkten gewonnene Bewertungsanzeiger verstanden werden, die dann gesellschaftlich (politisch, ökonomisch, sozial) weiter prozessiert werden. Sie können beispielwiese in Marktvorteile umgemünzt werden, wenn Kundinnen und Kunden bessere Versicherungs- oder Kreditkonditionen erhalten oder ihnen Rabattangebote gemacht werden; sie können die Konkurrenzsituation auf Dienstleistungsmärkten und in der Plattformökonomie strukturieren, indem die Kundennachfrage und die Auftragsvergabe durch Scores gesteuert werden; sie können zur Aktivierung oder als Anreiz eingesetzt werden, um Verhalten in einem bestimmten Sinne zu beinflussen, etwa indem verantwortliches Verhalten oder ein gesundheitsbewusster Lebensstil bonifiziert oder Menschen aufgefordert werden, in bestimmter Hinsicht „besser“ zu werden; sie können für betriebliche Überwachung und Monitoring eingesetzt werden und das Prinzipal-Agent-Problem betrieblicher Kontrolle „lösen“ (Staab und Geschke 2019), dabei zugleich Anreize zur Leistungserbringung schaffen; sie können Affekte und Aufmerksamkeiten in sozialen Medien steuern (Maschewsksi und Nosthoff 2019); sie können Leistungs- oder Performanzanzeiger im Kontext von spezifischen Reputationssystemen sein (zum Beispiel in der Wissenschaft); und schließlich können sie als Grundlage staatlicher Governance risikopolitische Exklusionen oder Sonderbehandlungen auslösen.

Aufgrund dieser vielfältigen Folgen und Rückwirkungen und der unmittelbaren Incentivierung über Scoringsysteme sind Individuen aufgefordert, sich um ihre Daten zu „kümmern“. Investive Statusarbeit in der digitalen Gesellschaft impliziert die Bewirtschaftung der eigenen Daten – wobei man einschränkend dazu sagen muss, dass dies nur für Scorings zutrifft, von denen die Individuen tatsächlich Kenntnis besitzen.Footnote 13 So wie Universitäten ihre Kennzahlen managen müssen, Restaurants ihre Ratings und Aktienunternehmen ihre Quartalszahlen, so sind Menschen im digitalen Zeitalter auch dazu aufgerufen, sich um „gute Zahlen“ zu bemühen. Statusdaten können gemanagt, verbessert, manipuliert, beobachtet und verhandelt werden. Stetes Bemühen, richtige Entscheidungen, vorausschauendes Handeln und informationelle Übersicht sind damit wichtige Elemente des menschlichen Verhaltens, wo immer es auf Zahlen ausgerichtet ist – wobei wir erhebliche Unterschiede nach Kontext und sozialer Schicht finden sollten. Auch die Zurschaustellung des digitalen bzw. numerischen Status und das Self-Marketing gehören dazu (Hearn 2010).

Das Zahlenregime erstellt nicht nur – ex post – einen Bewertungsrahmen vergangener Leistungen, Aktivitäten, Verhaltensweisen etc., es beinhaltet immer auch in die Zukunft gerichtete Verhaltensaufforderungen. Man kann von „reaktiven Messungen“ (Campbell 1957) sprechen, weil es eine unmittelbare Rückwirkung der quantifizierenden Beobachtungs- und Bewertungsformen auf individuelle Orientierungen und Verhaltensweisen gibt. Wenn Scoringsysteme gesellschaftlich an Gewicht und Durchschlagskraft gewinnen, sind Individuen dazu angehalten, sich um die eigenen Scores zu sorgen, um Statusnachteile abzuwenden und Statusvorteile zu kapitalisieren. Marion Fourcade (2016, S. 189) hat in diesem Zusammenhang dargelegt, dass im Umgang mit Zahlen – Scorings spielen hier eine herausgehobene Rolle – drei Strategien des Datenmanagements zusammenlaufen, die uns zu „Kapitalisten des Selbst“ werden lassen: a) Accounting: das bedeutet, dass wir uns eine Art der Rechnungsführung aneignen müssen, die uns hilft, unseren Punktestand im Auge zu behalten, b) Investment: das bedeutet, dass wir uns in unserem Verhalten an zukünftigen Erträgen und Möglichkeiten der Kapitalisierung unserer Scores orientieren müssen, sowie c) Entrepreneurship: das bedeutet, dass wir einen dem unternehmerischen Handeln ähnlichen Umgang mit Risiken und Veränderungen an den Tag legen müssen. Man kann sicherlich darüber streiten, ob diese Parallelisierung marktlicher und unternehmerischer Orientierungen und individueller Lebensführung nicht überzogen ist, aber unabweisbar scheint das auf Statussicherung und Statusverbesserung ausgelegte investive Moment, das mit dem Aufstieg von Scores einhergehen kann. Entscheidend ist dabei, dass diese Scores von den Individuen als relevant und handlungsleitend angesehen werden (was letztlich eine empirische Frage ist).

Die Wirksamkeit von Scores hängt daran, dass sie einsehbar und ggf. auch für Dritte nutzbar sind. Das Spektrum der Nutzer ist hier sehr breit. Das können Unternehmen sein, die die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bezug auf ihre Leistung „scoren“, Behörden, die Risikoscores berechnen, die breitere Öffentlichkeit, die sich über die Reputation einer Person informieren möchte, oder Finanzinstitute, Wohnungsvermieter, Unternehmen der Internetbranche oder die Versicherungswirtschaft. In einigen Fällen können wir ahnen, dass wir algorithmischen Klassifikationen ausgesetzt sind, erfahren es aber nicht unmittelbar, sodass die Rückwirkungen auf individuelles Verhalten und soziale Orientierungen zumeist begrenzt sein sollten. Viel stärkere Effekte kann man dort vermuten, wo die Scores für einen selbst, aber auch für die (wie auch immer definierte) Öffentlichkeit einsehbar sind. Scores haben für Dritte – ähnlich wie Noten auf dem Zeugnis oder beim Studienabschluss – einen „signaling effect“ (dazu gibt es eine umfassende Arbeitsmarktforschung; Weiss 1995), weil sie anderen Auskunft über nicht unmittelbar beobachtbare Aspekte einer Person geben und damit Erwartungssicherheit herstellen können. Statusdaten können, soweit sie von der Öffentlichkeit oder Dritten einsehbar sind, als symbolisches Kapital wirksam werden und versprechen – zuweilen erhebliche – soziale oder materielle Erträge, weshalb sich Menschen auch um immer bessere Bewertungen bemühen. Das symbolische Kapital kann in der abstrakten Punktedarstellung viel komprimierter kommuniziert und verwertet werden als über den traditionellen, oft lokal begrenzten oder bereichsgebundenen „guten Ruf“. Überall dort, wo Scores veröffentlicht oder zugänglich werden, wird symbolisches Kapital verliehen und als konvertierbare Währung eingeführt.

