Einleitung

Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen waren während der Coronapandemie (im Folgenden: „Pandemie“) häufig besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt (bspw. hohe Morbidität, Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Hygienemaßnahmen). Auch ihre sozialen Lebensumstände führten teilweise zu einem erhöhten Risiko für Infektionen mit SARS-CoV‑2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“), bspw. durch das Zusammenleben in besonderen Wohnformen [9, 17, 19, 20, 22, 39]. Gleichzeitig hat sich die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen während der Pandemie häufig verschlechtert, bspw. durch Schließungen von Gesundheitseinrichtungen oder einer geringen Inanspruchnahme von gesundheitliche Leistungen aufgrund von Ängsten vor einer Ansteckung mit SARS-CoV‑2 bei den Patient*innen [9, 19, 20, 22, 27].

Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen erfuhren schon vor der Pandemie vielfältige Barrieren bei der Gesundheitsversorgung (bspw. fehlende Barrierefreiheit; [7, 46]). Darüber hinaus weist die Bevölkerungsgruppe spezielle und z. T. komplexe Bedarfe hinsichtlich ihrer medizinischen Versorgung auf (bspw. behinderungsspezifische Besonderheiten bei der Kommunikation, Diagnostik und Behandlung [39]). Entsprechend fordert die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Artikel 25 das Angebot von Gesundheitsleistungen, „(…) die von Menschen mit Behinderung speziell wegen ihrer Behinderung benötigt werden (…)“. Während für Kinder und Jugendliche, „(…) die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Krankheit oder einer drohenden Krankheit nicht von geeigneten Ärzten oder in geeigneten Frühförderstellen behandelt werden können“ (§ 119 Abs. 2 SGB V) bereits seit 1968 spezialisierte ambulante Gesundheitseinrichtungen bestehen („Sozialpädiatrische Zentren“, SPZ), mangelte es bis 2015 an einer adäquaten Anschlussversorgung ab der Vollendung des 18. Lebensjahres [9]. Durch die Ermächtigung von Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) in 2015 wurde dieser Versorgungslücke begegnet [12, 32, 42]. MZEB stellen entsprechend des Modells der gestuften gesundheitlichen Versorgung [8] eine Ergänzung der Regelversorgung dar, d. h. sie können ermächtigt werden, „(…) soweit und solange sie [die Ermächtigung] notwendig ist, um eine ausreichende Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen sicherzustellen“ (§ 119 c Absatz 1 Satz 2 SGB V).

In der Literatur werden gesundheitliche und soziale Auswirkungen der Pandemie bei Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen beschrieben (z. B. Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten, soziale Isolation) [9, 15, 21, 22, 33, 38]. Kaum liegen allerdings Informationen dazu vor, wie sich der Zugang zu und Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung in spezialisierten Versorgungseinrichtungen in Deutschland bei Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen während der Pandemie gestaltete. Im Fokus des Beitrags stehen daher die Folgen der Pandemie für den Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB aus Sicht von MZEB-Leitungspersonen (d. h. administrative oder ärztliche Leitungspersonen von MZEB bzw. Geschäftsführung des Trägers).

Methodik

Im Rahmen des vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschuss geförderten Projekts „Barrieren bei der Etablierung von und Versorgung in Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB): eine bundesweite Studie nach dem Stakeholder-Ansatz“ (Förderkennzeichen: 01VSF19010) wurden u. a. mittels Expert*inneninterviews mit MZEB-Leitungspersonen Barrieren bei der medizinischen Versorgung in MZEB erfasst (s. Abb. 1, Arbeitspaket 3).

Abb. 1
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Ziele und methodisches Vorgehen des BEta-Projekts

Von 01.02. bis 01.09.2021 wurden n = 13 Expert*inneninterviews mit MZEB-Leitungspersonen nach Meuser und Nagel (2009) durchgeführt [29]. Eine detaillierte Beschreibung der Stichprobe ist der Tab. 1 zu entnehmen.

