Einleitung

Die gesundheitliche Ungleichheit zwischen verschiedenen sozialen Gruppen in Deutschland bleibt allen Bemühungen zum Trotz ein zentrales Problem in Prävention und Gesundheitsförderung [14]. So hat sich die Spanne zwischen Geringverdienenden (<60 % des Durchschnittseinkommens) und Personen mit deutlich höherem Einkommen (>150 %) bezüglich der Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands zwischen 1994 bis 2014 nicht verringert [18]. Im Gegenteil: Geringverdienende bewerten ihre Gesundheit häufiger als negativ, während diese Einschätzung bei Vielverdienenden seltener geworden ist [18]. Dieser Trend zeigt sich auch in der körperlichen Inaktivität als wichtigem Einflussfaktor auf die Gesundheit [18]. Während die Inaktivität bei Mittel- und Vielverdienenden sank, stieg sie bei Geringverdienenden, wodurch die Spanne der gesundheitlichen Ungleichheit auch in diesem Bereich zunahm [18].

Gesundheitliche Ungleichheit wird in der Literatur meist mithilfe von Determinantenmodellen, wie dem von Dahlgren und Whitehead [6] oder von Schulz und Northridge [34], erklärt. Sie identifizieren Einflussfaktoren für Gesundheit auf verschiedenen Ebenen, z. B. Wissen, Geld, Stressoren und vorhandene Bewältigungsmechanismen, sozialer Kontext und die Beschaffenheit der Lebenswelt. Diese Determinantenmodelle zeigen jedoch nur Zusammenhänge auf, eignen sich aber weniger, um das bestehende Präventionsdilemma vieler Interventionen – das Nichterreichen sozial benachteiligter Gruppen, während die Mittel- und Oberschicht von präventiven bzw. gesundheitsförderlichen Maßnahmen profitieren [3] – zu lösen. Daher verwendet die gesundheitliche Ungleichheitsforschung immer häufiger den Settingansatz [16], welcher neben der Verhältnis- auch die Verhaltensebene in den Blick nimmt [7]. Bei Letzterer steht häufig das Empowerment der Zielgruppe als zentraler Mechanismus im Fokus [7], d. h. „Menschen zu befähigen, mittels Nutzung der eigenen personalen und sozialen Ressourcen, ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten“ [5]. Empowerment kann dabei sowohl auf Individuen (z. B. Kontrolle über das eigene Leben) als auch auf Organisationen (z. B. Beeinflussung von sozialem Wandel) oder ganze Gemeinschaften (z. B. Veränderung von Austauschprozessen) bezogen sein [17]. Es kann sich sowohl auf Strategien (z. B. Förderung von Strukturbildung oder Partizipation) als auch das methodische Vorgehen (z. B. Niedrigschwelligkeit von Interventionen oder Berücksichtigung von Interessen und Bedürfnissen der Zielgruppe) oder Prozesse des Kompetenzerwerbs bzw. der Ressourcenerweiterung beziehen [5].

Der Empowerment-Ansatz gilt jedoch als relativ „schwammig“ und unpräzise [17], und auch die theoretische Verbindung zu verhältnisorientierten Ansätzen bleibt häufig vage. Eine mögliche Lösung bietet der Capability-Ansatz (CA) von Amartya Sen [35], der ein starkes Augenmerk auf die Schnittstelle zwischen Handlungsmöglichkeiten und Handlungen legt. Er wurde in seinen Grundzügen bereits mehrfach für die Gesundheitsförderung als passendes Konzept eingestuft [1, 2, 9, 19, 26] und wird auch in der Praxis in zunehmendem Maße eingesetzt [21]. Im deutschsprachigen Raum hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung „Verwirklichungschancen und Capabilities“ als Leitbegriff der Gesundheitsförderung eingeführt [4], und auch in der Bewegungsförderung hat der CA bereits Anwendung gefunden [8, 9]. Untersucht wurde beispielsweise, welchen Einfluss das kommunale Umfeld auf individuelle Handlungsmöglichkeiten hat [8] oder wie der Ansatz in verschiedenen Settings verwendet werden kann, um körperliche Aktivität zu steigern [9].

Frahsa et al. haben ein Modell für die Nutzung des CA in der Bewegungsförderung entwickelt [9], um in laufenden Projekten die Wechselwirkungen zwischen Handlungen und Strukturen der Bewegungsförderung interventionsbegleitend zu analysieren [40]. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es aufzuzeigen, wie dieses Modell auch für die detaillierte Evaluation bereits abgeschlossener Interventionen der Bewegungsförderung genutzt werden kann, um Wirkungen in verschiedenen Bereichen und auf mehreren Ebenen sichtbar zu machen und in Beziehung zueinander zu setzen. Als Grundlage dient das BIG-Projekt, kurz für „Bewegung als Investition in Gesundheit“, welches bereits von Abel und Fröhlich als Beispiel für die Nutzung des CA in der Gesundheitsförderung eingeführt wurde [1].

