1 Einleitung

Wohl kaum ein Ereignis beleuchtet so schlaglichtartig die vielschichtige Problematik gesellschaftlicher Solidarität wie die Fluchtmigration der vergangenen Jahre. Die Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, die zu Beginn der Flüchtlingskrise ganz Deutschland erfasst hatte und die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland nachhaltig positiv geprägt hat, ist deutlich abgeflaut. Trotz der nach wie vor zahlreichen zivilgesellschaftlichen Flüchtlingsinitiativen und ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland mittlerweile seine Rolle als Zuwanderungsland akzeptiert und seine Migrationspolitik auf diese Bedingungen einstellt, ist in weiten Teilen der Bevölkerung große Zurückhaltung zu spüren. An die Stelle der „Willkommenskultur“ ist ein Gefühl von Verunsicherung und ökonomischer wie kultureller Überforderung getreten.Footnote 1 Diese ambivalente bis ablehnende Haltung ist keineswegs auf nationalistisch-populistische Strömungen in der Gesellschaft beschränkt. Auch die politische Linke musste erkennen, dass sozialstaatlich vermittelte Solidarität auf politischen Grenzziehungen beruht und sieht sich unvermittelt mit einem „progressiven Dilemma“Footnote 2 zwischen Solidarität und Diversität konfrontiert (Kymlicka 2015), auf das sie bislang keine schlüssige Antwort geben kann.

Die Migration stellt nicht nur die Einzelstaaten, sondern auch die internationale Staatengemeinschaft vor Herausforderungen. Obwohl die Solidarität als eine „Europäische Idee“ gilt (Stjernö 2004) und sich die Mitgliedsstaaten der EU in ihren Verträgen explizit zu ihr bekennen, stellt eine belastungsgerechte Verteilung von Migrantinnen und Migranten die Europäische Union vor eine Zerreißprobe. Die Vision einer „ever closer union“ wird von längst überwunden geglaubten Nationalismen verdrängt.

Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass die Bereitschaft zur Fremdhilfe in anderen Bereichen ganz selbstverständlich ist. Der französische Philosoph und Essayist André Comte-Sponville berichtet über folgende persönliche Erfahrung: „Man hat mein Auto auf dem Parkplatz zu Schrott gefahren. Was, glauben Sie, ist passiert? Zehntausende braver Leute haben zusammengelegt, um mir ein neues zu kaufen! Sie sind sogar um 1000 Euro über den Listenpreis hinausgegangen! Wie großzügig!“ (Comte-Sponville 2014) Man sollte hinzufügen, dass es sich dabei nicht um eine einmalige Aktion spontaner Hilfsbereitschaft handelt; vielmehr können sich alle Menschen in der gleichen Situation darauf verlassen, die erforderliche Fremdhilfe in gleicher Weise zu erhalten. Wäre es nicht ein gesellschaftlicher Fortschritt, wenn wir auch in anderen Fällen über einen ähnlichen Mechanismus verfügen würden, der in sozialen Problemlagen dauerhaft und zuverlässig arbeitet?

Allerdings haben die Motive der Handelnden im oben geschilderten Fall wenig mit der eleutheiotes, der Tugend der Großzügigkeit, zu tun. Was Comte-Sponville beschreibt, ist vielmehr das Grundprinzip einer privatwirtschaftlichen Versicherung auf Gegenseitigkeit. Die Hilfeleistungen im Schadensfall sind nicht das Ergebnis spontaner Solidarität, sondern erfolgen auf der Grundlage vorab festgelegter versicherungsrechtlicher Tatbestände. Und sie setzen zunächst eine entsprechende Vorleistung des Hilfeempfängers in Form von Versicherungsprämien voraus. Sie sind also nicht Ausdruck einer altruistischen Gesinnung oder prosozialer Präferenzen, sondern das Ergebnis freiwilliger Kooperation zum gegenseitigen Vorteil und dabei das Resultat eines Marktprozesses.

