Hintergrund

In der klinischen Akut- und Notfallmedizin stellen sich täglich viele PatienInnen mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern vor. Die Auslastung variiert von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Vor diesem Hintergrund ist ein System zur Dringlichkeitseinstufung der NotfallpatientInnen unerlässlich, um sicherzustellen, dass die PatientInnen in der Reihenfolge ihrer klinischen Bedürfnisse und nicht in der Reihenfolge ihres Eintreffens behandelt werden. Diese Aufgabe gewährleistet die Ersteinschätzung.

Gab es vor ca. 10 Jahren in Deutschland noch Publikationen mit dem Titel „Triage – Mode oder Notwendigkeit“ [22], so hat sich mit zunehmender Eigenständigkeit der innerklinischen Notfallmedizin die pflegerische Ersteinschätzung zu einem unverzichtbaren Instrument der Risikoeinschätzung entwickelt (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Die pflegerische Ersteinschätzung stellt ein unverzichtbares Instrument der Risikoeinschätzung in der klinischen Akut- und Notfallmedizin dar. Zur Darstellung kommen Teilaspekte der Ersteinschätzung und weitere Einflussgrößen mit (un-)mittelbarer Auswirkung auf die Dringlichkeitseinstufung neu eintreffender Notfallpatienten

Ersteinschätzung „immer und schnell“

Die Festlegung der Dringlichkeitsstufe einer Patientin/eines Patienten bei der Vorstellung in der Notaufnahme ist ein entscheidender Faktor für eine effektive und sichere Versorgung: Sie sorgt für einen optimierten Einsatz der in aller Regel begrenzten Raum‑, Material- und Personalkapazitäten und verringert Morbidität und Mortalität der Patienten [5, 10].

Spätestens mit Ablauf der Übergangsfrist des G‑BA-Beschlusses im April 2021 ist die Ersteinschätzung bei der Versorgung von NotfallpatientInnen in deutschen Notaufnahmen vorgeschrieben und fest etabliert [9].

Gütekriterien der Ersteinschätzungssysteme

Die in Deutschland am häufigsten eingesetzten Ersteinschätzungssysteme sind das Manchester Triage System (MTS) und der Emergency Severity Index (ESI).

Beide Systeme sind mittlerweile vielfach hinsichtlich ihrer Reliabilität und Validität untersucht worden. Die Validität beider Ersteinschätzungssysteme wird als moderat bis gut eingeschätzt. Die Ersteinschätzungsgenauigkeit („accuracy“) hingegen bezieht sich darauf, wie nahe ein gemessener Wert dem wahren Wert oder dem tatsächlichen Zustand kommt [23]. Dabei ist die Ersteinschätzungsgenauigkeit für die unmittelbare Versorgung der Notfallpatientin/des Notfallpatienten noch wichtiger als die Validität oder die Reliabilität. Insbesondere die sog. Untertriage (Zuordnung in eine zu niedrige Dringlichkeitsstufe) kann zu direkter Patientengefährdung führen.

Infobox

Validität: Misst das Ersteinschätzungssystem das, was ich messen möchte?

(Untersucher‑)Reliabilität: Triagieren verschiedene Personen gleich?

Genauigkeit („accuracy“): Misst das Ersteinschätzungssystem genau? (Über‑, Unter‑, Fehltriage)

Die Genauigkeit kann auf viele Arten ausgedrückt werden, einschließlich Sensitivität, Spezifität, Likelihood-Quotient, negativer prädiktiver Wert (NPV), diagnostisches Chancenverhältnis (engl.: „odds ratio“) und AUC (engl.: „area under the curve“) unter der ROC-Kurve (engl.: „receiver operator characteristic curve“).

MTS und ESI nehmen auf unterschiedliche Weise die Ersteinschätzung von Patientinnen und Patienten vor. Trotzdem liegt die Ersteinschätzungsgenauigkeit in Studien für beide Systeme in einem ähnlichen Bereich [23]: 60–70 % der Ersteinschätzungen wurden als „genau“ angesehen, vom verbleibenden Anteil war ungefähr ein Drittel zu hoch (Übertriage) und zwei Drittel zu niedrig ersteingeschätzt (Untertriage). Eine Untertriage liegt somit bei 20–25 % der PatientInnen vor!

