1 Einleitung

Lebensverläufe haben sich in westlich geprägten Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedener Hinsicht gewandelt. Sie sind deutlich weniger geschlechtersegregiert, weisen weniger klar voneinander abgegrenzte institutionelle Segmente auf und sind durch vielfältigere Stadien und Verlaufsformen gekennzeichnet (Settersten et al. 2005; Furstenberg 2010; Hofferth und Goldscheider 2016; Mortimer und Moen 2016). Insbesondere private und familiale Lebensverläufe wurden durch eine zeitliche Verschiebung zentraler Übergänge, instabilere Paarbeziehungen und komplexere Verläufe geprägt. Auf der Makroebene spiegelt sich dies in einer größeren Vielfalt der Lebens- und Familienformen und insbesondere einem Zuwachs von „Singles“, nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Alleinerziehenden und Fortsetzungsfamilien wider (vgl. Meyer 1992; Sobotka und Toulemon 2008; Wagner und Cifuentes 2014). Die Lebensverlaufsperspektive erschöpft sich jedoch nicht darin, das mikroanalytische Korrelat der genannten Pluralisierungstendenzen zu beleuchten. Vielmehr steuert sie in mindestens zweifacher Hinsicht Wesentliches zum Verständnis von Prozessen sozialen Wandels bei.

Erstens macht sie sichtbar, wie Individuen Prozesse institutioneller Differenzierung biografisch verarbeiten und sowohl synchron als auch diachron in den Ablauf des Lebens „übersetzen“. Die Abkehr von der klassisch-modernen Kernfamilie (Parsons 1955) und die fortgeschrittene institutionelle Differenzierung des Privaten (Meyer 1992) verlangen zunehmende Koordinations- und Herstellungsleistungen in den Bereichen Paarbeziehung und Familie. Individuen müssen zudem häufig widersprüchliche Optionen und Anforderungen in mehreren institutionellen Handlungsfeldern (insbesondere Familie und Erwerbsarbeit) in subjektiv befriedigender Art und Weise integrieren (Kohli 1985; Huinink 1995; Schwinn 2001, S. 224 ff.). Aus der Makroperspektive der institutionellen Differenzierung und in Querschnittbetrachtungen der Pluralisierung der Lebensformen werden indes die Bandbreite, Komplexität und Heterogenität von mehr oder weniger temporären „Lösungen“ im individuellen Lebensverlauf nicht ansatzweise sichtbar (Konietzka und Zimmermann 2021).

Zweitens zeigt die lebensverlaufsbezogene Betrachtung, inwieweit sozialstrukturelle Gruppen die Koordinations- und Organisationsleistungen unterschiedlich vollbringen und damit sozial ungleiche Pfade einer zunehmenden Vielfalt von Verläufen im privaten Leben entstehen (vgl. Konietzka 2010, S. 96 f.). Die Verfügbarkeit lebensphasenspezifischer Optionen hängt auch von individuellen Ressourcen ab, sodass institutionelle Differenzierung des Privaten sehr wahrscheinlich in sozialstrukturell differenzierte Lebensverläufe mündet. Über das Scharnier der Sequenzierung von Lebensverläufen werden Prozesse sozialer Differenzierung potenziell in Muster sozialer Ungleichheit übersetzt (Mayer und Diewald 2007; Schwinn 2001).

Der Fokus der familiensoziologischen und -demografischen Forschung über den Wandel privater Lebensverläufe lag in der Vergangenheit vorrangig auf der Analyse ausgesuchter Ereignisse (ihres Zeitpunkts, ihrer Dauer und Reihenfolge) und ihrer Determinanten (vgl. Modell et al. 1976; Buchmann 1989; Mayer 1995; Brückner und Mayer 2005; Scherger 2007, 2014; Konietzka 2010). Die übergeordnete Frage nach dem Ausmaß der Heterogenität familialer Lebensverläufe wurde nur partiell und mit eher einfachen Indikatoren empirisch untersucht (u. a. Berger et al. 1993; Scherger 2007; Schizzerotto und Lucchini 2002; Settersten und Mayer 1997). Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren geführten Debatten über die De-Institutionalisierung und De-Standardisierung des Lebensverlaufs (Kohli 1985, 2003; Beck 1986) von erheblichen begrifflichen Unschärfen und Operationalisierungsproblemen geprägt waren (vgl. Friedrichs 1998; Huinink und Wagner 1998; Brückner und Mayer 2005; Konietzka 2010). Zudem wurden modernisierungstheoretische Modelle im Zuge der zunehmenden Dominanz handlungstheoretischer Perspektiven immer häufiger kritisiert (vgl. Hill und Kopp 1999; Berger 1996). Außerdem fehlte es an Methoden der Analyse von komplexen Lebensverläufen (Aisenbrey und Fasang 2010; Elzinga und Liefbroer 2007, S. 226). Folgerichtig sind auch die von den Theorien der De-Institutionalisierung und De-Standardisierung des Lebensverlaufs aufgeworfenen Fragen nach dem Wandel familialer Prozesse im Sinne von Lebensverläufen oder Sequenzmustern – abgesehen von einigen Pionierstudien – weitgehend außerhalb des Blickwinkels empirischer Forschung geblieben.

In den letzten 20 Jahren wurde aber die konzeptuelle und methodologische Basis erheblich verbessert; Definitionen wurden verfeinert (z. B. Brückner und Mayer 2005) und vor allem Methoden der Sequenzdatenanalyse systematisch weiterentwickelt (Aisenbrey und Fasang 2010; Studer und Ritschard 2016). Zahlreiche sequenzdatenanalytische empirische Studien wurden vorgelegt, insbesondere zu beruflichen Verläufen (z. B. Schmidt und Schmitt 2005; Trischler 2014; Hacket 2012; Hauschild 2002; Klammer und Tillmannn 2001; Simonson et al. 2011, 2015; Biemann et al. 2011), aber auch zu familialen Verläufen (z. B. Elzinga und Liefbroer 2007; Fasang 2014; Zimmermann 2018). Diese ermöglichten es, die „klassischen“ Fragen des Wandels von Lebensverläufen operational besser zu fassen, was sich insbesondere in Studien zu De-Standardisierung zeigt (Elzinga und Liefbroer 2007; Zimmermann und Konietzka 2018; Hofäcker und Chaloupková 2014; Robette 2010; Widmer und Ritschard 2009). Vor diesem Hintergrund verfolgt unser Beitrag die folgenden Ziele:

Erstens sollen in konzeptueller Hinsicht De-Standardisierung, Pluralisierung und Differenzierung als drei Dimensionen der Heterogenisierung von Lebensverläufen bestimmt werden. Die Literatur ist durch zahlreiche, sich teilweise widersprechende Definitionen dieser Begriffe geprägt (s. unten). Viele empirische sequenzdatenanalytische Analysen fallen zudem hinter die konzeptuellen und methodischen Überlegungen, etwa von Brückner und Mayer (2005), Studer und Ritschard (2016) sowie Aisenbrey und Fasang (2010), zurück. Eine systematische vergleichende Untersuchung der unterschiedlichen Dimensionen ist u. E. auch erforderlich, um die These der Heterogenisierung von Lebensläufen nicht vorschnell auf der Basis eines spezifischen, d. h. eindimensionalen Indikators zu verwerfen, ohne zugleich Veränderungen in den anderen Dimensionen von Heterogenisierung zu überprüfen. Lebensverläufe sind in der Realität hochkomplex und dynamisch, während die zur Verfügung stehenden Indikatoren der Pluralisierung, Differenzierung und De-Standardisierung jeweils auf einer Vereinfachung und Zusammenfassung der Strukturen von Lebensverläufen basieren. Die Fokussierung auf nur ein Konzept und eine mögliche Operationalisierung läuft daher Gefahr, das Phänomen der Heterogenität im Lebensverlauf unterkomplex zu erfassen. Eine detaillierte, konzeptuell begründete Analyse aller drei Dimensionen mitsamt verschiedener Varianten der Operationalisierung verspricht eine größere inhaltliche Sicherheit bei der Diagnose der genannten Phänomene.