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung

Der erstellte Interviewleitfaden basiert auf dem Forschungsstand [3, 7, 32, 39,40,41, 43, 46] und theoretischem Hintergrund [2, 11] und umfasst u. a. coronaspezifische Leitfragen zu Barrieren in MZEB („Welchen Einfluss hat die Pandemie auf den Zugang zum MZEB?“, „Wie beeinflusst die Pandemie die Inanspruchnahme der medizinischen Versorgung im MZEB?“, „Bitte erzählen Sie uns, wie die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Professionen durch die Pandemie beeinflusst wird“).

Die Expert*inneninterviews (Dauer: 52-149 min) wurden via Web-Konferenz durchgeführt, auditiv aufgezeichnet und inhaltsanalytisch nach Kuckartz [28] ausgewertet. Hierfür wurde auf Basis der aktuellen Literatur [7, 12, 32, 46] sowie des theoretischen Hintergrunds (Verhaltensmodell zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nach Andersen u. Davidson [2] und das Modell der gestuften gesundheitlichen Versorgung der Fachverbände für Menschen mit Behinderung [11]) ein deduktives Kategoriensystem angelegt, die Kodierung in MAXQDA im Sinne des konsensuellen Kodierens unabhängig von zwei Mitarbeitenden vorgenommen und am Material weitere induktive Kategorien abgeleitet [23].

Ergebnisse

Die Ergebnisdarstellung zu den Folgen der Pandemie erfolgt entsprechend der drei herausgearbeiteten Kategorien (kontextuelle Faktoren, MZEB-spezifische Faktoren, Patient*innen-spezifische Faktoren) und wird durch exemplarische Zitate ergänzt. Es gilt allerdings zu beachten, dass die Kategorien nicht trennscharf sind, sondern sich teilweise überschneiden – insbesondere aufgrund der Auswirkungen der Faktoren auf kontextueller Ebene auf die MZEB- und Patient*innen-spezifischen Ebenen (Tab. 2).

Tab. 2 Folgen der Pandemie für den Zugang zu und die Inanspruchnahme von Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB)

Kontextuelle Faktoren

Die kontextuellen Faktoren beziehen sich auf Folgen der Pandemie, die „übergeordnet“ die medizinische Versorgungslandschaft beeinflussten. Insbesondere gesetzliche Regelungen bzw. behördliche Anordnungen, die das öffentliche Leben einschränkten (bspw. „Lockdowns“, Schulschließungen, Quarantänemaßnahmen) wirkten sich hinderlich auf den Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB aus (s. Tab. 3). Auch beeinflussten diese kontextuellen Faktoren wiederum häufig die MZEB-spezifischen sowie Patient*innen-spezifischen Folgen (z. B. indem Empfehlungen zur Unterlassung von ärztlichen Konsultationen durch Patient*innen befolgt wurden, was zu sinkenden Fallzahlen in MZEB führte oder durch Quarantänemaßnahmen, die die interne Zusammenarbeit in MZEB erschwerten).

Tab. 3 Exemplarische Zitate zu den kontextuellen Folgen der Pandemie für den Zugang zu und die Inanspruchnahme von Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) aus Sicht von MZEB-Leitungspersonen

Einige MZEB-Leitungspersonen berichteten, dass manche Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung ein „Ausgangsverbot“ für die Bewohner*innen verordneten, sodass keine MZEB-Besuche stattfinden konnten. In der Regelversorgung seien zudem häufig kurzfristige Schließungen von Praxen erfolgt. Dadurch kam es zu Terminengpässen (auch aufgrund des zeitlichen Mehraufwands für die Umsetzung von Hygienemaßnahmen oder wegen des Ausfalls von elektiven Behandlungen), was die Zusammenarbeit von MZEB und Behandler*innen der Regelversorgung erschwerte. Die resultierenden Terminverschiebungen hatten laut MZEB-Leitungspersonen zur Folge, dass sich auch die Versorgung in MZEB verzögerte und sich der Versorgungsprozess insgesamt schleppend gestaltete. Ebenso schwierig gestaltete sich die Zusammenarbeit von MZEB mit Krankenhäusern, aufgrund geringerer Aufnahmekapazität. Weiter berichteten die MZEB-Leitungspersonen, dass die Einschränkungen zur Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen, insbesondere in Zeiten von „Lockdowns“, herausfordernd für die Bekanntmachung von MZEB sowie für den Austausch mit der Regelversorgung gewesen seien. Eine mangelnde Bekanntheit und ein geringer Austausch von MZEB und niedergelassenen Behandler*innen, spezialisierten Einrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe erschwerten wiederum den Zugang und die Inanspruchnahme von MZEB (bspw. aufgrund von Konkurrenzgedanken seitens der niedergelassenen Ärzt*innen durch Unwissen über die Versorgungsform MZEB).

