Zusammenfassung
Zur Untersuchung des Geschlechterunterschieds im Schulerfolg werden in diesem Beitrag verschiedene Erklärungsansätze verknüpft. Unter Kontrolle der sozialen Herkunft (Elternhaus) und der Unterstützung durch die Lehrperson werden die Einflüsse von Peergruppe als Ressource, Schulentfremdung und traditionellen Geschlechterrollen auf den Schulerfolg beleuchtet. Die Basis der Analysen bildet eine im Frühjahr 2009 durchgeführte standardisierte schriftliche Befragung von 872 Schülern der 8. Klasse im Kanton Bern (Schweiz). Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen im Schulerfolg sowie soziologische und sozialpsychologische schulerfolgsrelevante Variablen werden zunächst anhand deskriptiver und bivariater Analysen aufgezeigt. Dann werden OLS-Regressionsmodelle zur Erklärung des Schulerfolgs geschätzt. Schließlich werden auch die Abhängigkeiten zwischen den Einflussfaktoren des Schulerfolgs im Rahmen eines Strukturgleichungsmodells detailliert betrachtet. Die Ergebnisse zeigen u. a., dass der Geschlechterunterschied im Schulerfolg insbesondere auf die bei Jungen stärker ausgeprägte Schulentfremdung zurückzuführen ist. Schulentfremdung wird u. a. erklärt durch eine schulentfremdete Peerumwelt, vor allem der Jungen.
Abstract
This paper combines different approaches to explain the gender gap in educational success. Under control of the impacts of social origin and teacher’ support, peer group as resource, school alienation as well as gender role patterns are analysed. Basis of the analyses is a standardised paper-pencil survey among 872 school students in grade 8 in the Kanton Berne (Switzerland). First, differences in school success and in sociological and social psychological explanatory factors of school success are analysed using descriptive and bivariate methods. Then OLS regression models are estimated to explain school success. Finally, the dependencies between explanatory factors of school success will be explored more detailed by estimating a Structural Equation Model. Results show that the gender gap in educational success is mainly caused by boys being more alienated from school. The higher school alienation is, among other things, influenced by a rather negative attitude towards schools among peers—which applies to boys’ peers in particular.
Notes
Die Schulnoten in der 8. Klasse sind im schweizerischen Kanton Bern bedeutsamer als etwa in Deutschland, da der Wechsel auf das Gymnasium für viele Schweizer Schüler erst mit der 9. Klasse erfolgt und die Noten aus der 8. Klasse als Referenz gelten.
An dieser Stelle zeigt sich ein Paradox: Gerade Schüler, die traditionellen patriarchalen Geschlechterrollenvorstellungen anhängen, müssten besonders bestrebt sein, ein hohes Bildungsniveau zu erreichen, das sie dann auf dem Arbeitsmarkt in Status und Einkommen umsetzen können, um damit ihrer Rolle als „Familienernährer“ gerecht zu werden.
Benachteiligte Herkunftsschichten erweisen sich in empirischen Untersuchungen als stark schulentfremdet (Murdock 1999; Willis 1979). Kulturelle Praxen der Arbeiterkultur werden von Jugendlichen in ihrem Widerstand gegen die Schule reproduziert. Im Hinblick auf die soziale Entmischung niedrigerer Schulformen (Solga und Wagner 2001) ist es nicht verwunderlich, dass sich Hauptschüler als besonders schulentfremdet erweisen (Fend 1989).
Diese Deutung entspricht weniger der Begriffsbestimmung von Bourdieu (1983, S. 190 f.), der das dauerhafte Netzwerk eines Individuums als soziales Kapital definiert; die Lehrperson und ihr unterstützender Stil würden aus diesem Verständnis heraus nicht unter diese Definition fallen.
Das Gymnasium beginnt im Kanton Bern erst mit Klasse 9. Schüler auf dem Spezial-Sekundar-Zug befinden sich in gymnasialen Vorbereitungsklassen. Prinzipiell ist aber auch ein Wechsel vom Sekundar-Niveau auf das Gymnasium möglich.
Folgende Noten wurden erfasst: Die drei Hauptfächer im Kanton Bern Deutsch, Französisch und Mathematik sowie Englisch, Natur (Biologie), Kultur (Geschichte) und Musik.
Faktorladungen der einzelnen Teilfaktoren: „negative Einstellung zur Schule“ (0,704), „mangelnde Aufgabenorientierung“ (0,796), „mangelnde intrinsische Lernmotivation“ (0,830).
Eine genauere Spezifizierung des Sozialstatus (Klassenlage) auf Basis der Schülerinformationen erscheint aufgrund einer geringeren Validität nicht sinnvoll.
Wichtig ist, dass diese Variable als Ressource erhoben wurde, d. h. es wurde nicht gefragt, ob diese Hilfe in Anspruch genommen wird, denn dann wäre ein negativer Effekt auf den Schulerfolg zu erwarten, sondern inwieweit Unterstützung zur Verfügung stehen würde.
Die Geschlechterverteilung und die Verteilung nach sozialer Herkunft auf die Schulniveaus stellt sich wie folgt dar: Jungen sind im untersten Schulniveau übervertreten. Kinder aus Familien mit einem niedrigen Bildungsniveau (als Proxy des sozialen Status) sind ebenso auf dem unteren Schulniveau übervertreten, was auf eine homogene Schulkomposition auf diesem Schulniveau verweist (vgl. Solga und Wagner 2001 für Deutschland). Bildungsungleichheiten sind nach sozialer Herkunft insgesamt stärker ausgeprägt als nach Geschlecht.
Hinsichtlich der Kontrollvariablen soziale Herkunft und Unterstützung durch die Lehrperson zeigen sich, wie erwartet, keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen.
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Hadjar, A., Lupatsch, J. Der Schul(miss)erfolg der Jungen. Köln Z Soziol 62, 599–622 (2010). https://doi.org/10.1007/s11577-010-0116-z
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