Zweitens fragen wir explizit nach den sozialen Trägergruppen oder „Treibern“ der Heterogenisierung von familialen Verläufen. Zwar werden zunehmende individuelle Handlungsoptionen oftmals mit einer abnehmenden Ordnung oder größeren Vielfalt von Ereignissen und Sequenzen sowie einer sozialen Entstrukturierung von Lebensverläufen gleichgesetzt, jedoch führen weniger strikte Handlungsvorgaben nicht zwangsläufig empirisch zu immer heterogeneren Lebensverläufen (Buchmann 1989; Huinink und Wagner 1998; Kohli 2003, 2007; Konietzka 2010). Zum einen bleiben institutionelle Steuerungen und Restriktionen in den Bereichen Bildung, Erwerbstätigkeit und privater Lebensformen in vielfacher Hinsicht handlungswirksam. Zum anderen beeinflussen interindividuelle Unterschiede in der Verfügung über Ressourcen die Optionen der Lebensverlaufsgestaltung in den zentralen Lebensbereichen (Breen und Buchmann 2002; Mayer 2005, 2009; Hofferth und Goldscheider 2016) – mit der Folge, dass das Ausmaß an Heterogenisierung familialer Muster zwischen sozialstrukturellen Gruppen variiert.

In Abschnitt 2 diskutieren wir zunächst die konzeptuellen Grundlagen der Veränderungen und entwickeln ein mehrdimensionales Heterogenitätskonzept. Anschließend fassen wir den Stand der empirischen Forschung zusammen und leiten Forschungshypothesen ab. Abschnitt 3 stellt die Daten und Maßzahlen der Sequenzmusteranalyse vor. Abschnitt 4 präsentiert die empirischen Ergebnisse und Abschnitt 5 reflektiert abschließend deren Ertrag.

2 Heterogenisierung von Lebensverläufen: Konzepte und Forschungsstand

Ein zentraler Anspruch der Lebensverlaufsforschung war von Anfang an die Erfassung komplexer zeitlicher Strukturen, die im Timing, Abstand und der Abfolge von Lebensereignissen sichtbar werden und die sich als „trajectories“ oder Sequenzmuster „over a relatively long period of time“ (Elder 1985, S. 17) erstrecken. Idealerweise sollte der Forschungsgegenstand soziale Prozesse umfassen, „die sich über den gesamten Lebensverlauf oder wesentliche Teile davon erstrecken“ (Mayer 1990, S. 9) und in jeweils kohortenspezifische sozialhistorische Kontexte eingebettet sind. Nicht zuletzt die These der (De‑)Institutionalisierung des Lebensverlaufs (Kohli 1985) postulierte langfristige Veränderungen der Strukturen moderner Lebensverläufe in ihrer Gesamtheit. Es wurde angenommen, dass seit den 1960er-/1970er-Jahren eine abnehmende institutionelle Steuerung von Lebensverläufen eine De-Standardisierung und erhöhte Komplexität, u. a. privater Lebensarrangements, bedingte. Erst jüngere Entwicklungen der Sequenzdatenanalyse haben jedoch die Möglichkeiten geschaffen, längere Sequenzmuster von Lebensverläufen zu analysieren. Fortschritte wurden zudem im Hinblick auf die Abgrenzung zentraler Konzepte wie De-Institutionalisierung, Individualisierung, Differenzierung, Pluralisierung und De-Standardisierung erzielt. Grundlegend ist u. a. die Einsicht, dass eine verringerte institutionelle Einbettung des Handelns im Sinne von abnehmenden normativen Vorschriften und Verbindlichkeiten des Handelns potenziell mit einem breiten Spektrum des strukturellen Wandels von Lebensverläufen einhergeht (Brose 2003; Konietzka 2010; Huinink 2013).

2.1 Die Konzepte De-Standardisierung, Pluralisierung und Differenzierung in der Sequenzdatenanalyse

Ungenauigkeiten und Widersprüchlichkeiten betreffen allerdings immer noch die Abgrenzung der geläufigen Begriffe in empirischen Analysen, sodass ein Überblick über deren Ergebnisse und eine genaue Beschreibung und Einordnung der Art der jeweils diagnostizierten Veränderungen erschwert wird (Aisenbrey und Fasang 2010, S. 450). Da empirische Strukturveränderungen in Lebensverläufen häufig eher gradueller Natur sind, fördern unklare dimensionale Unterscheidungen außerdem inhaltliche Fehlschlüsse. Insbesondere Untersuchungen nur einer Dimension könnten zu verallgemeinernden Schlüssen über eine (vorhandene oder nichtvorhandene) allgemeine Heterogenisierung von Lebensverläufen verleiten. Im Folgenden fassen wir daher Merkmale der drei Begriffe unter Bezugnahme auf die Literatur zusammen und benennen Beispiele für die teilweise ungenauen und sich überschneidenden sequenzdatenanalytischen Operationalisierungen. Anschließend entwerfen wir ein integriertes Konzept der Heterogenität, das die verschiedenen Begriffe in Abgrenzung zueinander definiert.

2.1.1 Pluralisierung

Unter Pluralisierung wird allgemein ein Anstieg von Vielfalt verstanden (Brückner und Mayer 2005; Wagner und Cifuentes 2014; Brüderl und Klein 2003). Brückner und Mayer (2005, S. 33) definieren Pluralisierung als „increase in the synchronous number of states or forms of life activity in a given population or even a given person“. In familiensoziologischen Querschnittsanalysen wird so die These der Zunahme einer steigenden Vielfalt von Familien- und Lebensformen untersucht (vgl. Brückner und Mayer 2005; Wagner und Cifuentes 2014; Nave-Herz 1997; Langmeyer 2014; Klein 1999; Strohmeier 1993). Dazu wird die Anzahl der Familien- oder Lebensformen sowie die querschnittliche (transversale) Entropie der Verteilung der Befragten auf dieselben analysiertFootnote 1. Entropie misst den Grad der Gleichverteilung von Familien- und Lebensformen und ist maximal, wenn viele Zustände gleich häufig auftreten.

In der Sequenzdatenanalyse stößt man auf eine Vielfalt der begrifflichen Verwendungen. Müller et al. (2011, S. 11) vertauschen beispielsweise die Definitionen von Pluralisierung und De-Standardisierung von Brückner und Mayer (2005) und untersuchen Pluralisierung empirisch anhand der Verteilung der Befragten auf Sequenztypen und der Instabilität der Sequenzen (Müller et al. 2011, S. 274). Letzteres wird andernorts der Differenzierung zugerechnet (s. unten). Widmer und Ritschard (2009, S. 28) argumentieren, dass Pluralisierung durch den Begriff der De-Standardisierung präziser definiert wurde und untersuchen die altersbezogene Entropie. Im Sinne der allgemeinen Definition als Anstieg von Vielfalt verstehen Brüderl und Klein (2003, S. 190 f.) unter Pluralisierung von Lebensverläufen allgemein eine „zunehmende Vielfalt von Lebensverlaufsmustern“ und eine abnehmende Dominanz einzelner „Lebensformtypen“. Sie untersuchen aber auch das Timing von Lebensverlaufsübergängen und die durchschnittliche Abweichung von einer Standardsequenz, was für Brückner und Mayer (2005) sowie Huinink (2013) eher Aspekte der De-Standardisierung sind.

2.1.2 De-Standardisierung

De-Standardisierung wird sequenzdatenanalytisch oft als Anstieg von Unterschiedlichkeit definiert und gemessen (Aisenbrey und Fasang 2010; Elzinga und Liefbroer 2007; Konietzka und Huinink 2003; Zimmermann 2018; Robette 2010). Huinink (2013) fasst unter De-Standardisierung zudem die Entropie der Zustandsverteilung und der Verteilung auf Lebensverlaufsmuster, die oft auch der Pluralisierung zugeordnet werden. Brückner und Mayer (2005, S. 32 f.) definieren De-Standardisierung als den Prozess, in dem „life states, events and their sequences can become experiences which either characterize an increasingly smaller part of a population or occur at more dispersed ages and with more dispersed durations“.