Diese Komplementarität von Marktwirtschaft und Solidarität klingt zunächst kontraintuitiv, und nur die Wenigsten würden das freie Spiel der Marktkräfte mit der Idee der Solidarität in Verbindung bringen. Eher ist das Gegenteil der Fall: Markt und Wettbewerb gelten gemeinhin als Institutionen, in denen egoistische Interessen und opportunistisches Verhalten dominieren und die die Bereitschaft zur Hilfestellung und das gegenseitige Vertrauen untergraben. In der Marktökonomie haben Fairness, Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft – eben das, was gemeinhin unter „Solidarität“ verstanden wird – keinen Platz. Die verschiedenen Spielarten einer „solidarischen Wirtschaft“ verstehen sich deshalb auch immer in bewusster Abgrenzung zum Konkurrenzprinzip. An die Stelle gewinnmaximierender Unternehmen treten hier selbstverwaltete Kooperativen, Selbsthilfe‑, Non-Profit- und Fair-Trade-Organisationen. Solidarität gilt als Gegenentwurf zur Marktwirtschaft, als Teil einer „Politik gegen Märkte“.Footnote 3

Diesem intuitiv plausiblen Antagonismus von Markt und Solidarität stehen in der Sozialwissenschaft und in der Wirtschaftsethik jene Ansätze gegenüber, welche dem Markt zumindest eine sozial integrative, teilweise sogar eine intrinsisch solidarische Qualität zusprechen. Die integrierende Funktion gesellschaftlicher Arbeitsteilung wird bei Hirschman im Zusammenhang mit der Vorstellung eines „doux commerce“, bei Simmel in der These zur Vergesellschaftung durch Konkurrenz und natürlich in Durkheims Konzept der „organischen Solidarität“ thematisiert (vgl. Hirschman 1989, S. 192–225; Simmel 1992; Durkheim 2007 [1893]). Eine deutliche Zuspitzung erfährt diese Idee im wirtschaftsethischen Programm der „ökonomischen Ethik“.Footnote 4 Für den Wirtschaftsethiker Karl Homann ist der Markt – unabhängig von seiner konkreten Ausformung – „das bisher bekannteste Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen“ (Homann und Blome-Drees 1992, S. 49) und der „Wettbewerb solidarischer als Teilen“ (Homann 2014, S. 4). Ingo Pies sieht im Markt das „funktionale Äquivalent“ komplexer Großgesellschaften zur „Helfermoral“ des sozialen Nahbereichs (Pies 2015).

Beide Positionen – die Fundamentalkritik an den sozial desintegrativen Wirkungen des Marktes ebenso wie die moralische Apologetik marktwirtschaftlicher Prozesse – greifen inhaltlich zu kurz. Sie formulieren theoretisch unhaltbare Extrempositionen, die einer inhaltlichen Klärung von Solidarität unter den Bedingungen funktional ausdifferenzierter Gesellschaften eher im Wege stehen und damit auch keinen praktisch relevanten Beitrag zur solidarischen Ausgestaltung moderner Gesellschaften liefern. Die Fundamentalkritik am Markt – und damit an einem zentralen Organisationsprinzip der Moderne – verkennt die integrative Funktion und das solidarische Potenzial ökonomischer Interaktionen. Durch den Markt werden Menschen wirtschaftlich in die Gesellschaft eingebunden, und diese Einbindung ist eine notwendige Voraussetzung für Solidarität (Bude 2009; Luhmann 2016). In seinem vielbeachteten Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) betont Papst Franziskus die herausragende Bedeutung wirtschaftlicher Inklusion für die moralische Qualität einer Gesellschaft, wenn er zum Phänomen der sozialen Exklusion schreibt: „Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘.“ (ebd., § 53) Exklusion wiegt moralisch schwerer als Ausbeutung: Dem Ausgebeuteten werden Teile seines produktiven Beitrags vorenthalten, dem Exkludierten wird eine Beteiligung an der gesellschaftlichen Wertschöpfung grundsätzlich verweigert.

Die gesellschaftliche Bedeutung sozialer Inklusion über marktwirtschaftliche Interaktionen zeigt sich sowohl auf der individuellen wie auf der makroökonomischen Ebene. Für den Einzelnen ist die Erwerbstätigkeit nicht nur Quelle von Arbeitseinkommen. Sie schafft soziale Kontakte und erhöht in einer Erwerbsgesellschaft, die einen geringen Grad an Dekommodifizierung aufweist und zumindest normativ auf dem meritokratischen Prinzip beruht, eine positive Selbst- und Fremdwahrnehmung.Footnote 5 Aus diesem Grund ist etwa die Integration von Migrantinnen und Migranten in den heimischen Arbeitsmarkt eine Kernaufgabe einer erfolgreichen Integrationspolitik. Makroökonomisch ist es ein stilisiertes Faktum der empirischen Globalisierungsforschung, dass Staaten, welche sich dem internationalen Handel und der Arbeitsteilung öffnen, eine dynamischere wirtschaftliche Entwicklung aufweisen als Staaten, die sich dieser internationalen Arbeitsteilung entziehen (Edwards 1998). Die wirtschaftliche Globalisierung ist – zumindest auf aggregierter Ebene – ein Prozess der gegenseitigen ökonomischen Besserstellung.