MZEB-spezifische Faktoren

Die MZEB-spezifischen Faktoren beschreiben Folgen der Pandemie bzw. Strategien zum Umgang mit diesen, die innerhalb von Einrichtungen entstanden sind. Dabei zeigen die Ergebnisse deutlich, dass die spezialisierten Versorgungseinrichtungen einen unterschiedlichen Umgang mit der Pandemie aufwiesen und nicht alle MZEB-Leitungspersonen (im selben Umfang) von Folgen der Pandemie berichteten (Tab. 4).

Tab. 4 Exemplarische Zitate zu den MZEB-spezifischen (Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung) Folgen der Pandemie für den Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB aus Sicht von MZEB-Leitungspersonen

Während der ersten Infektionswelle und dem „Lockdown“ zwischen März und Mai 2020 wurden von den Interviewpartner*innen die schwerwiegendsten Folgen beim Zugang zu und der Inanspruchnahme von MZEB berichtet. In dieser Phase gestaltete sich laut Aussagen der Interviewpartner*innen der Zugang zu MZEB erschwert, da die Versorgungseinrichtungen teilweise (kurzzeitig, d. h. zumeist für wenige Wochen) geschlossen hatten. Durch die Umsetzung von Hygienemaßnahmen (bspw. Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen) oder kreativen Methoden (bspw. Ausgabe von Medikamenten aus dem Fenster) versuchten die MZEB allerdings schnellstmöglich eine Versorgung zu ermöglichen.

Als weitere Folge der Pandemie für die Inanspruchnahme von MZEB nannten die MZEB-Leitungspersonen ein z. T. eingeschränktes Leistungsangebot (bspw. erschwerte Diagnostik aufgrund des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung). Gleichzeitig schilderten die Interviewpartner*innen, dass aufgrund der Pandemie in einigen MZEB Telefon- und Videosprechstunden sowie Hausbesuche (aufsuchende Leistungen) eingeführt wurden. Insbesondere die Nutzung von telemedizinischen Angeboten wie Videosprechstunden wurden dabei unterschiedlich durch die befragten MZEB-Leitungspersonen bewertet: manche erachteten diese als hilfreich, andere lehnten diese für die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen ab. Außerdem wurde berichtet, dass sich die Umsetzung von bspw. Videosprechstunden aufgrund von datenschutzrechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen teilweise herausfordernd gestaltete, u. a. durch einen Mangel an vertrauenswürdigen Anbietern für Videosprechstunden. Auch sei die Etablierung von Video- und Telefonsprechstunden z. T. durch den Mangel an notwendiger Hard- und Software sowie der Internetbandbreite in Einrichtungen der Eingliederungshilfe erschwert gewesen. Andere MZEB-Leitungspersonen schilderten dennoch, dass das telemedizinische Angebot der MZEB während der Pandemie und darüber hinaus eine wichtige Rolle für die (Aufrechterhaltung der) medizinische(n) Versorgung der Patient*innen eingenommen habe. Auch förderliche Faktoren, wie bspw. die Zeitersparnis für das Personal in MZEB und in der Eingliederungshilfe, schnelle Absprachen und das Klären von Fragen, wurden in diesem Kontext genannt. Einige MZEB führen deshalb diese Angebote auch nach der Pandemie weiter.

Auch die multidisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der MZEB wurde durch die Pandemie und den damit einhergehenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens teilweise beeinflusst (z. B. hoher Krankenstand). Eine befragte MZEB-Leitungsperson berichtete bspw. davon, dass aufgrund von Schulschließungen das MZEB-Personal nicht vor Ort arbeiten konnte, sondern ihre Kinder zu Hause betreuen musste. Infolgedessen waren Terminabsagen von Seiten des MZEB-Personals notwendig.