Untertriage ist eine gefährliche Situation bei „crowding“ und kann schlimmstenfalls zur Fehlannahme führen, dass die Patientin oder der Patient nicht relevant erkrankt ist [3].

ESI und MTS sind nur im Kinderbereich in Bezug auf Beschwerdebild und Vitalparameter altersadaptiert. Sie zeigen bei geriatrischen PatientInnen eine geringere diagnostische Genauigkeit und eine Tendenz zur Untertriage.

Eine unzureichende Identifizierung von PatientInnen mit zeitkritischen Krankheitsbildern (z. B. Myokardischämie, Sepsis) führt zu Verzögerungen bei der Erkennung und Behandlung und damit zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität [19, 20, 24]. Bisher wurde für kein Ersteinschätzungssystem festgelegt, welche Rate an Unter- und Übertriage akzeptabel ist.

Die aktuelle Auflage des ESI-Handbuchs aus 2023 thematisiert die niedrige Genauigkeitsrate und sieht im Erlernen der korrekten Anwendung des Algorithmus und einer hochwertigen Schulung den Schlüssel zur korrekten Zuweisung von Dringlichkeitsstufen [5].

Die Wahl der Ersteinschätzungsstufe enthält ein subjektives Element – nicht blind vertrauen!

In einem System, das sich stark auf das Urteil des Pflegepersonals verlässt, ist es möglich, dass PatientInnen in einer höheren Dringlichkeitsstufe eingestuft werden, als notwendig ist, und dass dies zu einer hohen Inter-rater-Variabilität und einer suboptimalen Vorhersagekraft führt.

So kann eine Patientin/ein Patient mit gleichen Symptomen je nach verwendetem Ersteinschätzungssystem und je nach Erfahrung und subjektiver Einschätzung des Anwenders sowie Auslastung der Notaufnahme unterschiedlichen Dringlichkeitsstufen zugeordnet werden. Zudem orientieren sich die etablierten Ersteinschätzungssysteme an typischen Symptomen. Die mit zunehmendem Alter häufiger auftretenden atypischen oder allgemeinen Beschwerden, die mit einer höheren Morbidität und Mortalität assoziiert sind, werden so nicht erfasst [1, 19, 20].

Problem fehlender „Goldstandard“

Für die Validierung von Ersteinschätzungssystemen spielt die in den Studien angewendete Methodik eine wesentliche Rolle. Eine Herausforderung besteht darin, den geeigneten Referenzstandard zu finden und damit eine valide Aussage über die Güte der einzelnen Ersteinschätzungssysteme zu treffen. Betrachtet man die Entwicklung der verschiedenen Studiendesigns zu Ersteinschätzungssystemen in den letzten zehn Jahren, so zeigt sich hier eine bemerkenswerte Dynamik. Studien aus den 90er-Jahren basierten im Wesentlichen auf Reliabilitätsstudien mit Patientenvignetten. Mit der weiteren Verbreitung von Ersteinschätzungssystemen in zentralen Notaufnahmen und der damit verbundenen Fülle an Patientendaten wurden zunehmend Studien zur Validität durchgeführt. Dabei handelt es sich zum einen um Studien, die als Referenzstandard einen eigenen Goldstandard (Expertenmeinung) definieren, mit dem sie dann das Ergebnis der Ersteinschätzung vergleichen („Kriteriumsvalidität“). Zum anderen werden Surrogatparameter herangezogen, um eine Aussage über die „wahre“ Dringlichkeit zu machen („Konstruktvalidität“). Bis heute besteht jedoch kein Konsens darüber, welches Kriterium bzw. welche Surrogatparameter als akzeptable Referenz gelten [10, 15, 19].