In der Sequenzdatenanalyse werden Pluralisierung und De-Standardisierung, wie bereits angedeutet, oft vermischt. So verwenden Elzinga und Liefbroer (2007, S. 227) und Robette (2010, S. 94) eine breite Definition von De-Standardisierung, die einschließt, dass Lebensverläufe entweder unterschiedlicher werden oder die Dominanz von einzelnen Lebensverlaufsmustern abnimmt. Den zweiten Aspekt würden wir eher als Pluralisierung bezeichnen. Elzinga und Liefbroer (2007) betrachten außerdem Differenzierung implizit als Unteraspekt der De-Standardisierung und nicht als eine eigenständige Dimension. Simonson et al. (2015, S. 395) operationalisieren schließlich De-Standardisierung über einen Anstieg der Anzahl der Übergänge, was der nachfolgenden Definition der Differenzierung stark ähnelt.

2.1.3 Differenzierung

Differenzierung bezeichnet nach breiter Übereinkunft die wachsende Anzahl von Lebensverlaufsabschnitten oder -zuständen oder die steigende Unterschiedlichkeit innerhalb von Lebensverläufen (auch Komplexität, Turbulenz oder Instabilität; Brückner und Mayer 2005, S. 33; Aisenbrey und Fasang 2010; Worts et al. 2013 sowie Elzinga und Liefbroer 2007, S. 227; Gabadinho et al. 2010, 2011; Van Winkle und Fasang 2017; Van Winkle 2018, 2019). Ursprünglich war damit eine Zunahme von Lebensverlaufsepisoden oder -stufen gemeint (Brückner und Mayer 2005, S. 33), wozu dann eine ansteigende Variation im Zeitpunkt von Ereignissen oder in der Dauer von Zuständen oder Episoden ergänzt wurde (Komplexitätsindex nach Elzinga und Liefbroer 2007 und Gabadinho et al. 2010). Entropie misst dabei den Grad der Gleichverteilung von Zuständen innerhalb jedes Lebensverlaufs und ist maximal, wenn viele Zustände im selben Lebensverlauf gleich häufig auftreten.Footnote 2 Wie bereits erwähnt, trägt zur begrifflichen Unklarheit in der Sequenzdatenanalyse bei, dass Differenzierung auch als (ein Aspekt von) De-Standardisierung (Elzinga und Liefbroer 2007; Simonson et al. 2015) oder Pluralisierung (Müller et al. 2011) verstanden oder untersucht wurde.

2.1.4 Fazit: Ein mehrdimensionales Heterogenitätskonzept

Die in der bisherigen Forschung anzutreffenden Ungenauigkeiten und Widersprüchlichkeiten in der Konzeptualisierung und Operationalisierung von De-Standardisierung, Pluralisierung und Differenzierung nehmen wir zum Anlass, ein integriertes Modell der HeterogenitätFootnote 3 oder Heterogenisierung vorzuschlagen. Wie in Abb. 1 (in Anlehnung an Überlegungen von Aisenbrey und Fasang 2010; Brüderl und Klein 2003; Elzinga und Liefbroer 2007; Studer und Ritschard 2016; Zimmermann 2018) dargestellt, konzipieren wir Differenzierung, Pluralisierung und De-Standardisierung als Dimensionen der Heterogenisierung von Lebensverläufen. Differenzierung bezeichnet dabei ansteigende Unterschiede innerhalb von Verläufen, De-Standardisierung zunehmende Unterschiede zwischen Verläufen und Pluralisierung eine zunehmende Gleichverteilung der Befragten auf (mehr) Verlaufsmuster.

Abb. 1
figure 1

Mehrdimensionales Heterogenitätskonzept zur Analyse von Lebensverlaufsveränderungen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Das Konzept verdeutlicht zugleich die unterschiedlichen Varianten, in denen sich die institutionelle Differenzierung des Privaten auf der Ebene der Lebensverläufe spiegeln kann. So ist eine mögliche Folge institutioneller Differenzierung die De-Standardisierung, die sich in zunehmenden Varianten der zeitlichen Struktur von Lebensverläufen ausdrückt. Eine andere Folge ist Pluralisierung, welche dann auftritt, wenn sich neue oder mehr Lebensverlaufstypen etablieren und/oder die Dominanz einzelner Typen abnimmt. Schließlich kann es zu einer internen Differenzierung von Lebensverläufen kommen, also einer Zunahme der auftretenden Zustände und Episoden sowie der Entropie der Zustandsverteilung im Lebensverlauf.

Den Nutzen der Anwendung eines detaillierten, mehrdimensionalen Konzepts von Heterogenität sehen wir insbesondere darin, eine validere Diagnose des sozialen Wandels von Lebensverläufen im Vergleich zu einer eindimensionalen Untersuchung zu ermöglichen. Empirisch sind Zusammenhänge zwischen den Dimensionen mehr oder weniger wahrscheinlich. So ist es einerseits möglich, dass infolge abnehmender institutioneller Steuerung Lebensverläufe (in einer Gruppe) gleichzeitig differenzieren, de-standardisieren und pluralisieren. Andererseits ist es aber auch denkbar, dass der Wandel in den einzelnen Dimensionen unterschiedlich stark oder nicht gleichgerichtet ausfällt. So können individuelle Lebensverläufe vor dem Hintergrund weniger verbindlicher institutioneller Regelungen durchaus komplexer und durch mehr Übergänge und Episoden geprägt werden. Dennoch können Individuen – aufgrund begrenzter Gelegenheiten oder neuartiger Regelungen – zugleich relativ ähnliche Lebensverlaufsentscheidungen treffen, die in der Summe auf der Kohortenebene ein hohes Maß an Standardisierung der Verlaufsmuster aufrechterhalten (vgl. Huinink und Wagner 1998, S. 87, S. 103).

Vor diesem Hintergrund kann die analytische Beschränkung auf einzelne Dimensionen unerwünschte Folgen haben: Für den hypothetischen Fall, dass empirisch eine Differenzierung, aber keine De-Standardisierung oder Pluralisierung stattfindet, wäre es ein Fehlschluss, auf der Grundlage einer selektiven Beobachtung zunehmender Differenzierung auf eine allgemeine Heterogenisierung von Lebensverläufen zu schließen. Umgekehrt wäre es zu kurz gegriffen, auf der Basis einer beobachteten Nichtveränderung in den Dimensionen der De-Standardisierung oder Pluralisierung die These einer Heterogenisierung von Lebensverläufen insgesamt zurückzuweisen.

2.2 Soziale Disparitäten der Heterogenisierung familialer Lebensverläufe

Es ist zu erwarten, dass Optionen und Anforderungen der Organisation der (privaten) Lebensgestaltung unter Bedingungen abnehmender institutioneller Steuerung sozialstrukturell und kohortenspezifisch variieren. Daher untersuchen wir insbesondere ressourcenbedingte Unterschiede in der Heterogenität von Verläufen. Die theoretische Diskussion hat, wie erwähnt, einen ambivalenten Bezug zu sozialstrukturellen Disparitäten. In ihrer Extremvariante wurde die Individualisierungsthese als „Generalattacke“ auf sozialstrukturell differenzierte Analysen (insbesondere von Klassen und Schichten; Beck 1986) verstanden. Individualisierung, verstanden als Befreiung der Individuen von ständischen Schranken, geschlechtsspezifischen und industriegesellschaftlichen Normen und Skripten, hatte jedoch teils implizite, teils explizite Bezüge zu sozialen Ungleichheiten. So wurden zumeist Höhergebildete (und insbesondere Frauen) als Pioniere veränderter Geschlechterbeziehungen, neuer sozialer Bewegungen, Lebensformen und weniger normierter Lebensverläufe betrachtet (vgl. Beck-Gernsheim 1998; Burkart 1993). Ähnlich argumentierten die Theorien des Postmaterialismus und des zweiten demografischen Übergangs, letztere explizit mit Fokus auf den Bereich der privaten und familialen Lebensverläufe (Inglehart und Welzel 2005; Lesthaeghe 2010, 2011, 2014).