Wenige MZEB-Leitungspersonen gaben an, dass sie in ihrem MZEB keine oder kaum Folgen aufgrund der Pandemie wahrgenommen haben.

Patient*innen-spezifische Faktoren

Die Patient*innen-spezifischen Faktoren beschreiben den Umgang der MZEB-Patient*innen bzw. deren Angehörigen beim Zugang zu und der Inanspruchnahme von MZEB während der Pandemie. Häufig berichteten die Befragten von einer Zurückhaltung seitens der Patient*innen und deren Betreuungspersonen (bspw. Angehörige, Fachpersonal der Eingliederungshilfe) bei der Inanspruchnahme von MZEB während der Pandemie (Tab. 5). So wurde genannt, dass Termine aus Angst vor einer Ansteckung sowie aufgrund der von der Bundesregierung gegebenen Empfehlung zur Unterlassung aller nicht notwendigen Kontakte häufig ausgelassen wurden. Auch kurzfristige Terminabsagen im MZEB aufgrund angeordneter Quarantänen seien häufig vorgekommen. Eine weitere Folge der Pandemie, die durch die Befragten wahrgenommen wurde, war die erhöhte Arbeitsbelastung des Personals der Eingliederungshilfe. Aufgrund der geringen zeitlichen Kapazitäten des Personals bzw. des Personalmangels in der Eingliederungshilfe, konnte die notwendige Begleitung der Patient*innen zu Terminen in MZEB häufig nicht gewährleistet werden. Dies führte dazu, dass manche Patient*innen nur erschwert Zugang zum MZEB hatten (z. B. da die Anreise zum MZEB nur in Begleitung einer Betreuungsperson möglich war und das MZEB keine aufsuchenden Leistungen anbot), es zum Ausfall von Untersuchungsterminen und einem Rückgang der Fallzahlen in den MZEB kam. Darüber hinaus schilderten einige MZEB-Leitungspersonen, dass die Notwendigkeit des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung zu einer erschwerten Kommunikation zwischen Patient*innen und Behandler*innen führte und diagnostische Maßnahmen (bspw. Autismusdiagnostik) bei manchen Patient*innen nicht oder nur erschwert durchgeführt werden konnten.

Tab. 5 Exemplarische Zitate zu den Patient*innen-spezifischen Folgen der Pandemie für den Zugang zu und die Inanspruchnahme von Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) aus Sicht von MZEB-Leitungspersonen

Die MZEB-Leitungspersonen berichteten auch, dass sich der Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB im Verlauf der Pandemie häufig besserten (z. B. sich die Inanspruchnahme wieder normalisierte). So habe die Impfung gegen SARS-CoV‑2 die Versorgungssituation erleichtert, da Patient*innen und deren Betreuungspersonen weniger Angst vor einer Infektion in MZEB hatten. Auch haben sich die MZEB, die Patient*innen und deren Betreuungspersonen an die Folgen der Pandemie angepasst oder gewöhnt (bspw. Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen, Nutzung von Videosprechstunden). Gleichzeitig befürchteten manche MZEB-Leitungspersonen, dass die Pandemie gesundheitliche (Langzeit)folgen für Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen mit sich bringen könnte, bspw. aufgrund von Infektionen mit SARS-CoV‑2, dem Wegfall der Alltagsstrukturen oder dem Ausfall von notwendigen Therapiemaßnahmen während der Pandemie.

Zusammenfassend konnte anhand der Expert*inneninterviews abgeleitet werden, dass sich die Pandemie heterogen auf die befragten MZEB auswirkte. Neben MZEB-spezifischen Faktoren (bspw. pandemiebedingten Terminausfällen) beeinflussten auch Patient*innen-spezifische (bspw. Ängste) und kontextuelle Faktoren (bspw. gesetzliche Regelungen) den Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB.