In der Regel stellen sich NotfallpatientInnen weder mit einer vorab definierten Dringlichkeit noch mit einer eindeutigen Diagnose in der Notaufnahme vor. Die Ersteinschätzung basiert somit ausschließlich auf klinischen Symptomen. Studien, die Variablen als Surrogatparameter (z. B. 12-Kanal-EKG) verwenden, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Ersteinschätzung stehen, sind daher differenziert zu bewerten [10]. Auch Studien, die Prädiktion (z. B. Mortalität) mittels ROC-Analysen unter Verwendung von AUC untersuchen, müssen differenziert interpretiert werden. Denn gerade in den höchsten Dringlichkeitsstufen muss der ärztliche Kontakt zur Patientin bzw. zum Patienten unmittelbar bzw. sofort hergestellt werden, um das Behandlungsergebnis der Patientin/des Patienten positiv zu beeinflussen.

Die Verwendung der 30-Tages-Mortalität zur Qualitätseinstufung von Ersteinschätzungssystemen ist kritisch zu sehen. Sekundär auftretende Störfaktoren (z. B. Pneumonie), die weit entfernt vom Zeitpunkt der Ersteinschätzung liegen, beeinflussen sicherlich die Aussagekraft. Wird die Mortalität herangezogen, sollte es sich um die Kurzzeitmortalität handeln, z. B. Tod in der ZNA oder innerhalb von 12 h. Andererseits ist es durchaus möglich, dass PatientInnen mit niedriger Priorität in der Notaufnahme sekundär versterben, ohne dass dies ein Fehler des Ersteinschätzungssystems ist. Präfinale PatientInnen, d. h. PatientInnen, deren Tod bereits bei der Einlieferung in die zentrale Notaufnahme unausweichlich ist, bedürfen keiner unmittelbaren lebenserhaltenden Maßnahmen, sondern z. B. ethisch begründeter Maßnahmen [10, 11].

Die Vorhersage der Disposition (z. B. Vorhersage einer stationären Behandlung) mittels ROC-Analysen wird häufig in Studien zur Überprüfung der Genauigkeit von Ersteinschätzungssystemen verwendet. Die stationäre Behandlung von PatientInnen der Stufe „blau“ kann nicht als eindeutiger Hinweis auf eine Fehltriage gesehen werden [18, 19, 21].

Bei der Interpretation bzw. dem Vergleich der Sensitivität, die sich aus der richtigen Zuordnung zu einer Dringlichkeitsstufe ergibt (richtig-positiv), ist immer zu beachten, auf welcher Basis der Cut-off-Wert zwischen zwei Dringlichkeitsstufen festgelegt wurde. Theoretisch könnte der Cut-off-Wert in einer Studie mit dem Surrogatparameter „Aufnahme auf die Intensivstation“ zwischen „rot“ und „orange“ und in der anderen Studie zwischen „orange“ und „gelb“ liegen. Darüber hinaus ist der Parameter „Aufnahme auf die Intensivstation“ stark von lokalen Gegebenheiten abhängig und daher nur eingeschränkt vergleichbar. Ebenso spricht ein ambulanter Verbleib nicht gegen eine initial hohe Dringlichkeit! Es gibt bestimmte PatientInnen der ESI-Stufe 1 bzw. mit MTS rot, die aus der Notaufnahme entlassen werden können. Dies ist häufig der Fall, wenn eine reversible Ursache für die Veränderung des Bewusstseins oder der Vitalfunktionen vorliegt, z. B. bei Hypoglykämie, Alkoholvergiftung, Überdosierung von Drogen oder anderen Substanzen oder Anaphylaxie. Bei der Berechnung der Spezifität ist zu berücksichtigen, dass bei der Bestimmung der falsch-positiven Rate de facto keine gesunden „ProbandInnen“ zur Verfügung stehen. Die Bestimmungen des negativen prädiktiven Werts (NPV), der negativen „likelihood ratio“ (LR) oder der „accuracy“ (ACC) stellen hier gute Alternativen dar [10]. All dies zeigt den Bedarf an prospektiven multizentrischen Studien zur Validität und Reliabilität von Ersteinschätzungssystemen.