Die empirische Forschung hat in den vergangenen Jahren dagegen eine andere Entwicklungsdynamik hervorgehoben. Auch wenn zentrale familiendemografische Entwicklungen – wie die Verschiebung von Heirat und Familiengründung und die Institutionalisierung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft (NEL) als partnerschaftlicher Lebensform im frühen Erwachsenalter – alle Bildungsgruppen betreffen, zeichnen v. a. US-amerikanische Studien ein weitgehend übereinstimmendes Bild dahingehend, dass höhere Sozialschichten eine höhere Heiratsneigung als andere Gruppen aufweisen. In den unteren Bildungsgruppen haben nicht zuletzt verschlechterte sozioökonomische Rahmenbedingungen zu abnehmenden Heiratschancen und -neigungen geführt und Kohabitation gefördert (Sweeney 2002; Perelli-Harris et al. 2010; Cherlin 2004). Nichteheliche Geburten und ledige Mutterschaft nehmen daher insbesondere in den unteren Bildungsgruppen zu (Perelli-Harris et al. 2010). Mikolai et al. (2018) haben entsprechend (für 16 europäische Länder und die USA) gezeigt, dass nicht die Gründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, wohl aber die Erstgeburt in einer solchen „a consistent negative educational gradient across countries“ (Mikolai et al. 2018, S. 753) aufweist; Höhergebildete, nicht aber niedrig gebildete Frauen, heiraten meist vor der Geburt des ersten Kindes. Dies geht mit einer geringeren Stabilität der Partnerschaften in den unteren Bildungsgruppen einher (Mikolai et al. 2018, S. 782). Nach Rackin und Gibson-Davis (2018, S. 1278 f.) weisen die unteren Bildungsgruppen häufiger instabilere familiale Lebensverläufe auf, während diese in den oberen Bildungsgruppen stabiler sind und mit der Dominanz von Erst-Ehen vergleichsweise ereignisarm ausfallen. Weitere Studien verweisen auf eine Veränderung oder Verstärkung der beobachteten Zusammenhänge (u. a. Carlson 2019, S. 13 ff.). Auch für Westdeutschland zeigte sich eine relativ stärkere Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern bei den formal geringer gebildeten Frauen und Männern (Zimmermann und Konietzka 2018).

Die differenziellen Entwicklungen sind mit den verschlechterten ökonomischen Bedingungen einer „traditionellen Familiengründung“ gerade in den unteren sozioökomischen Schichten und der Erosion der ökonomischen Grundlagen des männlichen Ernährermodells (Friedman et al. 1994; McLanahan 2004), die biografische Optionen oder Skripte einschränken, erklärt worden. Da ledige Mutterschaft und Alleinerziehen mit abnehmenden Heirats- und Familiengründungschancen der ressourcenärmeren Männer korrespondieren, zeigen sich geschlechtsspezifische Entwicklungspfade (Oppenheimer 1988, 2000). In den oberen Bildungsgruppen findet sich hingegen eine anhaltend höhere Heiratsneigung aufgrund besserer sozioökonomischer Ressourcenausstattung, günstigerer Stellung auf dem Partnermarkt und erhöhter Anreize (rechtliche Absicherung, Investitionsschutz). Höhere Trennungskosten verringern außerdem die Neigung zur Auflösung von Partnerschaften. Allgemein ist davon auszugehen, dass ressourcenstärkere Gruppen besser befähigt sind, normative Skripte und damit stabile Lebensverlaufsmuster sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich zu realisieren.

Die genannten Prozesse haben insgesamt widersprüchliche Implikationen für die Frage der Heterogenisierung von Lebensverläufen. Auf der einen Seite spricht die zunehmende Vielfalt der Familiengründungsmuster dafür, dass auf der Kohortenebene die Heterogenität von Verläufen zunimmt. Auf der anderen Seite fördern das zunehmende Postponement von Übergängen und die Etablierung der NEL als modaler Partnerschaftsform im frühen Erwachsenenalter (Kiernan 2001; Hiekel et al. 2014) umgekehrt Prozesse der Homogenisierung des Verhaltens (vgl. auch die These der Re-Standardisierung; Huinink 2013; Fasang 2014; Zimmermann 2018). Elzinga and Liefbroer (2007) haben entsprechend gezeigt, dass das Muster „modern late motherhood“ (mit vorehelicher Kohabitation) im Zeitverlauf enorm an Bedeutung gewonnen hat und in jüngeren Kohorten in vielen westlichen Ländern empirisch am häufigsten auftritt.

Bisher haben vereinzelte Studien sozialstrukturell verschiedene Entwicklungsdynamiken von De-Standardisierung (nicht jedoch Differenzierung und Pluralisierung) in familialen Lebensverläufen untersucht. Zimmermann und Konietzka (2018) haben in mehreren europäischen Ländern eine stärkere De-Standardisierung von Familienverläufen unter geringer Gebildeten aufgezeigt, während sich neue Standardverläufe – oft mit einer Phase der vorehelichen Kohabitation und anschließender Familiengründung – früher und umfassender in den höheren Bildungsgruppen durchgesetzt haben. Struffolino et al. (2016) zeigten zudem für Deutschland, dass die höher gebildeten Männer das höchste Ausmaß an Standardisierung aufweisen; niedrig gebildete Frauen haben tendenziell die de-standardisiertesten Lebensverläufe.

In Bezug auf die grundlegende Frage des Wandels der Heterogenität über die Kohorten – also die Frage eines zu- oder abnehmenden Niveaus der Heterogenität der Verläufe – sind eindeutige Annahmen schwierig. Dies liegt zum einen daran, dass die verschiedenen Dimensionen der Heterogenität bislang kaum systematisch unterschieden wurden, und zum anderen daran, dass vorherige Untersuchungen (Zimmermann 2018; Fasang 2014; Wagner und Cifuentes 2014) keinen klaren Trend herausarbeiten konnten. Jedoch scheint die bisherige Diskussion nahezulegen, dass insbesondere unter den Frauen der unteren Bildungsgruppe ein Prozess der Heterogenisierung stattgefunden hat. Für die anderen Untersuchungsgruppen lässt der Forschungsstand u. E. dagegen keine klaren Annahmen zur Frage der Heterogenisierung oder im Gegenteil sogar einer Homogenisierung zu. Auf Basis der genannten theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnisse erwarten wir daher für die formal geringer gebildeten Frauen im Kohortenvergleich einen Zuwachs der Heterogenität von Lebensverläufen (Hypothese 1) und in der Folge in den jüngeren Kohorten die im Vergleich der Untersuchungsgruppen heterogensten Lebensverläufe (Hypothese 2). Gering gebildete Männer sollten in ähnlicher Weise von prekäreren ökonomischen Lebensbedingungen betroffen sein wie Frauen, jedoch dürften in dieser Gruppe verschlechterte Chancen auf dem Partnermarkt (Stauder 2011) und im Hinblick auf eine Familiengründung (Struffolino et al. 2016) auch gegenläufige homogenisierende Wirkungen zur Folge haben.

Für die höher Gebildeten sollte dagegen eine durchschnittlich längere Bildungsbeteiligung, spätere Gründung einer Lebensgemeinschaft und ein ausgeprägterer Aufschub der Familiengründung homogenere Lebensverläufe bewirken. Zugleich sind in dieser Gruppe graduelle Geschlechterunterschiede zu erwarten. So sind die höher gebildeten Frauen bei Heirat und Familiengründung durchschnittlich etwas jünger, häufiger alleinerziehend, aber auch häufiger kinderlos als die Männer der oberen Bildungsgruppe (Scherger 2007; Konietzka und Kreyenfeld 2005, 2017). Daher erwarten wir für die höher gebildeten Männer die homogensten Lebensverläufe in allen untersuchten Kohorten (Hypothese 3). Unklar ist auf Basis vorheriger Ergebnisse, ob es in diesen Gruppen über die Kohorten effektiv zu einer Homogenisierung der Verläufe gekommen oder ein gleichbleibendes Heterogenitätsniveau vorzufinden ist. Wir vermuten weiterhin, dass geringer gebildete Männer und höher gebildete Frauen im Heterogenitätsniveau eine mittlere Position einnehmen (Hypothese 4). Da unterschiedliche Mechanismen für die Ausprägungen der Heterogenität der Verläufe verantwortlich sind, ist das genaue Verhältnis insbesondere zwischen den beiden letztgenannten Gruppen schwer zu bestimmen.