Diskussion

Ziel des Beitrags war es, die Folgen der Pandemie für den Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB darzustellen. Durch die MZEB-Leitungspersonen wurden Folgen sowie u. a. auch Strategien zur Begegnung dieser auf Ebene der MZEB (kurzfristige Schließungen von MZEB, eingeschränktes Leistungsangebot, telemedizinische Maßnahmen und aufsuchende Leistungen, Terminverschiebungen), der Patient*innen (geringe Inanspruchnahme von MZEB, Terminausfälle, geringe zeitliche Kapazitäten der Betreuungspersonen, erschwerte Kommunikation durch Mund-Nasen-Bedeckung, gesundheitliche Langzeitfolgen) sowie auf kontextueller Ebene (Ausfall von Veranstaltungen, behördliche Anordnungen/gesetzliche Regelungen, erschwerte Zusammenarbeit mit der Regelversorgung, Hygienemaßnahmen) genannt.

Hinsichtlich der MZEB-spezifischen Faktoren (Tab. 4) wurde ersichtlich, dass die spezialisierten Versorgungseinrichtungen unterschiedlich mit der Pandemie umgegangen sind und nicht alle MZEB-Leitungspersonen im selben Maße von den Folgen der Pandemie berichteten. Manche MZEB mussten, wie andere Einrichtungen der Gesundheitsversorgung [14, 36, 37] sowie für Menschen mit Behinderung [25], zumindest kurzfristig schließen oder ihre Tätigkeit und ihr Leistungsangebot einschränken (z. B. konnten sie keine aufsuchenden Leistungen anbieten, mussten Termine stornieren oder reduzieren, um Hygienemaßnahmen umzusetzen). Dies spiegeln auch die Ergebnisse einer quantitativen Studie der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVR) wider, in der u. a. n = 20 Personen, die im Jahr 2020 ein MZEB nutzten bzw. nutzen wollten, befragt wurden [4]. Befragte berichteten dabei, dass die Betreuung durch das MZEB „nur sehr eingeschränkt“ (7,7 %, n = 2) bzw. „gar nicht oder fast gar nicht“ (26,9 %, n = 7) stattfinden konnte oder „länger unterbrochen“ (11,5 %, n = 3) wurde [4]. Die Gründe für die Einschränkungen bei der Betreuung durch MZEB wurden nicht erfasst.

Hinsichtlich des Leistungsangebots gehen aus der DVR-Studie ähnliche Erkenntnisse wie aus den vorliegenden Ergebnissen hervor: Mehr als die Hälfte der befragten (potenziellen) MZEB-Nutzer*innen der DVR-Studie (54,2 %, n = 13) gab an, dass das MZEB ein Ersatzangebot für die Betreuung im MZEB in Form von bspw. einem Video- oder Telefonkontakt zur Verfügung stellte, während 41,7 % (n = 10) kein Ersatzangebot für den MZEB-Besuch erhielten [4]. Auch die vorliegenden qualitativen Ergebnisse zeigen, dass manche MZEB-Leitungspersonen positiv von telemedizinischen Angeboten berichteten, andere das Angebot eher ablehnten bzw. von damit einhergehenden Herausforderungen berichteten. Auch die Deutsche Gesellschaft für Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung e. V. (DGMGB) betrachtet den Einsatz von Telekonsultationen bzw. Videosprechstunden kritisch, da dabei häufig nicht die besonderen und höchst individuellen Versorgungsbedarfe der Zielgruppe erfüllt werden könnten (bspw. hinsichtlich nonverbaler Kommunikation, fehlenden Möglichkeiten für längere Beobachtungszeiten) [12]. Die DGMGB plädiert dafür, dass Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen keine ausschließlichen Fernbehandlungen mittels Videosprechstunde erhalten sollten. Gleichzeitig bergen telemedizinische Maßnahmen auch Potenziale, die für eine Beibehaltung von Telekonsultationen nach der Pandemie sprechen (bspw. schnelle medizinische Hilfe bei Kontaktbeschränkungen, leichter Austausch zwischen Behandler*innen, für kurze Absprachen, Alternative für Personen, bei denen der Transport in eine Versorgungseinrichtung erschwert ist) [12]. Ob eine Beratung und/oder Behandlung von Patient*innen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen via Videosprechstunde in Frage kommt, kann im Einzelfall durch eine Checkliste der Bundesärztekammer überprüft werden [6].