Aus dieser grundsätzlich inklusiven Funktion des Marktes lässt sich jedoch noch nicht schließen, dass jede Form ökonomischer Kooperation bereits als solidarisch zu charakterisieren wäre. Soziale Inklusion ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für Solidarität. Die Gleichsetzung von sozialer Inklusion mit Solidarität ist der zentrale methodische Fehler der ökonomischen Ethik. Die ökonomische Ethik versteht unter Solidarität die durch kooperative Interaktion erfolgte Besserstellung gegenüber einem als gegeben unterstellten und moralisch indifferenten Ausgangszustand. Aus analytischer Sicht sind damit mehrere Probleme verbunden. Zum einen wird Solidarität inhaltlich mit ökonomischer Effizienz im Sinne von Pareto-Optimalität gleichgesetzt, zum anderen wird dem Markt grundsätzlich allokative Effizienz attestiert. Das ist aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen ist der Markt nicht intrinsisch effizient, wie die fast schon unüberschaubare Literatur zu Marktmacht, asymmetrischer Informationsverteilung, externen Effekten und öffentlichen Gütern zeigt. Zum anderen impliziert ökonomische Effizienz für sich genommen noch keine gesellschaftlich erwünschte Situation, da sie die Verteilungsfrage vollständig ausklammert: „In short, a society or an economy can be Pareto-optimal and still be perfectly disgusting“ (Sen 1970, S. 22). Ohne eine genauere Analyse der strukturellen Bedingungen gesellschaftlicher Interaktion und deren Auswirkungen auf das Verhandlungsergebnis bleibt die moralische Qualität der Integration über freie Märkte offen. Ohne eine nähere Bestimmung der Partizipationsbedingungen und der Machtverhältnisse auf den Märkten ist die Integration über Märkte zunächst nur „Inklusion ohne Solidarität“ (Kymlicka 2015, S. 7). Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen soll deshalb die Frage stehen, unter welchen strukturellen Voraussetzungen die Ergebnisse des Marktes als solidarisch klassifiziert werden können. Dazu wird Solidarität in einem strukturethischen Sinn als ein System von Normen und Institutionen gefasst, „which enable a community composed of free and equal individuals to establish and achieve collective goals“ (Frega 2019, S. 3). Der hier verwendete Solidaritätsbegriff versteht sich somit als ein sozialethisches Konzept, welches Solidarität als kooperative Interaktion unter den Bedingungen von Freiheit und Gleichheit begreift. Es geht also um die Frage, wie sich die wirtschaftliche Integration über Märkte in ein politisches Konzept von Solidarität einfügt.