3 Daten und Methoden

3.1 Daten

Wir nutzen die Daten der 9. Welle der Startkohorte „Erwachsene“ des Nationalen Bildungspanels (SC6 des NEPS, Blossfeld et al. 2011).Footnote 4 Wir betrachten Lebensverläufe zwischen dem 15. und 45. Geburtstag von 5684 westdeutschen Befragten (also im Alter von 15 bis 44 Jahren). In dieser Zeit finden die meisten relevanten Ereignisse der Partnerschafts- und Familiengründung statt, die familiale Verläufe auch im höheren Alter noch maßgeblich prägen. Ostdeutsche Befragte wurden aus der Analyse ausgeschlossen, da sie lange Lebensverlaufsabschnitte noch in der DDR unter anderen institutionellen Rahmenbedingungen erlebt haben. Eine vergleichende Analyse war aufgrund zu geringer Fallzahlen für Ostdeutschland nicht möglich. Wir analysieren die Kohorten 1944–1969 getrennt nach Geschlecht und dem höchsten erreichten allgemeinbildenden Schulabschluss (mit versus ohne [Fach-]Abitur, Tab. 1).

Wir haben für jedes Quartal jedes Lebensjahres der Befragten den Zustand anhand des mittleren Quartalsmonats bestimmt. Für die Definition war das Haushaltskonzept entscheidend, d. h. wir haben berücksichtigt, ob Partner und eigene Kinder im Haushalt mit dem/der Befragten leben. Partner und Kinder außerhalb des Haushaltes wurden nicht berücksichtigt, u. a. da die retrospektiven Daten hierzu lückenhaft sind. Wir unterscheiden zwischen Befragten ohne Kinder, mit einem Kind, mit zwei Kindern sowie mit drei oder mehr Kindern. In Bezug auf Partnerschaft differenzieren wir zwischen Befragten ohne einen Partner im Haushalt, nichtehelich Zusammenlebenden (respektive in Kohabitation) sowie verheiratet Zusammenlebenden.

Tab. 1 Fallzahlen nach Geschlecht, Kohorte und Bildungsniveau. (Quelle: NEPS bis Welle 9, eigene Berechnungen)

3.2 Sequenzdatenanalyse

Eine primär auf einzelne Ereignisse gerichtete Analyse kann wesentliche Aspekte des Wandels von Lebensverläufen nicht erfassen. Wir nutzen daher die Sequenzdatenanalyse, die Reihen nominaler Zustände, wie sie zur Beschreibung von Lebensverläufen verwendet werden, verarbeiten kann (Biemann 2008) und für die die Berechnung der Unterschiedlichkeit von Sequenzen von zentraler Bedeutung ist. Unterschiedlichkeit wurde in den zunächst genutzten transformationsbasierten Verfahren wie der Hamming-Distanz (HD, Hamming 1950, 1980) und dem Optimal Matching (OM, Abbott und Forrester 1986; Abbott und Tsay 2000) durch die (durch Kosten) gewichtete Anzahl der Operationen (Transformationen) zur Überführung einer Sequenz in eine andere bestimmt (Zimmermann 2018). Dazu werden Einfügungen und Löschungen („insertions and deletions“, kurz indels, nur OM) und Ersetzungen (Substitutionen, OM und HD) verwendet. Durch Kosten kann gewichtet werden; es kann z. B. die Substitution „Drei Kinder“ durch „Keine Kinder“ als unterschiedlicher als durch „Zwei Kinder“ gewertet werden.

Später wurden Alternativen und Ergänzungen vorgeschlagen (Aisenbrey und Fasang 2010; Studer und Ritschard 2016), unter denen der subsequenzbasierte Ansatz (Elzinga 2003, 2005; Elzinga und Liefbroer 2007, aufbauend u. a. auf den DT-Koeffizienten von Dijkstra und Taris 1995), die größte Neuerung darstellte. In letzterem wird die Ähnlichkeit von Sequenzen anhand des Anteils der Subsequenzen bestimmt, die in beiden Sequenzen vorhanden sind. Elzinga und Studer (2015) haben eine Vielzahl mittels Parameter variierbarer episodenfokussierter subsequenzbasierter Maßzahlen vorgeschlagen, die Schwächen der frühen subsequenzbasierten Maßzahlen (u. a. ihre starke Fokussierung auf lange Episoden, Studer und Ritschard 2016), ausgleichen.

Die durchschnittliche Unterschiedlichkeit von Lebensverläufen wurde in der Forschung explizit auch als Indikator für die De-Standardisierung von Lebensverläufen im Kohortenvergleich verwendet (Aisenbrey und Fasang 2010; Robette 2010; Elzinga und Liefbroer 2007; Zimmermann 2018). Veränderungen in der Verteilung von Kohortenmitgliedern auf Lebensverlaufsmuster können wiederum als Pluralisierung interpretiert werden (vgl. Definitionen oben). Für die Analyse von Differenzierung wurden Maßzahlen vorgeschlagen, die die Struktur eines Lebensverlaufs anhand eines individuell bestimmbaren Wertes (Elzinga und Liefbroer 2007; Aisenbrey und Fasang 2010; Gabadinho et al. 2010, 2011; Van Winkle 2018), also die Heterogenität innerhalb von Sequenzen, beschreiben.

3.3 Spezifikation des dreidimensionalen Heterogenitätskonzepts (Operationalisierung)

Abbildung 2 zeigt die mehrdimensionale Operationalisierung des dreidimensionalen Heterogenitätskonzeptes (entwickelt in Anlehnung an Überlegungen von Aisenbrey und Fasang 2010; Brüderl und Klein 2003; Elzinga und Liefbroer 2007; Studer und Ritschard 2016; Zimmermann 2018). Für die Operationalisierung der Dimension De-Standardisierung sind die Ergebnisse von Studer und Ritschard (2016) wichtig, die zeigten, dass verschiedene Maßzahlen unterschiedlich sensibel für verschiedene Aspekte der Unterschiedlichkeit (Reihenfolge, Dauer, Zeitpunkt) von Sequenzen sind. Sie empfahlen daher, bei allgemeinen Fragestellungen mehrere Maßzahlen vergleichend zu analysieren. Wir greifen dies in Bezug auf die Analyse von De-Standardisierung von Lebensverläufen auf. Unsere erste Maßzahl soll Unterschiede im Zeitpunkt von Ereignissen oder Zuständen in den Lebensverläufen identifizieren. Dies kann nach Studer und Ritschard (2016) gut mit der Hamming-Distanz (HD, Hamming 1950, 1980) geschehen, die Elemente an gleichen Positionen von Sequenzen miteinander vergleicht, bei gleichartigen Lebensverlaufsabschnitten also im gleichen Alter der Befragten.Footnote 5 Da Zustände (z. B. „in Ehe“) in Lebensverläufen das Ergebnis vorheriger Ereignisse (z. B. „Heirat“) sind, wird dann auch indirekt getestet, ob diese Ereignisse zu ähnlichen oder gleichen Zeitpunkten stattgefunden haben. Wir verwenden die einfachste Variante der HD mit festen Substitutionskosten von 1, sodass die Maßzahl dann die Anzahl oder den Anteil der ungleichen Positionen für die verglichenen Sequenzen angibt.