Die in den Interviews genannten Patient*innen-spezifischen Faktoren (Tab. 5) werden auch in der Literatur aufgeführt: die Zurückhaltung bei der Inanspruchnahme von gesundheitlichen Versorgungsleistungen aufgrund von Ängsten (insbesondere zu Beginn der Pandemie) zeigte sich nicht nur bei MZEB-Patient*innen und deren Angehörigen, sondern auch in der Allgemeinbevölkerung und äußerte sich in einem Rückgang der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen [30, 35, 37]. Auch der von den MZEB-Leitungspersonen als herausfordernd bezeichnete Personalmangel in Einrichtungen der Eingliederungshilfe (bspw. keine Zeit für MZEB-Besuch) stellt ebenfalls in den Medien, Berichten, Verbänden und in der Politik ein relevantes Thema dar [8, 10, 13]. Gleichzeitig bestätigen Studien (u. a. für die Regelversorgung) die zentrale Rolle von Betreuungspersonen für den Zugang zur Gesundheitsversorgung bei Menschen mit Behinderung [32, 44, 45]. Obgleich keine Studie zum Zugang zu MZEB während der Pandemie vorliegt, bestätigen nationale und internationale Studien in anderen Settings (u. a. in der Regelversorgung, beim Zugang zu psychischen Versorgungsleistungen etc.), dass der Zugang zu Gesundheitsleistungen für Menschen mit (u. a. geistiger) Behinderung während der Pandemie eingeschränkt war [15, 24, 38]. Andere Studien verdeutlichen allerdings auch, dass in Einrichtungen der Eingliederungshilfe aus Sicht des Fachpersonals keine Einschränkungen in der medizinischen Versorgung während der Pandemie wahrgenommen wurden [5, 33].

Aufgrund des Ausfalls von MZEB-Terminen sowie Infektionen mit SARS-CoV‑2 und den gesellschaftlichen Folgen der Pandemie (z. B. Wegfall der Tagesstruktur) befürchten MZEB-Leitungspersonen der vorliegenden Studie gesundheitliche (Langzeit)folgen für Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen. Obgleich weitere Forschung notwendig ist, um die langfristigen gesundheitlichen Folgen der Pandemie zu erfassen, weisen (inter)nationale Publikationen auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustands von Menschen mit (insbesondere geistiger) Behinderung während der Pandemie hin [4, 5, 9, 38]. Bspw. gaben 41,7 % (n = 5) der Befragten der DVR-Studie an, dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund der ausgefallenen bzw. eingeschränkten Betreuung im MZEB verschlechtert hat [4].

Die meisten der genannten Einschränkungen hinsichtlich des Zugangs zu und der Inanspruchnahme von MZEB bezogen sich auf die Zeit von hohen Infektionszahlen bzw. während der strikten „Lockdowns“ und gehen auf kontextuelle Faktoren wie gesetzliche Regelungen (bspw. Quarantänemaßnahmen, Kontaktbeschränkungen) zurück (Tab. 3). So weisen nicht nur die vorliegenden Ergebnisse, sondern auch die Literatur [26, 31, 33, 34, 36] darauf hin, dass in der Regel- und spezialisierten Versorgung – insbesondere zu Pandemiebeginn – vielfältige Herausforderungen für die Versorger*innen bestanden (z. B. Einführung von Hygienemaßnahmen, Umorganisation von Praxisabläufen, geringe Inanspruchnahmen, Terminausfälle, krankheitsbedingte Personalengpässe), welche auch die Zusammenarbeit mit MZEB betreffen. Die Pandemie führte bspw. auch in anderen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung z. T. zu (kurzfristigen) Schließungen bzw. Terminengpässen (bspw. geringere Patient*innenzahlen aufgrund des zeitlichen Mehraufwands für die Umsetzung von Hygienemaßnahmen oder der Ausfall von elektiven Behandlungen) [1, 33]. Im Verlauf der Pandemie hatten sich die MZEB, wie auch andere Einrichtungen der Gesundheitsversorgung [1], an die Coronapandemie angepasst und begegneten ihr durch Hygienekonzepte. Auch die Bevölkerung hat sich im Verlauf der Pandemie zunehmend an erforderliche Maßnahmen und Veränderungen (bspw. Abstand halten, Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, Hygienekonzepte in Einrichtungen, Impfungen) beim Zugang und bei der Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung angepasst und diese (häufig) akzeptiert [16]. Bereits vor dem offiziellen Ende der Coronapandemie im April 2023 kam es durch Aufhebungen von gesetzlichen Regelungen und Verordnungen zu zunehmend weniger Einschränkungen bei der medizinischen Versorgung.