2 Was ist Solidarität?

Im Unterschied zu Freiheit und Gerechtigkeit ist die Solidarität kein „genuiner Begriff der Moralphilosophie“ (Derpmann 2013). Sein analytischer Gehalt ist ebenso umstritten wie sein moralischer Status, der zwischen ontischem Faktum („solidarité de fait“) und ethischem Postulat („solidarité de devoir“) variiert.Footnote 6 Die Idee der Solidarität entstammt politischen und sozialen Bewegungen und wurde erst später durch die Arbeit Émile Durkheims zur sozialen Arbeitsteilung mit seiner nach wie vor relevanten Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität in die Sozialwissenschaft eingeführt (Durkheim 2007 [1893]). Üblicherweise wird unter Solidarität die Bereitschaft zur Übernahme von gegenseitiger Verantwortung verstanden, welche aus bestimmten Gemeinsamkeiten der Akteure resultiert. Die grundlegende Form mechanischer Solidarität rekurriert auf die gemeinsame Herkunft in einer Familie oder Sippe und lässt sich soziobiologisch über das evolutionstheoretische Modell der Gruppenselektion begründenFootnote 7 (Nowak und Sigmund 2005). Diese Form von Solidarität ist inkludierend im Innen- und exkludierend im Außenverhältnis. Sie ist auf überschaubare soziale Gemeinschaften beschränkt, in welchen unsolidarisches Verhalten direkt beobachtet und entsprechend bestraft werden kann. Das für moderne Großgesellschaften konstitutive Problem der nichtintendierten Folgen intentionalen Handelns existiert auf dieser Ebene noch ebenso wenig wie eine die Außengrenzen der Gemeinschaft überschreitende Solidarität. Die Integration von Fremden kann nur durch deren Inklusion in das eigene System erfolgen. Komplexere, die Grenzen der eigenen (biologischen) Abstammungsgemeinschaft überschreitende Formen gesellschaftlicher Solidarität resultieren erst aus gemeinsamen Auffassungen und Werthaltungen. Diese wertgebundene Form der Gesinnungssolidarität bezieht sich damit immer auf ein Konstrukt kollektiver Identität und eine positive Selbstdistinktion gegenüber der „outgroup“; Jodi Dean spricht in diesem Zusammenhang vom „‚WE‘ of Identity Politics“ (Dean 1996, S. 1–11). Konstitutiv für wertgebundene Solidarität ist die Gleichheit. Gesinnungssolidarität besteht zwischen Personen, welche sich gegenseitig hinsichtlich des solidaritätsstiftenden Merkmals als gleichwertig betrachten. Insofern ist die Gesinnungssolidarität keine vormoderne Erscheinung, sondern hat auch in modernen Gesellschaften ihren Platz. Sie ist insbesondere für gesellschaftliche Minderheiten von Bedeutung, wie bspw. die Arbeiten von Cornel West zur Selbstwahrnehmung von Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten zeigen (West 2009).

Damit wird gleichzeitig der moralisch prekäre Status (national-)staatlich vermittelter politischer Solidarität angezeigt. Denn eine bloße Übertragung wertgebundener Gesinnungssolidarität von der Ebene freiwilliger Assoziationen auf die Ebene des Nationalstaats setzt die Annahme einer nationalen IdentitätFootnote 8 voraus, die der Realität moderner Gesellschaften nicht gerecht wird. Sie blendet die Dynamik und historische Variabilität moderner Staatlichkeit aus, verwischt die Grenzen zwischen Staatsbürger und Volksgruppe und negiert die fundamentalen Differenzen und Auffassungsunterschiede zwischen den Mitgliedern eines Staatengebildes, welche gerade den Wesenskern eines liberalen Gemeinwesens ausmachen. Letztlich wird dadurch die für die Moderne konstitutive Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ideologisch aufgehoben. Deshalb ist dem Verfassungsrecht in seiner liberal-rechtsstaatlichen Ausprägung der Begriff der Solidarität auch zunächst unbekannt,Footnote 9 was die Verfassungsdogmatik bei der Verortung des Sozialstaatsprinzips vor nicht unerhebliche Probleme stellt. Ihre theoretische Fundierung erhält diese Verfassungsnorm weniger aus der Rechtsdogmatik als vielmehr aus ihren rechtspolitischen Zielsetzungen. Besondere Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedern des jeweiligen Einzelstaats finden ihre moralische Legitimation nach Gewirth (1996) in der subsidiären Struktur moderner Staatlichkeit und dem Argument der moralischen Arbeitsteilung (vgl. auch Hirohide 2006). Danach lassen sich sozialpolitische Aufgaben in einer einzelstaatlichen Ordnung effektiver erreichen, da sich die Präferenzen der Bürger hinsichtlich Niveau und Struktur des Sozialstaats unterscheiden. Darüber hinaus sind die Bürger des jeweiligen Staats auch zur Finanzierung der durch diesen Staat erbrachten Sozialleistungen verpflichtet, wodurch sich wiederum besondere reziproke Verpflichtungen innerhalb des Staates ergeben. Dieses Argument der moralischen Arbeitsteilung lässt sich jedoch nur auf funktionsfähige Staatsgebilde sinnvoll anwenden. Sofern ein Staat nicht in der Lage ist, seinen Bürgern die elementaren Abwehr- und Anspruchsrechte zu garantieren, oder wenn diese Rechte sogar durch den Staat selbst gefährdet sind, verliert dieser Staat seine moralische Legitimation. Und damit ist auch das Argument der moralischen Arbeitsteilung hinfällig. In diesen Fällen werden solidarische Verpflichtungen global, und die Staatengemeinschaft ist zur solidarischen Durchsetzung elementarer Menschenrechte verpflichtet (Eaton 2011).