Abb. 2
figure 2

Mehrdimensionales Heterogenitätskonzept zur Analyse von Lebensverlaufsveränderungen, inkl. Operationalisierung (Unterdimensionen). (Quelle: Eigene Darstellung)

Für die Analyse von Dauer verwenden wir, wie von Studer und Ritschard (2016) vorgeschlagen, die euklidische Distanz der Anzahl der Quartale in jedem Zustand (Abkürzung EUCL). Beim paarweisen Vergleich der Lebensverläufe wird zur Berechnung dieser Maßzahl für jeden Zustand der Betrag der Differenzen der in dem Zustand verbrachten Quartale bestimmt. Diese Beträge werden addiert und zur Normierung durch die Gesamtzahl der Quartale in den Verläufen sowie die Gesamtzahl der möglichen Zustände geteilt. Zur Analyse von Unterschieden in der Reihenfolge von Lebensverlaufsereignissen haben Studer und Ritschard (2016) vorgeschlagen, eine episodenbasierte Maßzahl (Elzinga und Studer 2015) zu verwenden. Für diese werden Lebensläufe als Episoden mit unterschiedlichen Längen dargestellt oder konzipiert. Dann wird die Reihenfolge der Episoden verglichen. Außerdem kann eine Gewichtung anhand ihrer Länge stattfinden. Da die Länge der Episoden allerdings eher ein Aspekt der Dauer ist, berücksichtigen wir die Dauer nicht und verwenden die Längste Gemeinsame Episodenreihenfolge (LGE, Zimmermann 2018, 2019). Für die LGE wird für die Episodenreihenfolge die längste gemeinsame Episodenreihenfolge bestimmt (analog zur Bestimmung der längsten gemeinsamen Subsequenz für ungekürzte Verläufe; vgl. Elzinga und Liefbroer 2007; Lesnard 2010), indem möglichst wenige Elemente in beiden Episodenverläufen gestrichen werden. Die Anzahl der gestrichenen Elemente dient als Indikator für die Unterschiedlichkeit der Verläufe.

Für die Messung von Differenzierung lehnen wir uns an das Komplexitätskonzept von Gabadinho et al. (2010, 2011) an, das eine Ausweitung der Definition von Brückner und Mayer (2005, S. 33) vornimmt, wie es u. a. auch Van Winkle und Fasang (2017) sowie Van Winkle (2018, 2019) getan haben.Footnote 6 Wir schlagen vor, die beiden von Gabadinho et al. (2010, 2011) in der Maßzahl berücksichtigten Aspekte der Differenzierung (ähnliche auch bei Brückner und Mayer 2005, S. 33), die sich einerseits auf Episoden (Anzahl) und andererseits auf Zustände (Entropie der Verteilung) beziehen, analytisch als Unterdimensionen voneinander zu unterscheiden. Differenzierung in Bezug auf Episoden ist beispielsweise dann zu beobachten, wenn vor der Ehe eine Phase nichtehelicher Kohabitation erfolgt oder wenn eine Beziehung gelöst wird und/oder eine (neue) Beziehung eingegangen wird. Die Entropie der Zustandsverteilung nimmt dann zu, wenn die Konzentration auf wenige Zustände im Lebensverlauf von einer stärkeren Gleichverteilung der Zustände innerhalb der individuellen Verläufe abgelöst wird.

Pluralisierung definieren wir als die Zunahme der Vielfalt von Lebensverlaufsmustern (vgl. Brückner und Mayer 2005; Aisenbrey und Fasang 2010; Brüderl und Klein 2003), die sich empirisch in abnehmender Dominanz einzelner Lebensverlaufsmuster und zunehmender Gleichverteilung zwischen verschiedenen Lebensverlaufsmustern zeigt, was zugleich eine Vermehrung (Pluralisierung) der im gesellschaftlichen Querschnitt relevanten Lebensverlaufsmuster impliziert. Dies wäre z. B. der Fall, wenn die Anzahl der Lebensverläufe, die nicht dem häufigsten Muster folgen, ansteigt, oder die voreheliche Kohabitation von immer mehr Mitgliedern einer jüngeren Kohorte gelebt wird und dieses Muster daher einen zusätzlichen Standard formt. Wir analysieren Pluralisierung anhand der Verteilung der Lebensverläufe auf Verlaufsmuster. Letztere werden durch Clusteranalysen identifiziert, die auf der Unterschiedlichkeit der Verläufe, gemessen mit den drei oben beschriebenen Maßzahlen (HD, EUCL und LGE), basieren. Die Unterschiedlichkeitsmatrizen dieser drei Maßzahlen wurden z‑transformiert und mit jeweils gleichem Gewicht linear kombiniert. Anschließend wurde der aufgerundete Betrag des niedrigsten (negativen) Wertes addiert, da in der Unterschiedlichkeitsmatrix keine negativen Werte auftreten dürfen. Die resultierenden Lebensverlaufsmuster spiegeln verschiedene Aspekte der Unterschiedlichkeit von Lebensverläufen wider.Footnote 7

Diese Kombination der verschiedenen Messungen von Unterschiedlichkeit wird erstmalig verwendet und soll als ein Vorschlag dienen, mit den unterschiedlich fokussierenden Maßzahlen der Sequenzdatenanalyse bei der Gruppierung von Lebensverläufen umzugehen. Pseudo‑R2 und Pseudo‑F, welche von Studer et al. (2010) vorgeschlagen wurden, werden als Hilfsmittel genutzt, um Clusterlösungen für die weitere Analyse zu identifizieren (Tab. 2, im Anhang). Die Maßzahlen lassen keine eindeutigen Schlüsse in Bezug auf die Frage zu, welche Gruppierungslösung die sinnvollste ist, da keine lokalen Maxima und auch keine besonders deutlichen Anstiege oder Abfälle der Werte an einzelnen Stellen in der Verteilung existieren (Ellenbogenkriterium nicht anwendbar). Wir haben daher nach einem Kompromiss zwischen einer Lösung mit (zu) wenigen, in sich heterogenen Clustern, und einer Lösung mit (zu) vielen Clustern, die die Interpretation der Ergebnisse deutlich erschweren würde, gesucht. Die Lösung mit 10 Clustern bietet gut beschreibbare und voneinander unterscheidbare Cluster oder Lebensverlaufsmuster. Bei Lösungen mit mehr Clustern steigt Pseudo‑R2 außerdem nur noch geringfügig an. Für die ausgewählte Lösung analysieren wir die Entropie der Verteilung der Befragten auf die Lebensverlaufsgruppen nach Kohorten, die normiert wird durch Division durch die Anzahl der Cluster. Außerdem betrachten wir die Entwicklung der Anteile der Befragten pro Cluster für die verschiedenen Untersuchungsgruppen.

Unsere Analysen haben wir mit Stata unter Nutzung der von Brzinsky-Fay et al. (2006) und Halpin (2017) zur Verfügung gestellten Ergänzungen durchgeführt. Zur inferenzstatistischen Absicherung haben wir Bootstrap-Konfidenzintervalle (Efron und Tibshirani 1992) mit 500 Wiederholungen mit einem 90 %-Konfidenzintervall verwendet (ähnlich wie beispielsweise bei Elzinga und Liefbroer 2007; Zimmermann 2018, 2019). Die Darstellung der Cluster erfolgt durch eine Kombination von Chronogrammen (Halpin 2017) und Sequenz-Index-Plots (Brzinsky-Fay et al. 2006). Während die Sequenz-Index-Plots die clusterkonstituierenden Einzelverläufe zeigen, fassen die Chronogramme die altersspezifischen Verteilungen der Zustände zusammen. Um das Problem des Overplotting (vgl. Fasang und Liao 2013) in Sequenz-Index-Plots zu vermeiden, wurden 50 Lebensverläufe zufällig zur Darstellung ausgewählt.

4 Ergebnisse

Nachfolgend präsentieren wir zuerst die identifizierten Muster der Heterogenität von familialen Lebensverläufen sowie die gruppenübergreifenden Veränderungsprozesse (4.1). Anschließend analysieren wir die geschlechts- und bildungsspezifischen Prozesse (4.2).