Methodik

Der Capability-Ansatz

Eine Besonderheit des CA ist sein Fokus auf die vorhandenen Möglichkeiten, aus denen Personen Verhaltensweisen aktiv auswählen können [36, 37]. Es geht nicht nur um das tatsächliche Handeln einer Person, sondern insbesondere auch um jene Optionen, welche zur Verfügung stehen, jedoch nicht aktiv umgesetzt werden [23]. Der in Abb. 1 dargestellte „Capability-Kreislauf“ [40] illustriert, dass der CA zur Konzeptualisierung dieser Zusammenhänge folgende zentrale Elemente nutzt [9]: (a) Ressourcen, (b) Umwandlungsfaktoren, (c) Handlungsmöglichkeiten („capabilities“), (d) individuelles Bewegungsverhalten („achieved functionings“) und (e) „agency“.

Abb. 1
figure 1

Das Grundkonzept des Capability-Kreislauf für das BIG-Projekt auf Basis von Till et al. [40]

Aus Sicht des CA werden ausreichend vorhandene Ressourcen, wie Geld oder das Angebot von Dienstleistungen, nicht automatisch in Verhalten umgesetzt, in unserem Fall zu empfohlenen Bewegungsverhalten [30]. Vielmehr werden Ressourcen durch Umwandlungsfaktoren in ein Spektrum von Handlungsmöglichkeiten überführt. Aus diesen kann ein Individuum aktiv ein Verhalten wählen, das es als wertvoll erachtet [36, 37]. Wie Abb. 1 grafisch darstellt, spielen beim Transfer von Ressourcen in Handlungsmöglichkeiten verschiedene Umwandlungsfaktoren eine Rolle. Diese werden in zwei Kategorien unterteilt: individuelle und strukturelle Umwandlungsfaktoren.

  • Individuelle Umwandlungsfaktoren umfassen Elemente, welche in der Bewegungsförderung besonders gut durch das Konzept der bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz dargestellt werden können, d. h. (1) körperliche Verfassung, (2) Wissen über körperliche Aktivität (z. B. Wissen über die gesundheitsförderlichen Aspekte der körperlichen Aktivität), und (3) Elemente der personalen Handlungseigenschaften, sprich Selbstwirksamkeit oder Motivation [38].

  • Strukturelle Umwandlungsfaktoren beinhalten soziale und umweltbezogene Faktoren. Erstere sind z. B. das örtliche Klima, Infrastruktur und bauliche Beschaffenheit, Letztere Elemente umfassen das gesellschaftliche Umfeld, dessen Aktivitätsniveau bzw. Akzeptanz für Bewegung sowie die Möglichkeiten, Wünsche und Ideen hinsichtlich Bewegung einzubringen, z. B. durch eine Bürgerinitiative [24, 26].

Die Handlungsmöglichkeiten sind die Gesamtmenge aller Handlungsoptionen, die aus der Verbindung von Ressourcen und Umwandlungsfaktoren resultieren. Eine breite Auswahl an Möglichkeiten leistet nach Sen [20] an sich schon einen wichtigen Beitrag zur Freiheit und zum Wohlbefinden von Menschen. Zugleich bildet sie die Basis für das tatsächliche Handeln. Hierbei kann aus den vorhandenen Möglichkeiten ein Verhalten resultieren, dass in zwei unterschiedliche Kategorien eingeordnet werden kann: (1) das eigentliche Gesundheitsverhalten des Individuums („achieved functioning“; [24]) und (2) Handlungen, welche sich auf die Veränderung der Umwelt beziehen und dadurch die Möglichkeiten für das Gesundheitsverhalten des Individuums und/oder anderer Personen verbessern. Letzteres wird im CA „Agency“ genannt [9, 26]. Für die Bewegungsförderung sind besonders der Schritt der Umwandlung von Ressourcen zu Capabilities und das tatsächliche Umsetzen des Bewegungsverhaltens der jeweiligen Zielgruppe von Bedeutung [36].