Ressourcenverbrauch

Betrachtet man die einzelnen Prozessschritte, die notwendig sind, um ein gut funktionierendes Ersteinschätzungssystem in einer zentralen Notaufnahme zu etablieren, wird sehr schnell deutlich, dass dies nicht zum „Nulltarif“ zu haben ist. Zu Beginn ist eine Basisschulung im eingesetzten System erforderlich, die in der Regel durch eine Schulung in einem Subsystem oder dem hauseigenen Krankenhausinformationssystem (KIS) begleitet werden muss. Im Verlauf sind kontinuierlich Auffrischungsschulungen der AnwenderInnen notwendig. Die alleinige Schulung der AnwenderInnen reicht jedoch nicht aus. In der Folge muss vor Ort in der einzelnen Klinik die Adhärenz an das Ersteinschätzungssystem intern regelmäßig überprüft werden, um die Validität und Reliabilität der Ersteinschätzung zu sichern und um optimale Ergebnisse zu erzielen. Die in MTS und ESI vorgesehenen Audits werden wahrscheinlich nur selten durchgeführt, da sie sehr aufwendig sind. In den Audits sollte die Ausführung der Ersteinschätzung an sich überprüft werden, um ungerechtfertigte Abweichungen und eventuelle systematische Fehler zu entdecken. Zum anderen muss auf Vollständigkeit der Dokumentation geachtet werden.

Selbstverständlich muss im Klinik‑/Notaufnahme-Informationssystem die jeweils gültige Version des Ersteinschätzungssystems hinterlegt sein und bei Versionsänderungen eine entsprechende Einweisung des Ersteinschätzungspersonals erfolgen.

Nicht unerheblich ist auch der Anteil an Vollzeitstellen, der erforderlich ist, um den G‑BA-Beschluss mit einer Prätriagezeit von ≤ 10 min für jeden neu aufgenommenen Patienten zu erfüllen. Rein rechnerisch sind für eine 24/7-Besetzung eines Arbeitsplatzes zur Ersteinschätzung ca. 6 Vollkräfte notwendig, zur Spitzenabdeckung wird sogar noch mehr erforderlich sein.

Nutzen der Ersteinschätzung

Bisher wurde kaum nach dem Nutzen der Ersteinschätzung gefragt. In einem Editorial holt dies Ellen Weber mit der Frage „Triage—making the simple complex?“ nach [24].

Sie beobachtete in der eigenen Notaufnahme das Phänomen, dass der Prozess der Administration/Ersteinschätzung zu einer weiteren Warteschlange führt und fast die Hälfte der Patienten mit hoher Dringlichkeit die Dauer des Ersteinschätzungsprozesses bis zum letzten Arztkontakt überschritten hat. In der Terminologie des „lean manufacturing“, einer von Toyota begründeten Produktionsphilosophie, die auf der Maximierung des Kundennutzens basiert, wird die Ersteinschätzung als „muda“ (japanisch für Verschwendung) gesehen, welche Nacharbeit, Überproduktion und Fehler verursacht. PatientInnen sind frustriert über die ständige Wiederholung ihrer Krankengeschichte und die vielen Personen, mit denen sie in Kontakt kommen, bevor sie einen Arzt sehen. Es ist offensichtlich, dass wir mit der Einführung der Ersteinschätzung ein komplexes System geschaffen haben, das die Zeit hochqualifizierter Pflegekräfte in Anspruch nimmt, die Versorgung verzögern kann und schlechten Falls ein „mäßiges“ Ergebnis liefert.

Eine dänische Studie stellte die Frage: Können wir es nicht besser machen? Können wir das gleiche Ergebnis mit weniger Aufwand erreichen?

Daher verglichen sie die Genauigkeit der Ersteinschätzung von Krankenschwestern, die für die Ersteinschätzung die Dänische Notfall-Prozess-Triage (DEPT) verwendeten, mit der „Eyeball-Triage“ von StudentInnen, die in der Abteilung für klinische Biochemie zur Blutentnahme bei Patienten eingesetzt wurden.