Wie diese Daten nun in unterschiedlichen Segmenten der Gesellschaft ihre Wirkung entfalten, ist bislang noch nicht eingehender untersucht worden. Fourcade (2016, S. 189) behauptet zwar: „There are no a priori barriers to entry: everyone gets scored.“ Aber möglicherweise ist dies für unterschiedliche Gruppen in unterschiedlicher Weise sozial relevant. Die digitale Statusarbeit sollte jedenfalls – ähnlich wie die investive Statusarbeit – in der Mittelschicht besonders ausgeprägt sein, da diese als integraler Bestandteil der investiven Lebensführung (und möglicherweise auch symbolischer Grenzziehung) angesehen werden kann. Untere Schichten mögen häufig „gescoret“ und in ihren Lebenschancen beeinflusst werden, aber es ist auch denkbar, dass sie eine weniger auf das Optimieren und Verbessern der Scores und die langfristige Bewirtschaftung numerischer Erträge ausgerichtete Haltung einnehmen. Andererseits können Scorings auch schichtenübergreifend an Salienz gewinnen, denn die unteren Schichten sind besonders darauf angewiesen, nicht in statusmäßige Nachteilspositionen hineinzugeraten. Nur dann, wenn diese verfestigt sind und sich nichts „gewinnen“ lässt (Statusverbesserung also aussichtslos erscheint), gleichzeitig aber auch kein weiteres Abrutschen droht, ist ein Abflachen der Statusarbeit denkbar. Arme Menschen und diskriminierte Minoritäten können durch digitalisierte Klassifizierungen in Nachteilslagen geraten, die es ihnen fast unmöglich machen, dort wieder herauszukommen (Eubanks 2018).

Eine alternative Strategie, die sich aus der Vielfalt der Scores und der teilweisen Freiwilligkeit ergibt, ist die Spezialisierung über „opting-in“. Man beteiligt sich dann vor allem an den „Statusspielen“, die einem zum Vorteil gereichen, und hält sich von anderen fern. Wer bei Fitness ganz vorn mitspielt, wird diese Daten gern veröffentlichen oder lässt sie gern von einer Krankenversicherung auslesen. Eine souveräne und unfallfreie Autofahrerin wird gegen einen Telematiktarif nichts einzuwenden haben, und ein viel zitierter Wissenschaftler wird gern bei Google Scholar durch Anlegen eines öffentlich sichtbaren persönlichen Nutzerprofils seine Zitationen und seinen h‑Index dokumentieren lassen. Die „Oberschichten“ sind ökonomisch in einer anderen Situation und können auf andere Reputationsquellen zurückgreifen, wo Scores keine so überbordende Rolle spielen sollten. Jemand mit hohem Wohlstand oder Reichtum braucht nicht auf seinen Kreditscore zu schielen, gilt in der Regel nicht als Risikoreisender bei der Visavergabe, kann sich das Autofahren ohne bonifizierte Telematiktarife leisten und bekommt auch ohne Gesundheitsscoring die bestmöglichen medizinischen Leistungen – hier ist „opting-out“ möglich. Scores ignorieren zu können, ist eben auch immer eine Frage ökonomischer und sozialer Privilegien.

5 Soziologische Ungleichheitsmodi

Der vorangegangene Abschnitt war dem Umgang der Individuen mit Scores im Rahmen ihrer Statusarbeit und den zugehörigen Formen sozialer Reaktivität gewidmet. Auf dieser Grundlage wenden wir uns nun den mit Scores verbundenen Status- und Ungleichheitslogiken zu. Scores wirken ja nicht nur auf Einzelne und ihre sozialen Orientierungen und Praktiken zurück: Scorings selbst stellen Vorgänge der Statuszuweisung her, und Scores sind als Formen sozialer Rangbildung – als Hierarchisierung – zu verstehen. Scoringsysteme sind an der Herstellung von Ungleichheiten beteiligt, zugleich führt die Verwendung von Scores zu spezifischen distributiven Effekten. Für die Ungleichheitsforschung sind sie jenseits askriptiver und erworbener Merkmale ein dritter Modus der Statuszuweisung, den man assignativ nennen könnte: Über Scores wird Status vermittelt, zugewiesen und angezeigt. Wenn man davon ausgeht, dass Scores statusrelevant sind, stellt sich unmittelbar die Frage, ob wir es nunmehr mit neuen Formen sozialer Schätzung und Rangordnung zu tun haben – und ob diese veränderte Ungleichheitsdynamiken hervorbringen. Verändern sich also Allokationen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem etc.?

In der ungleichheitssoziologischen Literatur sind eine Reihe von verallgemeinerbaren Mechanismen der Erzeugung und Reproduktion sozialer Ungleichheit herausgearbeitet worden (Diewald und Faist 2011; siehe dort auch die Verweise auf die einschlägige Literatur): Ausbeutung (durch asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse), Hierarchisierung (durch gestufte Positions- und Gratifikationssysteme) sowie Chancenhortung (durch soziale Schließung/Exklusion und kulturelle Grenzziehungen/Stereotypisierungen). Es soll an dieser Stelle nicht ergründet werden, ob diese Mechanismen mit der Digitalisierung jeweils gestärkt oder obsolet werden. Vielmehr soll der Fall der Scorings genutzt werden, um einige Spezifika digitaler Statusproduktion aufzudecken, die auf veränderte Logiken, Zuweisungsmodi und Relevanzen hindeuten (wobei die genannten Aspekte keine Vollständigkeit beanspruchen können). Diese Erkundung erfolgt nicht deduktiv, d. h. ausgehend von den Mechanismen, sondern vom Gegenstand her; und sie orientiert sich an der Frage der Genese und Dynamik sozialer Ungleichheit.

5.1 Rationalisierung und Meritokratisierung der Statuszuweisung

Zunächst sind Scores datenbasierte Statusinformationen, die oftmals auf einen großen Kranz erhobener Informationen zurückgehen. Je engmaschiger und umfangreicher dieser Kranz, so die populäre Annahme, desto präziser und objektiver können sie über ihr Objekt Auskunft geben. Gut konstruierte und gut „gemessene“ Scores sollten Indizien, Bauchgefühl und kognitiven Voreingenommenheiten überlegen sein, weil sie zum einen standardisierte Beobachtungsformen darstellen und damit individuell weniger manipulierbar sind und zum anderen auf eine objektivierte Informationsbasis zurückgreifen. Für die echte Leistungsgesellschaft – so wusste schon Michael Young (2008 [1958], S. 84), der den Begriff „Meritokratie“ geprägt hat – braucht es ein andauerndes Leistungsrating: Je präziser „the art of work measurement“, desto besser lassen sich die Belohnungen an die Leistungen der Einzelnen koppeln. In Bereichen der Arbeit, der Gesundheit oder der wissenschaftlichen Produktivität erweitern Scorings die Möglichkeiten des Auslesens von Informationen, sodass sich „Beobachtungslücken“ verkleinern und Verhalten oder Performanz „realitätsnäher“ abgebildet werden kann. Soweit eine solche Abbildungstreue erreicht oder vergrößert werden kann, könnte man tatsächlich davon ausgehen, dass sich Statuszuweisungsprozesse rationalisieren – was auch hieße, dass Formen der Schließung und Chancenhortung aufgebrochen werden könnten und bislang „unentdeckte Leistungen“ durch Daten sichtbar würden. Der Score bei Autoversicherern würde beispielsweise die über Telematiktechnologie „tatsächlich“ erfasste Fahrleistung abbilden, sodass sich Tarife nicht mehr aus der Postleitzahl, der bisherigen Schadensbilanz und der Berufsgruppe ableiten müssten – das „Pay-as-you-drive“-Prinzip. Bei den Krankenversicherungen käme das „Pay-as-you-live“-Prinzip zur Geltung, das sich an über Apps und Wearables erfassten Aktivitäten und Gesundheitsdaten ausrichtet. In manchen Bereichen ermöglichen Scores auch die Einbeziehung immer weiterer Gruppen in Leistungsvergleiche, was diesen ermöglicht, ihre Leistungen erst sichtbar zu machen (das prominenteste Beispiel sind Sportwettbewerbe). Die in Scores angelegte Vereinheitlichung der Berechnungsverfahren kann etwa für marginalisierte Gruppen die Chance bieten, gleichberechtigt am Statuswettbewerb teilzunehmen und eigene Leistungen sichtbar zu machen.