4.1 Lebensverlaufsmuster und gruppenübergreifende Kohortenvergleiche

Abb. AO.1 (siehe Online-Anhang) zeigt die Cluster familialer Lebensverläufe. Aus den Chronogrammen geht hervor, welche Zustände und Zustandskombinationen in den einzelnen Clustern jeweils dominant sind, während die Sequenz-Index-Plots darstellen, wie diese Zustände im Lebensverlauf diachron organisiert sind. Die Cluster 1, 2, 4, 5 und 10 enthalten eindeutig abgrenzbare Lebensverlaufsmuster, die sich zentral durch die jeweils dominant auftretenden Zustände unterscheiden. Angesichts der empirischen Häufigkeit von Familien mit zwei Kindern finden wir weiterhin drei Cluster mit Verläufen, die sich lediglich im Hinblick auf den Zeitpunkt der Familiengründung unterscheiden (Cluster 6, 7, 8). Verläufe mit zwei Kindern sind in den stärker gemischten Clustern 3 und 9 versammelt, in denen außerdem noch andere Verläufe einsortiert sind. In Cluster 10 sind Verläufe zusammengefasst, in denen drei Kinder geboren werden, Befragte aus Cluster 1 sind die meiste Zeit Single. Abbildung 3 zeigt den kohortenspezifischen Wandel der verschiedenen Heterogenitätsindikatoren. Die Veränderungen sind in Bezug auf die meisten Indikatoren eher gering und größtenteils nicht signifikant (für Konfidenzintervalle siehe Tab. 3 im Anhang).

Abb. 3
figure 3

Überblick zur Entwicklung der Heterogenität familialer Lebensverläufe. Analyse familialer Lebensverläufe (15–44 Jahre) von n = 5684 westdeutschen Befragten

Signifikante Unterschiede zwischen den Kohorten finden sich im Bereich der De-Standardisierung mit dem Fokus Zeitpunkt (Hamming-Distanz, siehe Tab. 3). Hier zeigen sich eine zuerst signifikante leichte De-Standardisierung und dann eine stärkere Standardisierung von Lebensverläufen. In Bezug auf den Fokus Dauer wird zudem eine überwiegend signifikante Standardisierung in jüngeren Kohorten sichtbar. Ebenfalls finden wir, insbesondere in Bezug auf die Anzahl der Episoden, eine signifikante Differenzierung der Lebensverläufe. Damit verweisen die Ergebnisse darauf, dass es keine eindeutig gerichtete gesamtgesellschaftliche Entwicklung der familialen Lebensverläufe zwischen den betrachteten Kohorten gegeben hat.

4.2 Überprüfung der Hypothesen

Die Abb. 4a–f zeigen für die verschiedenen Aspekte von Heterogenität von Lebensverläufen die Entwicklungen innerhalb der Untersuchungsgruppen über die Kohorten (für Konfidenzintervalle siehe wiederum Tab. 3). Unsere Vermutungen über sozialstrukturelle Unterschiede sowie sozialstrukturell differenzierte Wandlungsprozesse werden prinzipiell unterstützt. Dies gilt insbesondere für die Annahme, dass die untere Bildungsgruppe der Frauen die heterogensten Lebensverläufe und den ausgeprägtesten Zuwachs an Heterogenität aufweist (Hypothesen 1 und 2). Unsere anderen Hypothesen werden dagegen in geringerem Maße unterstützt. Konkret wird Hypothese 1 (Heterogenisierung der geringer gebildeten Frauen) in Bezug auf die Dimensionen der Differenzierung und Pluralisierung bestätigt, wobei die Unterschiede zwischen den Kohorten recht groß (z. B. durchschnittlich 0,6 Episoden mehr in jüngster Kohorte) und größtenteils signifikant sind (Tab. 3). Hypothese 2 (größte Heterogenität in der unteren Bildungsgruppe der Frauen) bestätigt sich konsistent signifikant nur für die Dimension der De-Standardisierung mit dem Fokus Zeitpunkt (Abb. 4c). Bei der De-Standardisierung mit dem Fokus Dauer und der Differenzierung sind die Unterschiede tendenziell ebenfalls erkennbar, sie fallen jedoch um einiges geringer und nur in wenigen Kohorten signifikant aus. Hypothese 3 (homogenste Lebensverläufe unter hochgebildeten Männern) und Hypothese 4 (mittleres Heterogenitätsniveau der hochgebildeten Frauen und niedriger gebildeten Männer) werden ebenfalls nur für die Dimension De-Standardisierung mit Fokus Zeitpunkt unterstützt. In dieser Dimension sind die Unterschiede stärker ausgeprägt und auch fast durchgehend signifikant. Tendenziell sind die beschriebenen Unterschiede auch in den anderen Dimensionen zu erkennen, allerdings sind die Unterschiede eher gering, nicht in allen Kohorten vorhanden und fast ausschließlich nicht signifikant.

Abb. 4
figure 4

Heterogenität von Lebensverläufen nach Geschlecht, Bildungsstand, Kohorte. a De-Standardisierung (Fokus Reihenfolge), b De-Standardisierung (Fokus Dauer), c De-Standardisierung (Fokus Zeitpunkt), d Differenzierung (Fokus Episoden), e Differenzierung (Fokus Zustände), f Pluralisierung (Fokus Lebensverlaufsmuster). Analyse familialer Lebensverläufe (15–44 Jahre) von n = 5684 westdeutschen Befragten. (Quelle: NEPS bis Welle 9, eigene Berechnungen)

Abb. AO.2 im Online-Anhang zeigt ergänzend die Entwicklung der Verteilung der vier Untersuchungsgruppen auf die Lebensverlaufscluster. Sie illustriert, welche substanziellen Entwicklungen und Unterschiede sich hinter den in Abb. 4f gezeigten Ergebnissen zur Pluralisierung verbergen. Es zeigt sich erwartungsgemäß, dass in der unteren Bildungsgruppe der Frauen ereignisreichere Lebensverlaufsmuster mit frühen Ereignissen öfter auftreten (Cluster 2, 5, 6, 8) und Muster mit wenigen Ereignissen (Cluster 1, 3) seltener auftreten als in anderen Gruppen. Allerdings sind die Unterschiede in Bezug auf die erstgenannte Gruppe von Clustern teilweise gering und nur in der Summe bedeutsam. Bei den höher gebildeten Männern verhält es sich genau umgekehrt; die letztgenannten Muster treten in dieser Gruppe besonders häufig auf. Insgesamt ist in allen Gruppen eine deutliche Zunahme (um mehr als 10 %) ereignisarmer Lebensverläufe zu beobachten (Cluster 1). In ereignisarmen Verläufen gibt es weniger mögliche Unterschiede, sodass diese Verläufe sich alle vergleichsweise ähnlich sind. Dies könnte wiederum erklären, warum die angenommene allgemeine Heterogenisierung von Verläufen in unseren Analysen nicht bestätigt wurde.

5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Dieser Beitrag ging von der Beobachtung aus, dass die empirische Forschung zum Strukturwandel von Lebensverläufen im Hinblick auf die Dimensionen der De-Standardisierung, Pluralisierung und Differenzierung aus methodischen und konzeptuellen Gründen bisher wenig eindeutige Ergebnisse geliefert hat. Einer der Gründe ist, dass die genannten Begriffe in der Forschung nicht konsistent verwendet und eindeutig voneinander abgegrenzt werden und oft nur eine der genannten Dimensionen untersucht wurde. Dadurch wird auch der theoretische Rückbezug zu Fragen der institutionellen Differenzierung von Privatheit erschwert. Weiterhin hat die Vernachlässigung sozialstruktureller Kategorien dazu geführt, dass die Frage nach den sozialen Trägergruppen einer zunehmenden Heterogenisierung von Lebensverläufen nicht beantwortet werden konnte. Um diese Forschungslücke zu füllen, haben wir zum einen ein mehrdimensionales Heterogenitätskonzept entwickelt, das De-Standardisierung, Pluralisierung und Differenzierung als unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität begreift und zum anderen sozialstrukturelle Unterschiede untersucht.