Der Capability-Kreislauf impliziert zudem, dass Handlungsmöglichkeiten nicht nur auf Ebene der „Zielgruppe“ vorhanden sind, sondern auch bei für das jeweilige Setting relevanten Multiplikator:innen (z. B. politische Entscheidungsträger:innen, Verwaltungsangestellte, Expert:innen für Gesundheitsförderung). Durch ihre Agency beeinflussen Multiplikator:innen die Ressourcen und Umwandlungsfaktoren der Zielgruppe; umgekehrt kann aber auch die Agency der Zielgruppe direkte Auswirkungen auf die Möglichkeiten von Multiplikator:innen haben.

Das BIG-Projekt

Das im Folgenden untersuchte BIG-Projekt entstand im Jahr 2005 mit dem Ziel, Frauen „in schwierigen Lebenslagen“ (so die von den Teilnehmerinnen selbst gewählte Beschreibung) zu befähigen, sich für ihre eigene Gesundheit einzusetzen, und damit die bewegungsbezogene gesundheitliche Chancengleichheit innerhalb kommunaler Settings [31] zu fördern. Es konnte bislang in 17 deutschen Kommunen umgesetzt werden. In BIG wurden sowohl strukturelle Faktoren des Settings (z. B. vorhandene Sportkurse und -infrastrukturen) als auch individuelle Faktoren (z. B. die Bewegungskompetenz der Frauen) im Rahmen eines partizipativen Ansatzes (kooperative Planung [27]) betrachtet und angesteuert. Im Vordergrund stand die Selbstwirksamkeit [31] und das Wissen um gesundheitsförderliche Aspekte, da teilnehmende Frauen oft wenig Kenntnisse über die positiven Effekte körperlicher Aktivität hatten oder mit dem Konzept „Freizeitsport“ kulturell nicht vertraut waren [22].

Daten und Analyse

Der vorliegende Beitrag fasst ein breites Spektrum an Ergebnissen und Effekten, die an den verschiedenen Standorten von BIG im Verlauf der letzten 16 Jahre entstanden sind, mithilfe des CA systematisch zusammen. Dafür wurden insgesamt 37 Projektpublikationen einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring [20] unterzogen, um die zentralen CA-Elemente zu identifizieren, die im Rahmen des Projekts angesteuert wurden. Die Ergebnisse wurden anschließend in den „Capability-Kreislauf“ [40] eingeordnet, um das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente in BIG zu illustrieren. Die Einordnung erfolgte dabei beispielhaft, da der CA grundsätzlich verschiedene Interpretationen zulässt und seine Kategorien nicht immer trennscharf definiert sind.

Ergebnisse: BIG und Capabilities

Die Ergebnisse umfassen eine Vielzahl an verschiedenen Elementen, welche von veränderten Strukturen und neuen Sporträumen bis hin zu einer Verbesserung der individuellen Gesundheitsparameter von Frauen reichen. Abb. 2 stellt die in den Capability-Kreislauf eingeordneten Ergebnisse beispielhaft dar.

Abb. 2
figure 2

Mögliche grafische Darstellung der erzielten Ergebnissen und Wirkmechanismen im BIG-Projekt im Capability-Kreislauf nach Till et al. [40]

Ressourcen

Durch BIG konnten auf kommunaler Ebene Ressourcen freigesetzt werden, welche den Frauen die Teilnahme an Sportangeboten ermöglichten. Dazu zählten z. B. dezidierte „Frauenbadezeiten“ in kommunalen Hallenbädern, zu denen Frauen in einem geschützten Umfeld schwimmen bzw. schwimmen lernen können [25, 31]. Je nach Standort entstanden zudem neue Sportkurse [10, 29, 33], Gesundheitsseminare und Sprachkurse [11, 29] sowie die Möglichkeit einer speziell auf die Zielgruppe ausgerichtete Übungsleiterqualifikation [11, 29]. Außerdem wurden neue Räume für die Durchführung der Sportkurse gewonnen und ein Projektbüro zum Management innerhalb der Kommunen eingerichtet [29].

Strukturelle Umwandlungsfaktoren

Neben zusätzlichen Ressourcen dokumentieren die verschiedenen BIG-Publikationen eine Veränderung von strukturellen Umwandlungsfaktoren, durch die bestehende Angebote zu den Handlungsmöglichkeiten der Frauen hinzugefügt wurden. Beispielsweise wurde es durch die Bereitstellung von Kinderbetreuung bei Angeboten, niedrige Preise, wohnortnahe Veranstaltungsorte, die Mehrsprachigkeit von Angeboten bzw. ihre Eingrenzung auf reine Frauengruppen für viele Frauen besser möglich, diese Angebote (Ressourcen) zu nutzen [12, 32]. Zudem wurden Netzwerke innerhalb der Zielgruppe sowie zwischen den beteiligten Frauen und politischen Entscheidungsträger:innen bzw. anderen Multiplikator:innen ausgebaut [11, 31], wodurch die Nutzung von Angeboten und Strukturen gefördert wurde. Multiplikator:innen profitierten z. B. von der Entwicklung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik [10] oder einer neu implementierten Projektkoordination, durch welche direkte Ansprechpartnerinnen für die Förderung von Frauen in schwierigen Lebenslagen zur Verfügung gestellt wurden [12, 29, 31].