Man könnte also prima facie annehmen, dass Scores dazu beitragen können, Statuszuweisungsprozesse zu rationalisieren. Doch die umfangreiche Kritik am Konzept der Meritokratie gibt Anhaltspunkte dafür, dass es trotz guter Messungen schwierig sein kann, individuelle Leistungswerte richtig zu registrieren bzw. überhaupt zu etablieren, was als Leistung gilt. Die Begründung von Status durch Leistung komme, so Offe (1977, S. 148), zwar „im Gewande objektivistischer Meßprozeduren“ daher, kann aber den „arbiträren Charakter ihrer Indexbildung“ letztlich nicht abschütteln – eine Beobachtung, die auch für Scores zutrifft. Hinzu tritt, dass Scores oftmals nicht auf genauere meritokratische Leistungsmessung zielen, also keine Input-Messungen (Arbeitspensum, aufgewendete Zeit, Ressourceneinsatz etc.) vornehmen, sondern allenfalls Output erfassen, was einer Verschiebung von Leistung zu Erfolg gleichkommen kann (Neckel 2001). Kundenzufriedenheit, marktlicher Erfolg oder Popularität können von Leistungsaspekten entkoppelt sein, zugleich wird aber Erfolg oft im Sinne von Leistung interpretiert.

Im Hinblick auf Algorithmen, die für die Berechnung von Scores genutzt werden, gibt es zudem umfangreiche Forschungsarbeiten zu Verzerrungen (O’Neil 2016; Eubanks 2018), die den Objektivierungseffekt von Scorings zweifelhaft erscheinen lassen. Algorithmen können über statistische Diskriminierung oder über in die Verarbeitungsvorschriften eingehende Vorannahmen erhebliche Biases zuungunsten gesellschaftlicher Gruppen aufweisen. Durch ihre scheinbare Objektivität ist es allerdings schwer, gegen sie anzugehen. Neuere experimentelle Forschung zeigt zudem, dass sich, wenn Performanz mit einem quantitativen Score und nicht durch verbale Bewertungen kommuniziert wird, die Ungleichheit tendenziell vergrößert (Accominotti und Tadmon 2020). Die Verfügung über scheinbar objektive Maße zur Feststellung von Leistungsdifferenzialen verführt dazu, die leistungsstärkeren Gruppen zu übervorteilen. Selbst kleinere Differenzen in den Punktwerten führen aufgrund der durch Numeriken vermittelten autoritativen Sortierungen zu größeren Einkommensdifferenzen. Quantifizierungen übersetzen sich daher nicht automatisch in meritokratisch gestufte Belohnungsdifferenziale.

5.2 Kumulation, Chancenhortung, Exklusionen

Dass Quantifizierungen notwendigerweise zu einer stärker meritokratischen Positions- und Güterverteilung führen, lässt sich noch aus anderen Gründen in Zweifel ziehen. Quantitative Daten, soweit sie öffentlich einsehbar sind und kommuniziert werden, schaffen ein objektiviertes Sichtbarkeitsregime, das es erlaubt, Personen (als Personen oder in ihren sozialen Rollen) im Hinblick auf Differenzen und Rangabstufungen miteinander zu vergleichen. Das kann auf Bewertungsplattformen geschehen, bei der Mitarbeiterbewertung oder auch durch Datenunternehmen – häufig ist die Information, wer wo steht und wie performt, nur einen Mausklick entfernt. Soweit Statusdaten Teil der sichtbaren gesellschaftlichen Hierarchie werden (das gilt selbstredend nur für einen Teil der Scoringsysteme), gibt es oftmals erhebliche Kumulations- und Aufschaukeleffekte im Sinne einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck 1998). Kleine Unterschiede im Scoringwert können sich verstärken und zu sehr ungleichen Reputationserträgen führen, wie man beispielsweise bei Bewertungsplattformen an der Aufmerksamkeitskonzentration auf die Spitzengruppe sieht (zu diesem „navigating by the stars“ siehe Möhlmann und Teubner 2020).

Chancenhortungen und die sukzessive Vergrößerung von Anfangsunterschieden werden in der Soziologie häufig mit Versatzstücken der Theorie kumulativer Vorteile betrachtet. Diese geht davon aus, dass frühere Erfolge zukünftige Erfolge wahrscheinlicher machen, oder umgekehrt, dass Nachteilspositionen dazu tendieren, sich zu verfestigen (DiPrete und Eirich 2006; Merton 1988). Es gibt einen Auftriebseffekt von Erfolgen, der darüber funktioniert, dass die Statusprivilegierten Anerkennung und Aufmerksamkeit auf sich ziehen und so in die Lage versetzt werden, weitere Ressourcen aufzutun oder die vorhandenen Ressourcen mit höherer Ertragswahrscheinlichkeit einzusetzen. Auch neuere Arbeiten zu Winner-take-all-Märkten und zu Superstarphänomenen liefern einschlägige Erklärungen (Lutter 2013). Am anderen Ende können schlechte Scoringwerte auch Nachteilspositionen zementieren, da sie als Negativsignale gedeutet werden und Chancen verschließen. Im Bereich der Armutspolitik ist beispielsweise gezeigt worden, dass es durch die Verwendung von Algorithmen immer schwieriger wird, ein Stigma – also negative Reputation – loszuwerden: Es entstehen „digitale Armenhäuser“, aus denen man nicht mehr herausfindet (Eubanks 2018). Entlang solcher Negativklassifikationen können sehr hartnäckige Unterscheidungen ausgeprägt werden, die sich zu kategorialen Ungleichheiten auswachsen können (Tilly 1998). Ähnliche Effekte – oft ganz banaler Art – sind zu beobachten, wenn eine einmalige, wie auch immer zustande gekommene „Verfehlung“ Personen einen schlechten Scoringwert beschert. So kann eine Geschwindigkeitsübertretung im Straßenverkehr für eine Babysitterin ebenso zur digitalen Falle werden wie eine zu spät bezahlte Rechnung, wenn sich dadurch ihr Reputationswert verschlechtert. Singuläre Ereignisse erhalten hierbei ein vergleichsweise hohes Gewicht und können sogar zum Ausschlusskriterium werden.