Bei der „Eyeball-Triage“ handelte es sich um eine schnelle, unsystematische klinische Beurteilung, die von Phlebotomisten anhand des Aussehens der PatientInnen vorgenommen wurde. In der Primäranalyse wurde für jede Triagemethode der Zusammenhang zwischen der Triagekategorie und der 30-Tages-Mortalität untersucht. Sekundäranalysen untersuchten den Zusammenhang zwischen der Triagekategorie und der 48-Stunden-Mortalität sowie die Übereinstimmung zwischen DEPT und Eyeball-Triage.

Die Übereinstimmung zwischen der Triage nach DEPT und dem klinischen Blick war gering. Es zeigte sich aber, dass die einfache klinische Beurteilung durch die StudentInnen dem Triage-System bei der Vorhersage der Kurzzeitmortalität von Patienten in der zentralen Notaufnahme überlegen war [13]. Ein Kommentar zu diesen Erkenntnissen warnt vor der unkritischen Übernahme der Studienergebnisse. Viele Ärzte haben mit Pflegekräften zusammengearbeitet, die „auf einen Blick“ jedes Triage-System übertrumpfen können, und die meisten Menschen können intuitiv eine lebensbedrohliche Krankheit erkennen. Jedoch ist die Intuition ein Gefühl und kein Gedanke, der analysiert und verstanden werden kann. Sie kann daher nicht immer die richtigen Maßnahmen auslösen. In der Akutsituation, wenn andere PatientInnen und viele andere Variablen berücksichtigt werden müssen, können einfache Scores oder Methoden, die konsequent die gleichen Regeln anwenden und irrelevante Details ignorieren, möglicherweise besser funktionieren als die Intuition von Experten [14].

Auch darf die Studie nicht dazu führen, den Prozess der Ersteinschätzung an sich infrage zu stellen. Allein aus juristischer Sichtweise ist es unabdingbar, in der innerklinischen Notfallversorgung ein validiertes System zur Ersteinschätzung zu verwenden. Nichtsdestotrotz sollte die Studie uns dazu veranlassen, unser derzeitiges Verfahren und die ihm zugrunde liegenden Erkenntnisse zu überdenken.

Adhärenz an das Ersteinschätzungssystem

Mindestens ebenso wichtig wie die Zuverlässigkeit von Ersteinschätzungssystemen ist die Adhärenz des Anwenders an das System!

Hierzu wurden in einer Beobachtungsstudie die Prävalenz und Ursachen von Ersteinschätzungen in einer chirurgischen Notaufnahme eines Universitätsklinikums untersucht [2]. Ziel der Arbeit war es, mögliche Ursachen für eine falsche Ersteinschätzung mit dem MTS zu identifizieren und daraus Verbesserungsmaßnahmen abzuleiten. Dazu wurden die Bereiche Anwender, Prozessgestaltung/Rahmenbedingungen und Ersteinschätzungssystem betrachtet.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten, dass die ungenauen Ergebnisse der Dringlichkeitseinstufung in einem hohen Maße auf einen Anwenderfehler zurückzuführen waren. Nur in wenigen Fällen kam der MTS-Algorithmus selbst als mögliche Fehlerquelle infrage [2].

Auch weitere Studien identifizierten Gründe für die mangelnde Adhärenz mit dem Ersteinschätzungssystem: unzureichendes Training im Umgang mit dem System, Arbeitsbelastung, übermäßiges Vertrauen in die eigene Erfahrung und das eigene Urteilsvermögen und mangelnde Akzeptanz der Systemvorgaben [8]. Es wurde festgestellt, dass manche demografische Variablen, darunter männliches Geschlecht, Erfahrung zwischen 2 und 5 Jahren, keine Zusatzweiterbildung Notfallpflege und fehlende ESI-Zertifizierung (Schulung) zu mehr kognitiven Verzerrungen bei Ersteinschätzungseinstufungen führten [7].

Überträgt man die gewonnenen Erkenntnisse auf die Ersteinschätzungssysteme MTS und ESI, so ergibt sich folgendes Bild:

Der ESI ist ein Algorithmus mit fünf Stufen und priorisiert nach vier Entscheidungspunkten. Entscheidungspunkt A: akute Einschränkung der Vitalfunktionen mit der Notwendigkeit sofortiger lebensrettender Maßnahmen. Entscheidungspunkt B: Patient mit hohem Risiko. Die weiteren Stufen werden anhand der benötigten Ressourcen bzw. pathologischen Vitalparameter definiert.