Individuelle Umwandlungsfaktoren

Durch den partizipativen Ansatz konnten die individuellen Umwandlungsfaktoren der Frauen positiv beeinflusst werden. So zeigten Analysen ein verbessertes Selbstbewusstsein, Körperbewusstsein und eine positive Entwicklung der Selbstwirksamkeit [25]. Auch eine Verbesserung der eigenen bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz konnte erzielt werden [25, 29]. Durch die Teilnahme an Bewegungsangeboten („achieved functioning“) zeigte sich zudem eine Verbesserung wichtiger Gesundheitsparameter, welche wiederum ihrerseits die Handlungsmöglichkeiten positiv beeinflussten (s. Kreislauf Abb. 2). So zeigten Analysen eine verbesserte Herzfrequenzvariabilität sowie eine Senkung des Blutdrucks und des Stresslevels [15, 29]. Bei einer Befragung wurde zudem eine Veränderung der individuellen Umwandlungsfaktoren der Multiplikator:innen festgestellt: Sie entwickelten im Projektverlauf ein besseres Verständnis für die Zielgruppe und deren Bedürfnisse und änderten ihre Sichtweise zur Notwendigkeit der Bewegungsförderung [13].

„Achieved functionings“

Die Verbesserung von Ressourcen und Umwandlungsfaktoren durch BIG führten zu einer nachweislichen Steigerung der körperlichen Aktivität von Frauen [10, 12, 15, 25, 31]. Dies konnte u. a. durch die aktive Teilnahme von Frauen an den BIG-Bewegungskursen dokumentiert werden, von denen rund 90 % der Zielgruppe zugehörig waren [28]. In einer vom Projektteam durchgeführten Untersuchung berichteten auch „Dropouts“ der Bewegungskurse, nach ihrem Ausscheiden außerhalb der Kurse aktiver zu sein als zuvor [25].

„Agency“

Neben der Entwicklung von bewegungsförderlichen Maßnahmen ist ein Fokus des BIG-Projekts das Empowerment der Zielgruppe durch die Teilnahme an der Planung und Umsetzung von Maßnahmen [31, 32]. Die partizipative Methode des Projekts, die kooperative Planung nach Rütten [27], fungiert hierbei als eigener struktureller Umwandlungsfaktor, welcher Teilnehmer:innen dazu befähigt, sich aktiv für eine Veränderung im Setting einzusetzen. Die Teilnahme an der Planung kann daher bereits als Agency im Sinne des CA gewertet werden. Darüber hinaus haben sich verschiedene Teilnehmerinnen auch anderweitig für die Bewegungsförderung von Frauen engagiert, indem sie die Ausbildung als „Sportassistentin interkulturell“ absolvierten [29], bei der Rekrutierung von weiteren Frauen aktiv wurden [10] oder sich anderweitig in kommunalen Gremien für Frauen eingesetzt haben [25]. Als Paradebeispiel kann ein Fall gewertet werden, in dem durch den direkten Dialog zwischen Frauen aus einer BIG-Gruppe und Schulleiter:innen die Nutzung der wohnortnahen Sporthalle für die Bewegungskurse ermöglicht wurde [28]. Dieser Vorgang ist exemplarisch für Agency im Sinne des CA, und zwar sowohl von Seiten der Frauen als auch der beteiligten Multipliktator:innen [28].

Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass durch BIG Veränderungen sowohl bei den Frauen als auch bei den beteiligten Multiplikator:innen stattfanden, und dass sich die beiden Gruppen v. a. durch ihre Agency gegenseitig positiv beeinflussten (CA-Kreislauf, vgl. Abb. 2).