5.3 Statusverfestigung, Statuslabilität, Zukunftskalkulation

Weiterhin ist festzuhalten, dass Scores auf der Basis von Vergangenheitsinformationen zustande kommen – es geht um den „track record“. Individuelle Performanz, Gesundheitszustand oder Risikoklassifikation kommen aufgrund von datenmäßig erfassten Verhaltensweisen zustande, wobei es variabel ist, wie weit die Daten zurückreichen und wie umfassend sie sind. Wie gesagt: Mit dem Wachstum von Datenspeichern und der immer umfassenderen digitalen Protokollierung und Archivierung individueller Handlungsvollzüge – der Welt des Nichtvergessens – lassen sich prinzipiell immer mehr Datenpunkte zur Scorebildung heranziehen. Damit kann es zu einer Statusverfestigung kommen, denn Individuen werden auf ihre Daten festgelegt und können dem eigenen Datenschatten nicht entkommen – man kann von „digitalen Narben“ sprechen. Unter den Bedingungen einer, über die Zeit gesehen, aggregativen Scorebildung würde es zu einer Verfestigung von Status kommen, zu einem Weniger an Mobilität. Wer auf einer Statusleiter weit unten steht, bräuchte länger, um sich hochzuarbeiten, wer schon oben ist, für den bedeutet ein hoher Score einen gewissen Statusschutz.

Zugleich gibt es gegenteilige Tendenzen: Denn viele über Scores vermittelte Statuspositionen härten nicht aus, weil die Daten immer wieder einer Aktualisierung unterworfen werden. Scores können durchaus als kontinuierliches System der „Bewährungsproben“ oder der „Bewährungstests“ verstanden werden, in denen es immer und immer wieder erneut darum geht, eine Wertigkeit von bzw. eine Rangfolge zwischen Personen herzustellen (Boltanski und Chiapello 2003, S. 72). Die Zusicherung von Status ist damit immer nur vorläufig, und es gibt kein dauerhaftes Einwurzeln in einer einmal erreichten sozialen Position. Immer wieder wird man neuen Bewertungen unterworfen, was hohe Anforderungen an die Betroffenen stellt und selbst von Ressourcen und Kompetenzen abhängig sein kann. Der Status trägt einen nicht, er ist keine Hülle, die einem Stabilität verleiht, sondern man muss sich – entsprechend der Vorstellung eines unermüdlichen Wettbewerbs (Rosa 2006) – immer wieder aufs Neue beweisen und „gute Daten“ erringen. Die Daten fixieren und verfestigen den Status zwar, zugleich wird er immer wieder datenmäßig überprüft und bleibt disponibel – es gibt also die Chancen und Risiken von Auf- oder Abwertung –, sodass sich eine spezifische Verschränkung von Statusverfestigung und Statuslabilität ergibt (Mau 2017, S. 277 ff.).

Ein weiterer Aspekt der Zeitlichkeit ergibt sich aus dem Blick in die Zukunft. Durch Scores werden „fiktionale Erwartungen“ (Beckert 2016) objektiviert und in eine metrische Darstellungsform gebracht, um die Offenheit und Kontingenz der Zukunft und die Probleme eines Handelns unter Unsicherheit beherrschbar zu machen. Auf der Basis der effizienten Erschließung und Verdichtung vorhandener Daten wird dabei versucht, in die Zukunft reichende Aussagen probabilistischer Natur zu treffen. Ein Score, der Vertrauenswürdigkeit, Reputation oder Gesundheit misst, wird dazu genutzt, eine kausale Verknüpfung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen, also gewissermaßen ein Trajekt im Sinne eines zeitlichen Verlaufs oder einer longitudinalen „Bahn“ zu entwerfen. Der Score selbst ist der Informationsspeicher vergangener Ereignisse oder Verhaltensweisen, der zur Klassifikation von Individuen (oder auch anderer Entitäten) genutzt wird, um dann Aussagen über wahrscheinliche Zukünfte zu treffen. Scores lassen eine Extrapolation auf die (im Grunde ungewisse) Zukunft zu.

Vor diesem Hintergrund ist die Perspektive der Zeitlichkeit für das Verständnis der sozialen Wirkung von Scores ganz entscheidend: Diese beschränkt sich nicht auf das retrospektive oder gegenwärtige Bewerten und Vergleichen, sondern beide Operationsweisen haben einen starken Zukunftsbezug – genauso wie Noten in der Schule nicht nur summarische Bewertungen zurückliegender Leistungen darstellen, sondern eine starke Signalfunktion für die zukünftige Performanz haben, die dann beim Übergang zu einer anderen Schule oder zu einer postschulischen Bildungseinrichtung über die Aufnahme oder Ablehnung entscheiden kann. Diese prädiktive Komponente aller Scores bedeutet letztlich, dass für den oder die Einzelne(n) ein durch Daten vorstrukturierter Korridor individueller Möglichkeiten entsteht, der Chancen eröffnen oder auch restringieren kann.Footnote 14

5.4 Entgrenzung

Die Vervielfältigung der Datenproduktion und die fortschreitende Erfassung und Verarbeitung persönlicher Daten bezieht immer weitere Lebensbereiche ein, auch solche, die vormals gegen Zugriff geschützt gewesen sind oder sich dagegen effektiv schützen konnten. Die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Unterscheidung zwischen öffentlich und privat – und sei sie auch immer mehr regulative Idee als Realität gewesen – verschwimmt als Leitdifferenzierung zur Bestimmung der legitimen Eingriffstiefe in die private Sphäre. Digitalisierung bedeutet ja auch, dass unsere alltäglichen Verrichtungen, unser Freizeitverhalten, unsere sozialen Netzwerke, unsere Gesundheit oder unsere Mobilität in Datenform gespeichert und analysiert werden können. Für diejenigen, die zu diesen Informationen Zugang erhalten, kann das von enormem politischen und ökonomischen Wert sein – weil Personen klassifiziert werden können und sich mit den Daten algorithmische Vorhersagemodelle speisen lassen (Zuboff 2019).

In diesem Prinzip liegt auch die Entgrenzungstendenz der Digitalisierung im Allgemeinen und des Scoringprinzips im Besonderen begründet: Je umfassender die Beschreibungsdaten der Eigenschaften und des Verhaltens einer Person – so legt es jedenfalls der Alltagsverstand nahe, und dieser Annahme folgt, selbst wenn aus informatischer Sicht hier Zweifel angebracht sind, auch die Nutzung vieler Scores –, desto besser und präziser die klassifikatorischen Bewertungen. Natürlich sind viele Scores nach Sachbereichen abgeteilt – beispielsweise wird sich der h‑Index eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin auf die Publikationstätigkeit beziehen und nicht auf Informationen aus dem privaten Bereich zurückgreifen –, aber bei komplexeren Konstrukten wie Gesundheit, Mobilität, Konsumentenstatus oder Vertrauenswürdigkeit gibt es keine prinzipielle Haltelinie, die das Interesse an einer die Lebenswelt durchdringenden Datensammlung hemmt.