Vollständig inklusiven Charakter entfaltet der Solidaritätsbegriff jedoch erst, wenn man Solidarität nicht ausschließlich aus einer gemeinsamen Gesinnung, sondern zusätzlich über die Verfolgung gemeinsamer Interessen ableitet. Erst durch die Idee der kooperativen Interaktion bleibt Solidarität nicht mehr regional oder sozial eingeschränkt, sondern wird grundsätzlich adressatenunspezifisch und damit gesellschaftlich offen (zur Unterscheidung zweier Arten von Solidarität und ihrem Verhältnis vgl. a. Schnabel in diesem Band).

3 Synergetische und antagonistische Kooperation

Menschen interagieren kooperativ, um gemeinsam Ziele zu erreichen, die sie alleine nicht oder nur in einem geringeren Maße verwirklichen könnten. Sofern die Interessen der an der Kooperation Beteiligten gleichgerichtet sind, ist im Folgenden von synergetischer Kooperation die Rede. Die synergetische Kooperationsgemeinschaft kann geradezu als der Idealtyp sozialer Kooperation jenseits biologisch begründeter Gemeinschaftsbeziehungen gelten. Ihre Bedeutung für die menschliche Entwicklung lässt sich gar nicht hoch genug einstufen. Erst die synergetische Kooperation ermöglicht es dem Menschen, seine Umwelt gemäß seinen Bedürfnissen zu gestalten und in einer primär lebensfeindlichen Umwelt zu existieren. Der evolutorische Erfolg der Spezies Mensch, die neolithische Revolution und die anschließende kulturelle Entwicklung der Menschheit wären ohne die Fähigkeit zur gruppenübergreifenden Kooperation nicht denkbar (Bowles und Gintis 2013). Durch synergetische Kooperation wurden bereits frühzeitig in der Menschheitsgeschichte lokal öffentliche Güter erstellt und Probleme der Bewirtschaftung von Allmendegütern gelöst (Ostrom 2015; Poteete et al. 2010). Die Qanat-Wassergewinnung in Persien und die Stauanlagen in Ma’rib etwa zeugen noch heute von der überragenden Bedeutung der Kooperation als Verfahren zur Lösung des Knappheitsproblems.

Soziale Organisation über synergetische Kooperationsgemeinschaften ist nicht einfach ein Phänomen der Vormoderne, sondern auch ein gängiges Organisationsprinzip funktional ausdifferenzierter Gesellschaften. Das Beispiel eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit wurde bereits einleitend erwähnt. Aber im Prinzip lässt sich aus meso-soziologischer Perspektive jede Organisationseinheit unterhalb der Wettbewerbsebene – also auch jedes privatwirtschaftliche Unternehmen – als synergetische Kooperationsgemeinschaft verstehen.Footnote 10 Unternehmen treten hier als kollektive Akteure auf, die Ressourcen für die Verfolgung eines bestimmten Ziels einsetzen und auch für die Folgen ihrer Handlungen verantwortlich gemacht werden können (Luhmann 1991; Vanberg 1995).Footnote 11

Die Trennlinie zwischen Kooperation und Konkurrenz ist dabei durchaus variabel. So lassen sich innerhalb von Organisationen kompetitive Verfahren implementieren, während andererseits konkurrierende Organisationen in bestimmten Bereichen miteinander kooperieren.Footnote 12 Vor allem aber verstellt eine meso-soziologische Perspektive auf das Unternehmen den Blick für die unterschiedlichen Interessen der Akteure innerhalb der jeweiligen Organisation. Wie die umfangreiche Literatur zu den Problemen der Corporate Governance und der Principal-Agent-Beziehungen zeigt, sind die Interessen zwischen den Mitgliedern der Organisationseinheit in aller Regel nicht synergetisch, sondern entgegengesetzt, also antagonistisch (Sappington 1991, Shleifer und Vishny 1997, Laffont und Martimort 2002). Im Fall der antagonistischen Kooperation existiert eine nur schwer auflösbare Ambivalenz der Akteursinteressen. Antagonistisch kooperierende Akteure verbindet ein gemeinsames Interesse an der Maximierung der aggregierten Kooperationsrendite; dieses gemeinsame Interesse stellt die Motivation für die Kooperation dar. Gleichzeitig haben alle Beteiligten aber einen Anreiz, einen möglichst hohen Anteil der Kooperationsrendite für sich zu vereinnahmen. Diese Vereinnahmung findet ihre Grenze zwar dort, wo ein Kooperationspartner leer ausgeht oder sich sogar schlechter als im Fall der Nichtkooperation stellen würde; die „Superadditivität“ von Koalitionen bleibt eine notwendige Bedingung für die Kooperation. Aber dennoch befinden sich die Akteure bei der Aufteilung des Kooperationsergebnisses letztlich in einem Konkurrenzverhältnis.