Limitationen

Erstmalig wurden MZEB-Leitungspersonen zu den Folgen der Pandemie für den Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB befragt. Eine Schwäche der Studie stellt der lange Erhebungszeitraum (01.02.-30.09.2021) dar, bei einem gleichzeitig dynamischen Pandemiegeschehen (bspw. aufgrund veränderter gesetzlicher Regelungen). Folglich kann die Einschätzung der Befragten hinsichtlich der Folgen der Pandemie möglicherweise – entlang der pandemischen Lage und politischen Vorgaben – variieren. Weiter kann die regionale Verteilung der MZEB in unterschiedlichen Wahrnehmungen zu den Folgen der Pandemie resultieren, da sich der Umgang mit der pandemischen Lage durch nach Bundesland variierende gesetzliche Regelungen verschieden gestaltete. Um mögliche weitere Folgen der Pandemie für die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung in MZEB zu ermitteln, sollten weitere Sichtweisen, insbesondere der MZEB-Patient*innen bzw. deren Betreuungspersonen sowie von Akteur*innen der Regelversorgung, erfasst werden.

Schlussfolgerungen

Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse Folgen und Strategien zum Umgang mit der Pandemie in MZEB, die auf Ebene der MZEB, der Patient*innen sowie auf kontextueller Ebene verortet werden können. Langfristig ist anzustreben aus den Erfahrungen während der Pandemie zu lernen und das Gesundheitssystem so auszugestalten, dass es nationalen und globalen Krisen begegnen kann. Dabei ist eine inklusive, barriere- und diskriminierungsfreie Regelversorgung sowie eine verlässliche Bereitstellung von spezialisierten Gesundheitsleistungen notwendig, damit auch in Krisenzeiten das „Recht auf Gesundheit“ entsprechend Artikel 25 der UN-BRK umgesetzt werden kann. Im Rahmen des BEta-Projekts ist eine Übersichtskarte zur Lage und zum Etablierungsstand von MZEB in Deutschland entstanden (Abb. 2).

Abb. 2
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MZEB in Deutschland, differenziert nach dem Etablierungsstand (N = 73). Kreis: Aktive MZEB nach § 119c SGB V, Dreieck: Nicht nach § 119c SGB V ermächtigt, Kreuz: In Planung befindliche MZEB; Anmerkung: Die Übersichtskarte basiert auf drei Recherchen (letzte Aktualisierung: Juni 2023) und Informationen von Interviewpartner*innen. Die Angaben sind ohne Gewähr. Der Ermächtigungsstatus ist unter Vorbehalt zu betrachten. Aus Zwecken der Übersichtlichkeit wird pro Stadt nur ein Kreis/Dreieck/Kreuz dargestellt, auch wenn mehrere MZEB in dieser befindlich sind

Fazit für die Praxis

  • Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen waren besonders durch Infektionen mit SARS-CoV‑2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“) gefährdet. Gleichzeitig weist die Bevölkerungsgruppe besondere Bedarfe hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung auf. Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) können diesen Bedarfen begegnen und eine adäquate medizinische Versorgung ermöglichen, wenn dies durch die Regelversorgung nicht (mehr) sichergestellt werden kann.

  • Der Zugang zu und die Inanspruchnahme von MZEB wurde während der Pandemie durch MZEB-spezifische, Patient*innen-spezifische sowie kontextuelle Faktoren beeinflusst, insbesondere während der „Lockdowns“.

  • Telemedizinische Maßnahmen können zur Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen hilfreich sein (z. B. für Absprachen zwischen Ärzt*innen). Allerdings ersetzen sie nicht den persönlichen ärztlichen Kontakt, da den besonderen Versorgungsbedarfen der Bevölkerungsgruppe Rechnung getragen werden muss (bspw. hinsichtlich nonverbaler Kommunikation).

  • Eine inklusive, barriere- und diskriminierungsfreie Versorgung ist notwendig, um Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention auch in Krisenzeiten umsetzen zu können.