Dieser Entgrenzungstrend ist Teil der Digitalisierung, weil erst aus der Abrufbarkeit und Massierung von Daten Informationsgewinne entstehen. Im Bereich der Kreditscores lässt sich diese Entwicklung von der Bewertung durch Kundenberater über den Einsatz und die Auswertung statistischer Basisdaten bis hin zum Digitalisierungsschub klar nachzeichnen: Heute wird der digitale Fußabdruck für die Bestimmung der Kreditwürdigkeit immer entscheidender (Berg et al. 2020). Die FinTech-Branche ist zum Vorreiter einer immer stärker (und zum Teil vollständig) auf Verhaltensdaten zurückgreifenden Klassifikationspraxis geworden, bei der beispielsweise das Tracking des Internetverhaltens (Besuch von Internetseiten, Kaufverhalten, Preisvergleiche) zur Abschätzung der Ausfallrisiken für Kredite genutzt wird. Schon sehr einfache Proxies erweisen sich dabei als erklärungsstark: Die Wahrscheinlichkeit der Nicht-Rückzahlung eines Konsumentenkredits ist bei Personen, die von einer Preisvergleichsseite kommen, beispielsweise doppelt so hoch wie bei denjenigen, die durch eine Anzeige zum Kauf animiert werden (Turkyilmaz et al. 2015). Noch weiter gehen Entwicklungen, in denen Kreditscores unmittelbar aus Telefondaten oder den sozialen Netzwerken (hier spielt v. a. der ökonomische Status des Freundeskreises eine Rolle) abgeleitet werden und die vollständig auf andere Datenquellen verzichten (Kiviat 2019b).

5.5 Kopplungen, Entdifferenzierung

Mit der Entgrenzung habe ich auf die Vergrößerung der Informationsbreite bei der Erstellung von Scores hingewiesen, zugleich gibt es auf der Seite der Nutzung von Scores vermehrte Übertragungen über gesellschaftliche Felder oder Funktionssysteme hinweg.Footnote 15 „Numbers can travel“, sagen die Amerikaner dazu, zudem ergeben sich aufgrund der Einfachheit von Daten zahlreiche Rekombinationsmöglichkeiten (Nassehi 2019, S. 145). Die Zahlenhaftigkeit führt, um eine Formulierung von Luhmann (2015, S. 132) zu nutzen, zur „Erleichterung des Grenzverkehrs zwischen Teilsystemen“.

Aus differenzierungstheoretischer Perspektive ist es allerdings apriorisch ausgeschlossen, dass sich in diesem Zusammenhang die subsystemspezifischen Verarbeitungslogiken verändern könnten. Empirisch und ungleichheitssoziologisch kann man jedoch der Frage nicht ausweichen, ob und auf welche Weise die leichte Übertragbarkeit von Daten (und hier insbesondere Scores) nicht auch die Möglichkeit subsystemübergreifender Statuslogiken impliziert. Es könnte sein, dass Scores als Statusgeber und Statusanzeiger dafür sorgen, dass eine bislang kaum vorstellbare Übertragung von Privilegien oder Nachteilen über unterschiedliche Felder hinweg denkbar wird und sich Kumulationen bis hin zu Formen einer horizontalen Durchschichtung ergeben. Eine solche wäre dann gegeben, wenn die Verteilung von Ressourcen und Positionen sowie die Herausbildung von Rangdifferenzen Anzeichen einer übergreifenden Vereinheitlichung aufweisen würden.Footnote 16

Dies ist in der skizzierten Konturiertheit gegenwärtig mitnichten der Fall. Dass es aber aufgrund von Scores einzelne stratifikatorische „Wanderungsbewegungen“ über Felder und Subsystemgrenzen hinweg gibt, lässt sich durchaus beobachten. Es ist heute schon so, dass die Punkte und Scores, die man in verschiedenen Bereichen des Lebens eingesammelt hat – seien es Punkte finanzieller Bonität, Sympathiebekundungen durch Freunde oder Gesundheitsscores –, in „fremde“ Bereiche hinüberschwappen. Hierdurch werden Daten, die in einem bestimmten Bereich und für sehr spezifische Zwecke erhoben wurden, zu wichtigen Referenzgrößen in anderen Kontexten. Das bedeutet, dass durch die informationelle Vereinfachung, die mit der Scorisierung sozialer Sachverhalte einhergeht, auch neue Möglichkeiten der Kopplung eigentlich getrennter Sachbereiche entstehen.

Für den Bereich des Kreditscorings hat Akos Rona-Tas (2017) eindrücklich gezeigt, wie das zunächst auf die Bonitätsbewertung bei der Kreditvergabe begrenzte Instrument nach und nach in andere Bereiche diffundiert ist. In Analogie zum Einsatz von Medikamenten in ursprünglich nicht angedachten Behandlungskontexten spricht er von „off-label use“, weil Kreditscores nunmehr auch auf dem Arbeits‑, Wohnungs‑, Konsumenten- oder dem Versicherungsmarkt eine Rolle spielen – also in Kontexten, in denen es gar nicht darum geht, ein Kreditangebot zu erhalten. Das gilt für die schon genannte Tatsache, dass in den USA zahlreiche Arbeitgeber zur Bewertung der Bewerberinnen und Bewerber auf freie Stellen auf Kreditinformationen (vor allem Kreditscores) zurückgreifen, auch wenn es für die Personalabteilungen oft schwierig ist, diese Informationen einzuordnen.Footnote 17 Auch für US-amerikanische Autoversicherungen hat Barbara Kiviat (2019c) dokumentiert, dass diese zunehmend auf Kreditscores statt auf Kilometerleistung und Schadensgeschichte zurückgreifen, weil diese mit statistischen Schadenswahrscheinlichkeiten in hohem Maße korrelieren. Der kanadische Staat nutzt bei der Visavergabe an chinesische Bürger den Alipay Sesame Credit Score, der das Konsumentenverhalten (und viele andere Aspekte des sozialen Lebens) bewertet.Footnote 18 Selbst auf Dating-Websites kommt der Kreditscore bei der Selbstbewerbung zum Einsatz; einzelne Websites nutzen ihn sogar zur Berechnung potenzieller „Matches“, um „finanziell kompatible“ Partnerinnen und Partner zu finden.Footnote 19

Statusfeststellungen bleiben also vielfach nicht auf einen Sachbereich begrenzt, sondern wandern beinahe mühelos über in andere Sphären. In dieser Hinsicht besonders weitreichend (und zugleich alarmierend) sind die oben beschriebenen Versuche, aus allen über einzelne Personen verfügbaren Daten einen Wertigkeitsscore zu erstellen, der die unterschiedlichen Rollen als Konsument, Bürger, Freizeitsportler oder Arbeitnehmer zusammenfügt und oftmals mit übergreifenden Governance-Projekten verbunden wird (Gapski und Packard 2021). Eine chinesische Gesellschaft, die ein umfassendes und in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen wirksames vertikales Statussystem nach dem Social Credit Score etabliert, wäre jedenfalls von einem Modell gesellschaftlicher Differenzierung mit jeweils eigenen subsystemspezifischen Leitunterscheidungen weit entfernt.

All diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich mit dem Voranschreiten von Scorings eine neue Art der statusbezogenen Klassifizierung herausbildet, welche vorhergehende Status- und Reputationsformen zwar nicht ablöst, aber doch mindestens überlagert oder anders akzentuiert. Dabei ist jedoch eine gewisse Skepsis erlaubt, ob der Informations- und Transparenzgewinn durch Scorings zu einer objektiveren Form der Statuszuweisung führen kann. Einige Elemente wie beispielsweise die Standardisierung und die Schaffung von Infrastrukturen der Kommensurabilität sprechen zwar dafür (und gegebenenfalls für eine Meritokratisierung), andererseits zeigen sich Tendenzen der Statusverfestigung, der Entgrenzung und der Entdifferenzierung. Scores als Informationsspeicher können leicht ihren ursprünglichen Erhebungs- und Verwendungskontext verlassen und in immer weitere klassifikatorische Kontexte eingebaut werden (wie eben beim Kreditscoring). Als Statusanzeiger können sie Individuen markieren und in immer neuen Kontexten Lebens- und Marktchancen determinieren, was der Tendenz nach zur Entstehung kontextübergreifender Hierarchiebildung führen könnte. Dabei gilt: Je transparenter die Scores sind, desto umfänglicher ihre sozialstrukturellen Wirkungen, denn es wird eine allseits nutzbare Sichtbarkeitsordnung kreiert. Da viele (nicht alle!) Berechnungsvorschriften und Dateninputs von Scores aber opak und zum Teil Geschäftsgeheimnisse bleiben, verbleibt die Frage, wie ein Score (und damit Status) erzeugt wird, oftmals auf der Hinterbühne – selbst wenn auf der Vorderbühne das Statusspiel schon längst begonnen hat.

6 Gesellschaftstheoretische Seitenblicke

Eine ungleichheitssoziologische Perspektive auf Scores, die nach der Genese, Dynamik und Reproduktion sozialer Statuspositionen fragt, lässt sich anhand der Bezugnahme auf zwei jüngere Theorieangebote schärfen. Beide nehmen sich mit jeweils unterschiedlichen theoretischen Werkzeugen der Frage der Quantifizierung bzw. der Digitalisierung an, d. h. sie gehen mit verschiedenen theoretischen Prämissen an ähnliche Phänomene heran. Dies sind Die Gesellschaft der Singularitäten (2017) von Andreas Reckwitz und Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft (2019) von Armin Nassehi. Unabhängig von der Prominenz dieser beiden Ansätze lässt sich an ihnen veranschaulichen, was das Spezifikum einer ungleichheitssoziologischen Perspektivierung von Scorings sein kann und warum diese sowohl in der soziologischen Praxistheorie wie der Differenzierungstheorie nicht vorkommen.

6.1 Singularisierung

Das Buch Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz (2017) stellt einen ambitionierten Versuch der analytischen Durchdringung der Spätmoderne dar. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Fragen des Subjektverständnisses und des soziokulturellen Wandels: Reckwitz arbeitet zwar die gesellschaftlichen Prozesse, die den sozialen Wandel antreiben, präzise heraus, aber sein Fluchtpunkt bleibt letztlich das Streben, Hoffen und Wollen der Subjekte, das in bestimmten Kulturäußerungen seinen Ausdruck findet. Zusammengehalten wird die Analyse von der These des Umschlagens der „Logik des Allgemeinen“ hin zur „Logik des Besonderen“ – der „Singularisierung“. Ungleichheit wird hier sowohl sozialstrukturell wie auch kulturalistisch gedacht und findet ihren Ausdruck in Form von kultureller Geltung, Attraktivität und Einzigartigkeit – wobei den kulturell hegemonialen neuen Mittelschichten eine besondere Rolle zufällt. Singularisierung wird als zentrales Motiv subjektiver Orientierungen angenommen, der „Maßstab der Besonderung“ (ebd., S. 9) sei subjektiver Wunsch und gesellschaftliche Erwartung zugleich geworden. Eine singularistische Lebensführung umfasst in diesem Sinne mehr als „investive Statusarbeit“, nämlich gleichzeitig performative Selbstverwirklichung, die sich mit Hilfe von kulturellen Praktiken entfaltet.

Reckwitz wirft selbst die Frage auf, wieso quantitative Techniken, Kommunikationsmedien und datenbasierte Valorisierungsformen auf dem Vormarsch sind, wenn es in der Spätmoderne doch um „sozialkulturell fabrizierte Einzigartigkeit“ gehe – die „Nichtverallgemeinerbarkeit, Nichtaustauschbarkeit und Nichtvergleichbarkeit“ (ebd., S. 51) bedinge und sich von der Scores und Metriken inhärenten Standardisierung abgrenzen müsse (ebd., S. 174 ff.). Wieso kommt es unter diesen Umständen zu massenhaften Quantifizierungen in Gesellschaft, Kultur und Ökonomie, und wie verhalten sich diese zur „Logik des Besonderen“? Konkreter: Wie kann die Verbreitung von Scores, die ja als Vergleichbarmacher verstanden werden können, mit dem Kult der Einzigartigkeit zusammengedacht werden? In seiner Antwort interpretiert Reckwitz beide Phänomene nicht als nebeneinanderlaufend und aufeinander bezogen, sondern versteht die Quantifizierung als Assistenzinfrastruktur der Singularisierung. Techniken der Quantifizierung seien allenfalls Formen der „Repräsentation des Besonderen“ (ebd., S. 175). Eine eigenständige Bedeutung käme ihnen nicht zu.

Wie repräsentieren Scorings und andere Quantifizierungen das Besondere? Aus Reckwitz’ Sicht lassen sie sich als „rationalistische Antwort auf das Problem des Vergleichens von Singularitäten verstehen“ (ebd.): Da auch Singularisten ein Interesse daran hätten, ihre Leistungen (und deren Einzigartigkeit) sichtbar zu machen, bedienten sie sich zusätzlich komparativer Verfahren der Kommensurabilisierung. Diese reduzierten zunächst die Komplexität ihrer Gegenstände und entkleideten sie ihrer Einzigartigkeit, um Vergleichbarkeit herzustellen, aber nur, um die Vergleichsresultate alsbald wieder in Attribute der Einzigartigkeit zu übersetzen.Footnote 20 Es komme, so Reckwitz, mit der Quantifizierung allenfalls zu einer temporären Suspension von Besonderheit, nicht aber zu ihrem Unterlaufen. Quantifizierende graduelle Differenzen würden interpretativ zu absoluten Differenzen umgemünzt – etwa bei der Vergabe von Michelin-Sternen, Misswahlen o. Ä. – und damit zu Prädikaten der Einzigartigkeit. Quantifizierende Rangbildungen hätten dann die Funktion der Sichtbarmachung von Unterschieden entlang bestimmter standardisierender Schemata, die aber wieder auf das Konto der Einzigartigkeit einzahlen.