Die Anwendung des Konzeptes auf private Lebensverläufe (d. h. private Lebensformen im Haushaltskontext in der Alterspanne zwischen 15 und 44 Jahren) hat gezeigt, dass es einen gruppenübergreifenden Trend zur Differenzierung von Lebensverläufen, also vor allen Dingen eine Zunahme der Heterogenität innerhalb von Lebensverläufen gibt. Wir haben hingegen keine eindeutigen Anzeichen für einen generellen Trend hin zu De-Standardisierung oder Pluralisierung in Bezug auf private Lebensverläufe gefunden. Für die theoretische Diskussion heißt dies, dass die Annahmen zu strukturellen Veränderungen von Lebensverläufen in Bezug auf die Art der zu erwartenden Veränderungen genauer spezifiziert werden sollten, als es bislang vielfach der Fall gewesen ist.

Wir haben weiterhin gezeigt, dass die formal geringer gebildeten Frauen in Bezug auf die von uns untersuchten Merkmale die tendenziell heterogensten Verläufe aufweisen. Die sozialstrukturellen Unterschiede in der Heterogenität von Lebensverläufen haben sich überdies über die Kohorten verstärkt. Auch wenn die Entwicklungen in den betrachteten (Unter‑)Dimensionen verschieden ausgeprägt waren und nicht alle Dimensionen die erwarteten Ergebnisse zeigten, unterstützen unsere Analysen überwiegend die Annahme, dass in den jüngeren Geburtskohorten weniger die ressourcenstärkeren als vielmehr die weniger gut ausgestatteten Gruppen die Träger einer Heterogenisierung von Lebensverläufen waren.

In Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Prozessen institutioneller Differenzierung und Lebensverlaufsdynamiken legen unsere Analysen nahe, dass der im vergangenen halben Jahrhundert erfolgte Prozess der De-Institutionalisierung des Privaten sich nicht mechanisch in eine zunehmende Heterogenisierung der familialen Lebensverläufe übersetzt hat. Die in Querschnittanalysen gemeinhin als Pluralisierung identifizierten Phänomene konnten wir am klarsten in Form einer steigenden internen Differenzierung von Verläufen wiederfinden, die im Kern auf eine Zunahme von Übergängen oder zeitlich weniger stabile Phasen im Lebensverlauf verweist. Die institutionelle Differenzierung des Privaten findet somit ihr Äquivalent in stärker in sich differenzierten Verlaufsmustern. Die anderen Dimensionen der Heterogenisierung, d. h. De-Standardisierung und Pluralisierung, wiesen dagegen keine eindeutig steigende Kohortendynamik auf. Erst die sozialstrukturell gegliederte Analyse hat systematische Veränderungen in Bezug auf Pluralisierung und De-Standardisierung nachgewiesen. So war in der jüngsten Kohorte in fast allen von uns untersuchten Dimensionen das Ausmaß der Heterogenität der Verläufe in der unteren Bildungsgruppe der Frauen am ausgeprägtesten.

Im Hinblick auf die Dynamiken sozialer Ungleichheit lässt sich das Ergebnis mit der gebotenen Vorsicht und unter Berücksichtigung vorheriger Studien so interpretieren, dass es vor allem den besser ausgestatteten Gruppen gelungen ist, den Strukturwandel der Privatheit in einige „typische“ familiale Lebensverläufe im frühen und mittleren Erwachsenenalter zu übersetzen. In dieser Gruppe haben wir im Kohortenvergleich deutlichere Anzeichen von Standardisierung und auch eine abnehmende Pluralisierung der Verläufe gefunden. Die Befunde unterstützen damit tendenziell die These einer zunehmenden Etablierung neuer „Standardverläufe“ in der oberen Bildungsgruppe, während zunehmende Heterogenität im Bereich des familialen Wandels eher auf prekäre soziale Verhältnisse verweist (vgl. Bossfeld et al. 2011; Zimmermann und Konietzka 2018). In zeitdiagnostischer Hinsicht entspricht dieses Ergebnis nicht den Erwartungen der Thesen der Individualisierung (Beck 1986), des Wertewandels (Inglehart und Welzel 2005) oder zweiten demografischen Übergangs (Lesthaeghe 2010, 2011, 2014), denen zufolge die höheren Bildungsgruppen, und unter diesen insbesondere Frauen, die Treiber einer wachsenden Vielfalt der Lebensformen sein sollten. Zukünftige Forschung sollte daher den Zusammenhang von steigender Heterogenität familialer Verläufe, Ressourcenausstattung und sozialer Ungleichheit verstärkt in den Blick nehmen und genauer untersuchen, inwiefern die sozialstrukturell ungleich verteilten Entwicklungen in eine Polarisierung von familialen Verhältnissen münden.

In konzeptueller Hinsicht ist das Ergebnis, dass der kohortenspezifische Wandel in den Dimensionen der De-Standardisierung, Pluralisierung und Differenzierung von familialen Verläufen teilweise sehr unterschiedlich ausgefallen ist, durchaus bemerkenswert. Die Annahme, dass diese lediglich verschiedene Ausdrucksformen von insgesamt heterogener werdenden Verläufen sind, lässt sich demnach nicht aufrechterhalten. Vielmehr stellt sich der weiteren Forschung explizit die theoretische Frage nach den differenziellen Mechanismen, die eine De-Standardisierung, Pluralisierung oder Differenzierung von Lebensverläufen vorantreiben.

Unsere Analysen waren begrenzt durch den Fokus auf Westdeutschland, Aspekte des familialen Lebensverlaufs in der „ersten Lebenshälfte“ sowie durch eine im Sinne von Abbott (1992) primär beschreibende Analyse. Weiterführende Forschung unter Verwendung erklärender Analysen (für einen Überblick vgl. Piccaretta und Studer 2018) sowie eine Ausweitung auf weitere Aspekte wie intergenerationale Beziehungen, berufliche Lebensverläufe und international vergleichende Studien wären wünschenswert, um den Forschungsstand zu erweitern und die Belastbarkeit des vorgeschlagenen Konzeptes zu evaluieren. Viele der gefundenen Unterschiede waren nicht signifikant und die Entwicklungen insgesamt unstet, was darauf verweist, dass eine Untersuchung mit größeren Stichproben wünschenswert wäre. Auch konnten wir in unserer Untersuchung nur auf eine einfache dichotome Unterscheidung des Bildungsniveaus zurückgreifen. Zur Identifizierung sowohl ressourcenschwacher als auch ressourcenstarker Gruppen wären sehr viel differenziertere (und idealerweise dynamische) Klassifikationen wünschenswert. Neben einer Untersuchung beruflicher oder mehrdimensionaler Lebensverläufe wäre zudem eine Ausweitung der Analyse auf spätere Altersphasen anzustreben. So ist es beispielsweise denkbar, dass Höhergebildete und Männer in späteren Jahren mehr (verschiedene) familienbezogene Ereignisse erleben und daher heterogenere Lebensverläufe aufweisen. Weiterhin konnten einige Aspekte, wie nicht im Haushalt lebende eigene Kinder, datenbedingt nicht in der Analyse berücksichtigt werden, was vermutlich vor allen Dingen für Männer zu einer Unterschätzung der Heterogenität privater Lebensverläufe geführt hat. Da der Anteil dieser Lebensformen aber in dem von uns betrachteten Altersabschnitt eher gering ist, gehen wir davon aus, dass sich die Ergebnisse bei Berücksichtigung dieser zusätzlichen Zustände nicht wesentlich verändern würden. Eine Verzerrung der Ergebnisse kann bei retrospektiven Daten dadurch erfolgen, dass ältere Befragte weiter zurückliegende Ereignisse nicht erinnern oder berichten, weil sie diese für unwichtig halten. Wir gehen jedoch davon aus, dass die von uns hauptsächlich berücksichtigten biografisch bedeutsamen privaten Ereignisse (Heirat, Geburt von Kindern usw.) nicht so häufig „vergessen“ oder falsch erinnert werden und daher keine oder nur geringe verzerrende Effekte auftreten.