4 Kann antagonistische Kooperation solidarisch sein? Eine konzeptionelle Klärung

Trotz dieser inhärenten Ambivalenz der Akteursinteressen ist das Konzept der antagonistischen Kooperation für die soziale Inklusion und damit für den solidarischen Gehalt einer Gesellschaft zentral. Denn die antagonistische Kooperation führt heterogene Akteure zusammen; erst die Heterogenität in den produktiven Kapazitäten der Akteure lässt Kooperationsrenditen entstehen und bildet die Basis für kooperative Interaktionen. Versteht man Solidarität, wie oben vorgeschlagen, als Kooperation unter den Bedingungen von Freiheit und Gleichheit, so ist auch die antagonistische Kooperation solidarisch, sofern diese Interaktion freiwillig erfolgt und die Kooperationsrendite fair zwischen den Beteiligten aufgeteilt wird.

Die zentralen Bestimmungsfaktoren für die Lösung antagonistischer Kooperationsprobleme lassen sich modelltheoretisch im Rahmen der kooperativen Spieltheorie formulieren. Der wesentliche Unterschied zur nicht-kooperativen Spieltheorie besteht darin, dass die Akteure im kooperativen Fall in der Lage sind, gegenseitig bindende Verträge abzuschließen.Footnote 13 Durch die dadurch möglich gewordene Abstimmung des Verhaltens sind kollektiv schädliche Koordinationsfehler wie das ineffiziente Gleichgewicht beim Gefangenendilemma bereits modellimmanent ausgeschlossen. Das bedeutet nicht, dass gesellschaftliche Probleme einfach wegdefiniert werden. Im Gegenteil: Das normative Modell wird analytisch deutlich gehaltvoller. Denn die nicht-kooperative Spieltheorie beschränkt sich auf die Analyse der Existenz eines Gleichgewichts bei strategischen Interaktionen. Die Aufgabe der normativen Theorie besteht darin, Koordinationsmängel zu identifizieren und durch eine geeignete Rahmensetzung aufzulösen, also Kooperation unter rational-eigeninteressierten Akteuren zu ermöglichen. Eine Bewertung des Verteilungsergebnisses bei erfolgreicher Kooperation ist nicht Gegenstand dieses theoretischen Ansatzes. Für eine explizit normative Analyse von Verhandlungssituationen ist die kooperative Spieltheorie weit besser geeignet. Die Entstehung von Koalitionen wird bei positivem Kooperationsgewinn axiomatisch unterstellt; sofern die Möglichkeit zur gegenseitigen Besserstellung durch kooperatives Verhalten gegeben ist, werden sich rationale Akteure zu Kooperationsgemeinschaften zusammenschließen.

Das Ziel der kooperativen Spieltheorie liegt somit nicht in der Analyse der Existenzbedingungen sozialer Kooperation, sondern vielmehr darin, Aussagen über das Verteilungsergebnis in kooperativen Interaktionszusammenhängen zu formulieren. Hierfür hat sich insbesondere das verallgemeinerte Nash-Modell als analytisch gehaltvoll erwiesen. Harsanyi und SeltenFootnote 14 zeigen, dass kooperatives Verhalten rationaler Akteure ein Verteilungsergebnis generiert, welches das mit der individuellen Verhandlungsmacht gewichtete Produkt der individuellen Kooperationsgewinne maximiert. Damit wird die soziale Position der Kooperationspartner durch drei Faktoren determiniert: die Präferenzen der Akteure, den individuellen Reservationsnutzen sowie die jeweilige Verhandlungsmacht. Für die normative Evaluation des Verhandlungsergebnisses sind Unterschiede in den jeweiligen Präferenzen irrelevant (Althammer und Sommer 2019). Sofern Verteilungsunterschiede lediglich auf eine unterschiedliche Wertschätzung der Verhandlungspartner zurückzuführen sind, ist dies moralisch nicht zu beanstanden. Die Frage der Solidarität setzt bei den Strukturparametern der Verhandlung an, also beim Reservationsnutzen und bei der Verhandlungsmacht. Ein faires Kooperationsergebnis setzt voraus, dass die strukturellen Rahmenbedingungen der Verhandlung weitgehend symmetrisch sind. Als solidarische antagonistische Kooperation soll deshalb ein Verhandlungsergebnis bezeichnet werden, dessen Verteilung die Allokation bei symmetrischen Strukturparametern bestmöglich approximiert.