Ich habe an anderer Stelle (Mau 2019) ausgeführt, dass dieser hegemoniale Status der Singularisierung samt einer vollständigen Absorption quantitativer Differenzbildung zum Zwecke der Singularisierung nicht überzeugend ist. Dass es Phänomene wie die genannten gibt, sei unbestritten, aber gleichzeitig ließen sich zahlreiche Beispiele auflisten, bei denen es keinerlei Einzahlungen quantitativer Statusdaten – beispielsweise von Scores – auf das Singularitätskonto gibt. Ich sehe nicht, wie ein Gesundheitsscore bei der Krankenversicherung, der Risikoscore bei der Vergabe eines Visums oder ein Kreditscore hier die avisierte Wirkung entfalten könnten – was auch damit zu tun hat, dass es sich in diesen Fällen nicht um die Bewertung kultureller Güter bzw. Ausdrucksformen handelt und dass viele dieser klassifikatorischen Beschreibungen nicht öffentlich sind. Hier dominiert die Umwandlung von qualitativen Unterschieden in quantitative Ungleichheiten. Der Michelin-Stern repräsentiert offensichtlich ein lediglich äußerst schmales Feld gesellschaftlicher Quantifizierungspraktiken, die sich singularistisch ausdeuten lassen.

Aus meiner Sicht sind Quantifizierung und Singularisierung zwei parallele, aufeinander bezogene Prozesse, die aber nicht ineinander aufgehen oder sich wechselseitig subsumieren lassen. Reckwitz blendet aus, dass quantifizierende Vermessungs- und Beschreibungsformen der Gesellschaft selbst auf die Subjekte zurückwirken: Weil Indikatoriken, Daten und Indizes Benennungsmacht ausüben und damit als Strukturgeber wirksam werden, wird das Soziale durch sie gewissermaßen formatiert. Mit der subjektorientierten und kulturalistischen Voreinstellung gerät dieses „doing generality“ auf der Ebene gesellschaftlich-infrastruktureller Datafizierung systematisch aus dem Blick. Man sieht nur noch die um „doing singularity“ bemühten Subjekte, nicht das, was sie konditioniert, nicht die Zwänge, die auf sie ausgeübt werden (Brubaker 2020; Grosser 2014).Footnote 21 Menschen richten sich nicht nur am Besonderen, sondern auch an Vergleichsoperationen aus, welche sie in den Modus der Standardisierung hineinbringen (Espeland und Stevens 1998). Nur das, was datenmäßig erfasst und sichtbar gemacht wird, „zählt“. Damit ist die „investive Statusarbeit“, die auch Andreas Reckwitz als konstitutiv für die Mittelklassen annimmt (2017, S. 303 f.), in ein Register des quantitativen Vergleichens und der „Arbeit an den Daten“ hineingestellt, welches die Möglichkeiten der Besonderung rahmt und begrenzt. Einerseits werden durch Scores oder andere Metrisierungen nur bestimmte Ausschnitte individueller Performanz oder sozialer und kultureller Charakteristika sichtbar gemacht (und andere invisibilisiert), andererseits sind Quantifizierungen und Valorisierungen eng verbunden. Die durch die Infrastrukturen der Quantifizierung hergestellten Formatierungen des Sozialen und ihre Effekte auf die Ordnungen der Ungleichheit bleiben im Zuge der praxistheoretischen Fokussierung auf die Subjekte unterbelichtet.

6.2 Differenzierung und Mustererkennung

Kommen wir zur systemtheoretischen Perspektivierung und zu deren möglichen Implikationen für die Ungleichheitsfrage. In seinem Buch Muster stellt Nassehi (2019) die These auf, dass die moderne Gesellschaft schon immer digital gewesen sei und man den Digitalisierungsbegriff daher vom Aufstieg der computerisierten Datenverarbeitung lösen müsse. Das Bezugsproblem der Digitalisierung sei ein Ordnungsproblem, und mit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft durch Daten gelänge es, die Gesellschaft in ihrer Regelmäßigkeit und ihren Mustern darzustellen. Schon vor der technologischen Digitalisierung sei die Mustererkennung ein zentrales Element des gesellschaftlichen Selbstbezugs und auch der Steuerungsfähigkeit gewesen.

Nassehis Zugriff ist inhaltlich gut begründet, allerdings unterscheiden sich die von ihm angeführten Beispiele nicht grundsätzlich von den Phänomenen, die andernorts unter dem Begriff der Quantifizierung verhandelt worden sind (Kula 1986; Porter 1996; Desrosières 1998): die Rolle statistischer Ämter, die frühen Sozialreformer mit ihren ersten Surveys, die empirische Sozialforschung insgesamt. Big Data, so Nassehi (2019, S. 316), „ist letztlich nur eine Vervollkommnung der quantitativen Erfassung und Vermessung der Gesellschaft, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte.“Footnote 22 Dieses Argument teile ich (siehe dazu Mau 2017), aber womöglich wird die Kontinuitätsthese überreizt, wenn mit der theoretischen Vorentscheidung, den Begriff der Digitalisierung so auszuweiten, dass man alle Formen der Mustererkennung moderner Gesellschaften darunter subsumieren kann, der in mancher Hinsicht qualitativ bedeutsame Unterschied zwischen digitaler Technologie und früheren Formen der quantitativen Sichtbarmachung der Welt verschwimmt.Footnote 23

Doch kommen wir zum Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Digitalisierung. In Muster geht Nassehi in systemtheoretischer Manier davon aus, dass die vormoderne Welt eine stratifizierte mit einem klaren Oben und Unten war. In der modernen Gesellschaft sei diese Logik dagegen aufgebrochen, da das primäre Differenzierungsschema an gesellschaftlichen Funktionen – oder Subsystemen – orientiert sei. Die differenzierungstheoretische Sicht auf die Ungleichheitsfrage erschöpft sich ja in der These, dass übergreifende stratifikatorische Lagerungsformen von einem Primat je eigener, nach Funktionssystemen aufgeteilter Kriterien der Statuszuweisung abgelöst worden seien: Schichtung sei allenfalls ein Nebenprodukt des Operierens von Funktionssystemen.Footnote 24 Demnach hätten wir es nicht mehr mit „hierarchisch geordneten Schichten, sondern sachorientierte[n] Funktionen wie Politik, Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Medien, Medizin, Erziehung/Bildung und andere[n]“ (ebd., S. 41) zu tun. Die „Platzierung von Personen“ folge keinem übergreifenden Prinzip mehr, die Statuszuweisung erfolge nach bereichsspezifischen Logiken. Klassifikationssysteme, Bewertungsformen oder Indikatoriken seien daher auch nicht im Sinne eines hierarchischen Schichtmodells zu verstehen, sondern operierten innerhalb der Grenzen der ausdifferenzierten Funktionssysteme. Die technologische Digitalisierung biete zwar die Möglichkeit neuer Kommensurabilitäten und vielfältiger neuer Kombinationen, diese würden aber eher der „Radikalität der funktionalen Differenzierung mit ihren Grundcodierungen“ (ebd., S. 324) in die Hand spielen denn diese aufheben. Daten hebeln also die funktionale Differenzierung nicht aus, sie werden vielmehr jeweils spezifischen Verarbeitungsregeln unterworfen (ebd., S. 136).