Das MTS geht einen anderen Weg, indem es dem Anwender insgesamt 53 Präsentationsdiagramme zur Anwendung auf das von der Patientin/vom Patienten präsentierte Leitsymptom anbietet [6, 17].

Es wird deutlich, dass insbesondere am Entscheidungspunkt B des ESI eine erfahrene Pflegekraft notwendig ist, um die Hochrisikosituation richtig einzuschätzen. Unterstützt wird dieser Gedanke dadurch, dass im Laufe der Versionswechsel die Formulierung des Entscheidungspunkts B angepasst wurde [5]. Das seinerzeit unspezifische „Ist das ein Patient, der nicht warten sollte“ wurde näher definiert als „Hochrisikosituation oder verwirrt/lethargisch/desorientiert oder starker Schmerz/Unwohlsein“. Denn aufgrund des „crowding“ der Notaufnahmen neigten Triage-Pflegekräfte dazu, den Algorithmus falsch anzuwenden, indem sie die Dringlichkeit der aktuellen Kapazität und Bettenverfügbarkeit der Notaufnahme und nicht dem Zustand des Patienten anpassten. Die häufigen Crowding-Situationen führen dazu, dass ESI-2-PatientInnen warten müssen und nicht sofort ein Notaufnahmebett bekommen. Dennoch haben diese PatientInnen eine hohe Behandlungsdringlichkeit und die Umformulierung führt dazu, die Dringlichkeit des Patienten unabhängig von der Betten- und Personalkapazität festzustellen.

Denkbar ist, dass das MTS mit seiner Vielzahl an verfügbaren Algorithmen und Indikatorfragen eine höhere Adhärenz im Vergleich zum ESI fördert. Diese These wurde bisher noch nicht wissenschaftlich untersucht, wäre aber ein interessanter Ansatz, um Unterschiede in der Adhärenz zwischen den beiden Systemen herauszufinden.

Darüber hinaus wird deutlich, dass ein standardisiertes und validiertes System nach der Implementierung kritisch begleitet werden muss und eine Überprüfung der Anwenderadhärenz an das System erforderlich ist. Training und Reflexion der Ergebnisse sind obligatorisch, um konstant gute Ergebnisse der Ersteinschätzung zu gewährleisten. Deshalb:

Keine Ersteinschätzung ohne regelmäßiges Audit

Neben der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Systeme ist die regelmäßige Auditierung und Auffrischungsschulung wichtig, dies erzielt die höchste Ersteinschätzungsgenauigkeit [12].

Im MTS ist ein Auditprozess vorgesehen, der die Vollständigkeit bzw. Genauigkeit der Ersteinschätzung des Anwenders überprüft [17]. Auch das ESI-Handbuch enthält Vorgaben für ein Audit zur Überwachung aussagekräftiger Qualitäts- oder Prozessverbesserungsindikatoren, wie zum Beispiel der Genauigkeit der ESI-Klassifikation oder der Rate der Unter- und Übertriage [6].

Setzt man das Ganze in den Kontext der aktuellen Personalsituation mit hoher Fluktuation und unterschiedlichen Kompetenzen/Erfahrungen, so wird umso deutlicher, dass die Voraussetzung für eine korrekte Ersteinschätzung neben der Adhärenz des Anwenders an den Algorithmus mit Anamnese, Inspektion und Vitalparametern auch die intensive und wiederholte Schulung des Personals ist.

In Bezug auf wissenschaftliche Studien zu Ersteinschätzungssystemen hat die Systemadhärenz noch eine andere, aber ebenso wichtige Bedeutung. Formal müsste die Interpretation der publizierten Studienergebnisse immer vor dem Hintergrund der zugrunde liegenden Mitarbeiterqualifikation und -adhärenz erfolgen. Gibt es in den Notaufnahmen keinen strukturierten Auditprozess mit Rückkopplung an die Anwenderin bzw. den Anwender, sind die Ergebnisse kritisch zu hinterfragen und nicht sicher vergleichbar.