Diese Überlegungen sind von unmittelbarer praktischer Relevanz. Auf dem Arbeitsmarkt soll die Symmetrie der Verhandlungsmacht bspw. durch die Herstellung eines „ungefähren Gleichgewichts“ bzw. einer Parität zwischen den Tarifpartnern sichergestellt werden. Nochmals komplexer gestalten sich Interaktionen bei asymmetrischem Ausgangszustand. Hier wäre es zunächst die Aufgabe der Gesellschaft, die Startbedingungen der Akteure anzugleichen („level the playing field“, Roemer 1998). Sollte dies nicht oder nur zu unvertretbar hohen Kosten möglich sein, so impliziert eine solidarische Verhandlungslösung die (bestmögliche) Kompensation der ungleichen Startbedingungen. Die Asymmetrie in den Ausgangsbedingungen sollte eine gegenläufige Asymmetrie der Vertragskonditionen nach sich ziehen. Wir haben es also mit einem „Symmetrieproblem zweiter Ordnung“ zu tun.Footnote 15 Beispiele finden sich etwa im Bereich der internationalen Handelsbeziehungen. So lassen sich explizite Ausnahmen von der Meistbegünstigungsklausel durch Zollpräferenzen oder spezielle Wirtschaftspartnerschaftsabkommen als nachträgliche Kompensation asymmetrischer Startbedingungen interpretieren.

5 Von der transnationalen zur globalen Solidarität

Die Globalisierung stellt die Solidarität vor neue Herausforderungen, bietet aber auch neue Chancen zu solidarischem Handeln. Durch die Globalisierung wird erstmals die gesamte Menschheit zum Adressaten solidarischer Verpflichtungen. Die Rede von der „Solidarität der gesamten Menschheitsfamilie“ und der Verfolgung eines umfassenden „Weltgemeinwohls“ wird durch die Globalisierung einem empirischen Härtetest unterzogen. Allerdings sind unterschiedliche Formen der Solidarität in jeweils spezifischer Weise von der Globalisierung herausgefordert. Einen Gewinn bedeutet die Globalisierung für transnationale Initiativen, die auf Gesinnungssolidarität aufbauen. Durch den weltweiten Austausch von Informationen lassen sich die Aktivitäten von Interessensorganisationen und „pressure groups“ global vernetzen und lässt sich ihr politischer Einfluss verstärken. Wichtige soziale Bewegungen wie die Frauen-, die Friedens- oder die Anti-Atombewegung waren schon immer grenzüberschreitend aktiv. Die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die in den meisten Staaten der westlichen Welt innerhalb weniger Jahre erfolgte, wäre ohne diese grenzüberschreitende solidarische Kooperation von Interessengruppen nicht denkbar gewesen.

Auch für die Kooperation aus gemeinsamen Interessen bietet die Globalisierung neue Möglichkeiten. Multinational agierende Unternehmen und die zunehmende Globalisierung der Wertschöpfungsketten zeigen, welche Bedeutung die internationale Arbeitsteilung für die weltweite Wohlfahrtsproduktion mittlerweile hat. Dieser Globalisierung im Produktionssektor müsste jedoch auch eine Globalisierung der Arbeitnehmerinteressen folgen, um Parität in den Aushandlungen der Arbeitsbedingungen sicherzustellen.