Im Lichte meiner obigen Ausführungen zu Kopplungen, Übertragungen und Entdifferenzierung durch (Super‑)Scores lässt sich hinter solche Aussagen zumindest ein Fragezeichen setzen. Wenn Zahlen, wie oben beschrieben, „reisen können“ – weil sich mit der Informationsspeicherung über Zahlen neue Möglichkeiten der Dekontextualisierung und des Weiterreichens ergeben –, dann ist dies auch über Subsystemgrenzen hinweg denkbar, soweit sich Informationscodierungen als prozessierbar erweisen. Diese entgrenzende Kraft von Daten (hier: Scores) macht es möglich, dass zwischen den Funktionssystemen Statussignale ausgetauscht werden und sich übergreifende stratifikatorische Zuweisungsmodi ausbilden. Dabei wäre empirisch zu bestimmen, inwieweit die Differenzierungslogik die Ungleichheitslogik dominiert und nachrangig macht oder ob sich nicht doch eine (partielle) subsystemübergreifende soziale Stratifizierung in dem Sinne herausschält, dass der Status in einem Funktionssystem über dieses hinausreicht oder neue Formen der Supercodierung entstehen. Im letztgenannten Fall ließen sich die Beziehungen zwischen Individuen und gesellschaftlichen Teilsystemen nicht mehr auf subsystemspezifische Inklusionsprofile beschränken. Möglicherweise bildet sich sogar ein querliegendes Stratifikationsmuster aus, dessen Rückwirkungen auf die funktionale Differenzierung Systemtheoretikern eine interessante Hausaufgabe aufgeben sollten.

Beide Ansätze habe ich aufgegriffen, weil sie einerseits großes analytisches Anregungspotenzial besitzen, andererseits aber von ihren jeweiligen Theoriehochsitzen, von denen aus sie auf das Phänomen der Quantifizierung schauen – der eine vom praxeologischen, der andere vom differenzierungstheoretischen Standpunkt –, die Ungleichheitsfrage an den Rand drängen. Die durch Quantifizierungen hervorgerufenen Statuseffekte werden nur unvollständig eingefangen, wenn Reckwitz Quantifizierung als Assistenzform der Singularisierung versteht und Nassehi die operative Logik von Quantifizierungen dem Differenzierungsparadigma unterordnet. Mit den vorstehenden Ausführungen zur Logik und Verwendungsweise von Scores sollte deutlich geworden sein, dass diese ein neuartiges System der Stratifizierung darstellen (können), welches die genannten Theorieansätze vor erhebliche Herausforderungen stellt.

7 Fazit

Ausgangspunkt dieses Aufsatzes war die Allverfügbarkeit von Daten in immer mehr Bereichen des sozialen Lebens, die es mit sich bringt, dass sich die Zuweisung von und die Kommunikation über Status immer stärker auf messbare bzw. quantifizierbare Aspekte bezieht. Ausgehend von dieser Beobachtung hat sich der Aufsatz mit der Erarbeitung einer theoretisch-konzeptionellen Perspektive für eine Ungleichheitssoziologie des Scorings beschäftigt.

Scores markieren Differenzen, weisen Status zu bzw. zeigen ihn an und erzeugen Hierarchien. Oftmals werden sie auf der Basis von in digitalisierter Form vorliegenden oder sogar zum Zwecke der Scorebildung erhobenen Daten und mit Hilfe algorithmischer Entscheidungsarchitekturen berechnet. Scores lassen sich dabei als Informationsspeicher verstehen, die zur Bewertung von Individuen und zur Verhaltenssteuerung und –prognose eingesetzt und auf deren Grundlage Marktchancen, Mittel, Aufmerksamkeit etc. verteilt werden. Der Zahlenwert des Scores drückt dabei eine spezifische Wertigkeit eines Bewertungsobjekts aus (z. B. Marktwert, Vertrauenswürdigkeit, Performanz, Arbeitspensum).

Ich habe argumentiert, dass sich Statuszuweisung durch Scores nicht notwendigerweise rationalisiert und meritokratisiert, sondern dass wir im Fall von öffentlichen Scores zugleich Aufschaukel- und Chancenhortungsprozesse, Formen digitaler Exklusion sowie eine Dynamisierung des Statusgeschehens vorfinden können. Zudem ist davon auszugehen, dass die „digitale Statusarbeit“ vor allem eine Domäne der Mittelschicht ist, weil diese zum kulturell und sozialstrukturell ausgeprägten Modus der investiven Lebensführung passt. Der Wettbewerb um die richtigen Zahlen berührt demgemäß diejenigen mit schlechten oder niedrigen Scores vergleichsweise weniger – weil sie weniger erhoffen oder erwarten dürfen. Auch droht die Gefahr der Verfestigung eines benachteiligten Status oder sogar der Exklusion durch „digitale Narben“ im Sinne einer Negativklassifikation. Andererseits ist denkbar, dass in spezifischen Bereichen auch die Angehörigen unterer Schichten in der digitalen Statusarbeit „punkten“ können und „Leistungen“ oder Qualitäten sichtbar gemacht werden, die man gewöhnlich übersieht (z. B. eine starke sportliche Performanz oder ein niedriger ökologischer Fußabdruck).

Ein für die Frage der Ungleichheit wichtiger und bislang erst selten thematisierter Aspekt ist das Verhältnis gesellschaftlicher Differenzierung und übergreifender Stratifizierung. Die Vorstellung der Aufhebung einer stratifikatorischen Statusordnung zugunsten von funktionaler Differenzierung mit spezialisierten Teilsystemen ist Kern der Vorstellung moderner Gesellschaften. Durch die Quantifizierung allgemein, aber auch durch die Verbreitung von Scores im Besonderen kommt es dagegen, wie gezeigt, zu einem Unterlaufen oder Überbrücken von bereichs- oder subsystemspezifischen Leitunterscheidungen, in einigen Fällen sogar zur Kopplung oder zur Bildung von „Superscores“. Es wäre überzogen, hier gleich einer Entdifferenzierung das Wort zu reden, weil die operativen Logiken die durch Scores vermittelten Informationen in die eigenen Codierungen einspeisen können; aber man könnte schon von einer „fragmentalen Differenzierung“ (Passoth und Rammert 2016) sprechen. Angesichts dieser Beobachtungen könnte es lohnenswert sein, die bislang strikte Trennung zwischen dem Differenzierungsparadigma und dem Ungleichheitsparadigma kritisch zu hinterfragen (Schwinn 2018). Für die Singularisierungsthese wäre hingegen zu prüfen, inwieweit sich aus der Verfügbarkeit von und dem Umgang mit Scores nicht nur Einzigartigkeitserträge ergeben, sondern auch Normierungen, die die Individuen in ihren Stilisierungsmöglichkeiten beschränken und sie dann doch wieder an die „Logik des Allgemeinen“ binden. Ungleichheitssoziologisch ginge es um Fragen der doppelten Verschränkung von Statusarbeit in die Richtungen „qualitative Andersheit“ und „quantitative Vergleichbarkeit“.

Orientiert sich eine Gesellschaft an metrischen Werten, um darüber Status zu verteilen, entstehen neue Ordnungen, die im Sinne eines Statussystems verstanden werden können. Noch ist nicht ausgemacht, welche Gestalt die Scoringgesellschaft annehmen wird. Doch es gibt Gründe anzunehmen, dass das Regime der Zahlen noch längst nicht ausgereizt ist – tun sich doch mit dem Voranschreiten der Digitalisierung immer neue Möglichkeiten auf, Scores zur Ermittlung und Anzeige von Wertigkeit einzusetzen.