Bisher gibt es kaum Studien, die sich mit der Performance der Ersteinschätzung nach Einführung des Systems befassen. Es sollten weitere, möglichst multizentrische Studien durchgeführt werden, um die Effekte von Auffrischungsschulungen und Audits zur Verbesserung der Ersteinschätzungsgenauigkeit zu erforschen und zu untersuchen [23].

Unterstützung durch künstliche Intelligenz (KI)

Auch die Ersteinschätzung kann vom Einsatz KI-basierter Systeme profitieren.

Elektronische Triagesysteme (ETS) können eine größere Anzahl von Vorhersagevariablen für die Einstufung von Notfallpatienten berücksichtigen als herkömmliche, pflegebasierte Ersteinschätzungssysteme.

Sie vergleichen die im Rahmen der Ersteinschätzung standardisiert erhobenen Daten mit hinterlegten Algorithmen, die mit großen Datenmengen trainiert wurden. So können versteckte „Muster“, d. h. Risikokonstellationen, aus den Anamnesedaten erkannt und die Dringlichkeitsstufe aus dem individuellen Risikoprofil der Patientin/des Patienten bestimmt werden. Als wesentliche Prädiktorvariablen gelten das Alter und bestimmte Vitalparameter, die bisher nicht standardisiert oder altersadaptiert in die Ersteinschätzungsstufen einfließen. Die Güte der Ersteinschätzung durch ein ETS ist insgesamt hoch und benötigt nicht zwingend eine vorherige Festlegung einer Ersteinschätzungsstufe [4, 8, 20].

Dabei geht es nicht darum, das medizinische Fachpersonal als Entscheider zu ersetzen, sondern ihm relevante Informationen zur Verfügung zu stellen und es bei der Entscheidungsfindung – ermüdungsfrei auch bei hoher Arbeitslast – zu unterstützen [16]. Im Vergleich zur erfahrenen Pflegekraft können ETS den Zustand der vor ihnen sitzenden Patientin/des Patienten oder die Details der Anamnese nicht beurteilen. Deshalb ist nicht davon auszugehen, dass ETS jemals die Heuristik, d. h. die Erfahrung und das Bauchgefühl einer Pflegekraft, ersetzen können [8, 20].

Kernaussagen.

  • Die Genauigkeit der Ersteinschätzungssysteme sollte nicht isoliert betrachtet werden, sondern immer im Kontext mit der Adhärenz durch die Anwenderin/den Anwender.

  • Der Prozess der Ersteinschätzung in der ZNA ist trotz hohen Ressourceneinsatzes unverzichtbar, sollte aber zwingend mit Auditprozessen überwacht werden.

  • Der Einsatz KI-basierter Algorithmen zur Unterstützung der Ersteinschätzung erscheint vielversprechend.

  • Trotz KI ist Pflegepersonal bei der Ersteinschätzung nicht ersetzbar. Die Dringlichkeitseinstufung muss in enger Interaktion zwischen NotfallpatientIn und Pflegekraft stattfinden. Erfahrung und Schulung sind hierfür essenziell.

  • Weitere Forschung zu den Ersteinschätzungssystemen mit dem Ziel, deren Güte und Genauigkeit zu verbessern, muss erfolgen.

Fazit für die Praxis

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ersteinschätzung trotz der erwähnten Schwächen ein unverzichtbarer Bestandteil der notfallmedizinischen Versorgung in der Notaufnahme ist. Die Adhärenz seitens des Anwenders zum Ersteinschätzungssystem erscheint als eine relevante Einflussgröße in der korrekten Dringlichkeitszuordnung von NotfallpatientInnen. In der nächsten Zeit wird sich die Ersteinschätzung – u. a. durch die Integration von KI-basierten Clinical-decision-support-Systemen – verändern und in der Genauigkeit erhöhen. Eine Ausweitung der Ersteinschätzung auch auf Leitstellen, integrierte Notfallzentren und KV-Praxen ist politisch angedacht und zu erwarten.