Die eigentliche moralische Herausforderung der Globalisierung betrifft somit die Problematik der politischen Verantwortlichkeit für die Organisation von Solidarität. Die Frage, ob Inhalt oder Stärke moralischer Verpflichtungen an nationalstaatliche Grenzen gebunden sind, durchzieht die gesamte Diskussion zur globalen Gerechtigkeit. Der Gegensatz zwischen einem streng universalistischen Kosmopolitismus, der sozialpolitisch minimalistisch bleiben muss, und einem sozialstaatlich anspruchsvollen, dabei aber notwendigerweise partikularistischen Kommunitarismus lässt sich jedoch auflösen, indem man auch die internationalen Wirtschaftsbeziehungen konzeptionell als antagonistische Kooperation auffasst. Globale Solidarität drückt sich dann nicht im Anteil der Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit am Sozialprodukt oder den nationalen Ausgaben für die Flüchtlingshilfe aus – so bedeutend diese Maßnahmen im konkreten Einzelfall auch sein mögen –, sondern vielmehr in den strukturellen Bedingungen globaler wirtschaftlicher Kooperation. Wenn die globale Kooperation solidarisch sein soll, dann dürfen diese Strukturbedingungen nicht einfach die gegebenen Machtverhältnisse widerspiegeln. Es ist noch nicht einmal ausreichend, den internationalen Handel an einem Ideal fairer Kooperation auszurichten. Vielmehr müssen die institutionellen Rahmenbedingungen die spezifische Situation der jeweiligen Verhandlungspartner abbilden, d. h. zugunsten der Partner mit der schwächeren Verhandlungsposition ausgestaltet sein. Die wirtschaftlichen Partnerschaftsabkommen (Economic Partnership Agreements – EPAs) der Europäischen Union mit den Ländern Subsahara-Afrikas und die besonderen WTO-Regeln für die am wenigsten entwickelten Länder gehen in diese Richtung, sind jedoch noch nicht ausreichend. Um für Fairness in der antagonistischen Kooperation von Industrie- und Schwellenländern zu sorgen, müsste den Schwellenländern nicht nur formal, sondern auch faktisch ein freier Zugang zu den Märkten der Industriestaaten ermöglicht werden. Dieser faktische Zugang wird jedoch u. a. durch die massive Subventionierung europäischer Agrarprodukte bislang verhindert. Hier wäre es die Aufgabe auf Solidarität drängender politischer Akteure wie NGOs, „pressure groups“ u. ä., auf eine Marktöffnung hinzuwirken. Somit bedarf auch die politische Umsetzung struktureller Solidarität einer Fundierung durch Gesinnungssolidarität.

6 Fazit

Solidarität ist kein Konzept der Vormoderne. Sie ist weder auf homogene Kleingruppen beschränkt noch auf ein spezifisches Konstrukt sozialer Identität angewiesen. Versteht man Solidarität als Kooperation zum gegenseitigen Vorteil unter fairen Bedingungen, so hat die Idee der Solidarität auch in funktional ausdifferenzierten, offenen Gesellschaften ihren Stellenwert, allerdings nur unter Verzicht auf allzu viel moralische Emphase solidarischer Gesinnung. Globale Solidarität manifestiert sich als synergetische Kooperation bei der Produktion global öffentlicher Güter und in den strukturellen Bedingungen antagonistischer Kooperation auf anonymisierten Märkten. Beide Kooperationsformen sind moralisch gehaltvoll, sowohl auf der Struktur- wie auf der Akteursebene. Die strukturethische Dimension globaler Governance ergibt sich unmittelbar aus ihren gesellschaftlichen Folgen. Globale Herausforderungen wie der Klimawandel, die grenzüberschreitende Migration oder die Bekämpfung extremer Armut und Unterentwicklung lassen sich nur kooperativ angehen, sind aber gleichzeitig auch grundsätzlich lösbar. Die beeindruckenden Erfolge der vergangenen Jahrzehnte bei der Bekämpfung extremer Armut, der Versorgung mit grundlegenden medizinischen Gütern und der Elementarbildung geben allen Anlass zum Optimismus. Aber jede Strukturethik muss individualethisch gestützt werden. Eine globale synergetische Kooperation braucht Akteure, die sich ihrer finanziellen Verantwortung nicht entziehen. Und eine faire antagonistische Kooperation setzt voraus, dass bestehende Machtasymmetrien nicht genutzt, sondern vielmehr kompensiert werden. Diese Bereitschaft sicherzustellen, wäre die gesellschaftspolitische Aufgabe all derjenigen, die an einer global und kosmopolitisch verstandenen Solidarität interessiert sind.