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass durch die (retrospektive) Verwendung des CA eine ganzheitliche Betrachtung der erzielten Veränderungen auf der Verhaltens- und Verhältnisebene im BIG-Projekt möglich wurde. Wie auch Determinantenmodelle bezieht der CA die Verhältnisse und deren Einfluss auf Bewegung und Gesundheit in die theoretischen Betrachtungen auf der Ebene der Ressourcen und Umwandlungsfaktoren mit ein. Zudem berücksichtigt er Empowerment-Aspekte, die bei der Anwendung ökologischer Modelle zu kurz kommen. Konkret wird Empowerment durch den CA auf zwei Ebenen spezifiziert: (a) auf der individuellen Entscheidungsebene, also mit Blick auf die Befähigung zur Umwandlung von Handlungsmöglichkeiten in ein positives Gesundheitsverhalten und (b) auf der kollektiven Ebene, sprich der Befähigung zur Verbesserung von Möglichkeiten, welche der Allgemeinheit zugutekommen. Hierdurch gelingt es dem CA, das theoretische Verständnis von Gesundheitsverhalten an einer Stelle zu erweitern, die bei Empowerment-Ansätzen als „unterspezifiziert“ gilt [17]. Für die Bewegungsförderung bringt der CA besondere Vorteile, da er sich nicht nur auf das Bewegungsverhalten bzw. die Angebote innerhalb eines Settings bezieht, sondern auch Gründe für mögliche Verhaltensweisen beleuchtet. Im Sinne der Gesundheitsförderung bietet der CA die Möglichkeit, individuelle Befähigung mit verhältnisorientierten Ansätzen der Ungleichheitsforschung zu kombinieren.

Die vorliegende Ex-post-Analyse des BIG-Projekts unter Verwendung des Capability-Kreislaufs weist jedoch auch Schwächen auf, welche beachtet werden müssen: So greift sie auf Daten von verschiedenen Standorten und über einen längeren Zeitraum zurück. Dadurch wird deutlich, welche Ergebnisse durch das Projekt insgesamt erzielt werden konnten. Eine Aufschlüsselung nach Standorten und Projektphasen oder gar Rückschlüsse zur Effektivität sind so jedoch nicht möglich. Dies war jedoch auch nicht das Ziel der Analyse; vielmehr ging es darum zu zeigen, wie mithilfe des CA die vielfältigen Effekte eines Setting-basierten Projektes sinnvoll strukturiert und dadurch Stärken und Schwächen besser sichtbar gemacht werden können.

Es war nicht möglich, die Veränderungen der bestehenden Handlungsmöglichkeiten vergleichend darzustellen. Hierfür wäre eine systematische Prä-Post-Erhebung der objektiv messbaren Handlungsmöglichkeiten nötig gewesen. Allerdings existiert bis zum heutigen Zeitpunkt kein geeignetes, übergreifendes Instrument zur Messung von Handlungsmöglichkeiten im Sinne der Gesundheitsförderung, insbesondere nicht für den Bereich Bewegung [39]. Bestehende Messinstrumente, die sich an den CA anlehnen, sind jeweils speziell für Settings bzw. Zielgruppen entwickelt worden und messen Handlungsmöglichkeiten meist durch subjektive Einschätzung [39].

Auch wäre die Durchführung einer umfassenden Erhebung der Veränderung der Handlungsmöglichkeiten, gepaart mit Veränderungen auf der Ebene des „achieved functioning“ und der Agency, mit einem hohen Ressourcenaufwand verbunden. Im Rahmen von BIG konnten wir auf Daten der letzten 16 Jahre zurückgreifen, welche auf unterschiedlichste Weise erhoben wurden. Bei kürzeren Projekten würde dies jedoch bedeuten, dass eine Vielzahl an Messungen benötigt wird, um Veränderungen auf der Ebene der bestehenden Ressourcen, Handlungsmöglichkeiten und des umgesetzten Verhaltens zu erfassen. Aus diesem Grund sollte für die Messung im Rahmen des CA in der Bewegungsförderung zukünftig ein Rahmen entwickelt werden, welcher für eine Vielzahl an Zielgruppen und Settings anwendbar ist. Dieser benötigt konkrete Indikatoren, welche gemessen werden können, um verschiedene Interventionen unter Anwendung des CA vergleichbar zu machen.

Fazit für die Praxis

  • Der CA bildet eine gute Basis, verschiedene Sichtweisen (Empowerment und Ungleichheitsforschung, sowie das Verhalten selbst) in der Bewegungs- und Gesundheitsförderung zu integrieren und die vielfältigen Effekte Setting-basierter Interventionen der Bewegungs- und Gesundheitsförderung systematisch darzustellen.

  • In Zukunft könnte er daher weitere Anwendung finden, um Interventionen spezifisch an die Zielgruppe anzupassen und dabei individuelle und strukturelle Faktoren sowie Multiplikatoren und deren Handlungsmöglichkeiten zu beachten.

  • Er könnte auch helfen, bei Projekten mit kurzer Laufzeit Ergebnisse darzustellen, die weit über die bloßen Effekte auf das Bewegungsverhalten hinaus gehen und stattdessen die ganzheitlichen Wirkungen von Interventionen offenlegen.